eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Das Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist bei manchen Zeichen einfach und direkt, etwa wenn die Schwärzungen auf einem Papier als graphetische Ebene eines Textes erkennbar werden: Höchstens unbeabsichtigte Schwärzungen (Kleckse) können die Trennung von Zeichenträger und -materie erschweren. Bei stilistischen Zeichen ist dies anders: Hier gehört die Trennung des Zeichenträgers von der Zeichenmaterie zu den wesentlichen Aufgaben, die der Empfänger zu leisten hat. Stilistische Zeichen treten dort auf, wo eine Möglichkeit der Variation bei grundsätzlicher Vergleichbarkeit besteht. Sie können als bedeutungstragende Regelmäßigkeiten der Auswahl beschrieben werden. Das ungewöhnliche Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist eine Besonderheit dieser Zeichen: Zur vorgefundenen Zeichenmaterie (z.B. einem Haus; einem Text; einer Autofahrt) müssen zunächst alternative Ausdrucks- bzw. Verhaltensmöglichkeiten hinzugenommen werden. Diese Regelmäßigkeiten der Auswahl bilden den Zeichenträger. Die Stiltheorie gehört damit zu jenen Bereichen der Kulturtheorie, die der Materialität des Zeichens besondere Aufmerksamkeit widmen müssen.
2009
321-2

Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen

2009
Martin Siefkes
Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 59 dadurch behindert, dass das Anlegen der Ohren beim Pferd Aggression, beim Hund hingegen Unterwürfigkeit ausdrückt (Bouissac 2004: 3392). Auch Begegnungen zwischen Mensch und unbekanntem Hund scheitern oft an solchen Fehldeutungen. Blickkontakt ist beim Menschen eine freundliche Kontaktaufnahme, unter Hunden hingegen ein Ausdruck von Dominanz (Drohstarren). Umgekehrt fassen Menschen den von Hunden bevorzugten abgewendeten Blick als Missachtung auf. Da freundliches Lächeln die Zähne freilegt, sehen Hunde darin eine Drohung. Das als Begrüßungsgeste gemeinte Heben der Hand kann der Hund als Beschwichtigen missverstehen (und sich folglich als überlegen empfinden und verhalten). Wenn sich jemand freundlich zu einem Hund herabbeugt, kann dieser sich durch den weit größeren Menschen in die Enge getrieben fühlen. Der denkbar größte Fehler ist das ängstliche Weglaufen, denn damit verwandelt man sich selbst in ein Beutetier, das folgerichtig gejagt wird. Bei vielen Säugetieren ist der Schwanz ein wichtiger Stimmungsträger, so ist der typische Ringelschwanz des Hausschweins ein Anzeichen für Wohlbefinden. Auch die Dynamik der Schwanzbewegung ist bedeutungstragend, ein Hund etwa drückt durch langsames Schwanzwedeln freundliche Kontaktbereitschaft, durch Peitschen mit dem Schwanz eher Angriffslust aus. Viele Beißattacken geschehen, weil der Mensch eine ernst gemeinte Drohung mit einer Einladung zum Tätscheln verwechselt. Gleichmäßige Bewegungen von Extremitäten sind unserem eigenen Gehen und Laufen am ähnlichsten. Sogar bei Kraken können wir noch sagen, sie würden sich auf den Fingerspitzen fortbewegen (sie können allerdings auch dicht an den Meeresboden geschmiegt dahinkriechen). Die ruckartigen Bewegungen mancher Spinnen mit ihrem ständigen Wechsel von Huschen und Verharren wirken demgenüber ebenso fremd wie das Schlängeln von Schlangen, die bogenbildenden Schritte von Spannerraupen oder das fußlose Kriechen von Schnecken. Die Körperspannung drückt Wohlbzw. Missbefinden aus, allerdings wird sie eher gefühlt als gesehen. Wenn sich beim Streicheln einer Katze deren genüsslich entspannter Körper in Sekundenbruchteilen versteift, sollte der Mensch dies als Warnung auffassen und sofort seine Hand wegziehen. Gerade durch ein so plötzliches Umkippen der Stimmung ist die Katze in den Ruf geraten, falsch oder gar verschlagen zu sein. 4.3 Berührungsverhalten Sozial lebende Tiere mit berührungsempfindlicher Haut haben ein komplexes Berührungsverhalten, produzieren also oft ein- oder gegenseitige Berührungen. Pferde beknabbern einander, Affen lausen einander ausgiebig, und Schweine ruhen gerne dicht aufeinander gestapelt (Kontaktliegen). Sexual- und Brutpflegeverhalten sowie Rangkämpfe bestehen aus vielfältigen Berührungen, und die Jungtiere höherer Arten balgen sich freundschaftlich. Symmetrische Fremdberührungen setzen morphologisch ähnliche Körperteile voraus. Beispiele sind das Pfötchengeben des Hundes (Hand-Pfote) und das Köpfchengeben der Katze (Kopf-Kopf), möglich wäre auch ein Hand-Tentakel-Kontakt mit einem an Menschen gewöhnten Kraken. Rinder hingegen können nicht ihre Vorderbeine zum Gruß hinreichen und begrüßen vertraute Menschen daher mit Ablecken. Bouissac (1993: 12) zufolge missverstehen wir das Köpfchengeben der Katze als Liebeserklärung, obwohl es nur eine Reviermarkierung durch Duftdrüsen im Gesicht der Katze ist. Man kann aber auf einer höheren Stufe argumentieren, beide Partner würden mit je artspezifischen Mitteln eine Zugehörigkeit ausdrücken, Dagmar Schmauks 60 nämlich der Mensch taktil (Berühren des Katzenkopfes mit seinem Kopf) und die Katze taktil-olfaktorisch (Auftragen einer Duftmarke, die bedeutet “gehört zu mir”). Auch Küsse (genauer: oral-orale Küsse) setzen ähnliche Ausführungsorgane voraus. Menschen drücken ihre höchst beweglichen und sensiblen Lippen zur Begrüßung oder bei sexuellen Kontakten aufeinander. Bei Schweinen übernimmt der Rüssel die Funktion des menschlichen Mundes, und auf vielen Glückwunschkarten und Cartoons pressen Schweinepärchen ihre passgenauen Rüsselscheiben aufeinander. Wer also ein Ferkel küsst, wird seinen Kuss nicht auf dessen Mund drücken (der schwer zugänglich ist), sondern auf die Rüsselscheibe (die aber ein Teil der Nase ist). Dies leitet über zu medizinischen und hygienischen Erwägungen. Enger Kontakt kann Tierkrankheiten auf den Menschen übertragen und umgekehrt, und viele Menschen finden den Kontakt zwischen Tiermaul (-schnauze, -schnabel usw.) und nackter Menschenhaut unappetitlich. Dies gilt in verstärktem Maße für einen Kontakt zwischen Tiermaul und Menschenmund. Da man jedoch manche Kinder eigens ermahnen muss, tierische Spielgefährten nicht auf die Schnauze zu küssen, ist diese Ablehnung gelernt und nicht angeboren. Ferner belegen empirische Untersuchungen, dass gerade das Aufwachsen zusammen mit Tieren das Immunsystem stärkt und vor Allergien schützt. Ob ein Hautkontakt zwischen Mensch und Tier für beide angenehm ist, hängt von der jeweiligen Beschaffenheit der Haut ab. Für die streichelnde Menschenhand besonders anziehend sind die vielen Varianten von Fell: seidig oder borstig, glatt oder lockig. Auch Vögel, die das Gekraultwerden sichtlich genießen und gerne mit ihrem Schnabel in Menschenhaaren wühlen, sind noch brauchbare Partner für solches Grooming. Schleimige Häute hingegen lösen eher Ekelgefühle aus (wobei man Schlangen oft irrigerweise solche Schleimigkeit nachsagt), und bei stachligen und wehrhaften Tieren verbietet sich ein Hautkontakt ohnehin. Ein oft übersehener Aspekt ist der beim Streicheln ausgeübte Druck. Allzu zaghafte Berührungen (vielleicht verbunden mit Angstgeruch) sind Hunden und Katzen offenbar unangenehm, sie reagieren weit positiver auf herzhaftes Knuddeln. 4.4 Distanzverhalten Grundlegend für Sozialkontakte ist schließlich noch das Distanzverhalten, also der von Lebewesen gesuchte oder geforderte Abstand zu anderen (seine Gesetzmäßigkeiten beim Menschen untersucht die sog. Proxemik). Während Distanztiere wie Rehe immer eine artspezifische Distanz zu anderen aufrechterhalten, suchen Kontakttiere wie Wildschweine häufig körperliche Nähe. Kontaktverhalten ist manchmal vorteilhafter, so überstehen dicht gedrängte Tiergruppen kalte Winternächte besser und schützen ihre in die Mitte genommenen Jungtiere sehr wirksam - man denke an die Wagenburg von Moschusochsen. Genauere Analysen des Distanzverhaltens unterscheiden Fluchtdistanz und kritische Distanz. Fluchtdistanz ist die Entfernung, ab der das Tier flieht, wenn es sich bedroht fühlt. Sie hängt ab von der biologischen Art - beträgt etwa beim Schneehuhn nur wenige Dezimeter -, aber auch von Umgebungsfaktoren wie Vegetation, Tageszeit und Witterung. Die kritische Distanz ist noch kleiner: Sie ist die Entfernung, ab der ein Tier angreift, das nicht fliehen kann. Auch sehr kleine Tiere werden ernst zu nehmende Gegner, wenn man sie in die Enge treibt (was etwa jeder weiß, der einmal von einer Ratte angesprungen wurde). Zwischen den beiden Distanzgrenzen entscheidet sich also, wie eine Begegnung ausgeht. Viele Beißattacken von Hunden (vor allem, wenn diese irgendwo angebunden sind) geschehen, weil der sich Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 61 nähernde Mensch deren Anzeichen von Angst und/ oder Aggression nicht erkennt. Ähnlich werden in unübersichtlichen Waldgebieten ahnungslose Jogger oft von Bachen angegriffen, weil sie eine ruhende Wildschweinrotte überrascht haben, die ihre Frischlinge bedroht sieht. Raubtier-Dompteure im Zirkus arbeiten bei Dressur und Auftritt sehr gezielt mit den genannten Distanzen. Wenn sich der Dompteur dem Tier nähert, wird ein Fluchtverhalten ausgelöst, das wegen der begrenzten Manege schnell in das gewünschte beeindruckende Angriffsverhalten umschlägt, das etwa bei Tigern aus Maulaufreißen, Fauchen, Aufbäumen und Prankenhieben besteht. Nur sofortiges Zurückziehen aus der kritischen Zone stoppt den Angriff. Durch ständige Veränderung des Abstandes hält also der Dompteur die Tiere in Bewegung, um die Schaubedürfnisse des Publikums zu erfüllen. 