eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Der Beitrag untersucht aus einer semiotischen Perspektive den philosophisch-pornographischen Roman der französischen Aufklärung. Gezeigt wird, dass der Gegensatz von sexuellen Normvorstellungen innerhalb des philosophisch-pornographischen Romans als Zeichen eines tiefer liegenden Gegensatzes zwischen dem vorherrschenden katholischen Normsystem und dem aufkommenden Normsystem der Aufklärung fungiert. Dabei wird die sexuelle Abweichung innerhalb der Romane semiotisch als eine ideologische Abweichung umgedeutet. Indem auf der Handlungsebene das katholisch geprägte sexuelle Normsystem sanktionslos negiert wird, kommt es innerhalb des untersuchten Korpus zur Etablierung eines dezidiert nicht religiösen Normsystems, das allein durch die Maßstäbe des Rationalen und des Natürlichen reguliert wird. Damit korreliert auf der Ebene sprachlicher Vermittlung eine umfassende Neusemantisierung und Enttabuisierung von Sprache einen eigenen literarischen Wert in den Romanen, der selbstreflexiv der erotischen Entgrenzung des Dargestellten und seiner Darstellung dient.
2009
323-4

Zeichen der Lust - Lust am/als Zeichen

2009
Michael Titzmann
Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen Semiotische Aspekte der philosophisch-pornographischen Romane der französischen Aufklärung Michael Titzmann Der Beitrag untersucht aus einer semiotischen Perspektive den philosophisch-pornographischen Roman der französischen Aufklärung. Gezeigt wird, dass der Gegensatz von sexuellen Normvorstellungen innerhalb des philosophisch-pornographischen Romans als Zeichen eines tiefer liegenden Gegensatzes zwischen dem vorherrschenden katholischen Normsystem und dem aufkommenden Normsystem der Aufklärung fungiert. Dabei wird die sexuelle Abweichung innerhalb der Romane semiotisch als eine ideologische Abweichung umgedeutet. Indem auf der Handlungsebene das katholisch geprägte sexuelle Normsystem sanktionslos negiert wird, kommt es innerhalb des untersuchten Korpus zur Etablierung eines dezidiert nicht religiösen Normsystems, das allein durch die Maßstäbe des Rationalen und des Natürlichen reguliert wird. Damit korreliert auf der Ebene sprachlicher Vermittlung eine umfassende Neusemantisierung und Enttabuisierung von Sprache in den Romanen. Sprache dient dabei nicht nur der Abbildung sexueller Lust, sondern sie bekommt als libertinäre Sprache einen eigenen literarischen Wert in den Romanen, der selbstreflexiv der erotischen Entgrenzung des Dargestellten und seiner Darstellung dient. The article takes a semiotic perspective on the philosophic-pornographic novel of the French Enlightenment. The paper argues that the opposition of ideas of sexual norm within the philosophic-pornographic novel is a representation of a more profound antagonism between the then prevailing catholic norm and the emerging norms of Enlightenment. Within that context the sexual deviation within the novels is semiotically reinterpreted as ideological deviation. The negation of the predominantly catholic system of sexual norms with impunity on the story level gives rise to the establishment of an unambiguously secular system of norms which is regulated by the standards of reason and nature alone. Along with that, on the discourse level the language employed in the novels was extensively resematizised and rid of its taboos. In this process, language does not only serve to designate sexual desire but as a libertine language obtains its own literary value. A value which serves to erotically dissolve the borders between what is represented and its representation. Was ich hier “philosophisch-pornographischen Roman” (im folgenden: ppR) nenne, ist eine Teilmenge der - wahrlich umfänglichen - französischen Romanproduktion im 18. Jahrhundert; mein kleines Textkorpus - siehe Anhang - umfasst etwa 20 Texte. Wie für jedes (Teil-) Korpus literarischer Texte eines gegebenen Zeitraums gilt auch für ein “pornographisches”, dass es historisch adäquat nur im denk- und literaturgeschichtlichen Kontext seiner Epoche interpretiert werden kann: Da ich diesen Versuch schon anderenorts unternommen habe (Titzmann 2009), worauf hier verwiesen sei, fasse ich nur einige Ergebnisse zusammen, um mich dann primär auf einige semiotische Aspekte des ppR zu konzentrieren. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Titzmann 298 Wie jeder literarische Text kann auch ein “pornographischer” jeden beliebigen Platz auf der Skala zwischen hochkulturellen und trivialen Texten einnehmen: Unter den Texten meines Korpus sind zweifellos einige sehr bedeutende. “Philosophisch” nenne ich diese Texte, weil sie durchaus einen intellektuellen Anspruch haben, der sie mit dem Denksystem der west- und mitteleuropäischen Aufklärung verbindet. In einem System der politischreligiösen Kontrolle und Unterdrückung, mit dem die Aufklärung ja auch sonst zu kämpfen hatte, können die ppR nur anonym erscheinen, und die polizeilichen Verfolgungsinstanzen versuchen, Autoren, Drucker, Illustratoren, Händler zu ermitteln und ihre Tätigkeit juristisch zu sanktionieren. Soweit man diesen Texten schon damals oder später Autoren zuschreiben zu können glaubte, ist die Liste der Verdächtigen doch einigermaßen eindrucksvoll: darunter z.B. der Marquis d’Argens, Crébillon, der Marquis de Mirabeau, Restif de la Bretonne, Nerciat, Pigault-Lebrun, der Marquis de Sade - unverächtliche Intellektuelle und Literaten. Und auch der Teil des alphabetisierten Lesepublikums, der sich zudem den Erwerb von Büchern leistet, ist ja nicht eben die ungebildete Unterschicht. Auch erfreuen sich einige dieser Texte einer solchen Bekanntheit, dass z.B. Autoren wie la Mettrie, Voltaire, d’Holbach, Casanova die Titel als bekannt voraussetzen können. Kurz: Es sind Texte, ohne deren Kenntnis man kein adäquates Bild von der Kultur der Aufklärung haben kann. Der erst sehr viel später eingeführte