eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Die Materialität von Zeichen ist in der Interaktion mit Tieren viel wichtiger als in zwischenmenschlichen Dialogen. Tiere identifizieren bekannte Menschen olfaktorisch (individueller Geruch), akustisch (Stimme, Gangart) und visuell (Gestalt, Bewegungsmuster). Für sie sind der Tonfall von Äußerungen und die Gestimmtheit von Körperbewegungen aussagekräftiger als die Worte oder Gesten selbst, denn sie informieren über die derzeitige Stimmung des Senders (Freude, Angst, Ärger …) und den Sprechakt (Lob, Warnung, Befehl …). Nasentiere riechen zusätzlich starke Emotionen. Im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte lernten Menschen artspezifische Ausdrucksbewegungen von Tieren (Schwanzwedeln, Federn sträuben usw.) zu deuten, umgekehrt verstehen Haus- und Nutztiere die menschliche Mimik. Weitere Anzeichen der Stimmung sind Körperspannung und Distanzverhalten. Grußgesten wie Pfötchengeben (Hund) und Köpfchengeben (Katze) stammen aus dem natürlichen Verhaltensrepertoire und werden – im Gegensatz zum ebenso freundlichen Ablecken von Rindern – vom Menschen erwidert. Echte Zeichen produziert man, um anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen. So lernen Blindenhunde zahlreiche Befehle sowie umgekehrt Zeichen, die dem Menschen etwas Bestimmtes mitteilen. Reit- und Zugtiere werden durch Zurufe ("Hü!") und motorische Hilfen (Schenkeldruck, Zug am Zügel oder Leitseil) gelenkt. Eine letzte Zeichengruppe sind Lock- und Scheuchgesten, die man meist mit artspezifischen Rufen wie "Putt-putt-putt" bzw. "Ksch!!!" kombiniert.
2009
321-2

Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier

2009
Dagmar Schmauks
Possession plus reference 43 4 Ausdruck, Identität und Bildung Eine besondere Form der Bezugnahme erschließt Goodman durch seinen Begriff der metaphorischen Exemplifikation (Goodman 1968: 85-95). Mit ihm erfasst Goodman das Phänomen des Ausdrucks. So kann etwa ein Gemälde durch seine Farben und Formen eine Stimmung oder Emotionen zum Ausdruck bringen, indem es diese metaphorisch exemplifiziert. Neben den Künsten spielt auch bei den körpernahen Symbolisierungsformen wie etwa Gestik, Körperhaltung oder Kleidungsstil die (metaphorische) Exemplifikation eine bedeutende Rolle. So kann über die genannten Punkte ein Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht werden. Über dieses wiederum kann - gerade bei Jugendlichen - (sub-)kulturelle Identität ihre Gestaltung finden. In besonderer Weise können über die metaphorische Exemplifikation auch Emotionen zum Ausdruck gebracht werden bzw. über den Ausdruck ein Umgang mit diesen verfeinert und greifbar gemacht werden, ein wichtiges Thema, das aber nicht im Zentrum dieser Untersuchung steht. Aus Sicht einer allgemeinen Symboltheorie stellt die Bildung, das Erfassen und die Kommunikation (sub-)kultureller Erscheinungsformen und Identitäten eine kognitive und genuin kreative Leistung dar, die subtile und komplexe kommunikative Fähigkeiten erfordert und erweitert. Jugendkultur kann als Zeichen für ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach nichtsprachlichen Formen des Ausdrucks, der Kommunikation, der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung verstanden werden. 4.1 Exemplifikation. Ein Anwendungsbeispiel Zentraler Untersuchungsgegenstand meiner Darstellung war der Begriff der Exemplifikation, im Rahmen einer allgemeinen Symboltheorie und in Bezug zu Goodmans Theorie der Induktion und der Welterzeugung. Aufgezeigt werden sollte die weit reichende Bedeutung der eng miteinander verbundenen Überlegungen, um eine Anwendung der Begrifflichkeiten anzuregen. Dem Leser bleibt nun überlassen, die vorliegende Untersuchung in Bezug zu eigenen Forschungsansätzen zu überdenken und zu überprüfen. Etwas spezifischer und exemplarisch möchte ich auf den Aufsatz Jugend + Kultur = Lebensstil - Reflexionen über eine neue Dimension des Zeichengebrauchs von Eva Kimminich eingehen. Allein die in der Anfangspassage verwendeten Begriffe (Verwendung kultureller Zeichen, symbolische Aspekte, Identität, Ausdruck) lassen sich aus Sicht der vorliegenden Untersuchung gewinnbringend interpretieren: Jugend erzeugt durch spezifische Verwendung kultureller Zeichen und Praktiken in erster Linie Lebensstile. Sie manifestieren sich in symbolischen Aspekten (Kleidung, Körperschmuck, Musik usw.) sowie in spezifischen Aktivitäten und Kontexten. Mit ihnen differenziert sie sich, bildet Identität aus und begründet eigene (Sub)Kulturen. Stil kann daher als prozessuale Objektivierung des Selbstbildes einer Gruppe verstanden werden, also als Ausdruck einer selbstbewussten, sich differenzierenden Lebensweise; und zwar losgelöst vom künstlerischen Anspruch im Sinne einer ästhetischen Verhaltensweise. Denn jugendspezifischer Lebensstil hat seinen Ursprung nicht in der Begabung eines Künstlers, sondern in einem allerdings nicht weniger kreativen lebenspraktisch ausgerichteten Spiel mit Bildern, Zeichen und Ausdrucksformen (Kimminich 2005). Auch wenn hier der Jugend eine ästhetisches Verhaltensweise abgesprochen wird, so verstehe ich die Ausführung nicht im Gegensatz zur vorliegenden Untersuchung, es scheint hier eher ein anderer Gebrauch von Begrifflichkeiten vorzuliegen, denn gleichzeitig wird später doch Nicolas Romanacci 44 ausgesagt, dass jugendspezifischer Lebensstil einen »nicht weniger kreativen« Ursprung als jener des Künstlers habe. Auch dass die Titelgleichung aus meiner Sicht auch oder eher “Jugend + Stil = Kultur” lauten könnte, bewirkt, denke ich, keine grundlegende Inkompatibilität beider Untersuchungen. Besonders interessant erscheint mir eine Gegenüberstellung der Gedanken Goodmans zur Erzeugung von Welten: “Worldmaking as we know it always starts from worlds already at hand; the making is a remaking” und dem in Kimminichs erwähnten Begriff des Kulturrecycling. Eine entsprechende Untersuchungsmöglichkeit sei dem Leser hiermit eröffnet. In meinem Abstract war die Rede davon, Jugendkultur müsse vor einer Ausbeutung durch die Unterhaltungs-Industrie geschützt werden. Auch zu diesem Gedanken lassen sich Parallelen in Kimminichs Aufsatz finden: Die jugendspezifischen mit individueller Mediennutzung verbundenen Kulturpraktiken der spätkapitalistischen Postmoderne bedienen sich der Kultur- und Kunstgeschichte […] als einem wertfreien Repertoire von Formen, Symbolen und Praktiken als einer Reserve an Materialien und Techniken. In unserer global vernetzten Mediengesellschaft stehen die Materialien in einer enzyklopädischen Breite ohnegleichen zur Verfügung, was ihre einstmals suggestiven Kräfte erheblich schwächt. Das was durch Aneignung und Verdauung daraus entsteht, wird durch die Megarecyclingmaschinerie der Kulturindustrie teilweise zum Mainstream vermarktet, was erneute Rekreationen im Sinne von stilistischen Abweichungen auslöst. So muss sich der echte Gothic immer wieder vom Fake distanzieren, der echte Rapper oder Techno als real vom poser. Dieser Glaube, sich als Originale von den im Banne der Repräsentation stehenden Reproduktionen der Vermarktung unterscheiden und sich einen kleinen Bereich realer Handlungsfähigkeit erhalten zu können, hat