eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Die Video-Loops der Techno-Kultur in den 1990er-Jahren werden hier mit dem Kino der 1930er-Jahre verglichen, von dem Walter Benjamin sagte, dass es dem Kunstwerk seine "Aura" raube. Die Reproduktion, die ihre Mechanik offen legt, 'erwidert nicht den Blick' ihres Betrachters, wie hier Benjamins Begriff der Aura in Anlehnung an Dieter Mersch verstanden wird, sondern sie bleibt mit Absicht etwas Blindes, Lebloses, aber Beherrschbares. Die Vorstellung, dass menschliche Formen im Gegenteil ein Wesen oder einen Geist haben könnten, wird historisch bis zu Hegel zurückverfolgt. Der Verzicht darauf, so die These dieses Aufsatzes, ist die Gemeinsamkeit zwischen dem Kunstwerk ohne Aura gemäß Benjamin und den Loops der Techno-Kultur. Das Publikum kann sich dadurch der Verpflichtung auf Konzentration, Verständnis, Identität entziehen, wie sie ein 'Werk' im Sinne des 19. Jahrhunderts und, noch konkreter, die Pflichten des Alltags verlangen.
2009
321-2

Videoloops - Zeichen ohne Aura?

2009
Mathias Spohr
Drei Dimensionen der Slam Poetry 147 4 Subversion und Widerstand In seinem Essay ‘Für eine semiologische Guerilla’ von 1967, der in dem Sammelband Über Gott und die Welt im Jahre 1986 wiederveröffentlicht wurde, hat Umberto Eco in visionärer Weise die mit der Kommunikation und den Massenmedien einhergehenden Probleme in der heutigen Gesellschaft erörtert, sowie deren machtpolitische Facetten und narkotisierende Wirkung auf die Rezipienten herausgestellt. Gerade dieser letzte Punkt wird von den so genannten ‘Apokalyptikern’ als ‘tragische Konsequenz’ der technologisierten und entpersonalisierten Massenkommunikation erkannt, wenn es heißt: […] Losgelöst von den Inhalten der Kommunikation empfange der Adressat der massenmedialen Botschaften nur noch eine globale ideologische Lektion, den Appell zur narkotisierenden Passivität. Im Sieg der Massenmedien sterbe der Mensch (Eco 1986: 148). Im Gegensatz zu dieser pessimistischen Position, die das Problem in der einzigen zentralisierten und industriell organisierten Quelle sowie des Kanals sieht, beginnen für Eco die Probleme vielmehr mit dem Code, der zur Entschlüsselung der technischen Kommunikation (Signal) notwendig ist. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein im Voraus festgelegtes System von Wahrscheinlichkeiten, das als Entscheidungshilfe der Differenzierung von intentionalen (von der Quelle gewollten) Elementen der Botschaft oder Folgen von Störgeräuschen dient. Darüber hinaus verändert sich dieser Schlüssel auf entscheidende Weise soweit er in Konnexität zur sozialen Situation des Empfängers steht bzw. aus dessen Sicht und eingebunden in sein Wertesystem einen anderen Bedeutungsgehalt erfährt. Eco spricht hier von der Interpretationsvariabilität als Grundgesetz der Massenkommunikation. Danach “[…] gehen die Botschaften von einer zentralen Quelle aus und gelangen in sehr verschiedene soziale Situationen mit sehr verschiedenen Codes” (Ibid.: 152). Insofern gilt für Eco nicht die von Marshall McLuhan propagierte These “The medium is the message”, sondern “[…] »die Botschaft ist vom Code abhängig«” (Ibid.: 153). Aus dem Umstand heraus, dass niemand den Modus reguliert, in dem der Empfänger die Botschaft gebraucht, leitet er den Ansatz zur Kontrolle ab: “Ich propagiere hier keineswegs eine neue und noch viel schlimmere Form von Kontrolle der öffentlichen Meinung. Ich propagiere ein Handeln, das die Adressaten der Medien dazu bewegt, die Botschaft und ihre vielfachen Interpretationsmöglichkeiten zu kontrollieren” (Ibid.: 155). Diese Aussage bezieht sich auf die damaligen neuen Kommunikationsformen, wie Sit-in- Meetings von Studenten auf dem Campus-Rasen, und deutet an, dass sich durch solche Aktionen eine Kommunikations-Guerilla entwickeln könnte: “Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine permanente Korrektur der Perspektiven, eine laufende Überprüfung der Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften. Die Welt der Technologischen Kommunikation würde dann sozusagen von Kommunikationsguerilleros durchzogen, die eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten einbrächten” (Eco 1986: 156). Wenn Eco also von einer Guerilla-Taktik im Kampf gegen die Systeme der Massenkommunikation spricht, bezieht er sich auf die Notwendigkeit der Schaffung ergänzender sowie weltweit zugänglicher Kommunikationssysteme, um eine Diskussion