5 Fazit Die Untersuchung der verschiedenen Sinnesmodalitäten und Medien hat gezeigt, dass die Materialität der Zeichen in der Kommunikation mit Tieren eine entscheidende Rolle spielt. Tiere identifizieren bekannte Menschen anhand biometrischer Merkmale, die ihren Besitzern unterschiedlich stark zugänglich sind. Geruchliche Zeichen sind besonders konkret, da sie aus Partikeln bestehen. Zugleich ist jedoch der menschliche Geruchssinn wenig leistungsfähig und daher wenig geeignet für die zwischenartliche Interaktion. Allein an ihrem Geruch vermögen wir Tiere verschiedener Arten kaum zu unterscheiden und Individuen noch weniger - allerdings wird diese Fähigkeit auch selten verlangt. Auch dass wir das Geschlecht und die Paarungsbereitschaft anderer Lebewesen nicht olfaktorisch wahrnehmen, vermag zwar innerartliche Balzversuche zu beeinträchtigen, spielt aber in der Interaktion mit Tieren keine Rolle, da deren Geruchssignale sich nicht an uns richten. Während Menschen nur enge Vertraute am Eigengeruch erkennen, nehmen sie deren Stimme und Körpermelodie durchaus als identifizierende Merkmale wahr. So erkennt man oft Bekannte auf große Entfernung an ihrem typischen Gang, lange bevor man ihr Gesicht genau wahrnimmt. Um die Stimmung eines Menschen zu erkennen, orientieren sich Artgenossen ebenso wie Tiere vor allem am Tonfall und an der Gestimmtheit der Körperbewegungen und weniger an den geäußerten Worten. Nur Menschen werden daher durch eine Diskrepanz zwischen Äußerungen und Tonfall stark irritiert; so ist der Wunsch “Lass dich umarmen! ” mit starr ausgestreckten Armen ein typischer Fall von sog. double-bind. Möchten umgekehrt Menschen die Stimmung von Tieren erkennen, müssen sie deren artspezifische Körpersprache lernen. Wie umfangreich das möglich ist, belegt die zwischenartliche Kompetenz von Menschen, die beruflich mit Tieren umgehen (Tierzüchter, Veterinärmediziner, Dompteure usw.) oder sich im Alltag ganz auf sie einlassen. Literatur Barfuss, Matto 1999: Meine Gepardenfamilie, Zürich: Baumhaus-Verlag Bauer, Joachim 2005: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg: Hoffmann und Campe Bentz, Hans G. 1995: Gute Nacht, Jakob. Ein heiterer Roman, München: Heyne Bouissac, Paul 1993: “Semiotisches Wettrüsten: Zur Evolution artübergreifender Kommunikation”, in: Zeitschrift für Semiotik 15, 3-21 Dagmar Schmauks 62 Bouissac, Paul 2004: “Interspecific Communication”, in: Posner, Roland, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 3. Teilband, Berlin/ New York: de Gruyter, 3391-3396 Finke, Richard 2002: Auf Tuch- und Borstenfühlung. Tagebuch des ‘Keilers h.c.’, Oberviechtach: Forstner Fleischer, Michael 1993: “Kommunikation zwischen Mensch und Hund”, in: Zeitschrift für Semiotik 15, 23-40 Franke, Werner 1991: Luise - Karriere einer Wildsau, Bergisch Gladbach: Lübbe Kipps, Clare 1953: Sold for a farthing, London: Frederick Muller (deutsche Übersetzung 1956: Clarence der Wunderspatz, Zürich: Arche) Lishman, William 1996: Father Goose. The Adventures of a Wildlife Hero, London: Orion (deutsche Übersetzung 1996: Vater der Gänse. Dem Geheimnis des Vogelzugs auf der Spur, München: Droemer Knaur) Meynhardt, Heinz 1984: Schwarzwild-Report, Melsungen: Neumann-Neudamm Rheinz, Hanna 1994: Eine tierische Liebe. Zur Psychologie der Beziehung zwischen Mensch und Tier, München: Kösel Rickheit, Gert, Theo Herrmann & Werner Deutsch 2003: Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch, Berlin/ New York: de Gruyter Robert, François & Jean Robert 2005: Gesichter, Hildesheim: Gerstenberg Schmauks, Dagmar 2007: Semiotische Streifzüge. Essays aus der Welt der Zeichen, Münster: LIT Watson, Lyall 2004: The Whole Hog. Exploring the Extraordinary Potential of Pigs, London: Profile Books Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen Martin Siefkes For some signs, the relation of sign matter and sign vehicle is simple and straightforward: on a page, the blackened areas are directly recognizable as graphetic level of a text. Only unintentionally blackened parts (blots) can disturb the discrimination between sign matter and sign vehicle. For stylistic signs, on the other hand, the discrimination between sign matter and sign vehicle is one of the most important tasks for the sign receiver. Stilistic signs appear when a number of varieties exist on the basis of a schema that makes the different possibilities comparable. They can be described as regularities of choice that carry a meaning. The unusual relation between sign matter and sign vehicle is characteristic for these signs: For decoding the sign, alternative possibilities of expression and behavior have to be considered; by comparing them with the given sign matter (i.e. a house, a text or a car drive with a certain style), the regularities of choice can be extracted. These regularities of choice form the sign vehicle. Style theory, therefore, belongs to those parts of cultural theory that have to pay special attention to the material side of the sign. Das Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist bei manchen Zeichen einfach und direkt, etwa wenn die Schwärzungen auf einem Papier als graphetische Ebene eines Textes erkennbar werden: Höchstens unbeabsichtigte Schwärzungen (Kleckse) können die Trennung von Zeichenträger und -materie erschweren. Bei stilistischen Zeichen ist dies anders: Hier gehört die Trennung des Zeichenträgers von der Zeichenmaterie zu den wesentlichen Aufgaben, die der Empfänger zu leisten hat. Stilistische Zeichen treten dort auf, wo eine Möglichkeit der Variation bei grundsätzlicher Vergleichbarkeit besteht. Sie können als bedeutungstragende Regelmäßigkeiten der Auswahl beschrieben werden. Das ungewöhnliche Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist eine Besonderheit dieser Zeichen: Zur vorgefundenen Zeichenmaterie (z.B. einem Haus; einem Text; einer Autofahrt) müssen zunächst alternative Ausdrucksbzw. Verhaltensmöglichkeiten hinzugenommen werden. Diese Regelmäßigkeiten der Auswahl bilden den Zeichenträger. Die Stiltheorie gehört damit zu jenen Bereichen der Kulturtheorie, die der Materialität des Zeichens besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. 