eine fieberhafte Dialektik zwischen kulturindustriellen und individuellen Recyclingprozessen in Gang gesetzt. […] Das wirft eine wichtige Frage auf: Wo bleibt das Kultur lebende, sie reflektierende und rekreierende Subjekt? (Kimminich 2005) Dieser Frage möchte ich mich anschließen und stelle die Verantwortung unserer Bildungspolitik zur Diskussion. Unser Bildungssystem sollte die kognitiven, kreativen und identitätsbildenden Aspekte der hier aufgezeigten Problembereiche ernst nehmen und Jugendlichen bedeutend mehr Angebote an nicht-propositionalen Symbolisierungsformen bieten, wie es exemplarisch das kreative und experimentelle Gestalten ermöglicht. Grundlage sollte dabei eben die Einsicht in den kognitiven Wert ästhetischen Handelns und Denkens sein und nicht nur die vermeintlich abgehobenen Sphären künstlerischer Praxis (die ja auch erst durch eine entsprechende, problematische Auffassung ihren elitären Charakter erhalten), auch wenn natürlich jedem Schüler die Erfüllung, die Kunst dem Menschen geben kann, als mögliches Ziel mitgegeben sei. Im übrigen erschließt sich hinsichtlich einer Untersuchung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten speziell ein Verständnis visueller Ausdrucksformen in weiten Teilen auch über Goodmans Überlegungen (vgl. etwa Kulvicki 2006: 13-24; Lopez 1996: 57-70; Sachs-Hombach 2006: 43-48, Scholz 2004: 108-129), was hier nicht im Fokus der Untersuchung lag, aber auch den Ursprung für eine Veröffentlichung der vorliegenden Untersuchung im Rahmen bildwissenschaftlicher Forschung erklärt. Da ein großer Bereich aktueller Kulturpraxis über visuelle Medien kommuniziert wird, erscheint im Besonderen ein Plädoyer für ein Schulfach Visuelle Medien, wie es etwa Klaus Sachs-Hombach fordert, immer dringlicher (Sachs-Hombach 2005). Jugendlichen muss mehr Raum für kreative und identitätsbildende Praxis gegeben werden, dadurch kann auch am besten eine grundlegend benötigte Medienkompetenz und eine medienkritische Haltung gefördert werden. Ohne diese wird das kreative Potenzial von Jugendkultur weiterhin von Medien- und Modeindustrie ausgenutzt, kanalisiert, vereinheitlicht und somit letztendlich zerstört werden. Ohne radikal erweiterte Possession plus reference 45 Bildungsangebote können - gerade bei Heranwachsenden - Phänomene wie Konsumsucht, Medienmissbrauch und Identitätskrisen nicht verwundern, zumal grundlegende Ursachen für eine Fehlentwicklung in unserem Bildungssystem zu erkennen sind. Jugendlichen Fehlverhalten, wie etwa Konsumsucht, zum Vorwurf zu machen, bleibt ohne entsprechend erweiterte Bildungsangebote meiner Meinung nach purer Zynismus, eine (Um-)Erziehung von potenziell und genuin kreativen Jugendlichen zu gleichgeschalteten Konsumenten stellt vor diesem Hintergrund eine folgerichtige Entwicklung hin zu einer am Konsum orientierten Gesellschaft dar. Es bleibt die Frage offen, ob eine derartige Entwicklung nicht sogar teilweise beabsichtigt oder wenigstens erwünscht ist, etwa von Seiten der Wirtschaft. Ein Beispiel: Die so genannte G8-Reform an den Gymnasien mit ihrer Schulzeitverkürzung bei gleich bleibendem Lernstoff und dadurch extrem erhöhtem Lern- und Leistungsdruck und somit radikal eingeschränktem Zeitpensum für kreative Tätigkeiten in Unterricht und Freizeit wurde auf Initiative und Druck der Wirtschaft durchgesetzt. Ein alarmierendes, konkretes Zeichen für dringenden und radikalen Handlungsbedarf, wenn in unserer Gesellschaft in einem solchen Ausmaß wirtschaftliche Interessen Bildungsinhalte und Werte beeinflussen und diktieren. 5 Ausblick Über den Begriff der Exemplifikation kann der kognitive Wert ästhetischer Praxis erklärt werden. Ästhetische Praxis gewinnt auf Grundlage einer kognitivistischen Ästhetik, eine erkenntnistheoretische Dimension. Diese Untersuchung möchte entsprechend plausibel machen, dass erst mit einer Erweiterung propositionaler Wissensbestände (siehe auch grundsätzlich: Goodman/ Elgin 1988; Abel 2004: 198f.) 3 um die ebenso grundlegende Ausbildung nicht-propositionaler Erkenntnisformen eine wirkliche Reform unseres Bildungssystems bewirkt werden kann. Sollte dieser Aufsatz einen Beitrag leisten können für die hierfür nötigen bildungspolitischen Diskussionen, wäre das eigentliche Ziel meiner Untersuchung erreicht. Literatur Abel, Günter 1991: “Logic, Art and Understanding in the Philosophy of Nelson Goodman”, in: Inquiry 43: 311-321 (wieder abgedruckt in: Elgin, Catherine Z. 1997: The Philosophy of Nelson Goodman. Selected Essays. New York/ London: Garland Publishing, Bd. 1: Nominalism, Constructivism and Relativism in the Work of Nelson Goodman) Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Elgin, Catherine Z. 2005: “Eine Neubestimmung der Ästhetik. Goodmans epistemische Wende”, in: J. Steinbrenner, O. Scholz und G. Ernst (eds.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg: Synchron Publishers, 43-59 (englisches Original: Elgin, Catherine Z. 1993: “Relocating Aesthetics. Goodman’s Epistemic Turn”, in: Revue Internationale de Philosophy 46: 171-186) Ernst, Gerhard 2000: “Ästhetik als Teil der Erkenntnistheorie bei Nelson Goodman”, in: Philosophisches Jahrbuch 107: 316-339 Ernst, Gerhard 2005: “Induktion, Exemplifikation und Welterzeugung”, in: J. Steinbrenner, O. Scholz und G. Ernst (eds.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans. Heidelberg: Synchron Publishers, 99-109 Goodman, Nelson 1954: Fact, Fiction, and Forecast. Cambridge (MA): Harvard University Press (deutsche Ausgabe 1988: Tatsache, Fiktion, Voraussage, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Nicolas Romanacci 46 Goodman, Nelson 1968: Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis: Hacket (deutsche Ausgabe 1997: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson 1972: Problems and Projects, Indianapolis etc.: The Bobbs-Merrill Company Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis: Hacket (deutsche Ausgabe 1997: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson 1984: Of Mind and Other Matters. Cambridge (MA) etc.: Harvard University Press (deutsche Ausgabe 1987: Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson und Catherine Z. Elgin 1988: Reconceptions in Philosophy and other Arts and Sciences, London: Routledge Hempel, C.G. 1943: “A Purely Syntactical Definition of Confirmation”, in: The Journal of Symbolic Logic 8 (1934): 122-143 Kimminich, Eva: Jugend+Kultur=Lebensstil - Reflektionen über neue Dimensionen des Zeichengebrauchs. Plenar- und Einführungsvortrag der Sektion ‘Lebensstil und Zeichenpraxis: Tradition und Wirklichkeitsgestaltung im Wechsel der Generationen’, 12. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2005, im Internet unter http: / / www.semiotik.eu/ index.php? =358,39 Kulvicki, John V. 2006: On Images. Their Structure and Content, Oxford: Oxford University Press Lopes, Dominic 1996: Understanding Pictures, Oxford: Clarendon Press Lüdeking, Karlheinz 1988: Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M.: Athenäum Sachs-Hombach, Klaus 2005: “Plädoyer für ein Schulfach Visuelle Medien”, in: E. Fritsch (Hrsg.): IMAGE 2, Themenbeiheft: Filmforschung und Filmlehre, Köln: Halem, im Internet unter www.image-online.info Sachs-Hombach, Klaus 2006: Das Bild als kommunikatives Medium, Köln: Halem Scholz, Oliver R. 2001: “Kunst, Erkenntnis und Verstehen. Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik”, in: B. Kleinmann und R. Schmücker (eds.) Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Scholz, Oliver R. 2004: Bild, Darstellung, Zeichen, Frankfurt a.M.: Klostermann Steinbrenner, Jakob 1996: Kognitivismus in der Ästhetik, Würzburg: Könighausen und Neumann Thürnau, Donatus 2005: “Die Sprache des Körpers”, in: J. Steinbrenner, O. Scholz und G. Ernst (eds.) Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg: Synchron Publishers, 163-184 Anmerkungen 1 Dieser Aufsatz ist eine erweiterte Version der Vorbereitung für einen Vortrag auf dem 12. internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen. 9. bis 12. Oktober 2008, Universität Stuttgart. Sektion: Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität. Ernest Hess- Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach, Karin Wenz. Ich danke den Organisatoren, im Besonderen Klaus Sachs-Hombach, für die Einladung zur Konferenz. Erstveröffentlichung (leicht modifiziert) auf www.image-online.info: IMAGE - Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 7, August 2008. Ich widme diesen Aufsatz unserem Sohn Jonathan Constantin (der zur Welt kam genau am Tag meines geplanten Vortrages zu diesem Artikel), und meiner Lebensgefährtin Monique, die trotz durchwachter Nächte mit unserem neugeborenen Sohn noch an Gesprächen über grue Gefallen finden konnte. 2 Eine Anmerkung zum Thema ›Welterzeugung‹: Aus meiner Sicht erscheint es sinnvoll, hier den Begriff Welt mit dem Begriff Wirklichkeit zu ersetzen, das würde eine Diskussion dieser Auffassung vermutlich weniger problematisch machen. 3 Für eine eingehendere Beschäftigung mit Goodman seien alle 4 Bände der Reihe empfohlen: Elgin, Catherine Z. 1997: Nelson Goodman’s New Riddle of Induction, Bd. 2; Nelson Goodman’s Philosophy of Art, Bd. 3; Nelson Goodman’s Theory of Symbols and its Applications, Bd. 4. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier Dagmar Schmauks The materiality of signs is much more important in interaction with animals than it is in human dialogues. Animals identify familiar humans olfactorily (individual smell), acoustically (voice, pattern of walking), and visually (shape, pattern of motion). For them, the intonation of utterances and the mood of gestures are more expressive than the words or gestures themselves because they inform about the sender’s mood (joy, fear, anger…) and the speech act (praise, warning, order…). Additionally, nose animals smell strong emotions. On the one hand, during their common history, men learned to interpret characteristic expressions of animals like wagging the tail or ruffling feathers. On the other hand, pets and domestic animals understand the facial expressions of men. Further indices of mood are body tension and proxemics. Greetings like giving the paw (dog) and giving the head (cat) come from the natural behavioral repertory and are reciprocated by humans - unlike the equally friendly licking of cows. Signs in a narrow sense are produced in order to communicate specific information to somebody else. Guide dogs, for example, learn numerous orders as well as signs for telling humans something specific. Riding animals and draft animals are guided by shouts (“Giddy up! “) and motoric signals (leg pressure, pull of the rein or guiding rope). A last group of signs are gestures for luring or chasing away which are mostly combined with specific shouts like “Here boy! ” or “Pssssst! ! ! ” Die Materialität von Zeichen ist in der Interaktion mit Tieren viel wichtiger als in zwischenmenschlichen Dialogen. Tiere identifizieren bekannte Menschen olfaktorisch (individueller Geruch), akustisch (Stimme, Gangart) und visuell (Gestalt, Bewegungsmuster). Für sie sind der Tonfall von Äußerungen und die Gestimmtheit von Körperbewegungen aussagekräftiger als die Worte oder Gesten selbst, denn sie informieren über die derzeitige Stimmung des Senders (Freude, Angst, Ärger…) und den Sprechakt (Lob, Warnung, Befehl…). Nasentiere riechen zusätzlich starke Emotionen. Im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte lernten Menschen artspezifische Ausdrucksbewegungen von Tieren (Schwanzwedeln, Federn sträuben usw.) zu deuten, umgekehrt verstehen Haus- und Nutztiere die menschliche Mimik. Weitere Anzeichen der Stimmung sind Körperspannung und Distanzverhalten. Grußgesten wie Pfötchengeben (Hund) und Köpfchengeben (Katze) stammen aus dem natürlichen Verhaltensrepertoire und werden - im Gegensatz zum ebenso freundlichen Ablecken von Rindern - vom Menschen erwidert. Echte Zeichen produziert man, um anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen. So lernen Blindenhunde zahlreiche Befehle sowie umgekehrt Zeichen, die dem Menschen etwas Bestimmtes mitteilen. Reit- und Zugtiere werden durch Zurufe (“Hü! ”) und motorische Hilfen (Schenkeldruck, Zug am Zügel oder Leitseil) gelenkt. Eine letzte Zeichengruppe sind Lock- und Scheuchgesten, die man meist mit artspezifischen Rufen wie “Putt-putt-putt” bzw. “Ksch! ! ! “ kombiniert. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 48 1 Einleitung Die Entstehung aller frühen Hochkulturen wäre ohne die Arbeitskraft domestizierter Reit-, Last- und Zugtiere unmöglich gewesen, und Tiere liefern bis heute energiereiche Nahrungsmittel und Materialien für zahllose Gebrauchsgegenstände. Seit dem 19. Jahrhundert sank die Bedeutung tierischer Arbeitskraft durch die Entwicklung immer leistungsfähigerer Maschinen, zugleich erhielten jedoch manche Arten neue Aufgaben als Freizeitpartner. Die heutige Wahrnehmung von Tieren ist vielschichtig und widersprüchlich. Viele Haustiere werden ohne Rücksicht auf artspezifische Bedürfnisse verzärtelt und einzelne Tiere wie Eisbärenbaby Knut als Medienstars bejubelt. Sympathische Tiere wie Pinguine und Elefanten werden in zahllosen Deko-Objekten verkitscht, wilde Tiere wie Haie und Spinnen hingegen in Thrillern dämonisiert. Inmitten dieser tendenziösen Darstellungen und Inszenierungen gerät das Leben realer Tiere immer mehr aus dem Blick. Milliarden Nutztiere (weltweit leben allein 1 Milliarde Schweine! ) werden unter oft erbärmlichen Bedingungen industriell produziert, und bei Wildtieren schrumpfen Lebensraum und Lebensqualität ständig durch menschliche Eingriffe. Dieser Beitrag konzentriert sich auf semiotische Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung und ist als Ergänzung psychologischer Analysen angelegt. Er setzt voraus, dass die Beziehung zu Tieren eine eigenständige Art der Bindung ist und nicht nur Enttäuschungen durch Artgenossen kompensiert. Das Zusammensein mit Tieren kann sehr entlastend sein, denn sie zeigen Mitgefühl, interagieren ohne absichtliche Verstellungen und erlauben körperliche Nähe ohne sexuelle Untertöne. Am leichtesten verständlich sind Tiere mit ähnlichen Sinnesmodalitäten und Gefühlsräumen: Mensch und Tier […] leben im selben Wahrnehmungsraum. Haben Teil an denselben Grundbedürfnissen von Hunger und Durst, Sexualität und dem Wunsch nach Zuwendung und Sicherheit. Mensch