über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft und mit Berücksichtigung der jeweiligen Empfängercodes zu ermöglichen. Angesichts der Entwicklung unseres Kommunikationszeitalters sieht Eco in der Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 148 Entstehung solcher Diskussionsräume, die zu einer kritischen Rezeption anregen, die einzige Rettung für frei denkende Menschen. Aufgrund der unmittelbaren Interaktion zwischen Quelle und Adressat auf einem Poetry Slam konstituiert sich eine bestimmte Art von Diskussionsraum. Zum einen wird durch die Verkörperung der Botschaft durch den Slammer die Trennung zwischen Inhalt und Autor aufgehoben. Diese Körpergebundenheit der Botschaft, deren Bedeutung performativ und interaktiv erzeugt wird, verhindert die Entleerung derselben und verkleinert die Kluft zwischen den verschiedenen zur Verfügung stehenden Codes von Autor und Rezipienten. Da es sich aber im Falle des Slam um eine Form von ästhetischer Kommunikation handelt, wird dennoch insofern Raum für eine gewisse Interpretationsvariabilität gelassen, als die Botschaften bewusst mehrdeutig formuliert werden, um einen Reflektionsprozess beim Empfänger in Gang zu setzen. Zum anderen ist die Möglichkeit einer kritischen Rezeption in Form von Bewertungen durch die Jury und der aktiven Partizipation des Publikums gegeben. Etliche Performance Poems sind so angelegt, dass sie unmittelbare Stellungnahmen und Zwischenreaktionen des Publikums provozieren. Dieses Feedback wird vom Performer bewusst für seine Arbeit am Thema gesucht und geht in die weitere Bearbeitung seiner Texte ein (Preckwitz 2005: 85). Laut Eco kann die Idee einer alternativen Form von Gemeinschaftsleben, die sich gegen den negativen Einfluss der technologischen Kommunikationsgesellschaft wehrt, jedoch nur verwirklicht werden, indem auf die gegebenen Mittel der technologischen Mediengesellschaft zurückgegriffen wird. Das trifft auf die Slam Bewegung zu: Diese konnte sich gerade durch die Nutzung der Neuen Medien international verbreiten. So lassen sich beispielsweise über Online-Portale wie Youtube.com oder MySpace.com hunderte von Slam Videoclips betrachten und bewerten: Slam als internationale Bewegung ist von den Informations- und Kommunikationsströmen der zweiten industriellen Revolution (Computer, Multimedia, Internet) inspiriert. Ein Großteil der Vernetzungsarbeit erfolgt über interaktive Medien wie das Internet, angefangen von Websites und Homepages bis hin zu Newslettern via E-Mail (Ibid.: 32). Weiterhin lassen sich die Beliebtheit und der zunehmende Erfolg des Slam nicht nur durch seinen Event-Charakter, sondern auch durch die Anpassung seiner Strukturen und Funktionen an eine massenmedial geprägte und von bestimmten Sendeformaten beherrschte Gesellschaft erklären, insbesondere weil die vorausgesetzte Aufmerksamkeitsspanne auf die Konsumgewohnheiten des Publikums abgestimmt wird. 12 Slam Vorträge einzelner Interpreten dauern im Regelfall nicht länger als zehn Minuten, so dass sich das Publikum voll und ganz auf die Inhalte und die Performance konzentrieren kann. Dadurch sind die Zuschauer auch in der Lage, sich schnell auf den nächsten Vortrag einzustellen. Obwohl oder gerade weil sich die Slam Kultur der massenmedialen Plattformen bedient und das Publikum zur Partizipation explizit auffordert, besitzt sie möglicherweise das nötige Potential, sich zu einer ‘Kommunikations-Guerilla’ im Sinne Ecos zu entwickeln. Damit würde sie auch dessen Forderung nach einer Kontrollinstanz der Botschaft und ihrer Interpretationsvielfalt erfüllen. Abschließend ist festzustellen, dass sowohl die Legitimation, als auch das subversive Potential des Slam aus dem Ethos des gesprochenen und vor allem des verkörperten Wortes hervorgeht. Auf diese Weise kann im Sinne Ecos durchaus eine gewisse Kontrolle ausgeübt werden: Einerseits was die Bedeutung und Entschlüsselung von Botschaften anbelangt, zum Drei Dimensionen der Slam Poetry 149 anderen aber auch bei der Vermittlung und der kritischen Reflexion politisch und sozial relevanter Themen. Literatur Primärliteratur Anders, Petra (ed.) 2008: Texte und Materialien für den Unterricht: Slam Poetry, Stuttgart: Philipp Reclam Martinez, Stéphane 2002: Anthologie du Slam, Paris: Editions Seghers Martinez, Stéphane 2007: Slam entre les mots, Paris: Editions de La Table Ronde Massot, Florent (ed.) 2007: Blah! : Une anthologie du slam, Paris: Spoke Edition