eJournals Kodikas/Code 31/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Die zunehmende Bedeutung von Bewegtbild auch im Umfeld multimedialer, computergebundener Angebote legt einen Vergleich mit den Angeboten der anderen Bewegtbildmedien, also des Kinos und des Fernsehens, nahe. Eine empirische Untersuchung lässt deutlich werden, dass die unterschiedlichen Rahmenbedingungen auch die Art und Weise verändern, wie die Filme wirken. Daher muss das semiotische Verhältnis von Bedeutendem und Bedeutung bei der Produktion von Bewegtbildmedien in unterschiedlichen Kontexten jeweils mitberücksichtigt werden. Es müssen offenbar vor allem formale Unterschiede in der Gestaltung wie auch der inhaltlichen Darstellung berücksichtigt werden. Die Unterschiede beziehen sich auf formale Aspekte wie die Filmlänge, auf die Bildgestaltung und das Schnitt-Tempo wie auch auf Probleme der Dramaturgie. Sie sind so deutlich, dass gar von einer historischen Entwicklung gesprochen werden muss, die sich in Gegensatzpaaren konstituiert.
2008
313-4

Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im multimedialen Umfeld

2008
Hans W. Giessen
Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im multimedialen Umfeld Hans W. Giessen, Saarbrücken Die zunehmende Bedeutung von Bewegtbild auch im Umfeld multimedialer, computergebundener Angebote legt einen Vergleich mit den Angeboten der anderen Bewegtbildmedien, also des Kinos und des Fernsehens, nahe. Eine empirische Untersuchung lässt deutlich werden, dass die unterschiedlichen Rahmenbedingungen auch die Art und Weise verändern, wie die Filme wirken. Daher muss das semiotische Verhältnis von Bedeutendem und Bedeutung bei der Produktion von Bewegtbildmedien in unterschiedlichen Kontexten jeweils mitberücksichtigt werden. Es müssen offenbar vor allem formale Unterschiede in der Gestaltung wie auch der inhaltlichen Darstellung berücksichtigt werden. Die Unterschiede beziehen sich auf formale Aspekte wie die Filmlänge, auf die Bildgestaltung und das Schnitt-Tempo wie auch auf Probleme der Dramaturgie. Sie sind so deutlich, dass gar von einer historischen Entwicklung gesprochen werden muss, die sich in Gegensatzpaaren konstituiert. The increasing importance of time-based media in the context of computer-based, i.e. multimedia productions seems to urge research on the differences with other time-based media, cinema and television. Empirical research proves that the different channels also change the way of how those time-based media influence the user. Producing time-based media, therefore, has to be different in relation to the medium chosen, as each media changes the semiotic relationship between sign and significance, and therefore changes the necessities of how to produce and how to present the content. Differences can be found regarding the film length, the design, the speed of editing, and the dramaturgy. They seem to be quite contrasting and to represent a historic process. 1. Einleitung Immer stärker gehen die audiovisuellen Medien einen Verbund mit den sogenannten ‘neuen’ Medien ein. Mehr noch: der Erfolg des Internet außerhalb der Bereiche ‘Militär’ und ‘Universität’ lässt sich zu einem Gutteil auf die Erfindung des WWW zurückführen - und das Charakteristikum des ‘Web’ ist eben, dass es nicht nur interaktiv ist (also Hypertextualität ermöglicht), sondern darüber hinaus die Erweiterung zur Multimedialität enthält. In der Anfangsphase reduzierte sich diese ‘Multimedialität’ auf graphische Elemente, vor allem auf Bilder. So galt lange Zeit, dass lediglich zwei Medienformate bestimmend und typisch für das Medium seien: Gif- und Jpeg-Bilder. Audiovisions-Sequenzen benötigen dagegen spezielle Plug-Ins sowie in der Regel eine Videokarte. Diese konnten (und können noch immer) nicht allgemein vorausgesetzt werden. Zudem haben die Audiovisions-Sequenzen aufgrund der geringen Datenübertragungs-Raten häufig eine schlechte Qualität oder sind sehr klein; sie ruckeln und haben K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Hans W. Giessen 272 zu wenige Frames pro Sekunde. Es muss aber vermutet werden, dass die ‘Multimedialität’ sich sofort auch auf Audiovisions-Sequenzen ausweitet, wenn dies auf technisch und optisch befriedigende Art und Weise möglich ist. Dies ist zunehmend der Fall. Die Hardware wird immer leistungsfähiger. Auch die Komprimierungsmethoden verbessern sich rapide, und aktuelle Streaming-Verfahren bieten die Möglichkeit, bereits einen gewissen Einblick zu gewinnen, bevor eine komplette Audiovisions-Sequenz - Ton, Schlüsselframes, Deltaframes - heruntergeladen ist. Allerdings sind noch immer eine schnelle Internet-Verbindung sowie ein guter Provider notwendig. Das Problem der ‘letzten Meile’ wird sich weiter verbessern, aber auch der sehr breitbandige Zugang zu einem Provider bringt nur eine Verbesserung mit sich, wenn dieser die Daten zunächst entsprechend verarbeiten kann. Interessant ist dabei das Phänomen, dass die audiovisuelle Darstellung in der Regel auf einen begrenzten Bildschirmbereich reduziert wird; die übliche Größe des Audiovisions- Bilds im multimedialen Umfeld des Web oder einer CD-Rom oder DVD beträgt etwa einen viertel Bildschirm. Daneben gibt es Text und Graphiken, weitere inhaltliche Informationen und andere Frames, andere Möglichkeiten zum interaktiven Handeln. Audiovision wird zu einem Gestaltungselement im Rahmen einer multimedialen, sehr differenzierten Präsentation. Dennoch sind Audiovisions-Sequenzen kein beliebiges, möglicherweise eher vernachlässigbares Gestaltungsmerkmal unter vielen anderen. Im Gegenteil liegt die Vermutung nahe, dass sie gerade in einer solchen Umgebung immer wichtiger werden. Ganz allgemein handelt es sich um Elemente, die ein besonderes Aufsehen zu garantieren scheinen. Zumindest deuten sie an, dass die technischen Möglichkeiten der Produzenten einer CD-Rom oder DVD oder eines WWW-Angebots gut sind - mithin kann die Einbindung von Audiovisions-Sequenzen (auch) als Imagefaktor angesehen werden. Dem entspricht die Beobachtung, dass Audiovisions-Segmente gerade im Bereich der Werbung und in der Produktinformation immer stärker eingesetzt werden. Dies wiederum setzt die Standards nach oben. So, wie der Internet-Dienst Gopher keine Chancen gegen das Web hatte, wie bereits heute CD-Roms oder DVDs ohne graphische Gestaltung, ohne ausgetüfteltes Interface- Design als nicht mehr der Höhe der Zeit entsprechend, als unübersichtlich und gar als uninteressant abqualifiziert werden (A. Schulz 1998), so wird - vermutlich - in absehbarer Zeit ein multimediales Angebot ohne Audiovisions-Sequenzen nicht mehr vorstellbar sein. Angelika Schulz hat gezeigt, wie die zunehmende Bedeutung graphischer Gestaltungselemente dazu geführt hat, dass hier die Ansprüche immer höher werden (A. Schulz 1998). Parallel lässt sich vermuten, dass auch die filmischen Standards in den neuen Medien zukünftig immer ernster genommen werden müssen. (Zur Zeit gilt dies vor allem aufgrund der schon genannten technischen Beschränkungen noch nicht). Daher müssen Web-Designer dann das Grundwissen mitbringen, um Audiovisions-Sequenzen bewerten und bearbeiten zu können. Es ist aber auch fraglich, ob Grundkenntnisse in ‘herkömmlicher Fernseh-Ästhetik’ tatsächlich genügen, um zu einem als professionell akzeptierten Audiovisions-Angebot im multimedialen Umfeld zu kommen. Die Frage impliziert, dass es möglicherweise eigene, medientypische Besonderheiten gibt, die die genannten Kenntnisse nicht ersetzen, aber doch zu einer Erweiterung oder Spezifizierung führen sollten. Hinter der Frage stehen Überlegungen anhand des McLuhan’sche Diktums, wonach das Medium selbst vielleicht nicht (ausschließlich) die Botschaft sei, ihre Inhalte aber doch entscheidend