und Tier sind denselben Naturgesetzen ausgeliefert: Sie wachsen und altern und schreien auf vor Schmerz und sie sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist (Rheinz 1994: 85). Weiterführend für die folgenden Überlegungen ist die Unterscheidung von Interaktion und Kommunikation. Eine typische Interaktion wäre: Der Mensch erkennt am Verhalten seines freilaufenden Hundes, dass dieser eine Wildfährte aufgenommen hat, läuft ihm nach und leint ihn an. Kommunikation (als Teilmenge von Interaktion) liegt nur vor, wenn Zeichen absichtlich produziert werden, um einem anderen Lebewesen etwas Bestimmtes mitzuteilen. Ein paralleles Beispiel hierzu wäre: Der Mensch sieht, dass sein freilaufender Hund eine Wildfährte aufgenommen hat, und pfeift ihn zurück (wobei die Verbindung zwischen einem bestimmten Pfiff und dem dadurch angeforderten Verhalten natürlich gelernt werden muss). Als Grundlage der Detailuntersuchungen skizziert Abschnitt 2 die Bereiche und Voraussetzungen jeder Interaktionen zwischen Mensch und Tier. Die beiden nächsten Abschnitte sind parallel aufgebaut, sie analysieren Umfang und Mittel der vokalen (Abschnitt 3) und der nonverbalen Interaktion (Abschnitt 4). 2 Bereiche und Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Dieser Abschnitt listet zunächst auf, in welchen Bereichen wir überhaupt mit Tieren interagieren (2.1). Anschließend werden die allgemeinen (2.2) und speziell semiotischen Voraussetzungen (2.3) solcher Interaktionen skizziert. Abschnitt 2.4 betont, dass der unzureichende Geruchssinn des Menschen keine komplexen Interaktionen durch riechbare Zeichen erlaubt. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 49 2.1 Bereiche der Mensch-Tier-Interaktion Zeichenprozesse finden auf allen Ebenen des Organischen statt, nämlich innerhalb einzelner Organismen (neuronale und hormonale Signale), zwischen Artgenossen (innerartlich) und zwischen Individuen verschiedener Arten (zwischenartlich). Unter natürlichen Bedingungen gibt es zwischen verschiedenen Tierarten nur wenige Beziehungen: Sie sind füreinander Jäger, Beute, Nahrungskonkurrenten oder unbeachteter Hintergrund. Daher dienen zwischenartliche Interaktionen nie der bewussten Kooperation, sondern egoistischen Zielen (wobei Ausdrücke wie täuschen und sich tarnen im Folgenden keine bewusste Entscheidung implizieren! ). Tiere können etwa (cf. Bouissac 1993): - das Verhalten ihrer Feinde vorhersehen und unterlaufen (Rüstungswettlauf zwischen Jäger und Beute, z.B. kalkuliert der Fuchs das Hakenschlagen des Hasen ein), - andere Arten über ihre eigene Identität täuschen (parasitäre Käfer tarnen sich als Ameisen und lassen sich in Ameisenhaufen durchfüttern), - Verhalten anderer Arten als Anzeichen wahrnehmen (wo Geier kreisen, liegt Aas), - Signale anderer Arten “abhören” (Warnlaute von Vögeln lassen Hasen fliehen, Rufe verlassener Rehkitze locken Füchse an) und - in echte Symbiosen eintreten wie in die zwischen Ameisen und Blattläusen. Alle diese Interaktionen treten auch zwischen Mensch und bestimmten Tieren auf, z.B. führt der Honiganzeiger Menschen zu einem Bienenstock, damit sie ihn öffnen und er die Larven fressen kann. Im Laufe der Geschichte kamen zahlreiche weitere Formen der Interaktion hinzu, die nun jedoch keine ausgewogenen Symbiosen mehr sind, sondern ganz überwiegend einseitige Nutzungen des Tieres durch den Menschen (eine echte Symbiose besteht nur mit Lebewesen, an die wir selten freundlich denken, nämlich mit unseren Darmbakterien). Die häufigsten Interaktionen finden statt - im Umgang mit domestizierten Tieren • klassische Arbeitshelfer (Zugochse, Jagdhund, Trüffelschwein…) • Therapietiere (Delphine, Pferde, Hunde…) - im Zirkus (Dressur von Löwen, Elefanten, Robben…) und - in der Verhaltensforschung (Ausloten der kognitiven Fähigkeiten von Affen, Delphinen, Rabenvögeln…). Jenseits dieser Gebrauchskontexte leben wir mit zahllosen Haustieren zusammen. Viele Fallstudien belegen, wie eng sich einzelne Tiere an einen Menschen anschließen, wenn sie als Jungtier auf ihn geprägt werden. Dies gilt vor allem für Hunde und Katzen, die in steiler Karriere von Haushütern und Mäusejägern zu Freunden und Familienmitgliedern wurden. Die Domestizierung von Säugetieren bedient sich innerartlicher Verhaltensweisen (cf. Bouissac 1993). Aufgrund unseres angeborenen Kindchenschemas finden wir nicht nur Menschenkinder, sondern auch Tierkinder mancher Arten niedlich und behandeln sie fürsorglich. Das Tier sieht umgekehrt den Menschen als Mutterersatz und ist daher bereit, von ihm zu lernen. Der Mensch nutzt diese Lernbereitschaft zur Dressur und belohnt folgsame Tiere durch mütterliche Behandlung, so entspricht das ausführliche Streicheln einer Katze dem Ablecken eines Kätzchens durch seine Mutter. Die Prägung eines Tieres auf einen Menschen kann so Dagmar Schmauks 50 stark sein, dass es kein Gefühl für die eigene Artzugehörigkeit entwickelt und den Menschen sogar anbalzt (die umgekehrte Perversion, nämlich die Sodomie als sexueller Kontakt mit Tieren, wird in dieser Arbeit nicht einbezogen). Prägung lässt sich aber auch nutzen, um gefährdeten Arten neue Verhaltensweisen in einer schnell sich wandelnden Welt beizubringen. Beim flugzeuggeführten Vogelzug fliegt ein Mensch in einem Ultraleichtflugzeug den Vögeln voraus und zeigt ihnen abseits von Jagdgebieten, verseuchten Gewässern und anderen Gefahren eine sichere Route, die sie fortan alleine beibehalten. Als Pionier dieser Methode führte William Lishman im Herbst 1993 erstmals Kanadagänse von Ontario ins Winterquartier nach North Carolina. Auf Lishmans Buch Father Goose (1996) beruht auch der Film Amy und die Wildgänse (Caroll Ballard 1996). Der Kreis möglicher Lebenspartner ist sehr umfangreich. Franke (1991) beschreibt die Ausbildung des Wildschweins Luise zum “Polizeischwein”, das beim Aufspüren von Rauschgift und Sprengstoff besser abschnitt als ein Hund. Allerdings zeigte Luise bei Frankes Pensionierung, wie fest sie an ihn gebunden war: Sie verweigerte anderen Polizisten den Gehorsam so beharrlich, dass man sie ebenfalls pensionierte. Auch Vögel können sich lebenslänglich an einzelne Menschen binden, etwa der Sperling Clarence (Kipps 1953) und die Dohle Jakob (Bentz 1995). Umgekehrt ist es einzelnen Menschen gelungen, sich Tiergemeinschaften anzuschließen. Sowohl Finke (1992) als auch Meynhardt (1984) machten sich durch anfängliche Futterangebote jeweils eine Schwarzwildrotte vertraut und zogen regelmäßig mit ihr durch die Wälder, so dass sie schließlich alle Tiere berühren und sogar mit ihnen im Kessel ruhen durften. Ein aktuelleres Beispiel ist der Fotograf und Autor Matto Barfuss (1999), der insgesamt 25 Wochen mit zwei Generationen einer wilden Gepardenfamilie in der Serengeti zusammenlebte. Er wurde als Gast akzeptiert, weil er wichtige Verhaltensweisen übernahm: Er begegnete den Tieren nur auf allen Vieren, half beim Bewachen der Jungtiere, lernte freundlich zu schnurren und seine Stellung ggf. auch durch Fauchen zu bekunden (Kurzfassung seiner Erlebnisse im Internet unter http: / / www.matto-barfuss.de/ d/ LMG/ ). Untersuchungen zur Mensch-Tier-Interaktion übersehen leicht, dass höhere Tiere oft viel mehr Zeichen wahrnehmen als der Mensch bewusst sendet. Die Forscher nennen dies den “Kluge-Hans-Effekt” - nach einem Pferd, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem Besitzer Wilhelm von Osten auftrat. Hans antwortete auf Fragen durch Klopfen mit dem Huf und konnte scheinbar Mengen abzählen, Zahlen addieren und buchstabieren. Eine genauere Untersuchung ergab, dass Hans nicht etwa Arithmetik perfekt verstand, sondern die menschliche Mimik und Gestik. Er erkannte, dass die gespannte Erwartung der Zuschauer genau dann in Erleichterung umschlug, wenn er bei der richtigen Zahl ankam, und hörte auf zu klopfen. Jede experimentelle Situation muss also ausschließen, dass Signale eine Rolle spielen, die für den Menschen gar nicht wahrnehmbar sind (Infraschall, Ultraschall, Gerüche usw.) oder die er übersieht (vor allem winzige Änderungen der Körperhaltung und -spannung). 