Sekundärliteratur Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Amossy, Ruth 1999: “L’éthos au Carrefour des disciplines: rhétorique, pragmatique, sociologie des champs”, in: Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Anders, Petra 2008: Slam Poetry, Stuttgart: Reclam Austin, John 1962: How to do things with words, Oxford: University Press Barthes, Roland 1966: Critique et vérité, Paris: Editions du Seuil Charaudeau, Patrick und Dominique Maingueneau 2002: Dictionnaire d’analyse du discours, Paris: Editions du Seuil Deppermann, Arnulf und Reinhold Schmitt 2007: “Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes”, in: Schmitt, Reinhold (ed.) 2007: Koordination: Analysen zur multimodalen Interaktion (= Studien zur deutschen Sprache 38), Tübingen: Narr, 15-54 Deppermann, Arnulf und Reinhold Schmitt 2007: “Monitoring and Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen”, in: Schmitt, Reinhold (ed.) 2007: Koordination: Analysen zur multimodalen Interaktion (= Studien zur deutschen Sprache 38), Tübingen: Narr, 95-128 Ducrot, Oswald 1984: Le dire et le dit, Paris: Minuit Eco, Umberto 1967: “Für eine semiologische Guerilla”, in: Eco, Umberto (ed.) 1986: Über Gott und die Welt, München: Hanser, 146-156 Eco, Umberto 1972: Einführung in die Semiotik, München: Fink Maingueneau, Dominique 1999: “Ethos, scénographie et incorporation”, in: Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Musner, Lutz und Heidemarie Uhl (ed.) 2006: Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften, Wien: Löcker Nünning, Ansgar (ed.) 2004: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 3. Auflage, Stuttgart: Metzler Preckwitz, Boris 2005: Spoken Word und Poetry Slam: kleine Schriften zur Interaktionsästhetik, Wien: Passagen Searle, John 1999 (1969): Speech acts, Cambridge: University Press. Sidran, Ben 1985: Black Talk. Schwarze Musik - die andere Kultur im weißen Amerika, Hofheim: Wolke Wirth, Uwe (ed.) 2002: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ M: Suhrkamp Filmographie Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Nikolai, Vera und Adriana Orjuela 2008: “Performanz”, in: Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Schrenk, Nikola 2008: “Ethos und Identität - Selbstdarstellung und Selbstinszenierung in Slam Poetry”, in: Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 150 Internetseiten www.ffdsp.com/ www.newplanetslam.com www.le.slam.org www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ lesefoerderung/ lesetipps/ abenteuer/ text2.pdf www.slamburg.de www.wikipedia.org Anmerkungen 1 Der Begriff der actionality wurde von Ben Sidran geprägt, um die spezifische Kommunikationsweise der Oral Culture zu definieren. Sie beruht zunächst auf Anwesenheit und Unmittelbarkeit. Unter Actionality versteht Sidran infolgedessen das Agieren und Reagieren innerhalb eines Kommunikationsprozesses und die sensible Wahrnehmung kleinster Informationseinheiten als Grundlage spontanen Improvisierens, das er als höchste Ausdrucksform erachtet (Sidran1986: 27 ff.). 2 Stimme, Lautstruktur, Blick, Mimik, Körperhaltung, Körperorientierung, Position im Raum und Bewegungsarten. 3 Es handelt sich um Filmaufnahmen dreier Poetry Slams im Rahmen des Forschungsseminars “Reim und Rhythmus, Laut und Lyrik” im Juli 2008 in Paris (Bar de La Réunion, Bar du vin in der Rue du Roi d'Alger, La Bellevilleoise). 4 Slam Tour mit Kuttner, Sat 1 Comedy. 5 http: / / www.youtube.com/ watch? v=48jWAPJlYFM, 17.02.09; http: / / www.sat1comedy.de/ exklusiv/ slam_tour/ , 17.02.09. 6 Aristoteles bezeichnet den Ethos neben Logos (Folgerichtigkeit und Beweisführung) und Pathos (rednerische Gewalt und emotionaler Appell) als eine der drei Arten der Überzeugung, nämlich die durch Autorität und Glaubwürdigkeit des Sprechers. 7 Die Bezeichnung der Sprecherinstanz als 'Figur' ist insofern gerechtfertigt, als dass der Leser/ Hörer mit dem im Text entstehenden Bild vom Sprecher über den allgemeinen Ton des Diskurses hinaus auch gewisse psychische und körperliche Eigenschaften verbindet; über den Diskurs entstehen Vorstellungen von 'Charakter' und äußerlicher Erscheinung ('Korporalität') des Sprechers (cf. Maingueneau 1999: 79). 8 Bzw. sie hängen von den konstitutiven Merkmalen der jeweiligen Kommunikationsform ab. Selbstverständlich soll hier nicht suggeriert werden, es handele sich bei jeder Form von Kommunikation um eine Textsorte. 9 Hierzu zählt unter Anderem auch die Zugehörigkeit des einzelnen Textes zu einem übergeordneten Diskurs. 