mitbestimme. In der Konsequenz handelt es sich um eine Überführung der Saussure’schen Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat vom Wort auf das Bild - mithin eine aktuelle (angesichts Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 273 der Diskussionen über den “iconic turn”) und explizit anwendungsorientierte Fragestellung semiotischer Art. 2. Die Untersuchung Um zu klären, wie Audiovisions-Segmente im multimedialen Umfeld genutzt und bewertet werden, welche Ansprüche also eine professionelle Gestaltung berücksichtigen muss, wurden zwölf Studierende in vertiefenden, jeweils rund zweistündigen teilstrukturiert geführten Interviews befragt; die Interviews wurden auf Tonträger aufgezeichnet und anschließend verschriftet. Die Studierenden waren hälftig männlichen und weiblichen Geschlechts; das Alter der Testpersonen reichte von 23 bis 28 Jahren. Die Wahl fiel aus zwei Gründen auf diese Gruppe. Der Hauptgrund war, dass eine CD- Rom mit Audiovisions-Material in einem akademischen Kontext erstellt wurde, die die Vorlage für die Befragung darstellen konnte. Die Gruppe schien aber noch aus einem weiteren Grund für eine solche Befragung gut geeignet zu sein. Da es sich um Studierende handelte, konnte davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage sein würden, das Gesehene zu verallgemeinern und reflektierende Aussagen zu treffen und zu artikulieren. Das Alter ließ zudem vermuten, dass eine gewisse Offenheit hinsichtlich der Darstellungsformen bestünde, da vermutlich die Fixierung auf die bislang bekannten Medien (insbesondere das Fernsehen) weniger ausgeprägt ist als bei älteren Probanden; immerhin war erstens die Lebenszeit, in der sie sich auf die ‘traditionelle Fernseh-Ästhetik’ eingestellt hatten, insgesamt geringer; zudem weisen die gerade von Jugendlichen genutzten Sendungen eine andere und vor allem historisch jüngere, neuere Ästhetik als die von einem älteren Publikum rezipierten Sendungen auf, so dass angenommen werden konnte, dass auch aus diesem Grund eine Fixierung auf bestimmte Darstellungsweisen weniger stark sei. Diese vermutete Offenheit wurde als Voraussetzung angesehen, um Aussagen zu erhalten, die Rückschlüsse auf die Nutzung von Audiovisions-Sequenzen im multimedialen Umfeld sowie um daraus ableitbare Anforderungen an ihre Gestaltung zu erhalten. Die CD-Rom, die als Basis der Gespräche diente, entstammt einem von der Europäischen Union im Rahmen des Interreg II-Programms geförderten Projekt. Ein Ziel war, deutsche Studierenden über einen Studienaufenthalt im Nachbarland, über das französische Hochschulsystem und über in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte der französischen Sprache und des interkulturellen Verhaltens zu informieren. Das zu diesem Zweck erstellte multimediale Angebot vereinigt also verschiedene inhaltliche Aspekte, die allesamt - sowohl in der Kombination, als auch einzeln - charakteristisch für die Anwendungen in CD-Roms oder DVDs sind. Das Spektrum reicht von der Werbung (für einen Studienaufenthalt in Frankreich) über den Informationstransfer (beispielsweise über Fördermöglichkeiten für den Studienaufenthalt) bis hin zu einem Lernprogramm Französisch. Zu allen drei Bereichen wurden auch Audiovisions-Segmente produziert - also vom Clip, der an der herrschenden Werbefilmästhetik orientiert war (kurze, schnelle Schnitte im Musikrhythmus, emotionale Darstellungsweise, Grossaufnahmen), bis hin zu einer informierenden Sequenz, deren Ziel der Wissenstransfer ist (Beispiel: Präsentation der Caise Familiale d’Allocation, ihrer Aufgaben, sowie Informationen über die Unterlagen und Formulare, die für einen Wohngeld-Antrag in Frankreich notwendig sind); schließlich gibt es auch dokumentarische Filme, in denen verschiedene Muttersprachler in Alltagssituationen aufgenommen worden sind, so dass beispielsweise erkennbar ist, welche Sprachebene, welcher Wortschatz Hans W. Giessen 274 usw. von verschiedenen, etwa an der Kleidung oder an Bewegungen soziokulturell identifizierbaren Personen benutzt wird. Die Beschreibung des Inhalts der CD-Rom verdeutlicht bereits, dass sie sich an das special-interest-Publikum von Studierenden gerichtet hat. Wenn sie als Demonstrationsmaterial genutzt werden sollte, war gleichzeitig das Publikum vorgegeben. Diese Beschränkung war aber gerade aufgrund der vermuteten soziokulturellen Charakteristika dieses Publikums als Chance für eine Befragung zu begreifen. Sie versprach verwertbare Aussagen zur Fragestellung, ob an die Filmästhetik im multimedialen Umfeld andere Ansprüche als an die ‘traditionelle Fernseh-Ästhetik’ zu stellen sind. 3. Die Bedeutung von Audiovisions-Sequenzen Zunächst hat keine Testperson den Einsatz der Audiovisions-Segmente kritisiert. Die allgemeine Frage nach einer Güterabwägung zwischen dem Vorteil einer audiovisuellen Darstellung und dem Nachteil, dass dafür sehr viel Speicherplatz benötigt wird, der dann eventuell für andere Anwendungen oder Daten fehlt, wurde von allen Befragten spontan und uneingeschränkt zugunsten der audiovisuellen Segmente beantwortet. Damit bestätigten sie die große Bedeutung, die dem Medium zugebilligt wird. Die Wertschätzung wird bereits an allgemeinen Aussagen deutlich wie: “Mit Video ist so ein Angebot auf jeden Fall lebhafter” (weiblich, 28), oder: “Aber ich denke, die Bewegtbilder fesseln in gewisser Weise - wenn so ein Video dann läuft im Browser, dann, denke ich: man schaut hin, wenn der Inhalt interessant ist” (männlich, 26), schließlich, mit Hinweis auf Ausstrahlungseffekte des Mediums Film auf andere Medien als Beleg für seine Bedeutung: “Film hat den Vorteil, dass man damit die Leute auch einfach ein bisschen lockt, weil: Ich meine, auch Bücher werden mittlerweile anders geschrieben, jeder Bestseller bemüht sich um eine möglichst visuelle, bildhafte Sprache, um die Leute überhaupt damit ansprechen zu können” (männlich, 23). Die allgemein große und uneingeschränkte Wertschätzung gilt demnach gleichermaßen für alle drei inhaltlichen Hauptbereiche. Dass eine audiovisuelle Darstellung im Kontext des Spracherwerbs sinnvoll sein kann, liegt relativ nahe und wird von allen befragten Studierenden so empfunden. Charakteristisch sind die beiden folgenden Aussagen: “Und wenn’s in unseren Anwendungen im Bereich Sprachenlernen eigentlich um den Transport der Sprache geht, dann unterstützt das Bewegtbild dies - durch Gestik, Mimik, Lippenbewegungen” (weiblich, 24), oder: “Ja, es ist sinnvoll, wenn man das Beispiel Fremdsprachenunterricht sieht, weil: da hat man vielleicht auch ganz gern die Lippenbewegungen. Jeder, der schon mal in einer Fremdsprache telefoniert hat, weiß, wie wichtig das ist, zumindest am Anfang” (männlich, 26). Die audiovisuelle Darstellung enthält also zusätzliche Informationen, die als sinnvoll und wertvoll empfunden werden; es gibt aus Sicht der Studierenden keinen Grund, auf diese Informationen zu verzichten. Die Studierenden sprachen auch - in der Regel von sich aus, ohne durch eine Frage dazu aufgefordert zu werden - den Informationsgewinn bei den gezielt zu diesem Zweck produzierten Clips an. Ein Student (28) betont: “Es gibt eine Zielgruppe, natürlich. Die Zielgruppe sind Leute, die aus Deutschland nach Lothringen studieren gehen. Ich war selber ein halbes Jahr in Frankreich und bin eigentlich mehr oder weniger unvorbereitet dorthin gefahren. Und wusste dementsprechend halt nicht, dass man Wohngeld beantragen kann, welcher Umstand das ist, welche Verwaltungsrallye man eigentlich durchführen muss. Jetzt unter dem Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 275 Aspekt sich diese Videos anzukucken, und damit diese Informationen aufzunehmen, das ist quasi Geld wert. Man hat wirklich was davon. Wenn man jetzt tatsächlich vorhat, nach