1 Einleitung Zeichenträger und Zeichenmaterie existieren bei allen Zeichenprozessen. Das Verhältnis, in welchem sie zueinander stehen, kann dabei jedoch sehr unterschiedlich sein. Verschiedene Zeichentypen können sich darin unterscheiden, welchen Charakter dieses Verhältnis annimmt, womit es zu einem distinktiven Merkmal von Zeichen wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Siefkes 64 Klare und gut handhabbare Definitionen beider Begriffe hat Roland Posner entwickelt: 1 Alle physikalisch feststellbaren Elemente, die während eines Kommunikationsprozesses durch den Kanal transportiert werden, gehören - ohne Rücksicht auf ihre semiotische Relevanz - zur Zeichenmaterie. Sie ist zugleich Produkt der Sendung (“output”) und Ausgangspunkt der Rezeption (“input”), in ihr schlägt sich die Nachricht sinnlich wahrnehmbar nieder. (Posner 1980: 688) Die semiotisch relevanten Teile der Zeichenmaterie und diejenigen Teile der Nachricht, die als Trägerinformationen für andere Teile der Nachricht fungieren, werden unter dem Begriff des Zeichenträgers zusammengefaßt. Der Zeichenträger ist wie fast jede Nachricht mehrschichtig. Die unterste Ebene bilden die physikalischen Informationsträger, d.h. die semiotisch relevanten Elemente der Zeichenmaterie. […] Wer eine Mitteilung ohne Abstriche verstehen will, muss aus der gegebenen Zeichenmaterie den Zeichenträger und aus diesem die Endinformationen rekonstruieren können. (ebd.: 689) Die Unterscheidung zwischen Zeichenmaterie und Zeichenträger ist also der Ausgangspunkt für die Dekodierung einer Nachricht. Oft ist sie nicht schwierig, etwa wenn wir einen Text lesen: Hier sind die Schwärzungen leicht als jener Teil der Zeichenmaterie zu erkennen, die gleichzeitig Zeichenträger sind. (Genauer gesagt, geht es um die Form der Schwärzungen auf dem weißen Papier; die Annahme, nur die geschwärzten Teile des Papiers seien relevant und die weißen könne man auch getrost weglassen, wäre natürlich falsch, da die weißen Teile die spezifische Form der Schwärzungen erst ermöglichen.) Die Ränder des Papiers gehören normalerweise nicht zum Zeichenträger, ebenso wie die Oberflächentextur, die genaue Helligkeitsstufe und die Art des verwendeten Schwärzungsmittels. Bei schriftlichen Texten können wir die Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie, sobald wir als Kind das richtige Vorgehen gelernt haben, problemlos durchführen. Bei stilistischen Zeichen ist dies anders: Hier sind Zeichenträger und Zeichenmaterie auf komplexe Art miteinander verbunden; ihre Trennung stellt erhebliche Ansprüche an den Empfänger. Stilistische Zeichen treten dort auf, wo eine Möglichkeit der Variation bei grundsätzlicher Vergleichbarkeit besteht. Sie können als bedeutungstragende Regelmäßigkeiten der Auswahl beschrieben werden. Das ungewöhnliche Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist eine Besonderheit dieser Zeichen: Zur vorgefundenen Zeichenmaterie (z.B. einem Haus; einem Text; einer Autofahrt) müssen zunächst alternative Ausdrucksbzw. Verhaltensmöglichkeiten hinzugenommen werden. In einem weiteren Schritt muss der Stilempfänger nun die bedeutungstragenden Auswahlvorgänge extrahieren und erhält damit den Zeichenträger. - Die Stiltheorie gehört damit zu jenen Bereichen der Kulturtheorie, die der Materialität des Zeichens besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Um uns diesen Vorgang genauer anschauen zu können, müssen wir uns zunächst genauer anschauen, was stilistische Zeichen sind. Dabei soll in Abschnitt 2 eine Vorschau auf die allgemeine Stiltheorie gegeben werden, die der Autor in seiner Dissertation entwirft. In Abschnitt 3 wird auf dieser Grundlage betrachtet, wie die Extraktion des Zeichenträgers aus der Zeichenmaterie bei stilistischen Zeichen erfolgt. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 65 2 Vorschau auf eine allgemeine Stiltheorie 2.1 Allgemeines Bisherige Stiltheorien waren meist bereichsspezifisch. 2 Stil kann jedoch als eine bestimmte Zeichenart mit spezifischen Eigenschaften beschrieben werden. Damit wird es möglich, den in verschiedenen Bereichen von Kultur, Kommunikation und Alltagsleben anzutreffenden Stilprozess in allgemeiner Weise zu beschreiben, indem der Prozess auf der zugrunde liegenden Zeichenebene untersucht wird. 3 Als Gemeinsamkeit der verschiedenen Stilprozesse kann abgeleitet werden, dass bei einem Auswahlprozess eine Bedeutung entsteht. Entscheidend ist, dass diese Bedeutung tatsächlich durch die Auswahl entsteht; falls es sich bei den Alternativen, aus denen ausgewählt wird, also selbst um Zeichen handelt, entsteht eine zusätzliche Bedeutung, die von der des Zeichens zu unterscheiden ist. Für die Alternativen, deren Auswahl zur Entstehung von Stil führt, können drei grundsätzliche Gegenstandsbereiche angenommen werden: Verhaltensweisen, Artefakte und Texte. Wenn Auswahl ausgehend von Variation beschrieben werden soll, muss der Raum aller in den entsprechenden Gegenstandsbereichen existierenden Varianten allgemein erfasst werden. Er soll hier als Möglichkeitsraum bezeichnet werden. Variation setzt das Feststehende voraus, innerhalb dessen variiert werden kann. Bevor wir Varianten beschreiben können, müssen wir daher zunächst eine allgemeine Beschreibungsweise für die Kategorien finden, die Varianten enthalten können, und beschreiben, wie diese gebildet werden. Innerhalb des Möglichkeitsraums müssen wir somit zwischen Möglichkeiten innerhalb und außerhalb derselben Kategorie, zwischen Varianten und Nicht-Varianten unterscheiden. Wir benötigen also ein System zur Gliederung des Möglichkeitsraums. Dafür nehmen wir eine allgemeine Gliederung in Schemata an. Gemäß unserer oben eingeführten Dreiteilung unterscheiden wir Verhaltensschemata, Artefaktschemata und Textschemata. Dabei gilt, dass die Schemata jeweils verschiedene Varianten umfassen. Anders ausgedrückt: Schemata unterdeterminieren die konkreten Ausführungen, die auf ihnen basieren. Schemata unterteilen sich in einzelne Schemaorte, die die einzelnen Bestandteile des Schemas charakterisieren. So gibt es etwa beim Autofahren eine Reihe von spezifischen, innerhalb des Schemas abgrenzbaren Bestandteilen wie “Anfahren”, “Linksabbiegen”, “Rechtsabbiegen” und “Überholen”. 4 Mit Hilfe von Schemata werden Alternativenklassen gebildet. 5 Sie werden durch Angabe von Schema, Schemaort und Zusatzbedingungen festgelegt. Um bei unserem einfachen Beispiel zu bleiben: Eine bestimmte Alternativenklasse könnte durch das Schema “Autofahrt”, den Schemaort “Linksabbiegen” und die Zusatzbedingungen “Regen; Dunkelheit” festgelegt sein. Auch Schema und Schemaort werden durch Bedingungen definiert, die Elemente zu erfüllen haben, um ihnen anzugehören. Innerhalb der Alternativenklasse befinden sich somit alle Elemente des Möglichkeitsraums, die die Schemabedingungen eines bestimmten Schemas, die Schemaortbedingungen eines bestimmten Schemaorts dieses Schemas und gegebenenfalls bestimmte Zusatzbedingungen erfüllen. Ein konkretes Verhalten, Artefakt oder Text wird als Realisierung bezeichnet. 6 Wir gehen von der Annahme aus, dass Realisierungen auf der Basis von Schemata erzeugt werden. Zum Zwecke der Analyse untergliedern wir sie in Realisierungsstellen, denen jeweils ein Schemaort zugeordnet werden kann. In unserem Beispiel wäre eine konkrete Autofahrt eine Realisierung des Schemas “Autofahren”. Sie lässt sich in Realisierungsstellen unterteilen, die den Martin Siefkes 66 Schemaorten “Anfahren”, “eine Straße entlangfahren”, “Linksabbiegen”, “Überholen” usw. in einer bestimmten Anordnung entsprechen. Sie lässt sich daher vereinfacht folgendermaßen darstellen: Autofahrt: <Anfahren, eine Straße entlangfahren, Linksabbiegen, Überholen, vor einer Ampel anhalten, Anfahren, eine Straße entlangfahren, …> Realisierungen können eindimensional sein (Texte sowie weitgehend rauminvariante Verhaltensweisen wie Sprechen, Mimik usw.), zweidimensional (Bilder, Pläne), dreidimensional (Gebäude, Werkzeuge) oder vierdimensional (Inszenierungen, Feste, Gestik, raumvariante Verhaltensweisen wie einen Spaziergang machen). Zusätzliche ‘Dimensionen’ können durch notwendige Mehrschichtigkeit der Beschreibung hinzukommen, man denke etwa an die Beschreibungsebenen der Sprache. Bei der Übertragung in eine (eindimensionale) Anordnung von Realisierungsstellen sind die Dimensionen entsprechend zu berücksichtigen. Da im vorgestellten Modell die Kodierung des Stils nicht von der Reihenfolge der Realisierungsstellen in der Anordnung abhängt, ist es nicht schlimm, wenn kein einheitlicher Algorithmus für die Anordnung der Realisierungsstellen zur Verfügung steht; dies entspricht auch der Realität der Stilwahrnehmung, bei der wir uns selbst entscheiden können, in welcher Reihenfolge wir die stilistischen Merkmale etwa eines Gebäudes zur Kenntnis nehmen. 