10 Ob im Falle der Slam Poetry von einer Textsorte oder eher von einer Gattung gesprochen werden muss, wäre in anderem Rahmen noch zu klären. 11 Paradox ist hier nur, dass die Ablehnung von äußerlichen Ausdrucksformen des offiziellen Austauschs, wie er in den meisten Berufsbranchen kodifiziert ist, durch die Übernahme der Konventionen anderer sozialer Gruppen erfolgt. Auch der lässig-lockere Look folgt bestimmten Regeln. 12 Vgl. http: / / www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ lesefoerderung/ lesetipps/ abenteuer/ text2.pdf Videoloops - Zeichen ohne Aura? Mathias Spohr The video loops shown in the dance locations (clubs) of the 1990es are the subject of this essay. I do not ask: “How do these ‘signs’ create anything like identity in the field of youth culture? ” but: “Do they convey any identity at all? ” My personal answer is ‘no’. I try to relate these signs and furthermore, the culture of these years to Walter Benjamin’s statements about early cinema. He observed a general loss of ‘aura’ caused by the mass media. - For their audience, the video loops are just passing by. They do not mediate any ‘spirit’ (Geist, as called by Hegel). On the contrary they should allow a temporary neglect of identities, such as the corporate identities of everyday life. Die Video-Loops der Techno-Kultur in den 1990er-Jahren werden hier mit dem Kino der 1930er-Jahre verglichen, von dem Walter Benjamin sagte, dass es dem Kunstwerk seine “Aura” raube. Die Reproduktion, die ihre Mechanik offen legt, ‘erwidert nicht den Blick’ ihres Betrachters, wie hier Benjamins Begriff der Aura in Anlehnung an Dieter Mersch verstanden wird, sondern sie bleibt mit Absicht etwas Blindes, Lebloses, aber Beherrschbares. Die Vorstellung, dass menschliche Formen im Gegenteil ein Wesen oder einen Geist haben könnten, wird historisch bis zu Hegel zurückverfolgt. Der Verzicht darauf, so die These dieses Aufsatzes, ist die Gemeinsamkeit zwischen dem Kunstwerk ohne Aura gemäß Benjamin und den Loops der Techno-Kultur. Das Publikum kann sich dadurch der Verpflichtung auf Konzentration, Verständnis, Identität entziehen, wie sie ein ‘Werk’ im Sinne des 19. Jahrhunderts und, noch konkreter, die Pflichten des Alltags verlangen. 1 Einleitung Loops sind kurzzeitige Aufzeichnungen, die beständig wiederholt werden. In der Frühzeit der optischen und elektroakustischen Aufzeichnungstechniken waren sie noch Schlaufen aus Film, Tonband oder Lochstreifen. Heute genügt ein Sprungbefehl in einem Computerprogramm für einen Loop. An den Anfang dieses Aufsatzes möchte ich eine persönliche Beobachtung aus der Techno-Kultur 1 Mitte der 90er-Jahre setzen: Seit sich die Herstellung von Videos durch die aufkommende Digitalisierung erheblich vereinfachte, wurden manche DJs auch zu MJs (Media Jockeys) oder VJs (Visual Jockeys) und machten sich Videoloops zu ihrer Musik, die sich von den gewohnten Videoclips unterschieden. Videoloops wurden in den Clubs als Bestandteil des Raum-Designs abgespielt, eingegliedert in ein Konzept, zu dem auch Lichtorgeln oder Lasershows gehören können. Parallelen zur Bildersprache dieser Video-Dekorationen lassen sich etwa zu Kinofilmen im Science-Fiction-Genre feststellen wie dem japanischen Animationsfilm Ghost in the Shell (1995). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 152 Ohne spezielle Szene-Kenntnisse zu besitzen, sind mir damals Loops mit bewegten Verkehrsschildern, Signalen oder Piktogrammen aufgefallen. Diagramme, technische Pläne, Anzeigegeräte, Oszillogramme, Röntgenbilder, statistische Daten ziehen vorüber. Es geschehen ziellose Fahrten durch ein Kaleidoskop von Informationen. Zahlen, Buchstaben und Hieroglyphen rauschen vorbei. Manchmal erscheinen Schriften, die von der Mehrheit der Betrachter zwar als solche erkannt, aber nicht gelesen werden können, weil sie zu schnell vorüberziehen oder weil sie aus russischen, chinesischen oder arabischen Buchstaben bestehen. Noch heute werden derartige Videos im Party-Design für elektronische Musik verwendet. 2 All das sind Bilder oder grafische Elemente mit ‘Bedeutung’, wenn man sie denn verstehen könnte oder wollte. Es handelt sich um ‘Zeichen’ im landläufigen, emphatischen Sinn, deren Entzifferung in diesem unkonzentrierten Zusammenhang nicht oder nur zum geringen Teil möglich ist. Vielmehr wirkt es entspannend oder berauschend, dass sie ohne Deutung vorüberziehen. Ein Zeigen ohne Sagen: Als wesentliche Eigenschaft der Techno-Kultur wurde oft das Wortlose oder Sprachlose ihrer Klangwelten und Bilder hervorgehoben. 