Begriff des “Pornographischen” hat noch im 20. Jahrhundert Gesetzgeber und Gerichte zu hilflos stammelnden Pseudo-“Definitionen” 1 und absurden Aktionen 2 verführt. Denn was von einer kulturellen Teilgruppe als “pornographisch” empfunden und als solches bewertet wird, ist eine abhängige Variable wie auch Funktionen des Systems der Sexualnormen dieser Gruppe (NS sex ) und dieses System selbst historische Variablen sind. Mindestens seit dem 18. Jahrhundert hat es dabei einen doppelten Ausdifferenzierungsprozess gegeben: Zum einen gibt es den Ausdifferenzierungsprozess zwischen einem theoretisch als verbindlich postulierten NS sex und einem tatsächlich von der Population praktizierten NS sex , wobei das praktizierte bedeutend liberaler als das theoretische sein kann; zum anderen hat sich im 18. Jahrhundert eine weitere Ausdifferenzierung innerhalb des theoretischen NS sex angebahnt, die heute eindeutig vollzogen ist, nämlich die zwischen einem theologischen NS sextheol und einem juristischen NS sexjur , wobei letzteres weitaus liberaler ist als ersteres. Für beide Tendenzen ist der französische ppR ein signifikanter Indikator. Am Startpunkt der Aufklärung ist das NS sexjur noch nichts anderes als die sanktionsbewährte Umsetzung des NS sextheol . Die christliche - im französischen Falle: katholische - Theologie leitet aus ihren “heiligen Texten” - das “Bibel” genannte Korpus, von dem sie behauptet, ihr Gott habe es “geoffenbart” - in arbiträrer Interpretation (theologischer “Exegese” eben) ein NS sex ab, dessen universelle Verbindlichkeit sie postuliert und das sie in unzähligen mündlichen und schriftlichen Texten propagiert und jedem “Gläubigen” und “Ungläubigen” aufzuzwingen sucht. In diesem NS sextheol gilt nun: 1. Sexuelle Handlungen sind erlaubt nur 1.1 in einer “christlichen Ehe”, d.h. einer von der jeweiligen Kirche gebilligten, lebenslänglichen Beziehung, 1.2 zwischen genau zwei Personen verschiedenen Geschlechts, die 1.3 nicht “verwandt” 3 sind, und nur, wenn 1.4 der Sexualakt als genitale Vereinigung stattfindet, die 1.5 zum Zwecke der biologischen Vermehrung - nicht aber zu dem des bloßen beiderseitigen Lustgewinns - vollzogen wird, und zwar 1.6 in der Verborgenheit eines abgeschlossenen Raumes, also ohne Zeugen dieses Aktes. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 299 Im Übrigen gelten zwei zusätzliche relevante Normen: 1.7 Sexuelle Aktivität hat vom Manne auszugehen; die Asymmetrie der Geschlechterrollen ist auch für das NS sex konstitutiv; eine begehrende Frau ist moralisch verwerflich, die ideale Frau ist asexuell und “jungfräulich”. 1.8 Sexualität ist kein Thema möglicher Konversation: hier gelten pragmatische Rederegeln: massive sprachliche Tabus. Aus diesem System resultiert eine Menge von Sexualverboten, zum einen solche, die die Partnerwahl betreffen: 2. Partnerwahlverbote: 2.1 Verboten ist - vor- oder außereheliche - Sexualität mit Partnern, mit denen man nicht verheiratet ist. 2.2 Verboten sind Partner, die im jeweiligen System als “verwandt” gelten (“Inzest”: schon zeitgenössischer Begriff). 2.3 Verboten sind gleichgeschlechtliche Partner (“Homosexualität”: den Begriff kennt die Epoche noch nicht). Weibliche Homosexualität wird theoretisch kaum berücksichtigt, für männliche ist die Todesstrafe, in Frankreich durch Verbrennen, vorgesehen. 2.4 Verboten sind nicht-menschliche “Partner” (“Sodomie” im heutigen Wortsinne). 2.5 Dabei scheint die folgende Delikthierarchie zu gelten: 2.1 < 2.2 < 2.3 = 2.4. Aus 1.4. und 1.5. resultieren weitere Normierungen: 3. Verboten sind - neben anderen vergleichbaren - die folgenden Sexualpraktiken: 3.1 manuelle Stimulation oder Befriedigung an sich selbst (“Onanie”; spätestens seit Tissots Tentamen de morbis ex manustupratione 1758 als eigenes Phänomen klassifiziert) oder an einem oder an einer anderen. 3.2 oral-genitale und oral-anale Praktiken zum Zecke der Erregung oder Befriedigung. 3.3 Analverkehr (des Mannes mit der Frau, des Mannes mit dem Manne). 3.4 Dabei scheint eine doppelte Hierarchisierung zu gelten: 3.1. < 3.2. < 3.3., wobei für jede dieser Praktiken wiederum gilt: (Mann + Frau) < (Frau + Frau) < (Mann + Mann). Mindestens 2.3. und 2.4. sowie 3.2. und 3.3. gelten dabei der christlichen Ideologie als “widernatürlich”. Aus dem Fruchtbarkeitsgebot 1.5. resultiert schließlich noch: 4. Verboten sind: 4.1 Empfängnisverhütende Maßnahmen (“Kondome” scheinen seit dem 17. Jahrhundert bekannt; “coitus interruptus”; natürlich alle Praktiken unter 3.). 4.2 Empfängnistilgende Maßnahmen: 4.2.1 Abtreibung, und - natürlich - 4.2.2 Kindstötung (nach der Geburt) 4.3 Dabei gilt die Hierarchie: 4.1. < 4.2. = 4.3. Ein semiotisch wichtiger Punkt sei festgehalten: Die Diskurse des 18. Jahrhunderts verfügen noch nicht über eine systematische Terminologie zur Benennung der aufgelisteten sexuellen Abweichungen, wenngleich sie natürlich alle bekannt sind. Da das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen “erlaubt” vs. “verboten” das Fruchtbarkeitsgebot ist, können alle Varianten der Partnerwahl und der Sexualpraktiken, die dieses Gebot verletzen, auch in juristischen Diskursen, zusammengefasst und unter “Sodomie” subsumiert werden, welches Lexem zusätzlich auch im engeren Sinne zur Benennung von Homosexualität benutzt werden kann. 4 Michael Titzmann 300 In dem Ausmaß nun, in dem die Aufklärung sich vom Christentum ab- und nicht-christlichen (dominant deistischen, am Rande auch agnostizistischen oder atheistischen) Positionen zuwendet, verliert das NS sextheol seine theoretische Legitimation durch “heilige Schriften” bzw. deren theologische Exegese. Zwar wird es explizit nur selten im Aufklärungsdiskurs infrage gestellt, implizit und indirekt aber da, wo der rechtsphilosophische Diskurs der Aufklärung ein juristisches NS zu begründen sucht und die Normsetzungen auch des NS sexjur “rational” legitimieren will. Denn unter der neuen