2.2 Die Verhaltensausführung Der für die Stilentstehung entscheidende Prozess ist der Übergang von den Alternativenklassen zur Realisierung. Damit dieser Prozess präzise untersucht werden kann, muss er in die anderen Auswahlprozesse eingebettet werden, die bei der Herstellung einer Realisierung auftreten. Die verschiedenen genannten Auswahlprozesse werden in der Verhaltensausführung beschrieben. Dies ist eine modellhafte Darstellung des Prozesses, der zu einem konkreten Verhalten führt, wobei nur die für die Stilbeschreibung relevanten Prozesse betrachtet werden. In der Verhaltensausführung werden vier Schritte unterschieden: Schritt 1: Auswahl eines Schemas, auf dessen Grundlage eine Realisierung erstellt wird Schritt 2: Festlegung einer Anordnung von Alternativenklassen Schritt 3: Stilprozess (Kodierung der stilistischen Auswahlregeln) Schritt 4: Fertigstellung der Realisierung Betrachten wir noch einmal genauer, was in den vier Schritten geschieht. - Die ersten beiden Schritte bezeichnen jene Entscheidungen, die zu treffen sind, bevor Stil entstehen kann: Schritt 1 (Schema): Welches Verhalten wird überhaupt ausgeführt, welches Artefakt oder welcher Text wird hergestellt? Schritt 2 (Anordnung von Alternativenklassen): Welche Größe oder Länge soll die Realisierung haben, welche Kontextbedingungen gelten, welche Funktion soll es haben, welcher Inhalt soll ausgedrückt werden? Sind diese Entscheidungen jedoch einmal getroffen, ist auch das oben erwähnte “Feststehende” gegeben, innerhalb dessen nun Variationsmöglichkeiten existieren. Die Auswahl aus diesen Variationsmöglichkeiten ermöglicht die Kodierung von zusätzlichen Bedeutungen und damit die Entstehung von stilistischen Zeichen. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 67 Dies heißt nun allerdings nicht, dass Schritt 2 komplett vor Schritt 3 ausgeführt werden muss. Nur in jedem einzelnen Fall muss die Alternativenklasse gebildet sein, bevor der Stilprozess stattfinden kann. Häufig wird die Abfolge von Schritt 2 und 3 auch mehrmals auf verschiedenen Ebenen zunehmender Detailliertheit durchlaufen: Wenn etwa jemand in eine bestimmte Situation kommt und beschließt, zu überholen, ist dies bereits eine stilistisch relevante Entscheidung (innerhalb einer höheren Alternativenklasse, die mindestens die zwei Elemente “Überholen” und “Nicht überholen” enthält). Die Entscheidung, zu überholen, fordert jedoch eine neue Realisierungsstelle und somit eine Alternativenklasse, so dass in den Schritt 2 zurückgesprungen werden muss. Daraus wird nun wiederum in Schritt 3 eine stilistische Auswahl getroffen. Die Alternativenklassen enthalten noch alle Varianten, die es für die Ausführung eines Verhaltens, eines Artefakts oder eines Textes unter bestimmten Kontextbedingungen gibt. 7 Die Realisierung enthält dagegen für jede zuvor betrachtete Alternativenklasse ein konkretes Element, es wurde also aus jeder Alternativenklasse ein Element ausgewählt. Dieser Prozess lässt sich in zwei Schritte unterteilen: Schritt 3 (Stil): Stilistische relevante Auswahlprozesse. Stil besteht darin, dass bei der Auswahl von konkreten Realisierungselementen aus Alternativenklassen bestimmte Regelmäßigkeiten auftreten. Diese können wiederum Rückschlüsse auf ihre Ursachen erlauben: Charakter und Persönlichkeit, Vorlieben, technisches Können, individuelle Erfahrungen oder Weltsicht des Stilsenders, ebenso wie kulturelle Bedingungen oder technische Möglichkeiten seiner Zeit, Schulen und Traditionen seiner Ausbildung, aber auch bewusste Entscheidungen und programmatische Absichten und vieles mehr. Ist dies der Fall, dann wird die Auswahl zum Zeichen für diese Ursachen der feststellbaren Regelmäßigkeiten der Auswahl: ein Stil ist entstanden. Schritt 4 (Fertigstellung der Realisierung): Stilistisch nicht relevante Auswahlprozesse. Nicht jede Auswahl folgt feststellbaren Regelmäßigkeiten und erzeugt damit Bedeutungen. Selbst wenn an einer bestimmten Realisierungsstelle eine (oder mehrere) stilistische Regeln kodiert werden, kann es mehrere Elemente geben, die den Anforderungen dieser Regeln entsprechen. Ein abschließender Prozess wird also benötigt, der für jede Realisierungsstelle ein Element auswählt und damit die Realisierung fertigstellt. Für alle vier Schritte gilt, dass sie weniger einen chronologischen Ablauf als eine logische Trennung darstellen. 2.3 Zwei Zeichenprozesse Wie wir festgestellt haben, wird gewöhnlich dann von Stil gesprochen, wenn Auswahl zum Zeichen wird. Im einzelnen kann es sich dabei in Bezug auf Umfang und Komplexität um sehr unterschiedliche Auswahlprozesse handeln. Für eine allgemeine Stiltheorie benötigen wir jedoch eine grundlegende Beschreibung dieser Auswahlprozesse. Diese soll von den Auswahlregeln geleistet werden. Auswahlregeln dienen dazu, die stilistischen Auswahlprozesse auf einer grundlegenden Ebene präzise beschreiben zu können. Sie haben damit zwei Dimensionen: 1. Zum einen haben sie eine darstellungsbezogene Funktion: Sie ziehen eine Ebene in die Analyse ein, die für alle Stilprozesse gilt und daher allgemeingültig beschrieben werden kann. Oberhalb dieser Ebene teilen sich die beobachtbaren Stilphänomene in viele Varianten auf, die auf unterschiedliche Art funktionieren. Dieser Bereich kann nicht mehr so allgemein und Martin Siefkes 68 präzise beschrieben werden wie derjenige der Auswahlregeln. Daher sollen diese als ein “erster Zeichenprozess” separat behandelt werden. Der “zweite Zeichenprozess” untersucht dann diejenigen weitergehenden Bedeutungen, die sich aus der im ersten Zeichenprozess dekodierten Menge von Auswahlregeln ergeben, wobei die verschiedenen Auswahlregeln zusammenwirken und oft auch Hintergrundwissen einbezogen wird. Es handelt sich dabei um eine vorwiegend analytische Trennung: Die beiden Zeichenprozesse finden in der Realität zusammen statt und sind eng miteinander verwoben. Man darf sie sich nicht im Sinne zweier getrennt voneinander stattfindender Zeichenprozesse vorstellen. Besser passt die Vorstellung einer Menge von komplexen, vielschichtigen Zeichenprozessen, die unter “Stil” zusammengefasst werden und die einen grundlegenden Bestandteil gemeinsam haben. Dieser wird für die Beschreibung von dem stärker divergierenden Bestandteil getrennt, etwa so, wie man in der Zellbiologie die Beschreibung allgemeiner Zellfunktionen von denen spezialisierter Zelltypen trennt. 2. Wie häufig, wenn sich eine nicht offensichtliche kategorielle Trennung als nützlich für die Darstellung erweist, findet man sie auf den zweiten Blick auch im Gegenstandsbereich wieder. Dies gilt auch hier: Die im “ersten Zeichenprozess” untersuchten Auswahlregeln entsprechen ungefähr den “stilistischen Merkmalen”, die im Alltagsgebrauch und auch in vielen Stiltheorien betrachtet werden. Wenn bezüglich einer bestimmten Stelle einer Realisierung vom Stilempfänger eine Aussage darüber gemacht wird, nach welchen Kriterien das konkret vorgefundene Element hier ausgewählt wurde, dann wird traditionell gern von einem “stilistischen Merkmal” gesprochen. So sind die berühmt-berüchtigten stilistischen Merkmale, mit deren Hilfe zwischen einem romanischen und einem gotischen Baustil unterschieden werden kann, der Rundbogen und der Spitzbogen. Beim Autofahren könnte die riskante Durchführung eines Überholmanövers als Hinweis auf einen “riskanten” Fahrstil betrachtet werden. In beiden Fällen geschieht jedoch bereits bei der traditionellen Analyse mehr, als es den Anschein hat: Es wird nicht einfach auf etwas direkt Sichtbares hingewiesen; vielmehr wird (a) eine bestimmte Stelle (oder mehrere derselben Art) einer konkreten Realisierung (eines Gebäudes; einer Autofahrt) ausgesucht, zum Beispiel der obere Abschluss der Fensteröffnungen bzw. Situationen, in denen Überholen möglich ist; (b) es werden Eigenschaften des jeweiligen Elements angegeben, die als stilistisch relevant betrachtet werden können (nämlich “runde Bogenform”/ ”spitze Bogenform” bzw. “riskant”), wobei durch die Betrachtung als stilistische Merkmale impliziert wird, dass es diese Merkmale waren, nach denen das entsprechende Element ausgesucht wurde (und nicht andere; dann wären die betrachteten Eigenschaften akzidentiell und stilistisch nicht relevant). (c) es wird impliziert, dass beim Vorhandensein des entsprechenden Stils mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an den in (a) beschriebenen Stellen ein Element mit den in (b) genannten Eigenschaften zu finden ist. Dies macht es naheliegend, stilistische Merkmale als Ergebnisse stilistischer Auswahlregeln zu beschreiben. Dabei sind die in (a) genannten Realisierungsstellen jene, auf die die Auswahlregel anzuwenden ist; die in (b) genannten Eigenschaften sind die von der Auswahlregel verlangten Eigenschaften; und (c) rechtfertigt es, von einer Regel zu sprechen, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit angewandt wird. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 69 Bevor wir uns Auswahlregeln genauer anschauen, halten wir fest: Auswahlregeln entsprechen in etwa den traditionell “stilistischen Merkmalen” genannten Phänomenen, die bei allen Stilen festzustellen sind; ihre präzise Formulierung wird im Dissertationsprojekt ausführlich im “ersten Zeichenprozess” vorgenommen (vgl. Abschnitt 2.5). Aufbauend auf dieser allgemeinen Beschreibung können dann speziellere stilistische Wirkungen analysiert werden; diese werden im “zweiten Zeichenprozess” betrachtet (vgl. Abschnitt 2.6). Bei der Beschäftigung mit einem der Prozesse sollte man im Kopf behalten, dass beide Prozesse in der Realität zusammen stattfinden und miteinander interagieren, etwa wenn einzelne Auswahlregeln deshalb angenommen werden, weil sie im zweiten Zeichenprozess die Entstehung weiterer Zeicheninhalte ermöglichen (vgl. Abschnitt 3.3). 2.4 Auswahlregeln Im letzten Abschnitt wurde die Notwendigkeit der Annahme von Auswahlregeln hergeleitet. In komprimierter Form lassen sie sich auf vier Variablen reduzieren. Zwei Variablen kennen wir schon: 1. Die Anwendungsvoraussetzungen spezifizieren, auf welche Realisierungsstellen eine Auswahlregel anzuwenden ist. 2. Die verlangten Eigenschaften spezifizieren, welche Eigenschaften das an dieser Stelle auszuwählende Element haben muss. Aus (c) im letzten Abschnitt lässt sich eine weitere Variable ableiten: 3. Die Anwendungswahrscheinlichkeit gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei erfüllten Anwendungsvoraussetzungen ein Element mit den verlangten Eigenschaften ausgewählt wird. Häufig wird ein Stil aus mehreren Auswahlregeln bestehen. Nehmen wir ein Beispiel: Der Stil des Architekten Richard Meier fällt durch seine glänzend weißen Außenflächen auf. Jedoch schon die häufige Verwendung von fliesen- oder kachelartigen Elementen für Außenwände sollte sinnvollerweise in einer zweiten Auswahlregel beschrieben werden (sie können notfalls auch andere Farbtöne annehmen, etwa beim Getty-Museums in Los Angeles, wo die strahlendweiße Farbgebung nicht angewandt werden durfte; dieser Effekt ließe sich bei Zusammenfassung in eine Auswahlregel nicht beschreiben). Als weitere Merkmale dieses Architekturstils können die Kombination von abgerundeten und geraden Flächen, die häufige Verwendung kubischer oder zylindrischer Baukörper, die häufige Staffelung mehrerer solcher Baukörper ‘ineinander’, die Durchbrechung dieser glatt wirkenden Körper durch bündig gesetzte, häufig asymmetrische Glasflächen und weitere angenommen werden. Erst in ihrem Zusammenspiel erzeugen sie die charakteristische Wirkung des Stils Richard Meiers. Wenn verschiedene Auswahlregeln vorliegen, müssen wir jedoch auch spezifizieren, in welcher Reihenfolge sie angewandt werden. Dies ist wichtig, weil die Anwendung einer bestimmten Auswahlregel auf eine Alternativenklasse sie häufig so stark reduzieren wird, dass andere Auswahlregeln dort nicht mehr angewandt werden können. (Schließlich enthält die von der Auswahlregel ausgegebene reduzierte Alternativenklasse nur noch die Elemente mit den verlangten Eigenschaften.) Wir benötigen daher noch eine vierte Variable: 4. Die Priorisierung der Auswahlregeln gibt die Reihenfolge an, in der diese auf die Alternativenklassen anzuwenden sind. Martin Siefkes 70 Abb. 1: Der erste Zeichenprozess 2.5 Kodierung und Dekodierung im ersten Zeichenprozess Der erste Zeichenprozess besteht darin, dass Auswahlregeln kodiert und dekodiert werden. Der Übergang von den Alternativenklassen zur Realisierung ist jener Prozess, bei dem Stil entsteht. Die Kodierung besteht darin, dass bei diesem Übergang die Auswahlregeln angewandt werden: 8 An den von der Auswahlregel (in den Anwendungsvoraussetzungen) spezifizierten Stellen werden zunächst reduzierte Alternativenklassen gebildet, die nur noch Elemente mit den verlangten Eigenschaften enthalten. Aus diesen wird in einem letzten, nichtstilistischen Auswahlschritt ein konkretes Element ausgewählt. 9 In der Dekodierung werden zunächst auf Basis der vorgefundenen Realisierung Alternativenklassen gebildet. Es ist also nötig, dass sich der Stilempfänger vorstellt, welche anderen Möglichkeiten es bei der Auswahl jeweils noch gegeben hätte. Im nächsten Schritt werden dann heuristisch Auswahlregeln postuliert (vgl. Abschnitt 3.2). Diese werden aber nur angenommen, wenn sich ausreichend Hinweise dafür finden lassen, dass sie bei der Entstehung der Realisierung auch wirklich angewandt wurden (vgl. Abschnitt 3.3). Kodierung und Dekodierung sind relativ komplizierte Prozesse und können hier nicht im Detail dargestellt werden. Die Trennung in ersten und zweiten Zeichenprozess hat eine analytische Funktion. Doch der erste Zeichenprozess kann auch in der Realität getrennt stattfinden, etwa wenn stilistische Merkmale analysiert werden, ohne dass weitergehende Schlüsse aus ihnen gezogen werden. Tatsächlich entsprechen die traditionellen “stilistischen Merkmale” in etwa den hier “Auswahlregeln” genannten Bestandteilen eines Stils. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 71 In der Grafik sind die Alternativenklassen durch geschweifte Klammern dargestellt, die jeweils eine Reihe von Elementen enthalten, die durch Rechtecke dargestellt sind. Die Realisierung wird als horizontale gestrichelte fette Linie dargestellt. Das Element der Alternativenklasse, das sich an der entsprechenden Realisierungsstelle findet, ist durch Einfügung der Diagonalen ‘angekreuzt’. Die Darstellung befindet sich in einem Koordinatensystem, dessen beide Achsen die Hauptprinzipien bei der Herstellung eines komplexen Verhaltens bezeichnen: Auswahl (aus einer Reihe von Möglichkeiten für eine bestimmte Realisierungsstelle) und Kombination (der ausgewählten Elemente aus verschiedenen Einzelelementen zu einer Realisierung). Die Darstellung entspricht damit im wesentlichen der im Strukturalismus üblichen Darstellung von Texterzeugungsprozessen. 10 Dort werden als Elemente allerdings Zeichen angenommen, während hier die Elemente in der Regel Verhaltensausführungen sind. Da unter bestimmten Umständen auch Zeichen auftreten können, kann man von einer Verallgemeinerung gegenüber der strukturalistischen Darstellung sprechen. Um keine Verwirrung aufkommen zu lassen und nicht den Eindruck zu erzeugen, es handele sich bei den Elementen immer um Zeichen, werden in der allgemeinen Stiltheorie die Begriffe Alternativenklasse und Realisierung verwendet. 2.6 Der zweite Zeichenprozess 2.6.1 Stil als Menge von Auswahlregeln Das Stilmodell unterteilt den stilistischen Zeichenprozess in zwei Zeichenprozesse, die voneinander getrennt untersucht werden. Der erste Zeichenprozess besteht in der Kodierung und Dekodierung von einzelnen Auswahlregeln. Dabei nehmen wir nur solche Auswahlregeln an, bei denen sich ein (durch die Angabe von Eigenschaften intensional beschreibbarer) Anwendungsbereich und für diesen eine Menge von verlangten Eigenschaften angeben lassen. Der simpelste denkbare Stil besteht darin, dass für einen Anwendungsbereich eine Eigenschaft verlangt wird. Plausible Beispiele dafür lassen sich bei Fahrstilen finden: Jemand könnte z.B. alle Fahrsituationen auf “riskante” oder auch auf “kontrollierte” Art ausführen. So unterschiedlich dies für den Mitfahrer sein mag, für die Analyse sind beide Fälle gleich: Es ist nur eine Auswahlregel nötig, da in den Anwendungsvoraussetzungen allgemein “Fahrsituation” spezifiziert und die Eigenschaft “riskant” oder “kontrolliert” verlangt wird. Dasselbe gilt auch, wenn nur ein bestimmter, abgrenzbarer Anwendungsbereich mit einer Auswahlregel beschrieben werden muss und die anderen als stilistisch unauffällig gelten können. So kann ein Fahrstil damit beschrieben werden, dass “riskant überholt” wird; in diesem Fall würde die spezielle Fahrsituation “Überholen” in den Anwendungsvoraussetzungen spezifiziert und die Eigenschaft “riskant” für das Element, das sich in der Realisierung an dieser Stelle befindet, verlangt. Dies kann jedoch nur dann als angemessene Stilbeschreibung akzeptiert werden, wenn alle anderen Fahrsituationen tatsächlich stilistisch unauffällig sind. 11 Die meisten Stile sind jedoch erheblich komplizierter. Aus mehreren Gründen müssen fast immer verschiedene Auswahlregeln angenommen werden. (1) Wenn ein Anwendungsbereich spezifiziert werden soll, der nicht mit einer Menge von Eigenschaften abgegrenzt werden kann, muss dieser in mehrere Teilbereiche unterteilt werden und es müssen zwei Auswahlregeln angegeben werden: So könnte ein Autofahrer “riskant” Martin Siefkes 72 überholen und “riskant” links