3 2 Zeiger ohne Gezeigtes Was ist dann die Botschaft dieser Zeichen, wenn man sie nur als Zeichen erkennt, aber nicht liest oder lesen kann? Das Piktogramm soll etwas deutlich machen, auch wenn wir nicht wissen, was. Etwas Ähnliches vermitteln das Messinstrument oder die Sehhilfe. Sie sagen bloß: “Wir helfen dir, zu erkennen”, ohne dies im Moment leisten zu müssen. Die eigene Brille und das Piktogramm haben beide den Ruf, die Deutlichkeit eines Betrachteten oder Bezeichneten zu verbessern. Beide vermitteln zudem nicht willkürlich, sondern nach Regeln. Dies versteht man als Verbesserung der Wahrnehmung; die individuelle Schwierigkeit wird durch ein Überindividuelles bewältigt. Insofern können sich das reflexartig verständliche Piktogramm und der Blick durch Fernrohr oder Mikroskop in ihrer faszinierenden Wirkung entsprechen, auch wenn sie nicht mehr als den Gestus des Zeigens vermitteln. - Dieser Art sind die erwähnten Zeichen: Zeiger ohne Gezeigtes. Sie könnten zeigen, wo es lang geht, tun es aber nicht. Wem vermitteln sie? Die rote Ampel oder das Toilettenmännchen werden selten persönlich genommen, weil man davon ausgeht, dass ihre Botschaften für eine Öffentlichkeit bestimmt sind. Die Ideologie des modernen Piktogramms seit Otto Neuraths ‘Isotype’ ist die der größtmöglichen Öffentlichkeit und Neutralität; es ist ‘informativ’ für alle. Das “Lob der Oberfläche” (Hartmann 2006: 21) in Gestalt des Piktogramms soll niemanden ausschließen. Die Abbildung im Videoloop reißt die Zeichen aus jeder Situation heraus, in der sie ihren Sinn hätten. Piktogramme werden durch die Kamera getreu abgebildet, sind selbst aber keine Naturnachahmungen - oder höchstens stilisierte. Das illusionistische Spiel mit dem Zeichen, das aussieht wie das Ding, ohne es zu sein, findet nur zwischen der Videoprojektion und dem von ihr abgebildeten Zeichen statt. Die Betrachter mögen sich bei reflexartigen Reaktionen ertappen, wenn sie ein Warnschild sehen, wissen aber, dass es in diesem Rahmen nur Spiel ist. Kunst wird stets dafür bewundert, dass sie die Sinne täuscht. Der Reflex ist unnötig als Reaktion, aber zumindest die Erinnerung an ihn kommt zustande. Er ist zwar ein automatisierbares oder formalisierbares Verhalten, so wie die Funktionsweise des Computers, aber er ist Spiel, so wie Musik aus dem Computer. Videoloops - Zeichen ohne Aura? 153 Nichts Besonderes wird also niemand Besonderem vermittelt. Warum? Weil Bedeutung und Verpflichtung nah beieinander liegen: Der Wegfall der konkreten Bedeutung macht das Bedeutende vom Bedeuteten unabhängig und damit ‘unverbindlich’. Es ist eine Maske ohne konkretes Gesicht, fernab vom Zwang der Zuordnung. Dass es so etwas geben darf, ist nicht selbstverständlich; es braucht dazu ein legitimes gesellschaftliches Bedürfnis. 4 Die virtuellen Signale der Video-Loops werden insoweit ‘ästhetisch’, als sie keine drohenden Vorschriften oder drängenden Entscheidungsgrundlagen mehr sind. Sie sind ihrer Macht beraubt wie die sowjetischen Militärmützen, die man seit dem Fall der Berliner Mauer auf der Straße kaufen kann. Solche Käuflichkeit verstehen die Konsumenten als: “Ich habe das Mächtige in meiner Gewalt.” Durch die Maskerade wird Macht zum Schein von Macht. Die legitime Loslösung vom ursprünglichen Zusammenhang macht das Zeichen der Autorität zum Mode-Accessoire, Gestalt wird zum Design. Signale, auf die man sich im Alltag konzentrieren muss, dienen im Video-Loop der Techno-Kultur zur Entspannung. Diese gewollte Beliebigkeit entspricht der Struktur der Musik. Sie enthält erkennbare Klangfarben und Motive, manchmal Wörter oder Sprachfetzen (oft Befehle oder Aufforderungen), die als Loops wiederholt werden und dadurch eine rhythmische Funktion bekommen, anstatt ‘Bedeutung’ zu haben. Redundanz löst Bedeutung auf, statt sie zu schaffen. Sie fordert kein Verstehen, sondern erlöst vom Verstehen-Müssen. 5 Die Wiederholungen der Techno- Musik erzeugen einen Rhythmus, der keine festgelegten Tanzschritte erzwingt, sondern auf den man freiwillig und individuell mit Bewegung antwortet. Ähnlich wie der Tanz, den sie optisch begleiten, dienen die Video-Loops zur Entspannung oder sollen in Trance versetzen. 