2.2 Allgemeine Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Bereits aufgrund ihrer gemeinsamen Vorfahren haben Menschen mit allen Tieren notwendigerweise viele Gemeinsamkeiten, und diese Ähnlichkeiten sind umso größer, je stärker sich ihre Lebensräume und Verhaltensweisen gleichen. Als Grundlage speziell semiotischer Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 51 Überlegungen werden zunächst einige Rahmenbedingungen aufgelistet, die eine Interaktion mit Tieren erleichtern oder behindern. Wir verstehen andere Arten umso besser, je ähnlicher deren Lebenswelt der unseren ist. Allesfresser, deren Nahrungssuche ein komplexes raumzeitliches Weltmodell voraussetzt, sind uns vertrauter als Grasfresser oder gar Muscheln, die weder mobil noch neugierig sind. Wichtig ist auch ein ähnliches Sozial- und insbesondere Sexualverhalten. Als Gedankenexperiment frage man sich, wie viele unserer Kunstwerke niemals entstanden wären, wenn Menschen feste Brunstzeiten hätten und keine Paarbindung kennen würden. Hilfreich für ein gegenseitiges Verstehen ist ein Leben in demselben Medium. So werden vokale Kontakte zwischen Mensch und Delphin behindert, weil Menschen unter Wasser nicht sprechen können, und nonverbale Kontakte, weil die Tauchermaske unsere Mimik verdeckt. Weitere entscheidende Fragen sind: - Ist das Lebewesen bodengebunden oder flugfähig? - Ist es tagaktiv oder nachtaktiv? Trivialerweise wichtig sind ähnliche raumzeitliche Dimensionen. Weil man erst ab einer bestimmten Körpergröße bedeutungstragende Körperbewegungen mit bloßem Auge sieht, lässt sich erst bei Betrachtung von Makroaufnahmen sagen, Springspinnen hätten neugierige Augen oder würden ihrer Partnerin zuwinken. Ebenso wichtig ist eine ausreichende Lebensdauer, denn zwischenartliche Verständigung setzt Lernen voraus und entwickelt sich erst durch wiederholte Begegnungen. Vor allem bei Haustieren hat ihre durchschnittliche Lebensdauer auch emotionale Auswirkungen. Wenn Kinder kleine Nager halten, sind ständige Trauerfälle vorherzusehen, während ein alternder Mensch sich sorgen wird (bzw. sollte), was nach seinem Tod aus seinem Hund oder Papagei wird. Hier schließt sich unmittelbar eine ontologische Voraussetzung an: Um ein Lebewesen als Individuum aufzufassen, müssen wir es bei jeder Begegnung leicht und eindeutig identifizieren können. Schäfer und andere Herdenbesitzer kennen jedes einzelne Tier und ordnen ihm eine sprachliche Kennzeichnung wie Knickohr oder Bless zu, die ein echter Eigenname werden kann. Man vermutet, solche Unterscheidungen würden von demselben Gehirnareal geleistet, das uns Menschengesichter spontan erkennen lässt und dessen Ausfall zu Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) führt. Höhere Tiere erkennen nicht nur ihre Artgenossen wieder, sondern auch bekannte Tiere anderer Arten. Ein starkes Indiz für eine echte Interaktion besteht darin, dass umgekehrt das Tier erkennbar uns wieder erkennt. Dies ist nicht nur bei Säugetieren erfüllt, denn auch Vögel, Reptilien und Kraken erkennen einzelne Menschen wieder. Bei noch ferner stehenden Arten ist diese Leistung zweifelhaft. Zu skizzieren sind schließlich noch die neurologischen Grundlagen gegenseitigen Verstehens. Da die innerartliche Kommunikation für die Lebenspraxis unverzichtbar ist, besitzt der Mensch dafür spezielle Gehirnstrukturen, nämlich sog. Spiegelneuronen (cf. Bauer 2005). Jeder, der in engem Kontakt zu Haus- oder Nutztieren lebt, wird bestätigen, dass man auch deren Verhalten mit der Zeit immer besser versteht. Offenbar sprechen unsere Spiegelneuronen auch auf das Aussehen und Verhalten anderer Arten an. Dabei ist enge stammesgeschichtliche Verwandtschaft nicht nötig, da auch manche Schlangen- und Spinnenliebhaber versichern, sie verstünden spontan die Stimmungen und Bedürfnisse ihrer Lieblinge. Die folgenden Abschnitte tragen einige Aspekte des Aussehens und Verhaltens zusammen, die ein Verstehen erleichtern oder umgekehrt erschweren. Dagmar Schmauks 52 2.3 Semiotische Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Als speziell semiotische Bedingung müssen die Zeichensysteme der Partner sich überschneiden, d.h. der Empfänger muss zumindest einige Zeichen des Senders hinreichend genau wahrnehmen, unterscheiden und verstehen. Nur durch Analogieschlüsse zugänglich ist uns die Lebenswelt von Tieren mit ganz anderen Sinnesmodalitäten, etwa für Infrarot (Klapperschlangen), Ultraschall (Fledermäuse) oder das Magnetfeld der Erde (Zugvögel). Jede Sinnesmodalität erschließt spezifische Objektbereiche. Beim Menschen sind Hören und Sehen besonders leistungsfähig, folglich konnten sich das Sprechen und die sog. “Körpersprache” als die beiden primären Zeichensysteme entwickeln. Drei Teilprobleme jeder Interaktion sind semiotisch besonders interessant, nämlich a) das Identifizieren des Gegenübers (bzgl. biologischer Art und als Individuum), b) das Erkennen der Stimmung des Gegenübers und c) das Verstehen der Mitteilungen des Gegenübers. Die unter (c) genannten Leistungen sind kognitiv unterschiedlich anspruchsvoll. So lernen junge Nutztiere durch einfache Konditionierung, einen Elektrozaun zu meiden und auf einen Lockruf hin zum Futtertrog zu kommen. Wenn hingegen Gebrauchshunde dazu ausgebildet werden, zahlreiche sehr spezielle Befehle zu verstehen und umgekehrt dem Hundeführer ganz bestimmte Mitteilungen zu machen, so liegt innerhalb eines begrenzten Gegenstandsbereiches eine echte Kommunikation vor (vgl. Abschnitt 3.2). Die aufgelisteten Teilprobleme sind je nach Kontext unterschiedlich wichtig. So hängt bei einer zufälligen Begegnung im Wald das eigene Verhalten davon ab, ob man das auftauchende Tier für einen Wolf oder einen Schäferhund hält. Bei fremden Hunden prüft man sorgfältig deren Stimmung und Kontaktbereitschaft, bevor man sie streichelt. Grundsätzlich sind die Inhalte sprachlicher Äußerungen weit weniger wichtig als deren Tonfall und die Gestimmtheit der Körperbewegungen (gelassen vs. hektisch), an denen Tiere die Stimmung des Menschen (Freude, Angst, Ärger…) sowie den jeweiligen Sprechakt (Lob, Warnung, Befehl…) erkennen. Ein Hund, den man freudig und in liebevollem Tonfall mit “Hallo, du blöde Töle! “ begrüßt, wird sich also nicht an der Wortwahl stoßen (vgl. im Menschenreich den durchaus herzlichen Gruß “Ha jetzetle mi leckst am Arsch! ”). 