Frankreich zu gehen, dann ist es sehr sinnvoll, sich diese Videos anzukucken. Das ist jetzt aus meiner Sicht.” Und eine Kommilitonin (26) ergänzt: “Man kann ungefähr ..., man weiß, wen man dort ansprechen muss, und vielleicht sogar, man hat das Haus mal von außen gesehen, oder andere Gebäude, die in der Nähe dieser Einrichtung dann stehen. Das heißt, das soll in gewisser Weise auch - die Bilder werden besser behalten als vielleicht jetzt auch irgendeine Adresse auf dem Stadtplan. Man kann beim ersten Besuch in der fremden Stadt sich dann besser zurechtfinden.” Schließlich sei ein 23jähriger Student zitiert, der gesagt hat: “Wo ich persönlich es halt immer ganz sinnvoll finde, ist: zum Veranschaulichen etwas komplexerer Zusammenhänge. Da mag ich das eigentlich immer ganz gern, wenn einem das nochmal erklärt wird, oder vielleicht mit einer Animation ein bisschen anschaulicher gemacht wird.” Dieses Argument gilt erstaunlicherweise auch für die eher werbend eingesetzten audiovisuellen Darstellungen, die für den Auslandsaufenthalt motivieren sollten; auch hier hat es keine negativen Aussagen gegeben. Dass für diese Clips der emotionale Aspekt wichtig sein würde, war zu erwarten beziehungsweise wurde erhofft, denn in dieser Absicht waren sie ja auch produziert worden. Das Ziel scheint erreicht worden zu sein, entsprechend der Aussage einer Studentin (25): “Ja, die Stadtimpressionen, da ist ja die gefühlsmäßige Seite ganz wichtig - da soll mir ja auch die Lust vermittelt werden, da hinzugehen. Das sind ja auch bewusst schöne Einstellungen von Metz, bei tollem Wetter, dort am Markt, wo Leute an den Tischen sitzen, die schönen Gebäude, der Park.” Aber es ist auffällig, dass auch diese Clips unter dem Gesichtspunkt der Informationsvermittlung gesehen werden. Eine Studentin (26) stellt fest: “Eine andere Sache ist, wenn man jetzt diese Clips sieht: man bekommt dadurch - man muss nicht nach Metz oder nach Nancy fahren, um sich dort wichtige Eindrücke vor Ort zu verschaffen, sondern man fährt schon vorbereitet nach Nancy.” Die positive emotionale Grundstimmung, die durch die Audiovisions-Segmente erreicht worden ist, wirkt sich also offenbar auch auf die Einstellung zu Gegenstand aus; und die Studierenden versprechen sich positive Einflüsse auf ihre Lernleistungen. Die subjektiven Eindrücke der Studierenden entsprechen den Ergebnissen der Medienforschung. Dass das Fernsehbild - insbesondere in einer Kombination mit ansprechender Musik - starke emotionale Wirkungen haben kann, ist bereit seit der ersten Hälfte des Jahrhunderts herrschende Meinung; diese Wirkung ist in der Tat stärker und länger anhaltend als die kognitive Lernwirkung (bereits Sturm/ Haebler/ Helmreich 1972). Offenbar beeinflusst die Stimmung, die der Film hervorruft, auch den von ihm gezeigten Gegenstand beziehungsweise Sachverhalt - und in der Folge zumindest auch die Aufnahmebereitschaft. Emotionale Eindrücke resultieren dabei nicht zwangsläufig in einer höheren Behaltensleistung (dazu muss noch die entsprechende Aufarbeitung der Informationen kommen), aber sie erzeugen eine Offenheit, die dann den Wissenserwerb erleichtert (vergleiche Huth 1978). Dazu kommen noch die spezifischen Effekte des Bildes, die ebenfalls positive Auswirkungen auf Wissenserwerb und Behaltensleistung haben können. So wird schon seit langem vermutet, dass etwa die mentale (kognitive) Verarbeitung einzelner Begriffe am besten erfolgt (die Behaltensleistungen - gerade beim Fremdsprachenerwerb ein entscheidendes Kriterium - am höchsten sind), wenn sie audiovisuell dargestellt werden (vergleiche etwa W. Schulz 1975). Dies gilt insbesondere auch für komplexere Themen wie politische Nachrichten: ihnen widmeten sich bereits seit den siebziger Jahren verschiedene Untersuchungen. Dabei wurde gezeigt, dass Nachrichten besser behalten und später erinnert werden, wenn sie Hans W. Giessen 276 in der Nachrichtensendung mit Bewegtbildern präsentiert wurden, als wenn simple Standfotos eingeblendet wurden; am schlechtesten war die Erinnerungsleistung, wenn die Nachrichten schlicht verlesen wurden (Katz/ Ardoni/ Parness 1977). Auch innerhalb einzelner Meldungen ließ sich differenzieren: Die Teile, die visuell illustriert waren, wurden besser erinnert als die Teile, in denen dies nicht der Fall war; und dort, wo keine Unterschiede hinsichtlich der Erinnerungsleistung zwischen Bewegtbild und Standbild festgestellt werden konnten, erregten die Bewegtbilder zumindest mehr Interesse und wurden subjektiv als informativer und angemessener eingeschätzt (Findahl 1981). Neuere Untersuchungen bestätigen, dass vor allem textillustrierende Bilder die Aufmerksamkeit der Rezipienten fokussieren und zu einer deutlich besseren Informations-Aufnahme führen; je nach der Art und Weise, mit der Fernsehnachrichten genutzt werden, erreichen sie auch deutlich Höhere Erinnerungsleistungen als Nachrichten, die mit ‘Routinebildern’ (an- und abfahrende Politikerautos) präsentiert oder nur textlich verlesen wurden (Brosius/ Donsbach/ Brink 1996; Brosius 1998). Allerdings gibt es einen großen Nachteil des Fernsehens: Das Präsentations- und damit auch Aufnahme- oder Lerntempo ist vorgegeben. Zudem können die Nutzer die Art und Weise der Aufnahme, des Wissenserwerbsprozesses nicht selbst bestimmen. Aus diesem Grund hat die Medienforschung immer wieder betont, dass auch das Buch oder die Zeitung spezifische Vorteile haben, wenn sie gleich intensiv und vor allem gleich lange genutzt werden. Man kann einen Satz, der vielleicht beim ersten Lesen nicht ganz verständlich war, noch einmal rekapitulieren - dies ist beim Fernsehen nicht möglich. So kann zusammenfassend festgestellt werden, dass erstens der Zugang zu verschiedenen Themen durch Filme leichter fällt, dass zweitens - nicht zuletzt dann, wenn emotional ansprechende Präsentationen gewählt werden - das angenehme, mit diesem Zugang verbundene Gefühl lange bestehen bleibt, und dass drittens die Lern- und Behaltensleistung insgesamt besser ist als bei einer nicht-visuellen Darstellung, dass aber viertens - und im Gegensatz dazu - komplexere Sachverhalte letztlich doch besser und genauer gelernt werden können, wenn sie schriftlich (oder als Graphik) vorliegen, weil sie dann individuell und vor allem zeitlich variabel nutzbar sind. 4. Zum Vergleich unterschiedlicher medialer Anwendungen Im Kontext einer multimedialen Umgebung ist nun aber erstmals beides möglich, die Nutzung von audiovisuellen Darstellungen und von Schrift beziehungsweise Graphik. Mehr noch: auch die audiovisuelle Darstellung wird hier, zumindest in begrenztem Umfang, individuell und zeitlich variabel einsetzbar. Dass verschiedene mediale Darstellungsformen miteinander kombiniert werden können, ist zunächst ja gerade definitorischer Bestandteil der ‘Multimedialität’. Entsprechende Passagen wurden auch in die CD-Rom eingebaut, die die Grundlage dieser Untersuchung darstellt. So gibt es eine Audiovisions-Passage, in der ein französischer Universitätsprofessor das Hochschulsystem seines Landes erklärt; und daneben ist die entsprechende Graphik anklickbar. Die Studierenden wurden gefragt, wie sie hier die direkte Konkurrenz zwischen visuell-graphischer, also individuell zeitlich nutzbarer Präsentation einerseits und der Audiovision andererseits einschätzen. Auch hier wird der hohe Stellenwert deutlich, den die audiovisuelle Darstellung bei den Studierenden genießt. Ein Student (23) sagt: “Lieber den Videoclip und ein bisschen was mitgekriegt, als sich diese Graphik gar nicht anschauen. Clips zuzusehen ist zunächst einmal nicht so anstrengend. Dann kann man immer noch Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 277 nachschlagen und sich die Graphik reinziehen.” Eine Studentin (25) differenziert