3 Verlust der Aura Welche Parallelen gibt es zwischen der aufgelösten Bedeutung des Zeichens durch seine Wiederholung im Loop und dem ‘Verkümmern’ der ‘Aura’ eines Kunstwerks, das Walter Benjamin für eine Folge der technischen Reproduzierbarkeit hielt? Benjamins Feststellungen beziehen sich auf das Kino nach 1930, also den frühen Tonfilm. Unter ‘Aura’ verstand er eine rituelle Eigenschaft, die nur das Einmalige haben könne, also etwa noch die traditionelle Theateraufführung gegenüber der Kinovorstellung. Benjamin stellte der ‘Aura’ zudem seinen Begriff der ‘Spur’ gegenüber: “In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser” (Benjamin 1982: 560). Die Aura signalisiert seiner Auffassung nach Ferne, die Spur hingegen Nähe. Wenn wir Ferne im Sinn von Respekt und Nähe im Sinn von Respektlosigkeit deuten, macht die Aura ein Bedeutetes unnahbar, die Spur hingegen macht es zugänglich. Der Begriff der Aura umschreibt nach meinem Verständnis keinen Naturzustand von Objekten, wie es bei der Lektüre von Benjamins Text scheinen mag, sondern viel eher eine Eigenschaft des bürgerlichen Kunstwerks seit dem 18. Jahrhundert. Benjamin wollte diese Kunst auf ähnliche Art entmachten wie die Schönen Künste etwa zweihundert Jahre zuvor die Religion entmachtet hatten. Die technologische Verfügbarkeit des Kunstobjekts ersetzt bei ihm die Autorität des Leben schaffenden und in dieser Hinsicht gottgleichen Autors. Dass ‘Aura’ nicht nur mit der Einmaligkeit des Objekts zusammenhängt, sondern auch mit seiner Unverfügbarkeit, wird aus folgendem Vergleich ersichtlich, der mit Absicht nicht aus der Sphäre der ‘Kunst’ stammt, sondern vielmehr aus jener des ‘Körpersinns’: Während die Leiche des unlängst gestorbenen Verwandten für uns eine Aura hat, uns also auf respektvoller Distanz hält, bedeutet die 5300 Jahre alte Mumie des Urmenschen Ötzi, die Mathias Spohr 154 1991 gefunden wurde, 6 kaum mehr als eine Spur, und seine Auswertung und Ausstellung zum Nutzen der Wissenschaft wurde nicht als Störung der Totenruhe betrachtet. Beide Körper sind einmalig, aber sie werden unterschiedlich behandelt. Die Mumie wird als anonymer Stellvertreter betrachtet, als ein erhaltenes Besonderes, das für ein verlorenes Allgemeines steht. Die Leiche des Verwandten, die weniger Seltenheitswert hat als Ötzi, steht dagegen als erhaltenes Allgemeines, als übrig gebliebenes ‘Material’ (und damit als unbequemes Skandalon) für ein verlorenes Besonderes, das nur noch in der Erinnerung existiert. Die erste Zuordnung ist eine wissenschaftliche Analyse und Synthese (oder eine imaginäre Belebung 7 ), also etwas Offensives, die zweite besteht im Ritual des Erinnerns und der Einsicht in die Vergänglichkeit, ist also etwas Defensives. Die neuerliche Mumifizierung der Mumie und ihre aufwändige Zurschaustellung machen allerdings gerade sie zu einem modernen Kunstobjekt, als konkrete Spur zu einer Welt, die unendlich fern von jeder konkret erlebten sozialen Umgebung ist, was mit der Leiche des vertrauten Menschen nicht möglich wäre. Das getestete Original bekommt den Stellenwert von Walter Benjamins technischer Kopie. Es wird zum Medienereignis. Oder, um in diesem Sinne einen noch deutlicheren Gegensatz zu schaffen: Ein Dinosaurier-Knochen steht im Unterschied zur Reliquie eines Heiligen als Spur ohne Aura da und ist der Imagination seiner Betrachter ausgeliefert, die sich die einstige Größe und Gefährlichkeit des Tieres vorstellen, ohne von ihm gefährdet zu werden. Dieses ‘Erhabene’ 8 einer vergangenen Natur kann wohl noch als Aura zelebriert werden, allerdings mit der Gewissheit, dass seine Macht endgültig vorbei ist. Archäologische Spurensuche dient der Imagination als Nahrung und tritt an die Stelle der fehlenden Erinnerung, die das leblose Objekt entwerten würde. Die Rekonstruktion jener Welt besitzt die Harmlosigkeit der Maskerade; das Übermächtige wird im Weg über das Erhabene zum angenehm Schauerlichen. Der Heilige hingegen kann in einer Umgebung, die an ihn glaubt, durchaus noch Macht entfalten. Das Fehlen einer Aura, wenn wir es wie Benjamin mit der Kinovorstellung verbinden, hängt mit der Machbarkeit des Produkts, mit den aufs Technische konzentrierten Problemlösungen zusammen. Dies lässt sich im Grunde auf alles verallgemeinern, was wir als Aufzeichnung verstehen: Einem Trägermaterial wird seine Eigendynamik geraubt und eine beliebige Form aufgedrängt. In der populären Dramatik ist die Leiche oft eine Metapher für das vergewaltigte Medium, dem das Bild oder die Schrift eingeprägt wurde, und der Mörder, der sie