innerweltlichen Prämisse des Wertes eines “größtmöglichen Glücks für möglichst viele” kann rational nunmehr verboten werden, was einem/ einer Anderen “Schaden” zufügt, wozu auch gehört, wenn mit ihm oder ihr etwas gegen seinen/ ihren Willen gemacht wird. Wenngleich das Schadensprinzip sich selbst in den spätaufklärerischen Gesetzgebungen allenfalls sehr partiell durchzusetzen vermag, wären damit alle einvernehmlichen sexuellen Handlungen - “volenti non fit iniuria” - erlaubt. D.h. aus dem NS sextheol blieben nur die Verbote 4.2.2 und eventuell noch 4.2.1. erhalten. Zumindest die mentale Abkoppelung des NS sexjur vom NS sextheol ist aber schon vollzogen; literarisch vollzieht sie der ppR. Bevor ich aber zu diesem komme, muss noch ein zentraler mentalitätsgeschichtlicher Prozess erwähnt werden: die Erfindung der “Liebe” um die Jahrhundertmitte, die sich literarisch zunächst in dem “Empfindsamkeit” genannten Literatursystem manifestiert. 5 “Liebe” in diesem Sinne bedeutet eine “irrationale”, d.h. nicht begründbare Anziehung durch eine(n) potentielle(n) Partner(in), wobei der/ die andere stark emotional besetzt wird und als unaustauschbar und unersetzlich erscheint. Solche Liebe hat es natürlich literarisch wie real schon vorher gegeben: Sie war literarisch faszinierend, nicht aber sozial wünschenswert. Für die Partnerwahl waren vorher “rational”soziale Kriterien entscheidend, nicht aber “irrational”-emotionale: Ab jetzt hingegen wird zumindest in der Literatur nur eine durch “Liebe” motivierte Eheschließung als positiv erscheinen. Diese “empfindsame Liebe” ist nun aber radikal entsexualisiert; nur moralisch verwerfliche Figuren kennen im “empfindsamen Roman” (im folgenden: eR) voreheliches erotisches Begehren, und nur sie streben dessen Verwirklichung vor- oder außerehelich an; “tugendhafte” Protagonist(inn)en, die “Verführer(inne)n” erlegen sind, jammern folglich zum Steinerweichen. Neben dem eR weist aber die französische Literatur des Zeitraums eine umfängliche Menge “erotischer Romane” auf, in denen Verletzungen des oben skizzierten NS sex von den Protagonisten freiwillig vollzogen und bejaht werden. Dabei können wir zwei Textgruppen unterscheiden: die tatsächlich oder nur scheinbar normbestätigenden Romane und die eindeutig normnegierenden Romane. Diese letzteren machen das ppR-Korpus aus. Im normverletzenden, aber normbestätigenden erotischen Roman haben wir einen jugendlichen - im Regelfalle männlichen - Protagonisten, der im Hauptteil des Romans das NS sex verletzt, aber am Textende sich diesem freiwillig insofern im eigenen Verhalten anpasst, als er eine “tugendhafte”, also im Regelfalle (sofern er sie nicht schon selbst vorehelich “verführt” hat) “jungfräuliche” Partnerin heiratet und mit ihr in monogamer Ehe Kinder zeugt. Im Gegensatz zu den “tugendhaften” Figuren des eR muss er seine früheren erotischen Normverletzungen (NV sex ) nicht einmal bereuen. Dieses Modell funktioniert aber nur unter zwei Bedingungen reibungslos: a) Wenn der Protagonist männlich ist, dann wird ihm in der “Jugend” - zwischen “Kindheit” und “Erwachsenenalter” - eine “Transitionsphase” eingeräumt, in der ihm - früher wie später nicht mehr zulässige - NV sex zugestanden werden. Junge Frauen hingegen haben nicht dasselbe Recht: Sie kommen nach einer Serie von NV sex nicht mehr als Ehepartner für positiv bewertete Figuren in Betracht. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 301 b) Wenn die NV sex des Protagonisten bestimmte Grenzen nicht überschreiten: Zulässig ist hier nur der heterosexuelle genitale Koitus mit einer unverheirateten oder verheirateten Frau (wobei sich der Ehebruch der Frau dadurch legitimiert, dass ihre Ehe keine “Liebesehe” im Sinne der Empfindsamkeit ist). Der ppR, also der normnegierende erotische Roman der Epoche, wäre nun ein Text, für den gilt: 1) Die Protagonisten können männlich oder - eine zusätzliche Provokation - weiblich sein; die sonst übliche ungleiche Behandlung der beiden Geschlechter ist hier aufgehoben. 2) Am Textende findet keine Anpassung der Protagonist(inn)en an das NS sex statt; dementsprechend wird auch normalerweise nicht geheiratet (es sei denn pro forma). 3) Die von den Figuren vollzogenen NV sex beschränken sich nicht auf die Verletzung von 1.5. und 2.1.; die Menge der darüber hinaus verletzten Normen ist variabel und textspezifisch; im Extremfall de Sades werden alle genannten Normen verletzt - und noch einige mehr. 4) Die Serie der NV sex wird vom Text legitimiert, d.h. die Verbindlichkeit der betroffenen Normen wird negiert. Die Legitimation der jeweiligen NV sex durch die Texte begründet nun meine Klassifikation dieser Romane als “philosophisch”: In den dargestellten Welten gilt das NS sex , soweit es verletzt wird, als unverbindlich: Es gilt als bloße Ansammlung von - mit einem Lieblingsbegriff der Aufklärung - rational nicht begründbaren “Vorurteilen” (“préjugés”). Es wird von den Figuren geradezu mit Selbstverständlichkeit, ohne Reue und ohne Folgen (z.B. soziale Sanktionen), verletzt. Solche mehr oder weniger umfassende und radikale implizite Kritik bzw. Infragestellung des NS sex wird in nicht wenigen Texten auch explizit vollzogen, indem Figuren theoretische Diskurse halten, die die Irrelevanz dieser oder jener Norm oder des ganzen Normensystems philosophisch zu begründen suchen, besonders konsequent und radikal natürlich im Œuvre Sades, der auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, weil bei ihm nicht nur das gesamte NS sex , sondern jedes NS überhaupt negiert und im übrigen eine dezidiert christentumsfeindliche, antikatholische, klar atheistische Position vertreten wird. Solche theoretischen Diskurse finden sich schon in den beiden ersten Texten meines Korpus, der Histoire de Dom B***, portier des chartreux 1741 und Thérèse philosophe 1748. Dem Protagonisten des Dom B*** etwa wird im Kloster die Nichte eines älteren Mönches zum genitalen