abbiegen. Da es keine Möglichkeit gibt, alle Überholmanöver und alle Linksabbiegemanöver in eine intensionale Definition zusammenzufassen, müssen hier zwei Auswahlregeln angegeben werden. (2) Dies gilt ebenso, wenn für verschiedene Anwendungsbereiche verschiedene Eigenschaften verlangt werden. Wenn alle Außenwände eines Gebäudes auf bestimmte Art gestaltet sind (z.B. die Fenster in geometrischen Mustern angeordnet) oder mit einem bestimmten Material versehen sind (z.B. verputzt oder mit Backstein verkleidet), kann dies jeweils in einer Auswahlregel angegeben werden. Wenn das geometrische Muster, der Verputz oder die Backsteinverkleidung nur auf der Frontseite vorhanden sind, kann dies ebenfalls in jeweils einer Auswahlregel ausgedrückt werden, die nun als Anwendungsvoraussetzung “Frontseite” spezifiziert. Wenn jedoch die anderen Seiten auf spezifische Art anders gestaltet sind, spielt dies unter Umständen auch eine Rolle für den Stil und sollte in der Stilbeschreibung angegeben werden. In diesem Fall muss eine zweite Auswahlregel mit anderen Anwendungsvoraussetzungen (“Außenseiten, die nicht Frontseite sind”) definiert werden. (3) In den meisten Fällen müssen sowieso verschiedene Gestaltungsweisen beschrieben werden, bei denen weder wie in (1) die verlangten Eigenschaften gleich sind noch wie in (2) die Anwendungsbereiche miteinander zusammenhängen. In diesen Fällen ist es offensichtlich, dass man um die Formulierung mehrerer Auswahlregeln nicht herumkommt. Dennoch kann auch in diesem Fall der Stil einen inneren Zusammenhang haben. Fehlt er, handelt es sich um einen relativ uninteressanten Stil, der als beliebig empfunden wird. Spannend ist ein Stil dann, wenn ein Zusammenhang zu bestehen scheint, der aber nicht ohne Weiteres benannt werden kann und daher zum Nachdenken anregt. Es gibt daher zumindest bei den interessanten Stilen fast immer Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Auswahlregeln. Für die Untersuchung eines Stils sind grundsätzlich alle wahrnehmbaren Zusammenhänge zwischen den Auswahlregeln des Stils relevant; man kann sich nicht auf bestimmte Arten von Zusammenhängen beschränken. Daraus resultiert die Vielgestaltigkeit des Phänomens Stil. 2.6.2 Variation im zweiten Zeichenprozess Im ersten Zeichenprozess wurde nur die Menge der Auswahlregeln aus dem Zeichenmaterie extrahiert. Im zweiten Zeichenprozess geht es nun um alles, was sich aus den Auswahlregeln an zusätzlichen Bedeutungen, Gefühlen und anderen Wirkungen erzeugen lässt. Dabei wird die Menge an Auswahlregeln zum Zeichenträger und alles, was sich daraus erzeugen lässt, zum Zeicheninhalt. Schon aus einzelnen Auswahlregeln lassen sich oft weitere Zeicheninhalte erzeugen; Hauptquelle für den zweiten Zeichenprozess sind jedoch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Auswahlregeln. Ein Stil wird gewöhnlich erst durch die Erzeugung von weiteren Zeicheninhalten interessant; die einzelnen Auswahlregeln werden oft nur als Ausgangspunkt für eine Stiluntersuchung empfunden (und daher als “stilistische Merkmale” bezeichnet). Dieser zweite Zeichenprozess ist jedoch wesentlich vielfältiger in seinen Erscheinungsformen als der erste. Unterscheiden können sich (1) die Anzahl der Zeicheninhalte, die im zweiten Zeichenprozess erzeugt werden; Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 73 (2) die Anzahl der Auswahlregeln im Zeichenträger, die bei der Entstehung eines bestimmten Zeicheninhalts zusammenspielen; (3) die Art der Zusammenhänge zwischen den beteiligten Auswahlregeln; (4) unterschiedliche Arten von Zeicheninhalten (Bedeutungen, Gefühle, andere Wirkungen); (5) unterschiedliche Arten der Erzeugung des Zeicheninhalts; (6) die Bereiche, über die Zeicheninhalte entstehen. Zu (1): Aus der Menge der Auswahlregeln, die im ersten Zeichenprozess dekodiert wurde, können verschiedene Zeicheninhalte erzeugt werden, die zum Gesamtinhalt des zweiten Zeichenprozesses zusammengefasst werden (dieser wird im Folgenden auch “Zeicheninhalt 2” genannt). In der Regel wird der Prozess der Erzeugung weiterer Zeicheninhalte irgendwann abgebrochen, wenn die gewonnenen Ergebnisse als befriedigend angesehen werden. Zu (2): Ein spezifischer Zeicheninhalt kann aus einer, aus zwei oder aus mehreren Auswahlregeln entstehen. Eine einzelne Auswahlregel kann beispielsweise metaphorisch oder als Index für die Ursache eines festgestellten Sachverhalts interpretiert werden. Bei mehreren Auswahlregeln können mit Hilfe der Zusammenhänge zwischen ihnen auf vielfache Weise Zeichen entstehen. Zu (3): Die Zusammenhänge zwischen den Auswahlregeln können vielfältig sein. Im einfachsten Fall liegen direkte Relationen vor: - Gleichheit, Ähnlichkeit, Gegensätzlichkeit oder andere Relationen der verlangten Eigenschaften; - Relationen zwischen den Relationen der verlangten Eigenschaften und den (aus dem Hintergrundwissen entnommenen) Relationen zwischen den Anwendungsbereichen (z.B. wenn zwei als gegensätzlich empfundene Anwendungsbereiche, etwa Keller und Eingangshalle eines Hauses, gegensätzlich oder gleich gestaltet sind; oder wenn zwei als gleich empfundene Anwendungsbereiche, etwa verschiedene Etagen eines Hochhauses, gleich oder gegensätzlich gestaltet sind). Oft ergeben sich jedoch indirekte Zusammenhänge, die sich nicht als direkte Relationen, sondern nur über das entstehende Zeichen beschreiben lassen. So kann eine historische Schule der Malerei oder der Literatur an bestimmten Merkmalen erkennbar sein, die nicht direkt zusammenhängen. Gemeinsam haben sie, dass sie als Wirkung der gleichen Ursache zugeordnet werden können und damit zum Index für diese Ursache, die Zugehörigkeit zu jener Schule, werden. In diesem Fall ist der Zusammenhang zwischen den Auswahlregeln nicht im Zeichenträger gegeben; nur über den Zeicheninhalt kann erkannt werden, dass ein indirekter Zusammenhang existiert. Wenn zudem die einzelnen Merkmale auch unabhängig von dieser Schule auftreten, sind sie einzeln kein hinreichendes Zeichen für die Zugehörigkeit und werden erst gemeinsam zum Index dafür. Zu (4): Wenn wir zusammenfassend von “Zeicheninhalten” sprechen, kann es sich konkret um ganz verschiedene Dinge handeln. Während sich im ersten Zeichenprozess immer eine Menge von Auswahlregeln als Zeicheninhalt 1 ergibt, ist der Zeicheninhalt 2 wesentlich heterogener zusammengesetzt. Martin Siefkes 74 Dies liegt daran, wie wir die analytische Trennung zwischen Zeicheninhalt 1 und Zeicheninhalt 2 vornehmen: Wir trennen dort, wo es sich noch um ein einheitlich beschreibbares Phänomen handelt. 12 Im zweiten Zeichenprozess tritt dann die ganze Vielfalt des Phänomens “Stil” auf. Unterschieden werden soll zwischen Bedeutungen, Gefühlen und anderen Wirkungen. Bedeutungen sollen hier verstanden werden als Zeicheninhalte, die prinzipiell als logische Propositionen oder Sätze einer natürlichen Sprache formuliert werden können. Häufig konzentriert man sich bei der Untersuchung von Stilen auf Bedeutungen; dies ist auch in den beiden im folgenden Abschnitt verwendeten Beispielen (dem Stil von Bret Easton Ellis und einem Fahrstil) der Fall. Aber Stile können auch emotionale Reaktionen auslösen, die keine Entsprechung in einer Bedeutung haben, oder andere Wirkungen beim Stilempfänger erzeugen, etwa ästhetische Eindrücke. Stile dürfen nicht auf Bedeutungen reduziert werden, sondern müssen in der ganzen Vielfalt der entstehenden Wirkungen ernst genommen werden. Zu (5): Die Prozesse, die hier als “Erzeugung” zusammengefasst werden, sind sehr vielfältig. Die Bandbreite reicht von der automatischen Wahrnehmung von Relationen (z.B. der Gleichheit oder Gegensätzlichkeit der verlangten Eigenschaften, etwa wenn jemand beim Autofahren riskant abbiegt und riskant überholt, oder riskant abbiegt und sicher überholt) bis zur spekulativen Interpretation eines Stils. Bedeutungen werden aus den ihnen zugrunde liegenden Auswahlregeln abgeleitet; Gefühle und andere Wirkungen entstehen dagegen auf andere Art, vermutlich mit Hilfe einer spezifischen Wahrnehmungsfähigkeit für die entsprechende Art von Wirkung, die oft Erfahrung oder spezielles Training (z.B. bei ästhetischer Wahrnehmung) voraussetzt. Unterschieden werden kann zudem zwischen kombinierender Ableitung, bei der verschiedene klar benennbare Aspekte der einzelnen Auswahlregeln zur Entstehung eines Zeicheninhalts beitragen, und holistischer Ableitung, bei der verschiedene