hergestellt hat, ist der Künstler. Die menschliche Formgebung hat der Gottesgabe ihres Materials etwas aufgezwungen, also nichts Lebendiges geschaffen, sondern das vorgefundene Lebendige eingeschränkt. Die “konkrete” Einwirkung eines Schreibens oder Gestaltens wird in der Vanitas-Tradition 9 , die etwa in den vielen Gestaltungen des Faust-Stoffs präsent ist, als eitler Gewaltakt gegen die göttliche Schöpfung dargestellt. So bleibt der Vorwurf der geraubten Aura präsent. Eine Gegenposition, die im 18. Jahrhundert an Einfluss gewinnt, versteht das Schreiben hingegen als Befreiung, die einen Gemeinnutzen bringt, statt die individuelle Machtgier zu entfesseln. Die heutige audiovisuelle und digitale Befreiung der Schrift vom Material, in das sie als Spur eingeprägt wird, hat Vilém Flusser optimistisch verstanden, der sich gegen Benjamins These vom Aura-Verlust wandte (Flusser 2002). 4 Loop und Typisierung Die Techno-Kultur stützt genau das, was Flusser als Konsequenz der neueren Entwicklungen des Schreibens betrachtet hat: “Wir sind eben daran, ins ‘Universum der technischen Bilder’ Videoloops - Zeichen ohne Aura? 155 zu übersiedeln […]” (Flusser 2002: 24). Das Sagen wird durch technikgestütztes Zeigen ersetzt. Techno hat viel unverblümt Mechanisches oder Maskenhaftes an sich, aber es treten keine Leichen oder vergewaltigte Materialien in Erscheinung, sondern viel eher die vom Körperlichen gelösten Zeichen. Weder fordern sie einen Totenkult, noch die Anstrengung einer Deutung. Das Virtuelle signalisiert einen Abstand vom Gewaltsamen und Körperlichen. Zentrales Merkmal ist der Loop. Er bedeutet einerseits die Verfügbarkeit des Moments: “Verweile doch, du bist so schön”. Der Moment kehrt von selbst zurück und verlangt keine festhaltende Erinnerung; die Mühe ritueller Wiederholungen erübrigt sich. Auf der andern Seite ist das Fixierte merklich eingefroren. Die Wiederholung macht es nicht lebendig oder ‘sinnerfüllt’, sondern lässt ihre Funktionsweise, ihre Mechanik hervortreten. Die Klangfolge könnte mit dieser Exaktheit niemals live gespielt werden. Die Kapitulation des Betrachters vor der Maschine führt zu einem ‘unkonzentrierten’ Verfolgen ihrer Tätigkeit. Auch dies hat Walter Benjamin bereits im Zusammenhang mit dem Kino festgehalten: Es ermögliche den Zuschauern eine Haltung, die “Aufmerksamkeit nicht einschließt” (Benjamin 1980: 41). Wiederholungen in der ‘klassischen’ Musik versuchen dagegen, ihr Wiederholtsein durch minime Veränderungen zu verbergen und zu individualisieren. Gegenüber dem Spiel lebendiger Musiker, die selbst dem strengsten Ostinato noch etwas ‘Organisches’ abgewinnen, 10 ist die Mechanik des Loops kein Handeln, sondern ein Funktionieren. Die Zusammensetzung der Aktionen aus fixierten Einzelteilen wird nicht durch gewandtes Lesen verborgen. Kein Interpret spiegelt sich in den Wiederholungen des Loops, um ihnen den Schein des Einzigartigen zu geben. Techno stellt die Mechanik der technischen Reproduktion offen aus. Auch die Filmprojektoren zu Walter Benjamins Zeiten flimmerten noch, womit sie unablässig auf die Stückelung der Bewegung in einzelne Bilder hinwiesen. Der im Video-Loop abgebildete Buchstabe ist genau genommen ein Buchstabe im Buchstabe, weil der Loop, als Fixiertes und Reproduzierbares, selbst so etwas wie ein Buchstabe ist: Ein Computer-Loop unterscheidet sich von der live gespielten Wiederholung ungefähr so wie Druckschrift von der Schreibschrift. Auch ‘gesampelte’ Klänge sind kurze Loops, sie entsprechen den Buchstaben einer Schrift und werden im Computer als ‘Sound fonts’ verwaltet. Ihre Elemente sind zu Mustern gemachte Beispiele (samples). Insofern sind die Loops und Samples etwas Ähnliches wie die Typen des Buchdrucks, deren Einführung Vilém Flusser für den Ursprung des “typisierenden Denkens” (Flusser 2002: 51) hielt. Schon darin äußert sich ‘technische Reproduzierbarkeit’. 