Gebrauch angeboten, unter der Bedingung, dass er sich gleichzeitig von diesem anal benutzen lasse. Nachdem man die Operation zu allseitiger Zufriedenheit vollzogen hat, wird eine Rede zur Verteidigung der Homosexualität gehalten: “… le sujet en fut la bougrerie; Casimir en prit la défense comme un tendre père prend celle d’un enfant chéri; il possédait à fond sa matière, il s’en acquitta parfaitement bien.” (1741: 445). “… der Gegenstand war die Homosexualität; Casimir verteidigte sie wie ein Vater ein geliebtes Kind; er beherrschte sein Thema gründlich, er erledigte seine Aufgabe vollkommen gut.” An späterer Stelle wird er in einen Geheimclub innerhalb des Klosters eingeführt: In geheimen Räumen halten sich die Mönche eine Gruppe Frauen zu freier Verfügung, darunter die leibliche Mutter des Dom B***, die sich diesem sexuell anbietet, was er ablehnt. Darauf hält ihm ein Mitmönch eine Rede zur Verteidigung dieses Inzests: Michael Titzmann 302 “Pauvre sot, me dit-il, quoi! tu es assez simple pour t’effrayer d’une action aussi indifférente; parlons raisonnablement, dis-moi un peu: qu’est-ce que la fouterie? La conjonction d’un homme et d’une femme: cette conjonction est ou naturelle ou défendue par la nature. Elle est naturelle, puisqu’il est vrai que les deux sexes ont dans le coeur un penchant invincible qui les porte, qui les entraîne l’un vers l’autre […]. Adam faisait des filles, il les foutait; Eve avait des fils, ils faisaient avec elle ce que leur père faisait avec leurs sœurs; ce qu’ils faisaient eux-mêmes quand l’occasion s’en présentait.” (1741: 451f). “Armer Trottel, sagte er zu mir, was! Du bist einfältig genug, vor einer so gleichgültigen Handlung zurückzuschrecken; reden wir vernünftig, sag mir ein wenig: was ist die Fickerei? Die Verbindung eines Mannes und einer Frau: Diese Verbindung ist entweder natürlich oder von der Natur verboten. Sie ist natürlich, denn es ist wahr, dass die beiden Geschlechter einen unbesiegbaren Hang im Herzen haben, der sie zu einander hinträgt, sie zu einander zieht […]. Adam machte Töchter, er fickte sie; Eva hatte Söhne, sie machten mit ihr, was ihr Vater mit ihren Schwestern tat; was sie übrigens selbst auch taten, wenn sich die Gelegenheit bot.” Hier wird also argumentiert, dass die Menschheit sich nicht hätte fortpflanzen können, wenn nicht die, die laut Genesis ihre Urahnen wären, eifrig Inzest betrieben hätten; ähnlich wird im übrigen auch in der d’Holbach zugeschriebenen Théologie portative, ou Dictinnaire abrégé de la religion chrétienne 1767 (Stichwort “inceste”) argumentiert - “heilige Texte” sind eben doch zu vielem gut. In Thérèse ist es ein Abbé, der seiner Geliebten wie auch der Protagonistin argumentativ hochrangige aufklärerische Diskurse zu Moral- und Religionsphilosophie hält und dabei im Übrigen eine eindeutig deistische Position vertritt. Die Serie der ppR-Texte setzt nun in etwa zeitgleich mit der Entstehung des eR ein: Wo aber der eR die emotionale Komponente erotischer Beziehungen darstellt und deren sexuelle Komponente leugnet oder minimalisiert und sie - falls sie doch auftritt - quasi kriminalisiert, da stellt der ppR die sexuelle Komponente dar und minimalisiert oder tilgt die emotionale. Der - klandestine - ppR ist also gewissermaßen das logische Komplement des - “offiziellen” - eR. Was dieser verdrängt, bricht in jenem aus - eine Abspaltung des Emotionalen und des Sexuellen, die aus dem christlichen Wert- und Normensystem resultiert. (Der tatsächlich oder scheinbar normbestätigende erotische Roman nimmt diesbezüglich eine Mittelstellung zwischen eR und ppR ein, insofern in ihm das Ausmaß der NV sex begrenzt bleibt und Emotionalität durchaus eine bedeutende Rolle spielt.) Dass sich die ppR gegen Ende des Jahrhunderts zu häufen scheinen, ist im Übrigen wohl kein Zufall: Die Aufklärung “radikalisiert” sich in ihrem Verlaufe allmählich, d.h. sie wird immer konsequenter in der Infragestellung tradierter Ideologeme. Ausgeschlossen habe ich aus meinem ppR-Korpus Texte, die zwar reichlich bejahte NV bieten, aber deren Welten in orientalisch-exotischen Räumen situiert sind oder märchenhaftfantastische Elemente aufweisen: Die Welten meines Korpus sind annähernd in der Gegenwart des Erscheinungsdatums und im europäischen Raum situiert und präsentieren das Sexualverhalten der Figuren somit als in der Realität von Autor und Leser denkbar bzw. möglich. Wenn sie aber implizit postulieren, die dargestellten Verhaltensweisen seien auch außerliterarisch realisierbar, dann laden sie gewissermaßen die Leser(innen) zur Nachahmung ein. Signifikant sind in dieser Hinsicht auch die jeweils gewählten Erzählsituationen: Es dominiert bei weitem die Ich-Erzählsituation (Stanzel) bzw. die homodiegetische (Genette). Das bedeutet wiederum, dass in der Fiktion der Texte die Authentizität und Faktizität des Dargestellten suggeriert wird, als würde hier tatsächlich jemand sein reales Leben autobiographisch erzählen; gern werden dabei eine oder mehrere, ebenfalls homodiegetische Binnenerzählungen anderer Figuren in den Haupttext eingebettet, die die scheinbaren Erfahrungen Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 303 der Protagonist(inn)en gewissermaßen ergänzen. Seltener findet sich der dramatisierte und dialogisierte ppR, in dem es, wie im Drama, keinen Sprecher des Gesamttextes gibt und der Gesamttext aus Figurenrede und “Regieanweisungen” besteht. 