2.4 Die Begrenztheit der olfaktorischen Interaktion mit Tieren Eine Kommunikation mit Tieren ausschließlich durch riechbare Zeichen ist ausgeschlossen, da der menschliche Geruchssinn nicht sehr leistungsfähig ist. Menschen erkennen zwar einen Geruch an einem Baum als “Urin”, stellen aber nicht wie ein Hund mühelos fest, von welcher Art er stammt (Hund, Katze, Mensch? ) oder gar von welchem Individuum (Rivale, Freund, läufige Hündin? ). Der feine Geruchssinn mancher Tierarten wird vom Menschen für seine Zwecke genutzt. Seit Jahrtausenden nehmen Spürhunde die Fährte von fliehendem und insbesondere angeschossenem Wild auf. Das Trüffelschwein findet die kostbaren Knollen in mehreren Dezimetern Tiefe, allerdings keineswegs uneigennützig. Große Hoffnungen setzt man auf die Fähigkeit von Hunden, eine Krebserkrankung sehr früh und schonend zu erkennen. In bisherigen Versuchen gelang es trainierten Hunden, Lungenkrebs anhand von Atemproben und Blasenkrebs anhand von Urinproben zu erschnüffeln. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 53 Bei vielen Tieren ist der durch Pheromone erzeugte Geruch ein entscheidendes Element im Sexualverhalten, da er über das Geschlecht eines Artgenossen und dessen Paarungsbereitschaft informiert. Menschen erkennen das Geschlecht des Anderen eher an Körperbau und Kleidung, und diese visuellen Zeichen können auch trügen. Da der Mensch nicht an feste Brunstzeiten gebunden ist, kann er einen Anderen begehren, ohne dass dieser seine Paarungsbereitschaft olfaktorisch signalisiert hätte. Man kann also behaupten, dass viele Formen von Liebesleid - und die sie darstellenden Kunstwerke! - erst entstanden, als olfaktorische Zeichen weniger wichtig wurden. Wie die Redensart jemanden nicht riechen können belegt, spielt jedoch auf der unbewussten Ebene der Geruch des Anderen bei der Partnerwahl weiterhin eine entscheidende aber oft übersehene (! ) Rolle. Dies gilt sogar dann, wenn er von Parfum oder dem Geruch eingenommener Medikamente überlagert wird. Menschen haben im Unterschied etwa zu Ratten auch keinen Gruppengeruch, der über freundliches vs. feindseliges Verhalten entscheidet. Sie nutzen jedoch die olfaktorischen Signale von Tieren, insbesondere die Signalwirkung von Pheromonen, mit denen brünstige Tiere ihre Artgenossen anlocken. Jagdausrüster bieten Sexuallockstoffe für Schwarzwild und andere Wildarten an. Umgekehrt lassen sich Marder und andere unerwünschte Besucher durch den verhassten Geruch ihrer Feinde vergrämen. Eine olfaktorische Manipulation ist es auch, wenn man einander unbekannte Tiere (etwa zahme Mäuse) aneinander gewöhnt, indem man sie wechselseitig im Urin des anderen Tieres wälzt. Beim Menschen sind Körpergerüche ebenso wie Erröten und Gänsehaut automatische Reaktionen, die man weder absichtlich produzieren noch unterdrücken kann. Dies gilt sowohl für den individuellen Körpergeruch als auch für die Gerüche starker Emotionen wie Angst, Wut oder sexuelle Erregung. Gut gemeinte Ratschläge wie “Du darfst dem Hund Deine Angst nicht zeigen” sind daher völlig unbrauchbar, denn der Hund riecht den Angstschweiß selbst dann, wenn man alle bewussten Abwehrreaktionen unterdrückt. Da Gerüche sich durch lang haftende Partikel verbreiten, lassen sich Nasentiere sehr viel schwerer täuschen als Augentiere. Jemand kann sich gegenüber Menschen erfolgreich durch Verkleidung, Perücke, farbige Kontaktlinsen oder gar chirurgische Eingriffe tarnen - ein Hund wird ihn dennoch weiterhin am Individualgeruch erkennen. Auf dessen Rolle als “biometrisches Merkmal” beruhen viele Kriminalgeschichten, in denen der verkleidete Verbrecher durch einen Hund entlarvt wird. Ähnlich kann man zwar einem Menschen gegenüber leugnen, man habe Fleisch gekauft, der Hund hingegen wird die Einkaufstasche nicht mehr aus den Augen (genauer: aus der Nase! ) lassen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass beim Menschen an Stelle der olfaktorischen Zeichen visuelle Zeichen getreten sind. Funktional gesehen entspricht etwa dem individuellen Geruch die Visitenkarte und dem Gruppengeruch das Vereinsabzeichen. 3 Vokale Interaktionen zwischen Mensch und Tier Vokale Zeichen werden mit dem Stimmtrakt oder anderen Körperteilen produziert und akustisch rezipiert. Sie kommen bei vielen Arten und mit vielen Funktionen vor. Bekannte Beispiele sind die Warnrufe von Vögeln, der Gesang der Wale, das Miauen von Katzen und das Grunzen von Schweinen. Hier nicht betrachtet werden Laute, die mit anderen Körperteilen produziert werden, etwa das Schrillen von Zikaden, das Trommeln auf die Brust von Gorillas und das Flossenpatschen von Robben. Wenn man sie einbezieht, ist man von der vokalen zur akustischen Kommunikation übergegangen. Dagmar Schmauks 54 Laute anderer Arten zu verstehen, hat evolutionäre Vorteile. Da kleine Vögel als jedermanns Beute besonders wachsam sind, veranlassen ihre schrillen Warnrufe auch viele andere gefährdete Tierarten dazu, die Lage selbst zu prüfen und ggf. zu fliehen. Durch dieses Abhören (vgl. Abschnitt 2.1) werden sie also zu Nutznießern der Zeichen einer anderen Art. Es liegt nahe, dass der Mensch vor allem die Laute seiner Nutz- und Haustiere zu verstehen gelernt hat. Die Menge je spezifischer Verben spiegelt wider, wie viele Laute wir akustisch unterscheiden und mit Bedeutungen versehen, beim Hund etwa winseln, bellen, knurren, hecheln und jaulen. 3.1 Formen und Funktionen vokaler Zeichen Ähnlich wie bei den Geruchssignalen produzieren manche Tierarten hörbare Zeichen, die das Geschlecht des Senders und seine Paarungsbereitschaft über weite Entfernungen verkünden. Dieses Verhalten findet sich bei beiden Geschlechtern, Beispiele sind der Gesang von Vogelmännchen einerseits, das Wiehern rossiger Stuten sowie das Geschrei rolliger Katzen andererseits. Amseln und etliche andere Vogelarten können beliebige Laute imitieren, etwa Klingeltöne, quietschende Türen und ratternde Rasenmäher. Bei intelligenten Arten wie Papageien und Rabenvögeln vermag dieses Talent zur Nachahmung auch einer begrenzten Kommunikation mit Menschen zu dienen. Beim Menschen ist die gesprochene Sprache das wichtigste und komplexeste vokale Zeichensystem. Zu unterscheiden ist jeweils zwischen der Äußerung selbst und weiteren hörbaren Merkmalen wie Intonation und Stimmlage. Weil auch die Stimme ein biometrisches Merkmal ist, kann man sich am Telefon erfolgreich mit “Ich bin’s” melden. Tiere erkennen vertraute Personen (und andere vertraute Lebewesen) nicht nur an der Stimme, sondern auch an anderen hörbaren “Mustern” wie der Gangart - vielleicht sogar am individuellen Atemrhythmus? Pfiffe haben in der Kommunikation mit anderen Menschen sehr begrenzte Funktionen, mit ihnen kann man sich aus größerer Entfernung bemerkbar machen und durch eine bekannte Tonfolge auch identifizieren. Eher problematisch geworden sind die Pfiffe, mit denen Männer eine attraktive Frau akustisch kommentieren. Im Umgang mit Tieren sind Pfiffe gebräuchlicher, vor allem als Lockzeichen mit großer Reichweite (vgl. die Hundepfeife am Ende dieses Abschnitts). Mit Singvögeln lassen sich Duette pfeifen - nicht als Kommunikation, aber als gemeinsames Hobby. Ein