Auswahlregeln zu Zeicheninhalten führen, die sich nicht auf die Kombination von Aspekten der einzelnen Auswahlregeln zurückführen lassen. Zu (6): Einige Beispiele für Bereiche, über die Zeicheninhalte im zweiten Zeichenprozess entstehen können (SP = Stilproduzent): - Soziale Herkunft des SP oder Prägung durch ein bestimmtes Milieu; - Ausbildung des SP in der Produktion des entsprechenden Realisierungstyps (z.B. schriftstellerische, künstlerische, architektonische, wissenschaftliche oder handwerkliche Ausbildung) gemäß einer bestimmten Schule oder Tradition bzw. von bestimmten Lehrern; - Ansichten und Positionen bezüglich der gesellschaftlichen Funktion und der anzustrebenden Gestaltung des produzierten Realisierungstyps, bei künstlerischen Stilträgern insbesondere künstlerische Positionen; - allgemeine Ansichten und Weltbild des SP; - Persönlichkeit und Charaktereigenschaften des SP (z.B. Temperament); - Stärken und Schwächen, Fähigkeiten und Probleme, entwickeltes und noch unentwickeltes Potential des SP; - bestimmte Aspekte des bisherigen Lebens des SP, die prägend waren (z.B. lange Perioden mit bestimmten Arbeiten oder Lebenssituationen, aber auch einzelne Schlüsselerfahrungen); - Traumatisierungen, psychologische Probleme und körperliche Krankheiten; Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 75 - Angehörigkeit des SP zu bestimmten Gruppen von Menschen (z.B. zu bestimmten Kulturen oder Subkulturen) und zu bestimmten anderen Kategorien (z.B. Menschen mit bestimmten Eigenschaften oder Präferenzen). Diese unvollständige Liste von Bereichen, über die Zeicheninhalte im zweiten Zeichenprozess entstehen können, macht deutlich, warum der als Stil bezeichnete Zeichenprozess für uns Menschen wichtig ist: Er kann, in seiner Gesamtheit betrachtet, Informationen über ganz unterschiedliche Bereiche vermitteln (einzelne Stilbereiche, etwa Architekturstile, können natürlich nicht alle genannten Bereiche abdecken; Schreibstile haben hierbei vielleicht das größte Spektrum). Dies gilt sowohl für Informationen, die der Stilproduzent selbst übermitteln möchte, als auch für solche, die er keineswegs übermitteln möchte. Die meisten Stile können wir nicht ‘ausschalten’, wir haben sie eben; und wir übermitteln damit zahlreiche Informationen für diejenigen, die stilistische Zeichen dekodieren können. Sich dessen nicht bewusst zu sein, ist in jedem Fall ein Nachteil, Stile gezielt erzeugen zu können, dagegen ein Vorteil. Besonders wichtig sind die Fähigkeit zur Dekodierung von Stilen und die Bereitschaft, auf sie zu achten. Denn Stile sind Quelle zahlreicher Informationen, unter denen die ästhetischen Informationen, die so oft in den Mittelpunkt der Stiltheorie gestellt wurden, in der Minderheit sind. Die hier erläuterten Aspekte (1) bis (6) können im zweiten Zeichenprozess variieren. Insgesamt gibt es damit hier einen sehr viel größeren Spielraum als im ersten Zeichenprozess. Von besonderer Relevanz ist, dass die Aspekte grundsätzlich offen sind: Als Variablen betrachtet, können hier neue Werte hinzukommen. Dies ist bei (1) und (2), die nur numerischer Natur sind, weniger relevant als bei den anderen Aspekten. Die Kreativität des Stils besteht darin, dass bezüglich dieser Aspekte neue Werte auftreten können. 2.6.3 Beispiel und allgemeine Darstellung Anhand eines Beispiels soll gezeigt werden, wie Zeicheninhalte aus dem Zusammenspiel verschiedener Auswahlregeln entstehen können. Als Beispiel wird der Schreibstil von Bret Easton Ellis in zwei seiner Werke analysiert, “American Psycho” (1991) und “Glamorama” (1998): 13 B 1 : U = Verben der Redewiedergabe, V = Abwechslung plakativer Ausdrücke: “I whipser […] Daisy murmurs […] I sigh” (AP: 195), “I whisper […] she warns […] Jamie purrs” (G: 303). B 2 : U = negative Gefühlsbeschreibungen, V = Wendungen aus der Sprache des Horrorgenres: “fills me with a nameless dread” (AP: 137, 321), “my life is a living hell” (AP: 136). B 3 : U = persönliche Gespräche über Urlaub oder Mode, V = Protagonisten drücken sich wie Werbetexte (AP: 135) oder wie Modeberater (AP: 149) aus. B 4 : U = Anredesituationen, V = Protagonisten reden einander mit falschen Namen an (AP: 53, 145). B 5 : U = Beschreibungen, V = detaillierte, undifferenzierte Darstellung: Alles scheint gleich wichtig zu sein (AP: 270, G: 289). B 6 : U = Menschen, Orte, Kleidermarken, V = zwanghaft wirkende Namensnennung (AP: 24, G: 39). B 7 : U = Situationsbeschreibungen, V = Situationen werden mit Aufzählungen (z.B. von anwesenden Personen, Gegenständen, servierten Gerichten) dargestellt (AP: 155, G: 88). Martin Siefkes 76 B 8 : U = Alltagsszenen, V: [Ausdrucksweise x] (AP: 207, 290). R 1 : Gegensatz R 2 : Identität B 9 : U = Folterszenen, V: [Ausdrucksweise x] (AP: 208, 292). M 1 aus B 1 und B 2 : Die Genres Unterhaltungsliteratur (zitiert durch die dafür typischen plakativen Redewiedergabe-Verben) und Horrorliteratur beeinflussen den Erzähler. M 2 aus B 3 : Die Protagonisten werden in der Wahrnehmung ihres eigenen Lebens durch die Werbung und die Mode beeinflusst. M 3 aus B 4 : Individualität verschwindet: Alle passen sich an und sehen ähnlich aus, werden dadurch aber auch nicht als Individuen wahrgenommen. M 4 aus B 6 und B 7 : Es gibt ein gesellschaftlich gefordertes Wissen, über das man verfügen muss, um anerkannt zu werden. Dies besteht weitgehend aus Namen, Orten und Marken. M 5 aus B 3 , B 4 , B 5 , B 6 und B 7 : Die beschriebene Gesellschaft ist oberflächlich. M 6 aus B 5 und #grafik#(B 8 , B 9 ): Dem Erzähler erscheint alles gleich wichtig, und seine äußerst brutalen Verbrechen nimmt er nicht anders wahr als Alltagsereignisse. M 7 aus B 1 , B 2 , B 3 , B 6 : Die Gesellschaft wird von Unterhaltungsliteratur, Horrorliteratur und -filmen, Werbung, Mode und Marken beeinflusst. M 8 aus M 3 , M 4 , M 5 : Die Gesellschaft wird geprägt von Anpassung, fehlender Individualität und Oberflächlichkeit. ? M 9 aus M 7 und M 8 : Die beiden über die Gesellschaft gewonnenen Ergebnisse könnten zusammenhängen. M 7 könnte M 8 oder M 8 könnte M 7 verursachen, oder beide könnten Wirkung einer anderen Ursache sein. ? M 10 aus M 6 , M 7 und M 8 : Fehlende Unterscheidungsfähigkeit und Gewalt beim Protagonisten könnten auf die Gesellschaft zurückzuführen sein. Ist dies der Fall, könnten sie durch M 7 oder M 8 verursacht sein. Die letzten beiden Zeicheninhalte sind stärker spekulativ als die vorigen. M 6 , M 7 und M 8 liegen inhaltlich eng genug beieinander, um Spekulationen über einen Zusammenhang nahezulegen, die jedoch auch zurückgewiesen werden können. Es wird erkennbar, dass die abgeleiteten Zeicheninhalte umso subjektiver werden, je weiter sie in ihrer Ableitung von den Auswahlregeln entfernt sind. Während manche direkt ableitbaren Zeicheninhalte (z.B. M 1 und M 2 ) kaum zurückweisbar sind und daher als Teil des kodierten Stils angenommen werden können, beginnt ab einem bestimmten Punkt die Stilinterpretation, die für verschiedene Stilempfänger unterschiedlich ausfällt. Die vorgenommene Interpretation führt zu einem gesellschafts- und zeitkritischen Fazit. Während “American Psycho” beim Erscheinen seiner exzessiven Gewalt- und Sexdarstellungen wegen Aufsehen erregte, versteht sich Ellis selbst als Moralist. Diese Selbsteinschätzung, die er zudem explizit auf seinen Schreibstil bezieht, 14 konnte durch die Stilanalyse bestätigt werden. Ein denkbarer Einwand ist, dass die gewonnenen Bedeutungen durch eine inhaltliche Interpretation beeinflusst seien. Tatsächlich passen bestimmte Aspekte des Inhalts der Bücher - etwa das Verhalten der Protagonisten und die von ihnen geführten Gespräche - zu der hier R 2 1 : Gegensatz Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 77 Abb. 2: Der zweite Zeichenprozess vorgestellten Interpretation des Stils, die auch in Kenntnis des Inhalts vorgenommen wurde. Allerdings sind die entstandenen Zeicheninhalte direkt aus den stilistischen Auswahlregeln ableitbar, ohne dass der Inhalt für diesen Vorgang herangezogen werden muss, wie die obige Darstellung zeigt. 