6 Wo im homodiegetischen ppR die Welt zwar Authentizität und Faktizität beansprucht, sie aber notwendig immer in einer relativen Vergangenheit gegenüber dem Sprechzeitpunkt der Protagonist(inn)en situiert ist, verzichtet der dramatisierte ppR zwar auf diese Fiktion, erzeugt aber den Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit des Dargestellten, dessen Zeuge der Leser somit würde: Mehr noch als der homodiegetische macht der dramatisierte ppR den Leser zum Voyeur. Um solcher Fiktionen der Authentizität, Faktizität, Unmittelbarkeit willen jedenfalls scheinen die Texte meines Korpus die auktoriale (Stanzel) bzw. heterodiegetische (Genette) Erzählsituation zu vermeiden. Da nun aber die Darstellung eigener Sexualität im Druck eine massive Verletzung der pragmatischen Rederegeln wäre und Sanktionen nach sich zöge, also extrem unwahrscheinlich und unglaubwürdig im Sinne eines mimetischen Anspruchs wäre, operieren die Texte gern mit einer zusätzlichen Fiktion: Diese verfährt etwa derart, dass die Rede der Erzählinstanz an einen privaten und befreundeten Adressaten gerichtet gewesen wäre, aber das Manuskript einem/ einer Dritten in die Hände gefallen sei und von ihm/ ihr publiziert worden wäre. Alle solche Plausibilisierungen des Dargestellten als eines realen Geschehens in Raum und Zeit der Leser(innen) erhöhen natürlich auch die Verführungskraft des dargestellten Sexualverhaltens für die Leser(innen). Während es in den dramatisierten ppR mehrere - potentiell gleichrangige - Protagonist(inn)en gibt, haben die homodiegetischen jeweils nur eine(n) Protagonisten/ Protagonistin. Diese Figur ist immer eine eingangs noch sehr junge Person, gern an der Grenze zwischen “kindlich” und “jugendlich”: Da nun in diesem Alter die sexuellen Erfahrungen in den Textwelten einsetzen, steht also am Textanfang die Initiation einer jugendlichen Figur in (normverletzende) Sexualität. Unabhängig davon, wie sich diese Initiation im konkreten Falle vollzieht, gilt in den Texten als Regel, dass schon eine grundsätzliche Erotikbereitschaft der jugendlichen Figuren gegeben ist: 7 Ein eingangs noch unklarer und unbestimmter Wunsch nach Sexualität erscheint also als anthropologisch “natürlich” und legitim, wobei der Beginn sexueller Regungen gern - kulturell provokant - möglichst früh angesetzt wird, spätestens mit den ersten Zeichen der Pubertät. Die Texte konfrontieren also dem traditionellen christlichen Gebot sexueller Enthaltung - um das ausgestorbene Lexem auch einmal zu verwenden: dem Gebot der “Keuschheit” - das Postulat der “Natürlichkeit” sexueller Bedürfnisse - und für “natürlich” erklären sie auch solche NV sex , die das Christentum als “widernatürlich” verleumdete. Besonders erstaunlich an meinem Korpus ist nun aber, dass in der absoluten Mehrheit der homodiegetischen ppR die Protagonistenrolle weiblich besetzt ist 8 (im dramatisierten ppR sind übrigens auch immer Frauen in zentralen Rollen beteiligt). Nicht nur der angehende junge Mann, sondern auch die angehende junge Frau hat hier selbstverständlich das Recht auf Sexualität (und wäre sie noch so abweichend); die Bewahrung der “Jungfräulichkeit” (mindestens bis zur Ehe) erscheint hier, in Umkehrung der katholischen Norm, als “widernatürlich”. Mehr als die theoretischen Diskurse der Aufklärung vollzieht der ppR auch eine Transformation des Systems der Geschlechterrollen: Vorgeführt wird eine Emanzipation der Frau, die das Recht auf selbstbestimmte Sexualität erhält und dabei dem Manne keineswegs untergeordnet ist. Männliche wie weibliche Sexualität ist nun in den Texten grundsätzlich nicht-ehelich. Wenn überhaupt gelegentlich Ehen geschlossen werden, so impliziert das keine Selbstverpflichtung auf Monogamie (zumal diese Ehen nicht auf “Liebe” begründet sind, die die Texte allenfalls als temporäres Gefühl kennen) - hier geht es nicht um das Erzählen glücklich-monogamer Liebe, nicht einmal, wenn sie mit normverletzenden Praktiken ein- Michael Titzmann 304 herginge, sondern um die Aufhebung des NS sex und die Rechtfertigung von NV sex . Für die normverletzende Sexualität dieser Figuren gelten aber gleichwohl Normen: Es gilt eine alte Norm, insofern das Recht auf Sexualität den Altersklassen “Jugend” und “Erwachsenenalter” reserviert ist und “Alte” aus ihm ausgeschlossen sind - wenn sie Sexualität ausüben, erscheint diese als hässlich und/ oder lächerlich; es werden zwei neue Normen eingeführt, insofern - mit der Ausnahme von de Sades Figuren - gilt, dass Sexualität zum einen auf dem freiwilligen Konsens beider/ aller Beteiligter basieren sollte (hier gibt es denn auch nicht das christliche “debitum coniugale”, die “eheliche Pflicht” - schon als Lexem nicht eben Lust steigernd) und zum anderen gilt, dass das Ziel die Lust beider/ aller Beteiligter ist. Dass alle Beteiligten zu Lust gelangen, ist gewissermaßen die ppR-Variante des Prinzips “Glück für möglichst viele”; dass der normverletzende Sexualakt im Konsens aller Beteiligten vollzogen wird, ist gewissermaßen die ppR-Variante des Prinzips der Nicht-Schädigung eines/ einer Anderen. Nur de Sade weicht bezüglich beider ppR-Normen ab: Die “Sexualobjekte” seiner “Wüstlinge” sind “Opfer”, deren Zustimmung nicht interessiert und deren Lust nicht im Interesse der “Täter” liegt; sie können denn auch gefoltert oder getötet werden. In Umkehrung des NS sextheol gilt ferner, dass Sexualität um der Lust willen, nicht aber zum Zwecke der Vermehrung angestrebt wird, die, wenn sie vorkommt, im Regelfalle nur ein “Betriebsunfall” ist (nicht anders als die Möglichkeit, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen) - tatsächlich gewollt nur, wenn sie, wie etwa in Nerciats Mon Noviciat 1792, nochmals eine Steigerung der NV sex darstellt; hier verführt die “Tochter” ihren - sozialen, aber nicht biologischen - “Vater” und freut sich auf ein Kind von ihm. Es geht dabei kaum - de Sade vielleicht ausgenommen, dessen Texte auch eine grundsätzliche Abscheu gegen Mütter aufweisen - um eine grundsätzliche Aversion der Texte gegen Vermehrung, wohl aber um eine solche gegen das katholische Vermehrungsgebot; z.B. de Sades Figuren bekämpfen es immer wieder explizit. Keine der Normen des NS sextheol wird im ppR-Korpus nicht verletzt: manche in fast jedem Text, manche selten, alle im Werk de Sades (Philosophie dans le boudoir 1795, Justine 1787, Juliette 1796). Zu den NV sex seien hier nur einige kursorische Bemerkungen (Näheres in Titzmann: 2009) gemacht: Onanie - allein oder mit anderen, auch als wechselseitige - stellt kein Problem dar; etwa in Thérèse philosophe 1748 wird sie explizit als zulässige Ersatzhandlung gerechtfertigt. Heterosexualität herrscht im Korpus vor, aber Homosexualität spielt eine bedeutende Rolle. Weibliche Homosexualität erscheint in den meisten Texten als normal und selbstverständlich (so schon in den Tableaux des mœurs 1760, nur angedeutet in Thérèse 1748), nicht nur, wenn sie, wie in Klöstern, mangels anderer Möglichkeiten praktiziert wird; dementsprechend findet z.B. häufig auch an anderen Orten die erste sexuelle Initiation der Protagonistin durch eine erfahrene Partnerin statt, wo es dann auch zu lesbischen Akten kommt; mit Ausnahme des Lesbierinnenclubs in den Confessions d’une jeune fille 1784 sind die Frauen aber im Regelfalle dominant heterosexuell, wenngleich lesbischen Spielen nicht abhold. Männliche Homosexualität - die ranghöchste NV sex überhaupt - findet sich erheblich seltener, wenngleich sie schon im ersten Text meines Korpus, Dom B*** (= “bougre” = Homosexueller) zwar schon im Titel vorkommt, in der Erzählung selbst aber nur am Rande auftritt. Auch dominant heterosexuelle Männer sind gelegentlichen (aktiven) homosexuellen Akten nicht abgeneigt (vgl. Mirabeaus Le rideau levé 1786, Nerciats Mon Noviciat 1792). Aber auch dominant homosexuelle Männer finden sich (so in Mon Noviciat oder Le diable au corps 1803 und natürlich in de Sades Romanen: der Philosophie dans le boudoir 1795, Justine 1787, Juliette 1796). Bei männlicher wie weiblicher Hetero- oder Homosexualität können alle christlich verpönten Praktiken auftreten: manuelle, oral-genitale, oral-anale, Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 305 genital-anale; der homo- oder heterosexuelle Analverkehr erfreut sich einer bemerkenswerten Beliebtheit. Die Texte treffen aus dem Angebot an NV sex je eine unterschiedliche Auswahl; den vollständigsten Katalog aller NV sex weist selbstverständlich wieder de Sade auf. Verbreitet ist auch der scheinbare (z.B. Dom B***, Le rideau levé, Mon Noviciat) oder tatsächliche (z.B. Mon Noviciat, Le rideau levé, Philosophie dans le boudoir, Justine, Juliette, Restifs Anti-Justine 1798) Inzest, bei dem die Hierarchie (Bruder + Schwester) < (Vater + Tochter) < (Mutter + Sohn) gilt; die Inzestfälle sind umso seltener, je höherrangiger sie sind (Restif und de Sade lassen aber keine der Varianten aus). Bei de Sade gibt es selbstverständlich zudem auch den homosexuellen Inzest in allen Varianten. Da Sexualität im ppR dem Lustgewinn dient und die Beziehungen höchstens kurzfristig emotionalisiert sind, gilt im Korpus auch keine Treueverpflichtung; die Protagonist(inn)en haben denn auch meist eine ganze Serie von sukzessiven oder simultanen Partner(inne)n. Nicht selten findet Sexualität nicht als solche eines Paares in Abgeschlossenheit, sondern in einer Gruppe statt, sei es bei eher zufälligen oder abgesprochenen Begegnungen mehrerer Figuren, sei es in einer Art Sexclub (so z.B. Dom B***, Confessions d’une jeune fille, Les Aphrodites 1793, Juliette); bei Sexualität zu mehreren finden dann auch Partnerwechsel und Mehrfachgruppen (z.B. Dreiergruppen: Mann-Mann-Frau, Frau-Frau-Mann) statt. Nun ist selbst die Darstellung einer vergleichsweise harmlosen NV sex (z.B. eines nichtehelichen genitalen Koitus) in doppelter Hinsicht im 18. Jahrhundert schon ein semiotisches Phänomen, sofern der Sexualakt von der Figur ohne Reue und ohne Sanktionen vollzogen und also die NV sex als normal, natürlich selbstverständlich gesetzt und damit das NS sex negiert wird: Denn ein solches Verhalten (der Figur wie des Textes) wird im Denksystem der Epoche notwendig selbst schon als Zeichen wahrgenommen - als Zeichen einer religiös abweichenden Position, einer dezidiert nicht-christlichen Einstellung. Solche sexuelle Abweichung indiziert automatisch die ideologische Abweichung, selbst wenn nichts Derartiges im Text thematisiert würde. Ist nun aber der Sachverhalt selbst schon zeichenhaft, ist es seine sprachliche Darstellung im Text umso mehr. Denn hier würden die pragmatischen Regeln des Redens über Sexualität gelten. Wenn denn überhaupt über einen Sexualakt gesprochen werden muss, sollte er in diesem System der “bienséance” nicht direkt benannt, schon gar nicht mit Hilfe jener Lexeme, die als “ordinär” oder “obszön” gelten, sondern periphrastisch und metaphorisch umschrieben werden. Genau von einem solchen präzisen, aber verbotenem Vokabular macht der ppR aber Gebrauch. 9 Aber selbst diese Steigerung der Verletzung des Sachtabus (durch den Sexualakt) durch Verletzung des Sprachtabus (“ordinäre” Benennung statt “feiner” Umschreibung) erlaubt eine weitere Steigerung, indem der Sachverhalt nicht nur benannt, sondern ausführlich deskriptiv spezifiziert wird, wovon die Texte reichlich Gebrauch machen. Sie teilen uns - zum Beispiel - eben nicht nur mit, X koitiere mit Y, sondern beschreiben etwa die Stadien der Erregung (und deren körperliche Symptome) und der (totalen, auffällig oft aber auch nur partiellen) Entkleidung, die Details der entblößten Körper, die einzelnen Schritte des Sexualaktes bis zum - normalerweise - beiderseitigen Orgasmus, und natürlich die - positiven - Gefühle der Beteiligten bei all diesem. Indem sie Begehren, Erregung, Lust nicht nur nennen, sondern beschreiben, intendieren sie unverkennbar auch die Erregung der Leser(innen); Rousseau soll denn auch die ppR “ces livres qu’on ne lit que d’une main”, “diese Bücher, die man nur mit einer Hand liest” (da die andere anderweitig benötigt wird), genannt haben (Goulemot: 1991). Die damit implizierte Situation der Leser(innen) kann auch - in einer mise en abyme - im Text selbst gespiegelt werden, wenn von einer Figur (so z.B. in Mon Noviciat) ein ppR gelesen wird und diese dabei onaniert. Wir haben dann eine Homologie: In einem Text X Michael