hier nicht vertieftes Thema ist der Einsatz von Musik, um etwa das Wohlbefinden und folglich die Milchleistung von Kühen zu steigern. Viele Tierarten verwenden art- und geschlechtspezifische Laute, an denen Artgenossen einander erkennen. Falls diese im hörbaren Bereich liegen, können auch Menschen Vogelarten am Gesang oder Froscharten am Quaken identifizieren. Jäger ahmen artspezifische Tierlaute als Lockrufe selbst nach, sie “mäuseln” etwa auf einer Fuchsjagd oder benutzen spezielle Geräte wie die “Lockpfeife” oder “Hasenquäke” (zum Repertoire von Täuschungen bei der Jagd vgl. Schmauks 2007: 32-42). Weil Warnlaute für das Überleben besonders wichtig sind, illustrieren sie auch die zunehmende Auffächerung von Bedeutungen sehr einprägsam. Viele Tierarten haben verschiedene Laute für Boden- und Flugfeinde, da deren Angriffe verschiedene Taktiken der Flucht erfordern. Gleichwertige Verbalisierungen eines Flugfeind-Warnlautes wären darum Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 55 “Raubvogel kommt! ” und “Versteckt euch im Bau! ” Erwachsene grüne Meerkatzen verwenden drei Warnlaute, die bei Artgenossen unterschiedliche Reaktionen auslösen: Der Luftfeindlaut löst Blick nach oben, der Bodenräuberlaut Flucht den nächsten Baum hoch und der Schlangenwarnlaut Aufstellen auf die Hinterbeine und Absuchen des Bodens aus (Rickheit u.a.: 2003: 44). Fallstudien zeigen, dass Menschen das Repertoire tierischer Laute durchaus lernen können - natürlich in begrenztem Ausmaß wie jede Fremdsprache -, und dass geeignete Tiere darauf eingehen. Watson (2004) unterschied bei seinem zahmen Warzenschwein Hoover fünfzehn verschiedene Laute - von Grußlauten über Warnungen vor bestimmten Gefahren bis zum Freudenruf angesichts eines Leckerbissens. Umgekehrt antwortete Hoover willig auf einigermaßen gelungene Versuche “seiner” Menschen, diese Schweinerufe nachzuahmen - und wirkte irritiert, wenn er sie nicht zu deuten vermochte. Auch Franke “unterhielt” sich derart mit seinem Wildschwein Luise (1991, vgl. Abschnitt 2.1). 3.2 Sprachliche Befehle Haus- und Nutztiere vermögen etliche sprachliche Befehle zu lernen, wobei man Reitpferde und Zugtiere nicht nur durch Zurufe wie “Hü! ” oder “Links! ” lenkt, sondern auch durch motorische Hilfen (Schenkeldruck, Zug am Zügel oder Leitseil). Der eindrücklichste Beleg sind die zahlreichen Gebrauchshunde, deren Lernwilligkeit und Gehorsam eine Ausbildung für bestimmte Zwecke möglich macht. Seit Jahrtausenden dienen Hunde als Jagd- und Hütehelfer sowie als Wächter der Wohnungen und Vorräte. Später kamen immer mehr Aufgaben hinzu, man denke an Lawinenhunde sowie Spürhunde für Drogen und Sprengstoff. Durch ihren feinen Geruchssinn vermögen Hunde der Spur eines Menschen zu folgen und Leichen aufzuspüren, sogar Ertrunkene in größerer Tiefe. Umgekehrt lernt der Hund einige Zeichen, um Menschen etwas mitzuteilen. Den Fund einer gesuchten Person oder Sache zeigt er an durch - Verbellen (am Fundort verharren und bellen), - Scharren (bei verschütteten Personen), - Bringseln (am Fundort etwas aufnehmen und dem Hundeführer bringen) oder - Rückverweisen (Pendeln zwischen Fundort und Hundeführer). Befehle an Gebrauchshunde müssen kurz und phonetisch markant sein. Inhaltlich sind sie Gebote (sitzen, kommen, suchen…) oder Verbote (nicht bellen, Menschen nicht anspringen). Ferner lernt der Hund, bei plötzlichem Lärm nicht panisch zu reagieren und von Fremden kein Futter anzunehmen. Die höchste semiotische Kompetenz haben Blindenhunde, die einige Dutzend Befehle wie “Geradeaus”, “Such Tür”, “Such Ampel” und “Überquere Straße” lernen, bei besonders intensivem Training auch einige Hundert. Jede Suchaufgabe hat besondere Rahmenbedingungen, so wird der Hund in einer Schalterhalle immer einen besetzten Schalter, im Bus hingegen immer einen freien Sitzplatz suchen. Später lernt er, auch solchen Objekten auszuweichen, die nur für seinen Besitzer ein Hindernis sind, etwa Schlaglöchern und offen stehenden Fenstern. Kognitiv am anspruchsvollsten ist der intelligente Ungehorsam, so verweigert ein gut dressierter Hund das Überqueren einer Straße, wenn er eine Gefahr bemerkt, die seinem blinden Besitzer entgeht. Dagmar Schmauks 56 Theoretisch umstritten ist, ob diese sehr differenzierten Interaktionen auch die Kriterien einer Kommunikation i.e.S. erfüllen. Bouissac zufolge (2004: 3394ff.) setzt zwischenartliche Kommunikation auf beiden Seiten die Fähigkeit zur Metakommunikation voraus, was bei irdischen Mitgeschöpfen nicht gegeben sei. Fleischer (1993: 29f) betont demgegenüber, dass Hunde auch mit Menschen kommunizieren können: Es ist beiderseits eine bestimmte Zeichenkompetenz vorhanden, die kontinuierlich ausgebaut werden kann. […] Im kommunikativen Raum entsteht ein gemeinsames Zeichensystem, das auf zwei verschiedenen Zeichenvorräten basiert, jedoch in kommunikativer Hinsicht ein System ergibt. 3.3 Lock- und Scheuchrufe Weitere vokale Zeichen sind die artspezifischen Lock- und Scheuchrufe. Lockrufe wenden sich an Tiere in Hörweite, so ruft man ein Hühnervolk durch “Putt-Putt-Putt” zur Fütterung oder eine Schafherde mit “Soiz-Soiz-Soiz” zur Salzlecke. Regionale Varianten sind immer artspezifisch, zu ruft man in Kärnten die Kühe mit “Tscho! Tscho! ” und die Schafe mit “Tschap! Tschap! ” Häufig wird der regionale Name der Tierart verdoppelt wie in - “Goiss-Goiss! ”: Ziegen (Salzburg/ Tirol), - “Poule-Poule! ”: Hühner (Frankreich) und - “Kaiwei! Kaiwei! ”: Kälber (St. Johann/ Tirol). Da jeweils ein kurzes Wort wiederholt wird, kann der Mensch seinen Ruf melodisch gestalten. Bei dreisilbigen Rufen ist das Muster meist <lang - kurz - kurz> wie in “Wuuuz-wuzwuz” als Lockruf für Schweine (Salzburg/ Tirol). Semiotisch interessanter sind die Lockrufe, mit denen die Senner oder Sennerinnen ihre Kühe über weite Entfernungen zum Melken rufen. Man findet sie in vielen Gebirgsgegenden, etwa als Jodeln in den Alpen und als Kulning in Norwegen und Schweden. Da lautes Schreien für die Stimmbänder zu anstrengend wäre und höhere Frequenzen weiter tragen, handelt es sich eher um ein Singen in hoher Stimmlage mit typischem häufigem Umschlagen zwischen Brust- und Kopfstimme. Während sich die beschriebenen Lockrufe an ganze Herden wenden, wird man einzelne Tiere eher mit ihrem Namen locken. Eine mechanisierte Variante sind verschiedene Tonfolgen, die einzelne Mastschweine zum Futtertrog rufen. Sie werden schnell gelernt und sind funktional gesehen Eigennamen. Diese Methode soll innerhalb der Intensivhaltung die Lebensqualität der Tiere verbessern, indem sie Langeweile und Futterkonkurrenz vermindert und den Tieren mehr Bewegung verschafft (im Pilotprojekt erklingt jede persönliche Tonfolge achtmal täglich). Da die Futteraufnahmen aller Tiere getrennt aufgezeichnet werden, lässt sich auch die individuelle Futterverwertung genau messen (so dass man Kümmerer frühzeitig aussortieren kann). Das Scheuchen von Nutztieren ist weit weniger differenziert. Gegenüber herandrängenden Herdentieren ist es meist ein multimodales Zeichen. Die typische “Scheuchgeste”, bei der beide Hände mit nach außen gerichteten Handrücken mehrfach ein- und weggeklappt werden, wird in der Regel mit einem