5 Vanitas-Überwindungen So weit zur schockierenden oder befreienden Mechanisierung eines Rituellen durch technische Reproduzierbarkeit. Wovon befreit aber die Mechanisierung? Rituale bestätigen soziale Beziehungen über einschneidende Veränderungen hinweg und haben daher naturgemäß etwas Konservatives. Walter Benjamin richtete sich mit dem Begriff der Aura als exklusivem sozialem Rahmen allerdings nicht gegen religiöse Vorstellungen, sondern gegen eine zur Hauptsache im 19. Jahrhundert entstandene ‘bürgerliche’ Favorisierung originaler Werke, die antiaristokratische und antiklerikale Züge trägt. Dies soll hier kurz ausgeführt werden: Der Tendenz nach waren bürgerliche Institutionen seit der Neuzeit dem Vorwurf ausgesetzt, bloß eine Manifestation egoistischen Willens zu sein. Auf ihnen lastete der Verdacht der Nichtigkeit oder Vergänglichkeit. Dieser Auffassung wurden etwa die Satzung des bürgerli- Mathias Spohr 156 chen Vereins oder die Verfassung des bürgerlichen Staats als einigendes Band zwischen den Beteiligten entgegen gehalten. Es gab ein Bedürfnis, das Verachtete zum Verehrten werden zu lassen. Dieter Mersch hat eindringlich aufgezeigt, wie Georg Friedrich Hegel versuchte, diesen Vanitas-Vorwurf durch eine “Erlösung des Wesens vom Schein” (Mersch 2002: 140) abzuschütteln. Was heute als Ereignis und performativer Akt einer Aufwertung unterzogen wird, unterlag damals dem Verdikt der Sittenlosigkeit - wie es sich deutlich in Hegels Wortwahl zeigt, der von “Schall und Rauch”, von der “Beflekkung” des Wesens durch die “Sinnlichkeit” der Verkörperung spricht (Hegel 1970: 23). Der Schein sei kein Scheinen, so bemühte er sich zu beweisen. Das Wesentliche sollte nicht in der (sich im Moment erschöpfenden, aber gleichwohl mächtigen) Geste liegen, wie es der Brauch in den Hofgesellschaften war. Der bürgerliche Staat sollte nach Feierabend der Beamten nicht bloß noch ein Haufen Papier sein, sondern etwas Verbindendes und Verbindliches beibehalten. Es sollte dem Menschen seit dem 18. Jahrhundert gelingen dürfen, eine Struktur lebendig zu machen - und das gelungene Kunstwerk diente diesem Begehren als Symbol, so wie die belebte Statue Pygmalions. Die menschliche Formgebung war nichts Totes mehr, sondern “erwidert den Blick”, wie Dieter Mersch auf die Frage antwortet, was denn eine “Aura” ausmache (Mersch 2002: 93f.). Über Heideggers “Die Sprache spricht” (Heidegger 1975: 13) bis hin zu Luhmanns “Es gibt Systeme! ” (Luhmann 1978: 30f.) lässt sich die deutsch-idealistische Bemühung weiterverfolgen, den reinen Strukturen unabhängig von flüchtigen sinnlichen Ereignissen Leben zuzusprechen. Sie sind kollektive Identitäten, die ihren Lesern, Betrachtern oder Zuschauern entgegenblicken. Das Spiegelbild des Menschenwerks zeigt offenbar nicht Sinnestäuschung, sondern eine Objektivierung des individuellen Blicks. Die gegenteilige Meinung gibt es nach wie vor: Noch im Herbst 2008 sagte der Papst zur Finanzkrise, dass Geld keinen Wert darstelle, so wie alles sichtbar Gemachte, 11 und konnte damit alle Verflechtungen und Verträge wegwischen, die Geld zum Gegenstand haben. Zu solchen Argumenten, die damals erheblich einflussreicher waren als heute, musste einst eine Gegenposition aufgebaut werden. Dazu brauchte es etwa die Vorstellung eines ‘Souveräns’ oder ‘Volks’ als kollektiver Identität, die als lebendiger Geist über diesen Papieren thront oder als lebendiges Wesen in ihnen enthalten ist wie einst Gott oder der gnädige Herr. Kollektive Identitäten bleiben allerdings vage. Im 19. Jahrhundert siegte die Vorstellung der Sprache als einigendes Band einer Nation. Die Struktur, auf die man sich geeinigt hat, wie die Gewohnheit zeigt, führt scheinbar ein Eigenleben als ‘die Sprache’. Hegels “objektiver Geist”, ausdrücklich verbunden mit dem Begriff der Freiheit (Hegel 1986), wurde zu einer erfolgreichen Formulierung für kollektive Identitäten. Es gab einen Zeitgeist, einen Volksgeist oder einen Weltgeist. Man sprach vom Geist einer Epoche und stellte die Frage, was ihn denn ausmache, wodurch er als evident vorausgesetzt wurde. Sprache schien ebenso wie der Staat schon von sich aus lebendig und inspirierte oder verpflichtete Sprecher und Bürger, statt umgekehrt durch sie erst ausgemacht und geformt zu werden. Texte schienen von selbst zu sprechen, unabhängig vom Flüchtigen und Sinnlichen eines konkreten Lesens. ‘Geist’ ist die Vorstellung eines konkreten sozialen Rahmens, der im Abstraktum schon enthalten ist. Im Geist ist der Glaube enthalten, dass Vorschriften oder Vorbilder den getreuen Handlungen vorausgehen und nicht umgekehrt. In jeder Handlung wäre dann ihre Vorschrift zu finden wie eine physikalische Formel in jeder Bewegung oder ein impliziter Theatertext in jeder Äußerung. Wer dem Geist nicht entspricht, den gibt es vielleicht nicht, wie Geborene ohne Geburtsschein. Das war eine Strategie, um den Schein zu Wirklichkeit zu machen, um das Dokument zu realisieren. Verbunden wird sie oft mit der Vorstellung, dass es eine