bereits analog zu den dargestellten Forschungsergebnissen: “Es ist oft so, dass eine Graphik oder ein Text vielleicht mehr bringen würde - auf lange Sicht gesehen, eben weil man sich damit mehr befassen muss, sich mehr damit beschäftigt - und das andere halt den schnelleren Zugang eröffnet.” Bezüglich der zeitlich und inhaltlich variableren Einsatzweise anderer Medien im Gegensatz zum Film relativieren die befragten Studierenden die Ergebnisse der Medienforschung, die sich ja aber nur auf das Fernsehen bezogen hatte. Die Relativierung hat vor allem zwei Gründe: Zum einen gehen am PC die Vorteile der anderen Medien tendenziell verloren. Der 23jährige Student, der bereits mit seiner Äußerung zur graphischen Darstellung des französischen Hochschulsystems zitiert worden ist, ergänzt: “Bei der speziellen Grafik jetzt zum Beispiel muss ich aber sagen: die ist so groß, dass ich so ‘ne Erklärung - auch gerade eine gesprochene Erklärung, wo er so ein bisschen drauf eingeht, schon gut finde. Wobei dass natürlich auch immer so ‘ne persönliche Sache ist, ob ich jetzt halt mich so genau konzentriere und mir das anschaue.” Diese Aussage kann aber offenbar verallgemeinert werden. Mehrfach wurde beispielsweise auf das Problem des Scrollens hingewiesen, das zur Folge hat, dass auch Texte und Graphiken auf dem PC-Monitor schwerer zum Informationserwerb nutzbar sind, als dies beim Buch offensichtlich der Fall ist. Eine 28jährige Studentin: “Aber ich glaube, vom Medium Computer her, wo man noch nicht so an das Lesen gewöhnt ist, wo einem das ein bisschen schwieriger vorkommt, wo man eventuell rumscrollen muss, weil die Grafik nicht ganz auf den Bildschirm passt, finde ich dann den Einsatz von Videos, die noch erklärend dazukommen, eigentlich besser.” Zusammenfassend gilt also, dass der übliche Vorteil einer flexibleren Nutzungsweise, der mit Graphiken oder Texten assoziiert wird, je nach Umfang der Graphik oder des Textes zwar auch im Web oder auf der CD-Rom oder DVD noch existiert, aber aus medienimmanenten Gründen schwächer wird, weil die Handhabung, insbesondere durch den Zwang zum Scrollen, teilweise als unbefriedigend empfunden wird. Parallel dazu kann festgestellt werden, dass die audiovisuelle Darstellung auf dem Computerbildschirm nun ebenfalls interaktiv handelbar wird, so dass dessen strukturell-formaler Nachteil tendenziell verschwindet. Zumindest entsteht die Möglichkeit, mit Hilfe des Schiebereglers auf der Zeitachse zu navigieren, vorzuspulen, zurückzuspulen oder ein Bild zum Stand zu bringen. Dies wird - zumindest im Zusammenhang der genannten Demonstrations-CD - auch regelmäßig genutzt. Ein Beispiel von mehreren stellt die Aussage eines Studenten (26) dar: “Ich denke aber, beim ersten Mal, wenn ich mal so ‘ne CD durchgehe, dann kuck ich mir, wenn ich merke, dass der [Film] länger ist - das sieht man ja unten an dem Balken - das ganze vielleicht nicht unbedingt ganz an. Dann spul’ ich vielleicht auch mal ein bisschen vor, das geht ja mit dem Schieberegler, oder breche dann irgendwann auch ab ...” Ein anderer Student (28) nutzt die interaktiven Möglichkeiten bei der audiovisuellen Darstellung gerade aus inhaltlichen Gründen: “Man hat irgendetwas nicht verstanden. Es sind ja zum Teil auch fremdsprachige, französischsprachige Filme, Videos. Da ist klar, dass nicht alles verstanden wird. Da kann man sich das nochmal ansehen, oder nochmal irgendwelche Schilder lesen oder Formulare ankucken, wie die ausgefüllt werden, und sich besser die Wörter einprägen und so.” Bemerkenswert ist, dass mittels Audiovision auch Informationen vermittelt werden, für die traditionellerweise ein Text oder eine Graphik benötigt worden sind. Die Möglichkeiten, die zuvor auf die Medien Schrift oder Graphik reduziert zu sein schienen, sind nun auch bei der audiovisuellen Darstellung nutzbar; dazu kommen hier jetzt aber noch die genannten Vorteile hinsichtlich des Wissenserwerbs und der Behaltensleistung. Hans W. Giessen 278 Allerdings wird von mehreren Studierenden darauf hingewiesen, dass diese Möglichkeiten beim Audiovisions-Segment noch begrenzt sind. Das hat zum einen technische Gründe: “Interaktivität, das ist im Prinzip wirklich nur die Bedienung von Vorspulen, Rückspulen undsoweiter. Mehr ist ja im Prinzip kaum möglich, im Moment. Und vielleicht noch eine Anmerkung: Oftmals hackeln die Videos ja so’n bisschen - also auch in der Bedienung: man drückt auf’n Knopf, will ein bisschen zurückspulen, tut sich erstmal nix, oder man spult dann zu weit. Das ist vom Handling her ja eigentlich noch nicht so komfortabel” (männlich, 26). Hier kann davon ausgegangen werden, dass die allgemeine Entwicklung in Zukunft zu einer Verbesserung führt, so dass dieses Argument vermutlich bald nicht mehr stichhaltig ist. Dagegen ist das zweite Argument medienimmanent: die Studierenden verweisen darauf, dass sich die Darstellung von der üblichen Filmpräsentation auf dem Fernsehschirm unterscheidet, da die audiovisuelle Darstellung auf dem Monitor in der Regel relativ klein ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Audiovisions-Segmente in eine multimediale Umgebung eingebunden sind, wenn also die Stärken und Qualitäten des Mediums - Multimedialität und Interaktivität - genutzt werden sollen. Im Projekt, das der Untersuchung zugrunde lag, hatte die audiovisuelle Darstellung ungefähr die Größe eines viertel Bildschirms. Alle Studierende thematisieren mögliche Konsequenzen dieses Sachverhalts. Eine negative Begleiterscheinung ist ganz offensichtlich: “Man muss halt angestrengter hinschauen” (männlich, 28), “man muss sich mehr konzentrieren” (männlich, 23). Dies ist vermutlich die größte Einschränkung für das Erkennen und kognitive Verarbeiten der audiovisuellen Darstellung. Ein Student (28) benennt hier als Notwendigkeit, was zuvor als Chance der Interaktivität interpretiert worden ist: “Man ist vielleicht auch mal gezwungen, das Video anzuhalten und zurückzuspulen, um irgendwelche Schilder mit Öffnungszeiten, Wegweiser und so weiter entziffern zu können. In diesem speziellen Kontext halte ich oft an und spule zurück.” In der Folge wurden die Studierenden noch einmal auf die Probleme angesprochen, die aus der Tatsache des kleinen Bildes in der multimedialen Umgebung resultieren, wie auch die damit in Verbindung stehenden Gefahren, dass sich der Nutzer in einer solchen Umgebung schwerer auf die einzelne Anwendung konzentrieren kann. Aber auch in diesem Kontext bevorzugen die befragten Studierenden die audiovisuelle Darstellung. Ein Student verweist darauf, dass Audiovision trotz dieser Einschränkungen die bessere Alternative darstelle. Dies gelte insbesondere in den Fremdsprachensegmenten: “Auch jetzt im Vergleich, als wenn man jetzt die reine Tonspur nehmen würde - da, glaube ich, würde man doch viel eher abschweifen und vielleicht sich mit den Augen eine Beschäftigung suchen, als wenn man dann tatsächlich durch dieses Bewegtbild verdonnert ist, quasi den Leuten auf die Lippen zu kucken” (männlich, 26). Allgemein wird auch betont, dass etwa die mit Musik unterlegte, also emotionalisierende Darstellung der französischen Hochschulorte und Studentenwohnheime viel ansprechender sei und vor allem auch eine intensivere Beschäftigung evoziere als die (auf der CD-Rom oder DVD ebenfalls vorhandene) Alternative einer Präsentation nur durch ein Foto. Die Bedeutung der audiovisuellen Darstellung ist also offenbar so groß, dass die medienimmanenten Probleme dadurch kompensiert werden. Das (in Zukunft ja vermutlich immer wichtiger werdende) Bedürfnis nach einer möglichst professionellen Erarbeitung solcher Angebote impliziert allerdings auch, dass ein angemessener Umgang mit den Gesetzen des Mediums gefunden werden muss. Bislang gibt es dazu aber noch kaum Forschungen oder allgemeine Überlegungen. Aus der Befragung der Nutzer können zumindest einige möglicherweise wichtige Spezifika abgeleitet werden. Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 279 5. Probleme der audiovisuellen Darstellung im multimedialen Kontext: kleines Bild, fehlende Distanz Zunächst betonen alle Studierenden, dass sich die Sehgewohnheiten ändern, weil der Abstand vom Computermonitor viel geringer ist als die übliche Entfernung zum Fernsehbildschirm. “Also, beim Fernsehen, da sitze ich ja schon so drei Meter oder so entfernt. Aber vor dem Computer, da sitzt man ja ganz dicht davor. Ich meine, man kann natürlich mit dem Stuhl ein bisschen wegrutschen, aber das macht man ja nicht, man sitzt ja am Schreibtisch und am Keyboard und der Maus. - [Frage: Hat das bei den Videosequenzen nicht doch irgendwelche Auswirkungen? Lehnen Sie sich zurück, beispielsweise? ] - Vielleicht macht man das schon ein bisschen, so unwillkürlich, dass man sich vorbeugt und zurück, und man kriegt das gar nicht so bewusst mit. Aber eigentlich sitzt man direkt mit der Nase vor dem Bild”, so eine Studentin (24). Eine andere Studentin (25) betont die Konsequenz dieses Sachverhalts: “Ich denke mal, die Konzentration liegt doch eher auf den eigentlichen Bildmittelpunkt. Wenn man davor sitzt und sich konzentriert, sich konzentrieren muss, weil man halt das unter dem Gesichtspunkt sich anschaut, dass ich wissen will, was der sagt, dass mir das vielleicht etwas bringt, dass ich ‘was genau erkennen und mitkriegen will, liegt dann halt mehr die Konzentration auf dem Bildmittelpunkt. Dann wird das, was so am Rande steht, glaube ich, doch ausgeblendet, eher.” Grundsätzlich ist eine gewisse Zeit notwendig, um ein Bild zu verarbeiten und ‘innerlich zu verbalisieren’ (zum Fernsehbild: Sturm 1984). Aussagen der Studierenden bestätigen, dass kompliziertere Bildumgebungen im Rahmen des kleinen Computer-Frames schlecht erfasst werden. Beispielsweise hat eine Studentin (28) auf eine Interviewszene mit einer französischen Muttersprachlerin hingewiesen. Die Szene beginnt damit, dass sich die Muttersprachlerin vorstellt. Im direkten Anschluss daran beginnt das Interview; die filmische Darstellung erfolgt durch einen Schnitt in die Halbtotale, so dass nun, aus erweiterter Kameraperspektive, eine Interviewerin im Anschnitt vor der Muttersprachlerin zu sehen ist. Gleichzeitig ist akustisch die Frage der Interviewerin zu hören. Ein solcher visueller Interviewaufbau ist von zahlreichen Fernsehgesprächen her bekannt. Das Videobild auf der CD-Rom entsprach vom Bildaufbau der vom Fernsehen gewohnten Praxis; Rückfragen bei der befragten Studentin haben auch bestätigt, dass das Bild eindeutig und klar erkennbar war. Problematisch erschien ihr aber, dass nun die beiden am Interview beteiligten Personen jeweils an der rechten und der linken Seite des Bildes standen. Dagegen war in der Einstellung zuvor die (sich vorstellende) Muttersprachlerin alleine in der Bildmitte zu sehen. Der Blick der Studentin war also auf die Bildmitte hin konzentriert gewesen; offenbar war sie vom visuellen Wechsel auf eine (und sei es auch nur) zweipolare Bildgestaltung mit derselben Muttersprachlerin auf der einen, und der Interviewerin auf der anderen Seite des Bildes überrascht worden: “Dann war ich zuerst ein bisschen irritiert, weil man halt bei dem Schneiden auf die Interviewerin nicht sofort sieht, nicht genau - also für mich, vielleicht habe ich das auch einfach nur nicht so ganz mitgekriegt -, dass die dann halt die Interviewerin ist.” Die genannte Studentin war die dritte Person, die im Rahmen dieser Untersuchung befragt worden ist. Nach der Auswertung ihres und eines weiteren Interviews wurden die restlichen acht Studierenden gezielt auf diese Thematik angesprochen. Alle acht sagten (spontan und nach erneuter Sichtung der Szene ein weiteres Mal), dass die Einstellung nach dem Umschnitt nicht ungewöhnlich oder unübersichtlich gewesen sei. Dennoch bestätigten sie entsprechende Schwierigkeiten und erweiterten sie von sich aus auch auf andere Schnittfolgen - wenngleich alle acht auch betonten, dass ihre Irritation nicht so groß gewesen sei, wie dies offensichtlich Hans W. Giessen 280 bei der 28jährigen Studentin der Fall gewesen war. Alle acht verallgemeinerten den Sachverhalt dahingehend, dass die Probleme mit dem geringen Abstand zum Bild und der daraus resultierenden ‘fehlenden Distanz’ (weiblich, 24) zusammenhingen. Verschiedene Studierende gaben auch der Vermutung Ausdruck, dass dieser Effekt durch die multimediale Umgebung noch verstärkt worden sein könnte, da diese ‘ablenkende Wirkungen’ (wie mehrere Studierende zu Protokoll gaben) habe. Gerade weil die multimediale Umgebung vielseitig und abwechslungsreich sei, müsse die Szene auch nach einem kurzen ‘Abweichen’ (männlich, 23) sofort identifizierbar sein. Die Beobachtungen haben, wenn sie zutreffend und verallgemeinerbar sein sollten, Auswirkungen auf die Bildgestaltung. Demnach müsste der Kamerafrau beziehungsweise dem Kameramann bereits beim Drehen bewusst sein, für welches Medium die Produktion gedacht ist. Die Bilder, die für eine Einbindung in eine multimediale Umgebung auf dem Computermonitor gedacht sind, müssten mithin fokussiert gedreht werden, die gezeigten Gegenstände müssten groß sein, während offensichtlich (als Gegensatz dazu) weite, totale Landschaftsaufnahmen ihren Reiz in einem kleinen Computerframe nicht entfalten können. Es ist zu vermuten, dass der von der Studentin genannte ‘Bildmittelpunkt’ nicht notwendigerweise den tatsächlichen physikalischen Mittelpunkt des Frame meint, wohl aber die Tatsache einer tendenziell (nur) punktuellen Konzentration auf das Zentrum der im Frame gezeigten visuellen Darstellung; diese Vermutung wurde von den anderen Studierenden bestätigt, wenngleich nur nach entsprechenden Rückfragen. Dies würde jedoch bedeuten, dass auch die Realisatorin beziehungsweise der Realisator medienspezifisch arbeiten müsste. So wäre ein exaktes Storyboard notwendig, in dem genau festgelegt werden müsste, wie die Zuschauer beispielsweise durch Bewegungen auf eine Verlagerung des Handlungszentrums (Bildschwerpunkts) hingeführt werden sollen. Auch die Cutterin beziehungsweise der Cutter müsste diesen Sachverhalt berücksichtigen. 6. Probleme der audiovisuellen Darstellung im multimedialen Kontext: Zeitempfinden und Dramaturgie Alle Studierenden betonen, dass sie neugierig seien, wenn sie im Web oder auf einer CD-Rom auf ein Audiovisions-Angebot stießen. Die meisten Studierenden sagten auch, dass sie ein solches Angebot fast immer anklicken würden. Dennoch gibt es auch hier Einschränkungen. Insbesondere beim Web lassen sie sich auf noch existierende technische Unzulänglichkeiten zurückführen. “Mir ist eben noch so als Erfahrung eingefallen: Man klickt auf irgendwas, ein Video, und man freut sich auf irgendwas, das also vielleicht auch technisch dem State of the Art entspricht. Man wartet ungefähr eine [lacht] halbe Stunde, bis der Clip dann tatsächlich runtergeladen ist - und kriegt dann ein technisch miserables File, das einfach den Erwartungen nicht entsprochen hat. Typischer Frustrationseffekt, der im Moment aber noch auftaucht. Ich bin im Moment, ich tendiere vielleicht eher mal dazu, so einen Link auszusparen, wenn ich nicht genau weiß, was dahintersteckt” (männlich, 28). Auch hier kann man davon ausgehen, dass der zu erwartende technische Fortschritt diese Probleme minimieren wird. Dennoch scheint das Phänomen auch teilweise unabhängig von den technischen Beschränkungen zu existieren. So berichtet ein Student (26): “Das fällt mir zum Beispiel auf: selbst wenn die Dinger wirklich interessant sind, wenn sie dann zu lange werden, dann nervt’s mich irgendwo - im Unterschied zum Fernsehen. Wenn ich mir dort eine Dokumentation ankucke, dann im allgemeinen ja doch, weil ich mir das vorher ausge- Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 281 sucht habe, oder ich bleibe hängen, weil mich das Thema interessiert und dann halt nix Ablenkendes noch dabei ist.” Auch hier scheint die Ursache in formalen Charakteristika des Mediums zu liegen, eben der (hier ja erneut genannten) möglichen Ablenkung durch das multimediale Umfeld; daher vermutlich auch von der Konzentrationsleistung, die notwendig ist, um lange Zeit dem Bild im kleinen Frame zu folgen. Das Phänomen ist allen befragten Studierende bekannt. So bestätigt eine Studentin (24): “Wenn man an so einem System sitzt, hat man zumeist nicht die Nerven, die Lust, die Zeit, sich einen zehn Minuten langen Clip anzukucken.” Weitere Rückfragen bei den befragten Studierenden scheinen zu bestätigen, dass formale Beschränkungen zu diesem unterschiedlichen Sehverhalten führen. Auf eine solche Interpretation deuten aber auch charakteristische Aussagen, die ohne gezielte Fragen beziehungsweise davor geäußert worden waren. So sei als Beispiel die Aussage einer 25jährigen Studentin über das Phänomen zitiert, dass sie, ihrer Einschätzung zufolge, weniger Bildinformationen vom Computer-Monitor als vom Fernseh- Bildschirm aufnehme; dies geschehe “auch allein schon deswegen, weil man wahrscheinlich sich Videos auf einer CD unter einem anderen Gesichtspunkt anschaut als zum Beispiel einen Film, den man mag und den man sogar mehrmals ansieht, wo man dann auch mal anfängt, sich so mit dem zu beschäftigen, was im Film, im Bild so am Rande ist. Das macht man ja bei einer CD nicht so. Da schaut man sich die Clips eher an, um ‘was inhaltlich zu lernen - oder dann auch, um sich von den Übungen der CD zu entspannen. Aber dann schaut man halt auch nicht so konzentriert zu wie bei einem Film. Auch dann nicht, wenn das Video auf der CD wirklich gut ist. Man schaut sich das einfach anders an.” Sie ist also bereit, sich ‘Filme’, also Kino- oder Fernsehproduktionen, mehrmals konzentriert anzusschauen. Im Unterschied dazu scheint sie ‘Videos auf der CD’ nur unkonzentriert (,um sich zu entspannen’; ein anderer, 23jähriger Student spricht in ähnlichem Kontext davon, er schaue Videos auf dem Computer-Monitor - auch - ‘zur Auflockerung’) oder aus einer außerhalb des Medienprodukts liegender Motivation heraus (,um ‘was inhaltlich zu lernen’) anzusehen. Beim ‘Film’ dagegen liegt der Anlass für das mehrmalige konzentrierte Zusehen offenbar im Medienprodukt selbst. Einen Hinweis auf den Grund dieses unterschiedlichen Rezeptionsverhalten gibt die Aussage vom ‘anderen Gesichtspunkt’, unter dem sie audiovisuelle Darstellungen auf einer CD anschaut; dies deutet erneut auf formale Ursachen. Dabei wird als Tatsache paraphrasiert, dass ‘auf der CD’ eine Fokussierung erfolge, die Informationen darüber ausschließe, ‘was im Film, im Bild so am Rande ist’. Die Studentin verwies erneut auch auf den Höheren Konzentrationsaufwand beim ‘Video auf der CD’. Offenbar ist der Konzentrationsaufwand so hoch, dass Audiovisions-Segmente in multimedialer Umgebung nur relativ kurzzeitig mit Interesse und Genuss betrachtet werden; danach erlahmt das Interesse. Den Nutzern stehen zwei Handlungsalternativen zur Verfügung: entweder brechen sie die audiovisuelle Präsentation ab, oder sie nutzen den Schieberegler, um auf der Zeitachse zu navigieren und zu überprüfen, was als weitere Informationen zu erwarten ist beziehungsweise wie der Clip endet. Alle befragten Studierenden haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht; ein übliches Verhalten, von mehreren Studierenden benannt, ist es, an das Ende des Clips zu gehen und die letzten Sekunden zu beobachten. Es scheint, den Aussagen der Studierenden zufolge, zumindest selten zu sein, sich beim zweiten oder wiederholten Schauen einen Clip (erneut) ganz, von Anfang bis Ende anzusehen, wenn nicht das Gefühl einer durch den Inhalt hervorgerufenen Notwendigkeit besteht. Das bedeutet, dass die Produzenten audiovisueller Segmente für das Web oder die CD- Rom oder DVD einen anderen, weniger chronologischen Umgang (als etwa beim Fernsehfilm) einkalkulieren müssen. Zumindest müssen die Audiovisions-Segmente kurz sein; die Hans W. Giessen 282 Grenzziehung der Studierenden erfolgt bei ‘zwei Minuten’ (so verschiedene Aussagen), wobei vier Studierende, also ein Drittel der Befragten, bereits diese Zeit als zu lange empfand. “So eine Minute, eineinhalb Minuten, da schaue ich gerne hin, vor allem, wenn’s schön gemacht ist. Aber ich glaube, dass ich trotzdem schon nach einer oder eineinhalb Minuten ungeduldig werde. Vielleicht sogar eher nach einer Minute, eher nur kurz”, so die 24jährige Studentin. Zudem impliziert dieses Nutzerverhalten, monothematische Clips zu erstellen. Die Tatsache, dass manche Clips nicht von Anfang bis Ende, sondern nur in Ausschnitten gesehen werden, kann die Realisatorin beziehungsweise den Realisator tendenziell zum Verzicht auf eine chronologische, auf eine Pointe oder eine Konsequenz hinzielende Darstellungsweise veranlassen, also repetitive Elemente implizieren. Diese Konsequenz wird von allen befragten Studierenden empfohlen, wobei sie zu Bedenken gaben, dass sich die repetitiven Elemente ausschließlich auf die inhaltliche Präsentation beschränken dürften, während die filmische Darstellung stets neu beziehungsweise anders erfolgen sollte, um weitere Ermüdungseffekte zu vermeiden. “Klar ist es ärgerlich, wenn man was wichtiges verpasst beim Vorspulen, und wenn man dann keine Lust mehr zum Zurückspulen hat - vielleicht findet man die genaue Stelle ja nicht sofort von dem, was man da verpasst hat. Also, ich sehe den Vorteil von Video ja eher darin, dass man einen verständlichen Zugang bekommt, dass man Lust am Lernen bekommt, Lust am Französischen. Der Film sollte deshalb Lust machen und es einem nicht zu schwer machen, wenn man mal was versäumt hat”, so eine 26jährige Studentin. Und ein 23jähriger Student sagt, er habe “manchmal keine Lust, einen langen Clip zu sehen. Trotzdem wäre es schön, wenn man das wichtigste mitbekommen könnte, auch wenn man nur einen Teil sieht. Also schon so wiederholend, im Inhalt, ja. Aber trotzdem so gemacht, dass man sich nicht langweilt oder ärgert und ihn sich dann gar nicht mehr ankuckt.” Das heißt auch, dass (idealerweise) jede Einstellung eines Clips aus sich heraus verständlich und nachvollziehbar sein muss; dass ‘Verständnis’ nicht zwangsläufig voraussetzt, den kompletten Clip gesehen zu haben. Auf der anderen Seite dürfen natürlich diejenigen Nutzer, die sich den Clip in Gänze ansehen, dafür nicht mit Langeweile bestraft werden. Die inhaltliche Darstellung sollte also dem Prinzip der ergänzenden Variation, aber eben nicht demjenigen der Chronologie folgen. Vielleicht sollte vom Ziel einer visuellen statt inhaltlichchronologischen Dramaturgie gesprochen werden. 