15 Sie können nun verwendet werden, um eine inhaltliche Interpretation zu stützen, in bestimmten Aspekten zu korrigieren oder zu erweitern. Die im zweiten Zeichenprozess erzeugten stilistischen Zeicheninhalte sind also, gerade bei literarischen Texten, insofern nicht unabhängig, als sich inhaltliche und stilistische Interpretation gegenseitig beeinflussen. Prinzipiell kann eine große Menge von Auswahlregeln extrahiert und aus diesen wiederum auf unterschiedliche Arten weitere Zeicheninhalte erzeugt werden. Wie diese Vorgänge gesteuert werden, hängt von anderen Faktoren (z.B. dem Inhalt des Texts oder auch dem persönlichen Interesse des Stilempfängers) ab. Der Gesamtinhalt des zweiten Zeichenprozesses (kurz: “Zeicheninhalt 2”) wird als Menge aller Zeicheninhalte definiert, die sich aus dem Zusammenspiel der Auswahlregeln (für einen bestimmten Stilempfänger) ergeben. Wenn wir die Interpretation des Stils an dieser Stelle beenden, sind die Zeicheninhalte M 1 bis M 10 zusammen unser “Zeicheninhalt 2”. Wir haben den ersten und den zweiten Zeichenprozess bislang getrennt betrachtet. Bei einem stilistischen Zeichenprozess treten jedoch in der Regel beide Prozesse gemeinsam auf. 16 Abbildung 2 zeigt am Beispiel eines Fahrstils, wie das Zusammenspiel der beiden Zeichenprozesse funktioniert: Die durchgezogenen Doppelpfeile verbinden jeweils Zeicheninhalt und Zeichenträger, sie stehen für Kodierung und Dekodierung in beiden Zeichenprozessen. Der Zeicheninhalt 1 ist die Menge der Auswahlregeln, die aus der Zeichenmaterie extrahiert wurden. Diese wird zum Zeichenträger 2 für den zweiten Zeichenprozess, in dem das Zusammenspiel der verschiedenen Auswahlregeln zu weiteren Zeicheninhalten führt. Martin Siefkes 78 Der gestrichelte Doppelpfeil steht für den Prozess der Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie (vgl. Abschnitt 3.1). Das für die Grafik gewählte Beispiel - ein Fahrstil, den man vielleicht zusammenfassend als “souverän” beschreiben könnte - braucht hier nicht im Detail erläutert zu werden; es steht für beliebige Auswahlregeln und die sich daraus ergebenden Zeicheninhalte. Für den oben analysierten Schreibstil von Bret Easton Ellis sind im “Zeicheninhalt 1 = Zeichenträger 2” die Auswahlregeln B 1 bis B 9 einzutragen, im “Zeicheninhalt 2” die aus dem Zusammenspiel der Auswahlregeln gewonnenen Ergebnisse M 1 bis M 10 . 3 Die Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger 3.1 Die Rolle der Alternativenklassen Es ist einfach zu erkennen, dass beim ersten Zeichenprozess die Auswahlregeln den Zeicheninhalt darstellen, sind sie es doch, die kodiert und dekodiert und somit vom Sender zum Empfänger übermittelt werden. Doch was ist der Zeichenträger? Dies ist nicht so einfach zu sagen. Auswahlregeln werden beim Übergang von Alternativenklassen zur Realisierung angewandt und hinterlassen dabei ihre Spuren in der fertigen Realisierung. Damit sind aber sowohl Realisierung als auch Alternativenklassen für Kodierung und Dekodierung der Auswahlregeln nötig. Daraus ergeben sich zwei Fragen: (1) Sind Realisierung und Alternativenklassen zusammen der Zeichenträger? (2) Welche Rolle spielen die Alternativenklassen, die ja gar nicht vom Sender zum Empfänger übermittelt werden? Zu (1): Tatsächlich enthalten Realisierung und Alternativenklassen zusammen den Zeichenträger; welcher Teil von ihnen Zeichenträger ist, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Unter Umständen kann ein längerer Teil der Realisierung mit den dazugehörigen Alternativenklassen keine Auswahlregel enthalten. Dies ist jedoch nicht sofort zu erkennen - wie es etwa bei einem Blatt Papier der Fall ist, dessen untere Hälfte leer gelassen wurde -, vielmehr muss auch dieses Stück Realisierung inklusive Alternativenklassen auf kodierte Auswahlregeln durchmustert werden. Trotz dieser Notwendigkeit können jedoch nicht beide einfach als “Zeichenträger” bezeichnet werden. Zeichenträger im ersten Zeichenprozess sind die erkennbaren Regelmäßigkeiten, insoweit sie als Folge der Anwendung von Auswahlregeln entstehen. Realisierung und Alternativenklassen insgesamt sind die Zeichenmaterie, die den Zeichenträger enthalten. Der Zeichenträger ist hier auf eine andere Art in der Zeichenmaterie enthalten als etwa bei einem bedruckten Stück Papier. Bei diesem bildet das Papier inklusive der darauf befindlichen Schwärzungen die Zeichenmaterie, wobei die Schwärzungen gleichzeitig die unterste Ebene des Zeichenträgers bilden. 17 Beim Stilprozess dagegen enthalten Realisierung und Alternativenklassen die Zeichenmaterie in Form von Regelmäßigkeiten, die von anderen Regelmäßigkeiten nur getrennt werden können, indem Hypothesen über die Anwendung von Auswahlregeln aufgestellt werden. Die Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger geschieht hier also in demselben Prozess wie die Dekodierung des Zeichens. 18 Wenn beide Vorgänge gemeinsam gemeint sind, soll im folgenden von “Extrahierung” gesprochen werden. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 79 Die Extrahierung einer Auswahlregel wird dadurch erschwert, dass man nicht weiß, welche Regelmäßigkeiten in der Relation zwischen Realisierung und Alternativenklassen zum Zeichenträger gehören und welche nicht. Hypothesen über (a) die Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie und (b) mögliche Auswahlregeln werden also immer gemeinsam aufgestellt. Von “Extrahierung” werden wir dann sprechen, wenn explizit beide Vorgänge thematisiert werden, während der eigentliche Vorgang des Verstehens des Zeichens, für den in jedem Zeichenprozess (a) geschehen muss, wie üblich als “Dekodierung” bezeichnet wird. Der spezielle Gebrauch von “Extrahierung” rechtfertigt sich also aus der Untrennbarkeit der beiden Prozesse in der Hypothesenbildung, während der Gebrauch von “Dekodierung” dem üblichen entspricht. Zu (2): Die Alternativenklassen sind tatsächlich nötig, um das Zeichen empfangen zu können. Sie selbst werden jedoch nicht übermittelt. Daher ist es nötig, dass sie Sender und Empfänger in ähnlicher Form zur Verfügung stehen. Dies gelingt, wenn Sender und Empfänger über hinreichend ähnliche Repräsentationen der Verhaltensschemata und des Möglichkeitsraums, den diese gliedern, verfügen. Eine hundertprozentige Ähnlichkeit ist jedoch - aufgrund des unterschiedlichen Wissens und der unterschiedlichen Erfahrungen von Sender und Empfänger - nicht möglich. Je größer diese Ähnlichkeit, desto genauer können die Auswahlregeln übermittelt werden. Schon eine weitgehende Ähnlichkeit der (aus dem Wissen über Möglichkeitsraum und Schemata) von Sender und Empfänger konstruierten Alternativenklassen kann ausreichen, um die Auswahlregeln ohne Abweichungen zu übermitteln. Ist die Ähnlichkeit geringer, kommt es zu einer unpräzisen Übermittlung der Auswahlregeln: Es kommen tatsächlich Auswahlregeln beim Empfänger an, die sich zunehmend von den gesendeten unterscheiden. Bei noch geringerer Ähnlichkeit der konstruierten Alternativenklassen wird schließlich nur noch ein Teil der Auswahlregeln übermittelt, bevor schließlich der stilistische Zeichenprozess ganz zusammenbricht. Der letztere Fall kommt jedoch in der Praxis nicht so häufig vor, wie man annehmen könnte: Verschiedene Kulturen mögen sich zunächst fremd sein; sobald man sich jedoch ein Wissen über das Gegenüber aneignet, ist es auch hier noch möglich, Stile zumindest ähnlich zu empfangen, wie sie gesendet wurden. Bei bewusst produzierten Stilen kann der Stilsender außerdem zu einer präzisen Dekodierung beitragen, indem er das vermutete Wissen des intendierten Empfängers bei der Kodierung berücksichtigt. 3.2 Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen Wie wir gesehen haben, müssen Auswahlregeln postuliert werden, um dann zu überprüfen, ob sie angewandt worden sind. Eine Möglichkeit besteht darin, alle für die konkrete Realisierung möglichen Auswahlregeln zunächst in Betracht zu ziehen und dann die, für die Anwendungen festgestellt werden können, mit Hilfe verschiedener Prozesse auf eine plausible Menge zu reduzieren. Dieser Dekodierungsprozess hat den Vorteil, die zuverlässige Entschlüsselung von Auswahlregeln erklären zu können und präzise beschreibbar zu sein (daher wird er in der Dissertation untersucht werden). Andererseits ist er kompliziert und vermutlich zu mechanisch, um der kognitiven Realität zu entsprechen. Wahrscheinlicher ist, dass zunächst heuristische Regeln angewandt werden, um plausible Kandidaten für anzunehmende Auswahlregeln auszuwählen. Diese werden dann im nächsten Schritt überprüft. Die heuristischen Regeln, die hier angewandt werden, können vermutlich nicht vollständig angegeben werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie je nach der Erfahrung, die ein Stil-