lauten “Ksch! ” kombiniert. Dieser Laut wird möglicherweise intuitiv gewählt, weil er dem Fauchen eines Fressfeindes ähnelt. Früher verscheuchten Hirten angreifende Raubtiere durch lautes Schreien, das von Verteidigungsbereitschaft kündigte und dessen Wortlaut belanglos war. Heute sind Wild- Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 57 schweine das letzte wehrhafte Wild in mitteleuropäischen Wäldern. Broschüren über “Wildtiere in der Stadt” empfehlen, die Tiere nicht durch Lärm zu reizen, sondern sich unter ruhigem Reden zurückzuziehen. Weil aufgeschreckte Tiere am ehesten angreifen, sollte man sich in echter “Wildnis” durch gleichmäßige Geräusche bemerkbar machen. Da unaufhörliches Singen aber sehr anstrengend ist, bieten Trekking-Ausrüster sog. “Bärenglocken” an, die am Rucksack befestigt ständig bimmeln und (angeblich) bewirken, dass Bären dem Menschen ausweichen. Dies leitet über zu den Geräten, die zur Interaktion mit Tieren erfunden wurden. Mit den Tönen der Hundepfeife, die für Menschen unhörbar hoch sind, kann man Hunde auf den Lockruf einer bestimmten Frequenz trainieren oder ihnen mit unangenehmen Tönen ein unerwünschtes Verhalten abgewöhnen. 4 Nonverbale Interaktionen zwischen Mensch und Tier Nonverbale Zeichen werden motorisch produziert und visuell rezipiert, die wichtigsten Teilsysteme sind Mimik, Blickverhalten, Gestik sowie Berührungs- und Distanzverhalten. Physiologische Reaktionen wie Erröten, Zittern und Schwitzen sind nicht willentlich steuerbar und daher für absichtliche Mitteilungen ungeeignet. Wer länger mit Tieren zusammenlebt, lernt auch solche Körperbewegungen zu deuten, die der Mensch selbst nicht produzieren kann. Dass bei vielen Säugetieren Ohren und Schwanz wichtige Stimmungsträger sind, spiegelt sich in Redensarten wie “neugierig die Ohren spitzen”, “traurig die Ohren hängenlassen” oder “verlegen den Schwanz einklemmen”. Je entfernter die Verwandtschaft, desto fremder die Ausdrucksmittel. Aber sogar der Farbwechsel gereizter Kraken erinnert noch an das wütende Erröten eines Menschen. Manches ist nicht ohne weiteres einzuordnen. Zählen etwa die Bewegungen eines Elefantenrüssels zur Mimik (da der Rüssel zum Gesicht gehört) oder zur Gestik (da er Selbst-, Fremd- und Objektberührungen erlaubt)? 4.1 Mimik und Blickverhalten Mimik und Blickverhalten entscheiden in jeder Interaktion über die schwer definierbare Stimmung zwischen den Beteiligten. Der Ausdruck Mimik ist zunächst nur für das menschliche Gesicht definiert. Zahlreiche Muskeln bewegen Mund, Nase, Augen und Augenbrauen zu einem Gesamteindruck, den wir ohne langes Nachdenken deuten. Ebenso wie das Wiedererkennen von Gesichtern kann auch diese Fähigkeit zur Empathie gestört sein. So nimmt man an, dass Autisten die aktuelle Stimmung anderer Menschen nicht spontan wahrnehmen und folglich nicht berücksichtigen können. Voraussetzung einer Mimik im engeren Sinn ist das Vorhandensein eines Gesichts. Menschengesichter sind geometrisch gesehen stehende Ovale, deren obere Hälfte zwei nebeneinander liegende Punkte und deren untere Hälfte einen waagerechten Strich enthält. Die Nase ist demgegenüber weniger wichtig. Bereits Säuglinge scheinen menschliche Gesichter allen anderen Objekten vorzuziehen, denn sie lassen ihren Blick deutlich länger darauf verweilen. Mit etwa zwei Monaten erwidern sie ein Lächeln und reagieren irritiert auf eine ernste oder drohende Mimik. Diese Prägung auf Gesichter ist so stark, dass Menschen sogar unbelebten Objekten ein Gesicht und eine bedeutungstragende Mimik zusprechen. Dagmar Schmauks 58 Beispiele sind Stiefmütterchen, der Mann im Mond sowie zahlreiche Alltagsobjekte wie der “traurige Wischmopp”, die François und Jean Robert (2000) in zahlreichen Fotos dokumentiert haben. Andere Arten lassen sich danach anordnen, wie gut wir ihnen Gesichter und eine Mimik zusprechen können. Förderlich für einen Blickkontakt sind zwei Augen auf der Vorderseite des Kopfes, deren Pupillen rund sind und die sich erkennbar bewegen, so dass das Auge bei seiner Wahrnehmungstätigkeit beobachtbar ist. Menschenaffen erfüllen diese Bedingungen, während der Blick von Eulen und Nattern starr wirkt. Huftiere, viele Vögel und andere Tiere mit seitlichen Augen fixieren uns immer nur mit einem Auge, was von unseren Intuitionen über visuelle Aufmerksamkeit abweicht. Die schlitzförmigen Pupillen von Ziegen, Katzen und Vipern wirken unheimlich und wurden früher auch dem Teufel zugeschrieben. Noch fremder sind Arten mit abweichender Augenzahl, allerdings sind die oft achtäugigen Gesichter von Spinnen ohnehin nur mittels einer Lupe erkennbar. Ein Beleg für unsere Intuitionen über stammesgeschichtliche Verwandtschaft bzw. Fremdheit sind Phantasiedarstellungen, auf denen außerirdische Lebewesen bzgl. ihrer Augen möglichst exotisch sind, also ungerade Augenzahlen, Stielaugen oder Rundumaugen besitzen. Die größte irdische Überraschung erwartet uns bei den Weichtieren, denn die riesigen Augen von Kraken sind ebenso leistungsfähig wie menschliche und ihr Blick wirkt äußerst neugierig und intelligent. Wie umfassend man eine artfremde Mimik lernen kann, belegen erfahrene Veterinärmediziner, die bei der Prüfung der Deckbereitschaft (kommerzieller Fachausdruck: Besamungswürdigkeit) von Kühen ein Brunstgesicht erkennen. Eine morphologische Definition ist jedoch genauso schwierig wie beim Menschen: Wie genau sieht ein verliebtes Gesicht aus? Andererseits gibt es grundlegende Missverständnisse. Im Gesicht von Delphinen sehen wir wegen ihrer aufwärts gerichteten Mundwinkel ein ständiges Lächeln, obwohl diese Mundstellung nicht geändert werden kann und darum auch bei Schmerz- oder Leidzuständen gegeben ist. Semiotisch interessant aber praktisch wenig ausgereift sind Versuche, die artspezifische Mimik eines Tieres durch Geräte nachzuahmen. Da etwa bei Pferden die Stellung der Ohren über ihre Stimmung informiert, hat eine begeisterte Reiterin das Gerät Horsetalk erfunden. Es handelt sich um einen Stirnreif mit zwei verstellbaren Ohren aus Blech, die in Größe, Form und Lage den Ohren von Pferden gleichen. Indem man diese Ohren in die angemessene Stellung dreht, soll der Mensch seine eigene Stimmung dem Pferd mitteilen. Man könnte jedoch vermuten, dass das Pferd die Stimmung eines vertrauten Menschen an dessen Geruch und Körpermelodie viel genauer erkennt und auf technische Hilfen nicht angewiesen ist. 4.2 Gesten und andere Körperbewegungen Das zweite nonverbale Teilsystem sind Gesten und andere Körperbewegungen. Beim Menschen bezeichnet der Ausdruck Gestik vor allem die Bewegungen von Händen und Armen, er lässt sich jedoch mühelos ausweiten auf andere Organe, die der Objektmanipulation und Interaktion dienen. Dieser verallgemeinerte Begriff von Gestik umfasst dann auch die Bewegungen von Vorderbeinen (Katze), Tentakeln (Krake), Fühlern (Ameise) oder Scheren (Krebs). Die Zahl der Extremitäten ist weniger wichtig - wenn wir mehrere Objekte gleichzeitig handhaben sollen, beneiden wir höchstens den Kraken um seine acht Arme. Artspezifische Ausdrucksbewegungen verursachen in der zwischenartlichen Interaktion systematische Missverständnisse. So wird die Verständigung zwischen Pferd und Hund