7. Zusammenfassung: Zum Vergleich unterschiedlicher Audiovisions-Medien (Kino - Fernsehen - Computer) Immer wieder nannten die Studierenden das Fernsehen als Vergleichsmedium; gelegentlich verwiesen sie auch auf das Kino. Die Vergleiche sind naheliegend, denn bei beiden handelt es sich, genau wie bei der audiovisuellen Präsentation auf einer CD-Rom oder DVD oder im Web, um Bewegtbild-Medien. Dennoch dienen die Vergleiche eher dazu, Unterschiede deutlich zu machen. Der Hinweis, dass die Nutzer von Audiovisions-Segmenten im multimedialen Kontext tendenziell (sehr) nahe vor dem Monitor sitzen, impliziert den Unterschied zum Fernseh-Bildschirm, von dem die Studierenden nach Eigenaussage etwa drei Meter entfernt sind, manche Selbsteinschätzungen nennen auch eine Entfernung von drei bis fünf Metern; noch größer ist natürlich der Abstand zur Kinoleinwand. Die Studierenden betonen einen Zusammenhang zwischen dem Abstand zum Bild und der Möglichkeit, es in seiner Gesamtheit zu erfassen. Im Kino hätten sie keine Probleme, das Bild aufzunehmen, obwohl es sehr detailreich und groß ist. Dagegen wird auf dem Computer-Monitor offensichtlich nur Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 283 der Bild- oder zumindest Handlungsschwerpunkt erfasst, obgleich das Bild ja so klein ist. Der Grund scheint gerade in der fehlenden Distanz zu liegen. Den Studierenden wurde - in einem Frame auf dem Computermonitor - exemplarische Bilder präsentiert, die jeweils für ein Medium charakteristisch sind: weite Landschaftsaufnahmen, die einem Spielfilm entnommen worden sind; eine Folge von Halbtotalen, die den Sequenzen mit den französischen Muttersprachlerin entstammten; sowie Grossaufnahmen (Close-Ups) aus den als werbend konzipierten Clips. Die Studierenden gaben durchgängig an, dass die Landschaftsaufnahmen auf dem Computermonitor eher uninteressant erscheinen. Dies führten sie auf zwei sich gegenseitig (negativ) verstärkende Faktoren zurück: erstens auf die Tatsache, dass die Landschaftsspezifika auf dem kleinen Computerbild nicht deutlich erkennbar seien, das Filmbild demnach unübersichtlich und undeutlich erscheine. Zudem seien die Einstellungen relativ lang gewesen, so dass sich der Eindruck einer gewissen Langeweile noch verstärkt habe. Die Studierenden konzidierten, dass es sich um eine Kombination handele, die gerade zur Wirkung auf der großen Kinoleinwand beitrage. So sagte eine Studentin (25): “Klar, im Kino, da kann man auf der Leinwand mit den Augen spazieren gehen, da ist das was anderes, da kann man das ruhig auch länger sehen, mit Musik und so.” Wie bereits dargestellt, wurden im Gegensatz dazu die Grossaufnahmen als angemessen für das kleine Frame auf dem Computer-Monitor angesehen. Die Studierenden äußerten sich dagegen sehr positiv über die formale Gestaltung der werbenden Clips, insbesondere der auf Musik (rhythmisch und eher schnell) geschnittenen Portraits der französischen Universitätsstädte. Ein Student (23) bestätigte: “Ja, da kuckt man zu, weil es immer wieder etwas Neues zu sehen gibt - da kann man gar nicht erst abgelenkt werden.” Offensichtlich herrscht der Eindruck, dass die audiovisuelle Darstellung gerade angesichts der multimedialen, graphisch gestalteten Umgebung Aufmerksamkeit erheischen muss. Da die Bildgestaltung jeweils plakativ sein muss (um schnell erfasst werden zu können), scheint die Möglichkeit, visuell Interesse zu erregen und zu fesseln, vor allem in den Schnittgestaltung zu liegen. Insofern gibt es einen Gegensatz zwischen der formalen Gestaltung eines Kinofilms und eines audiovisuellen Segments, der für ein multimediales (Computer-)Umfeld produziert worden ist. Natürlich ist das Medium der Audiovision im multimedialen (Computer-)Umfeld zu neu, als dass sich dort die entsprechende Ästhetik bereits hätte entwickeln können. Verschiedene Studenten nannten deshalb das Fernsehen, wo sich erst im Lauf mehrerer Jahrzehnte eine eigene Bildsprache herausgebildet hat, und bewerteten es als ‘Brückenmedium’ zwischen Kino und Computer. Ein Student (23) sagte: “Also, ich denke mal, so was wie Viva, so schnelle Musikclips, das würde es heute nicht geben, wenn wir nur das Kino hätten, weil, da würde einem ja doch schwindlig nach einiger Zeit. Aber beim Fernsehen ist das ja schon interessant, da ist wenigstens was los. Und beim Computer wird einem bestimmt nicht schwindlig, sondern, da würde man eher hinschauen und würde nicht so leicht abgelenkt werden.” Der Grund dafür scheint gerade in der formalen Eigenschaft einer (großen oder geringen) Distanz zum Zuschauer zu liegen. Es lässt sich somit eine historische Abfolge beschreiben: Im Kino sitzen die Zuschauer vor einem großen Bild; sie benötigen daher Zeit, es aufzunehmen und (kognitiv) zu verarbeiten. Andererseits werden sie dabei aber auch nicht abgelenkt, da sie im Dunklen vor einer den gesamten Gesichtskreis umfassenden Leinwand sind. (Obwohl ein Kinobesuch als soziales Ereignis gilt, kann die Rezipientensituation als isoliertes Zuschauen beschrieben werden. Das soziale Moment liegt in der Regel in der Situation, die Wohnung zu verlassen, sich mit Bekannten zu treffen und anschließend mit ihnen auszugehen). Zudem ist die Distanz zur Hans W. Giessen 284 Abb. 1: Unterschiede der Nutzersituation Kinoleinwand relativ groß. Insgesamt scheint es daher möglich zu sein, das Bild in seiner Gänze zu erfassen. In der Regel nehmen Spielfilme in ihrer formalen Gestaltung auch auf die Rezipientensituation im Kino Rücksicht. Aus diesem Grund sind die einzelnen Einstellungen eher lang. Umgekehrt ermöglicht die Rezipientensituation, tendenziell detailreiche Bilder zu erstellen; die charakteristische Einstellungsgröße ist die (Landschafts-)Totale beziehungsweise die Massenszene. Dagegen ist die Rezipientensituation beim Fernsehen gänzlich anders. Der Apparat (und damit das Bild) ist relativ klein. Detailreiche Aufnahmen können hier schwerer erfasst werden. Die charakteristische Einstellungsgröße ist deshalb die Amerikanische beziehungsweise die Halbtotale; zunehmend konzentriert sich das Fernsehbild auch auf Gesichter, die als Close-Ups präsentiert werden. Zudem sind die Rezeptionsbesingungen nicht so, dass ein konzentriertes Zusehen immer gewährleistet ist. Häufig wird das Fernsehen als Familienmedium genutzt, wobei dann soziale Interaktionen einen großen Raum einnehmen und tendenziell immer wieder vom Fernsehbild ablenken. Zumindest wird nur selten in einem dunklen Raum ferngesehen, so dass auch die Zimmerumgebung ablenkend wirken kann. Aus diesem Grund muss eine Fernsehproduktion immer um die Aufmerksamkeit der Zuschauer kämpfen. Da die Aufmerksamkeit nicht durch detailreiche Aufnahmen erreicht werden kann, bleibt als formale Maßnahme die Möglichkeit, durch schnelle(re) Schnitte die Zuschauer zu zwingen, immer wieder zum Fernsehbild zu schauen beziehungsweise ihren Blick nicht abzuwenden. Vor diesem Grund ist die Aussage des 23jährigen Studenten plausibel, der davon ausgegangen ist, dass sich die Ästhetik des Musikclips im Kino nicht entwickelt hätte, da dort die Rezipientensituation so sei, dass schnelle Schnitte und unruhige Bilder Schwindelgefühle evoziert hätten. Es handelt sich mithin um eine medientypische Entwicklung des Fernsehens; möglicherweise kann die entsprechende Produktionsweise als ästhetische Kompensation dafür bezeichnet werden, dass Totalaufnahmen hier nicht wirksam sind. Allerdings nimmt die Funktion des Fernsehens als Familienmedium, zumindest bezogen auf den täglichen Gesamtkonsum, immer stärker ab, und die Konsumentenforschung hat ergeben, dass die inzwischen übliche Fernsehsituation aus einem oder maximal zwei Zuschauern besteht - nicht nur in Ein-Personen-Haushalten, sondern auch dort, wo mehrere Menschen in einer Wohnung zusammenleben (Krotz 1994: 509 f.). Aus dieser veränderten Nutzersituation folgt aber nicht, dass die Rezipienten nun konzentrierter zusehen. Dabei spielen erneut formale Eigenschaften eine Rolle, in diesem Fall vor allem die Einführung der Fernbedienung, die dazu führt, dass die Zuschauer häufig hin- und herschalten und nur noch selten einen Film von Anfang bis Ende sehen (Krotz 1994). Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 285 Vor diesem Hintergrund sehen sich die Fernsehproduzenten eher noch mehr dazu gezwungen, die Aufmerksamkeit der Konsumenten auf der formalen Seite durch schnelle Schnitte zu erregen. Offenbar nimmt dieser Druck bei Audiovisions-Produktionen für eine CD-Rom oder DVD oder das Web durch die Interaktivität und das multimediale Umfeld noch zu. Bereits auf dem Monitor kann die (graphisch gestaltete) Umgebung irritieren und ablenken. Dazu kommt, dass das Bild noch kleiner und die Distanz zum Bild noch geringer ist. Schließlich kann auch durch Multitasking auf andere Anwendungen ausgewichen werden, wenn die Darstellung visuell uninteressant ist - so dass der Nutzer eventuell noch den Ton hört und somit den Eindruck hat, den Inhalt erfassen zu können, während ihm doch zumindest die visuellen Bildinformationen fehlen (von der Tatsache einmal abgesehen, dass die Konzentration auf den Ton durch das Betrachten anderer Anwendungen zweifellos begrenzt ist). Von daher dürfte die mediencharakteristische Produktionsweise für das Web oder die CD-Rom oder DVD tendenziell darin bestehen, noch mehr Close-Ups zu produzieren, also einen noch einfacheren Bildaufbau zu gewährleisten und detailreiche Bilder zu vermeiden. Zudem dürfte das Schnitt-Tempo noch zunehmen, um den Zuschauern den Eindruck zu vermitteln, sie müssten jetzt zuschauen und dürften nicht abschweifen, wenn sie nicht das (berechtigte) Gefühl haben wollen, etwas zu verpassen. Inhaltlich scheint diese Entwicklung zu bedeuten, dass die Realisatoren verschiedene inhaltliche Ansprüche aufgeben müssen. Vor allem kann nicht mehr selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass die audiovisuelle Darstellung von Anfang bis Ende gesehen wird. Dies ist beim Kino noch fast zwangsläufig der Fall, weil die Alternative - den Kinosaal zu verlassen, dabei andere Zuschauer zu stören und entsprechend aufzufallen, schließlich auch, auf das Eintrittsgeld zu verzichten - nur gewählt wird, wenn der Film ausgesprochen unbefriedigend ist. Die Entwicklung des Nutzerverhaltens beim Fernsehen hat aber bereits dazu geführt, dass jeder Zuschauer seinen eigenen ‘Fernsehfluss’ gestaltet, in dem er häufig von Programm zu Programm zappt (Krotz 1994). Die Tendenz, die audiovisuelle Darstellung nicht in voller Länge zu sehen, scheint im Kontext des Computers nun noch ausgeprägter zu werden; interaktive Möglichkeiten wie diejenige des Vor- und Rückspulens führen offenbar dazu, dass die Konsumenten eine Audiovisions-Sequenz auf dem Computer-Monitor häufig nicht einmal mehr in der beabsichtigten Chronologie betrachten. Eine naheliegende Konsequenz für die Realisatoren liegt darin, auf einen chronologischen Aufbau weitgehend zu verzichten, also in der Tendenz eher monothematisch und repetitiv zu arbeiten. Die erzählende Dramaturgie des Kinos spielt bereits bei verschiedenen typischen Sendeformen des Fernsehens (etwa bei den Talkshows) keine Rolle mehr; im Rahmen des Computers ist sie, sofern diese Darstellung korrekt ist, undurchführbar. Schließlich scheinen die (formalen) Rezeptionsbedingungen (wie das kleine Bild, aber auch die Zwänge der multimedialen Umgebung) dazu zu zwingen, sich auf kurze audiovisuelle Darstellungen zu beschränken. Während das Kino lange Filme bieten muss - ansonsten wären der Aufwand, für einen Film die Wohnung zu verlassen, wie auch die Höhe der Eintrittspreise nicht begründbar und damit die Unterhaltskosten des Lichtspieltheaters nicht zu erwirtschaften - scheint die akzeptierte Höchstdauer beim Computer bei lediglich etwa zwei Minuten zu liegen . Offensichtlich wird der Eindruck dieser historischen Abfolge auch von den Studierenden geteilt. Darauf deuten verschiedene Vokabeln, mit denen die kurzen, schnell geschnittenen Portaits der Universitätsstädte charakterisiert werden (,moderner’, so die identische Aussage einer 24jährigen Studentin und eines 26jährigen Studenten, ‘einfach zeitgemäßer’, so eine 25 jährige Studentin). Eine andere Aussage des 26jährigen Studenten bestätigt, dass er auch den Hans W. Giessen 286 Eindruck des Medienadäquanz teil: “Schnelles Medium Computer, da erwartet man auch schnelle Schnitte, kurze Clips, das passt zusammen.” Kino TV Computer Bildgröße Totale (z.B. Landschaften, Massenszenen), detailreich Halbtotale detailarm Großaufnahme detailarm Schnitt lange Einstellungen historisch: lange Einstellungen - aber: MTV schnelle Schnitte, ‘Clip’-Rhythmus Filmplanung (szenische) Planung von Einstellungen keine Planung! Kamera reagiert lediglich! (Charakteristische Formen: Reportage, Dokumentation, Talk- Show) (formale) Planung von Übergängen (Kamerabewegungen; Objektbewegungen) Filmlänge 90´ ca. 20´ bis 45´ 2´ Dramaturgie chronologisch erzählend (Geschichten! ) historisch: chronologisch erzählend - aber: Talk-Shows, Daily Soaps: Verzicht auf Kontext und Geschichte Chronologie ist problematisch - Varianten des Gleichen Verzicht auf Kontext und Geschichte Tab. 1: formale Unterschiede im Produktionsprozess 8. Einschränkungen Bezogen auf das Web wurde bereits der 28jährige Student mit der Bemerkung zitiert, dass man lange auf ein File warten und sich dann mitunter auf technisch unausgereifte audiovisuelle Darstellungen einstellen müsse, so dass ein ‘typischer Frustrationseffekt’ entstehe. Auf die Diskussion, wie sich die Filmästhetik vom Kino zu den Computermedien entwickelt habe, reagierte er ähnlich: “Das mag schon stimmen, das ist vielleicht eine Zukunftsprognose, das ist vielleicht die zukünftige Sprache von Video im Computer. Zur Zeit klappt es technisch halt nur sehr eingeschränkt.” Schnelle Schnitte funktionieren im Web noch nicht gut; aufgrund der Komprimierung mit Hilfe des Schlüsselframe-Verfahrens kommt es häufig zu unangenehmen Nebeneffekten. So entsteht mitunter der Eindruck einer weichen Überblendung beziehungsweise eines Morphing-Effekts, der nie die Intention der Cutterin beziehungsweise des Cutters gewesen war. Problematisch sind mitunter auch Einstellungen aus der Natur, etwa von Bäumen, die sich im Wind bewegen, so dass die Blätter permanent flirren. Auch solche Darstellungen sind visuell zu detailreich, um sich mit Hilfe des Schlüsselframe-Verfahrens sinnvoll übertragen zu lassen. Die Zuschauer haben lediglich den Eindruck einer verschwommenen grünen Masse. Ähnliche Probleme entstehen bei Einstellungen, die aus der Hand gefilmt sind, so dass jedes einzelne Bild minimale Veränderungen zum davorliegenden und zum darauffolgenden Formale Charakteristika von Audiovisionssegmenten im mulimedialen Umfeld 287 Bild aufweist. Dagegen sind Segmente technisch problemlos, die im Extremfall aus einer Einstellung bestehen, mit einfarbigem Hintergrund und einer sich wenig bewegenden Person in der Halbtotalen. Dies trifft beispielsweise auf Statements zu; hier genügt unter Umständen gar ein Schlüsselframe für einen zweiminütigen Clip. Derzeit besteht also noch ein Konflikt zwischen existierenden technischen Möglichkeiten insbesondere bezüglich der Datenübertragung auf der einen Seite, und einer angemessenen formalen und inhaltlichen Gestaltung auf der anderen Seite. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die meisten Produktionen, die im WWW gesehen werden können, nicht mediengerecht sind, während (beziehungsweise weil) die mediengerechte Darstellungsweise technisch nicht möglich ist. Dagegen lassen sich Audiovisions-Sequenzen von einer CD-Rom oder DVD ohne Probleme mit 24 beziehungsweise 25 Frames pro Sekunde abspielen, so dass hier harte Schnitte in der Regel angemessen wiedergegeben werden können. Hier kann eine mediengerechte Produktion also problemlos angeboten werden. Mittelfristig - durch neue Videoformate und mehr Bandbreite im Netz - werden vermutlich auch die mit dem Web verbundenen Probleme gelöst werden. Weiteren Experimenten mit einer medienadäquaten Darstellungsweise wird dann nichts mehr im Wege stehen. Referenzen Brosius, Hans-Bernd 1998: Visualisierung von Fernsehnachrichten. Text-Bild-Beziehungen und ihre Bedeutung für die Informationsleistung. In: Kamps, Klaus; Meckel, Miriam (Hrsg.), Fernsehnachrichten. 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