Titzmann 306 verhält sich eine Figur zu einem Text Y wie sich außerhalb des Textes X Leser(innen) zu dem Text X verhalten (sollen). Noch eine zweite - und immer auftretende - Homologie muss hier erwähnt werden: Wie der Text selbst unter Einsatz pragmatische Normen der Rede verletzender Lexeme über Sexualorgane und Sexualakte zu den Leser(innen) spricht, so tun dies auch im Text die Figuren unter einander. Zwei Typen solcher Rede sind besonders signifikant und besonders rekurrent. Zum einen haben wir häufig die Situation, dass eine sexuell unerfahrene Figur von einer sexuell erfahrene(re)n (auch) verbal in Sexualität initiiert wird: 10 Hier werden die Genitalien und die mit bzw. an ihnen ausführbaren Akte im Detail erläutert und benannt; quasi-definitorisch wird hier ein terminologisches System eingeführt, gelegentlich in einer nomenklatorischen Orgie, bei der auch die Synonyma aufgelistet werden - die sachliche Einführung ist zugleich auch eine sprachliche, und sie ist es für die Figur wie für die Leser(innen). Zum anderen haben wir in den Texten sehr häufig eben die mehr oder weniger umfänglichen theoretischen Diskurse, in denen eine Figur gegenüber anderen das NS sex diskutiert und partiell oder total negiert, am ausführlichsten bei den “Wüstlingen” de Sades, die zur Not auch mitten im Sexualakt perorieren. Doch die Darstellung abweichender Sexualität im ppR hat noch weitere relevante semiotische Aspekte. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist vom politisch machtgestützten, in jeder Hinsicht repressiven Katholizismus dominiert, gegen den der Diskurs der Aufklärung - einer sehr kleinen intellektuellen Minorität - ankämpfen muss (und erstaunlich erfolgreich ankämpft). Die Auseinandersetzung mit diesem führt auf seine Weise eben auch der ppR, und das hat insofern semiotische Folgen, als religiöse Strukturen (Klöster, Klerus und deren Folgen für die Sozialisation Heranwachsender) und religiöses Vokabular thematisch werden. Recht häufig sind Klöster als Handlungsorte und Mönche, Nonnen, Priester beteiligte Figurengruppen (so schon in Dom B***). Was das Kloster und seine Insassen betrifft, manifestiert sich hier zum einen die allgemeine Aversion der Aufklärung gegen sozial parasitäre Gruppen, die nichts zum Wohle der Gesellschaft beitragen, wobei Mönche im ppR fast ausnahmslos als negativ erscheinen, während den jungen Frauen, die ihre Familie zeitweilig - zum Zwecke der “Erziehung” - oder dauernd - z.B. um sie von Erbansprüchen abzuhalten - im Kloster deponiert haben, mit Sympathie begegnet wird. Sonstige normverletzende Kleriker, insbesondere die vielen weltlichen Abbés, können durchaus als positiv erscheinen, wenn sie sich als ideologisch aufgeklärt erweisen (so z.B. in Thérèse). Bemerkenswert ist, dass es in den Texten überhaupt keine positiv bewerteten Vertreter des Katholizismus zu geben scheint. Zum anderen erscheint das Kloster, das den katholischen Wert der “Keuschheit” repräsentiert, als Ort widernatürlichen Zwanges, einer Vergewaltigung der menschlichen “Natur”, die sich dann eben in männlicher oder weiblicher Homosexualität oder in der heimlichen Einschleusung von Frauen in Männerklöster (so wiederum schon Dom B***) bzw. von Männern in Frauenklöster (z.B. Mon Noviciat) rächt. In manchen Fällen lässt der ppR in Klöstern richtige Orgien mit Gruppensex stattfinden (systematisiert bei de Sade, etwa in Juliette). Generell werden nun Sexualakte gern in einem quasi-religiösen Vokabular beschrieben. Die erste Einführung in Sexualität kann als “initiation” (z.B. in die “mystères de l’amour/ de Vénus”) benannt werden, also als eine Einweihung in einen religiösen, unzweideutig “heidnischen” (Mysterien-)Kult. Was an sich dem Willen des christlichen Gottes zuwider ist, erscheint hier gerade als Gottesdienst. Auch kann der Leib der Frau als “autel”, “altar” benannt werden, auf dem der Liebhaber, sozusagen als “Gläubiger”, ein “sacrifice”, ein Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 307 “Opfer” bringt: christlich gesehen natürlich hochgradig blasphemisch; auch hier wird der Sexualakt zum Gottesdienst. Wie sich die Figuren an der Benennung von Genitalien und Sexualakten, nicht zuletzt eben in einer “ordinären” Sprache, erregen können, so können sie sich im Extremfall auch an der Selbstbenennung als Normverletzer erregen, z.B. durch Selbstklassifikationen etwa als “putain”, “Hure”, oder “bougre”, “Arschficker”. Was christlich gesehen ein extrem negativ wertendes Prädikat wäre, wird hier zum libertinen Adelsprädikat umsemantisiert: So jubelt etwa die 15jährige Eugénie nach ihrer sexuellen Initiation in Sades Philosophie dans le boudoir: “Me voilà donc à la fois incestueuse, adultère, sodomite, et tout cela pour une fille qui n’est dépucelée que d’aujourd’hui! … Que de progrès, mes amis! … avec quelle rapidité je parcours la route épineuse du vice! … Oh! je suis une fille perdue! ” (299) “So bin ich nun zugleich inzestuös, ehebrecherisch, sodomitisch, und das alles bei einem Mädchen, das gerade erst heute entjungfert worden ist! … welche Fortschritte, meine Freunde! … mit welcher Schnelligkeit durcheile ich die dornige Straße des Lasters! … Oh! ich bin ein verlorenes Mädchen! ” Bei de Sade - auch hierin wieder alle anderen überbietend - wird der Lustgewinn seiner Normverletzer noch dadurch gesteigert, dass sie sich im jeweiligen Sexualakt gern in blasphemisch-antichristlichen Ausrufen und Flüchen ergehen; auch verdoppeln sie gern den Sexualakt durch seine sprachliche Beschreibung, indem sie entweder vor ihm sprachlich vorgeben, was geschehen soll, oder in ihm zugleich sprachlich artikulieren, was geschieht. Generell gilt, dass der sprachliche Tabubruch, das Reden über Sexualität, ob es sich nun einer eher “dezenten” oder einer “ordinären” Sprache bedient, im ppR als Luststeigerung fungiert. Wie auch in nicht-pornographischen Texten, wo die im 18. Jahrhundert ja so beliebte “(Selbst-)Verführung” auch nicht zuletzt mittels Worten geschieht, wird hier den Zeichen eine fast magisch-beschwörende, lusterzeugende oder luststeigernde Macht zugeschrieben, die quasi-religiös zelebriert wird. Der ppR radikalisiert hier nur, was auch in anderen Texten in erotischen Situationen geschieht. Es ist, wenn man so will, zugleich die emotionale Leistung dichterischer Sprache, die hier illustriert wird. Unter den non-verbalen Zeichen, die im ppR eine Rolle spielen, seien die (biologischen) Körperzeichen und die (sozialen) Kleidungszeichen noch hervorgehoben. Bei den Körperzeichen gibt es die “objektiven” Zeichen der “Geschlechtsreife”, bei den junge Frauen etwa sich allmählich abzeichnende Brüste, und die “subjektiven” Zeichen einer unerklärlichen, auch physischen Unruhe, einem Wunsche nach einem unbekannten Etwas (sehr hübsch z.B. in Dom B***), die sich auch in frühzeitiger Onanie äußern können (z.B. Thérèse). Es gibt die Zeichen der sexuellen Erregung (“bander”): Veränderungen von Gesichtsfarbe, Stimme bzw. Sprechweise, der Genitalien (Erektion bzw. feuchter Schoß: “con mouillé”). Es gibt die Zeichen des Orgasmus (“décharge”), der bei beiden Geschlechtern als “Erguß” gedacht wird. Auch bei solcher Körpersemiotik hat Sade wiederum einen Sonderstatus: Bei seinen Körperbeschreibungen gilt besondere Aufmerksamkeit der Form und Größe des Penis. In der Kultur des 18. Jahrhunderts gibt es einen eindeutigen geschlechtsspezifischen Kleidungscode: Das Geschlecht soll unzweideutig an der Kleidung erkennbar sein. Nicht nur im ppR, aber in diesem sehr rekurrent, kennt die Literatur des Zeitraums den vestimentären Geschlechtswechsel, bei dem sich ein junger Mann als Frau, eine junge Frau als Mann kleidet, wobei angenommen wird, dass das wahre Geschlecht der Figur dann nicht mehr erkennbar sei. In der Personwahrnehmung dominiert also das soziale System der vestimentä- Michael Titzmann 308 ren Zeichen eindeutig über das natürliche System der biologischen Zeichen. Wenn der Geschlechtsunterschied so sehr durch kulturelle Zeichen markiert werden muss, dann gibt es im Sozialsystem offenbar ein Problem, das an den Folgen vestimentärer Geschlechtswechsel sichtbar wird. Solche Verkleidung, die sehr verschieden motiviert sein kann, führt fast regelmäßig zu - gewollten oder ungewollten - erotischen Komplikationen: Die verkleidete Figur wird von einer gleichgeschlechtlichen Figur begehrt, also in heterosexueller Absicht, die bei Realisierung aber zu Homosexualität führt; oder sie wird von einer andersgeschlechtlichen Figur begehrt, also in homosexueller Absicht, die bei Realisierung aber zu Heterosexualität führt. Wenn das wahre Geschlecht der begehrten Figur - im ganz wörtlichen Sinne - aufgedeckt wird, kann die begehrende Figur, enttäuscht oder verärgert, von ihrem Vorhaben Abstand nehmen oder es dennoch realisieren: Nicht wenige dominant hetero- oder dominant homosexuelle Figuren des ppR sind ggf. auch zu einem Sexualakt bereit, der nicht ihrer Präferenz entspricht. Im vestimentären Geschlechtswechsel wird jedenfalls mit einer Auflösung der kulturell eindeutig festgelegten Geschlechterrollen und einer potentiellen Aufhebung der kulturell so relevanten Opposition von Heterovs. Homosexualität gespielt. Im Extremfall, also wiederum bei de Sade, sind ohnedies alle Normverletzer mehr oder weniger bisexuell, und auch die dominant homosexuellen Männer können sich sehr wohl auch für einen weiblichen Hintern begeistern. Zum Abschluss ein letzter Punkt. Die ppR-Texte sind im Regelfalle auch mit Illustrationen zu einzelnen Szenen ausgestattet. 11 Dieses ikonische Zeichensystem, das das sprachliche Zeichensystem und die mit dessen Hilfe vermittelten non-verbalen Körper- und Kleidungszeichen begleitet, würde ebenfalls eine Interpretation verdienen: was wird - und wie - illustriert? Da dieses ikonische System des ppR wiederum im Kontext der sonstigen ikonischen Praktiken des 18. Jahrhunderts funktioniert, bedürfte es dazu freilich einer kunsthistorischen Kompetenz, die ich mir nicht anmaßen kann. Literaturverzeichnis Literarische Texte Legende ? (nach Datum oder Namen): = ungesicherte Annahme [Name]: = Zuschreibung anonym erschienener Texte Verw. A.: = verwendete Ausgabe (Wenn nichts anderes angegeben ist, handelt es sich um die Erstausgabe.) L: = Prévot, Jacques (ed.) 1998 u. 2004: Libertins du XVIIe siècle, Paris. R: = Romanciers du XVIIIe siècle. Hg. von Etiemble. Bd. II. Paris 1965. RL: = Lasowski, Patrick Wald (ed.) 2000 u. 2005: Romanciers libertins du XVIIIe siècle, Paris. HE: = Heyne Exquisit. GF: = Garnier Flammarion. CG: = Classiques Garnier. 1655 Anonym: L’Ecole des filles [L II, S. 1099-1202]. 1660 [Nicolas Chorier ? ]: Aloisiae Sigeae Toletanae Satyra Sotadica De Arcanis Amoris seu Veneris. Aloisa Sigea Hispanice sripsit, Latinitate donavit Joannis Meursii. [Ausgaben 1670? , 1676, 1678; zahlreiche Übs. im 18. Jh.; zitierte Ausgabe: Joannis Meursii Elegantiae Latini Sermonis […]. Lugduni Batavorum 1752. Neudruck: a cura di Bruno Lavagnini. Catania 1935]. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 309 1740 ? / 1741 ? [Jean-Charles Gervaise de Latouche? (1715-1782)]: Histoire de Dom B***, portier des chartreux. [Verw. A.: Paris 1969; auch in RL I, S. 333-496]. 1742 Claude-Prosper Jolyot de Crébillon / 1707-1777) : Le Sopha, conte moral. [RL I, S. 69-147]. 1745 [Anne-Gabriel Meusnier de Querlon (1702-1780)]: La Tourière des carmélites, servant de pendant au «P. des C» [= Le Portier des Chartreux]. [RL I, S. 587-628]. 1748 [Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens ? (1703-1771)]: Thérèse philosophe. [Verw. A.: Hg. von Jean-Jacques Pauvert. Paris 1998; auch in RL I, S. 867-970]. 1750 Anonym: L’Anti-Thérèse ou Juliette philosophe, Nouvelle Messine véritable par M. de T***. La Haye. 1750 [Louis-Charles Fougeret de Monbron (1706-1760)]: Margot la ravaudeuse [RL I, S. 801-863]. 1760 [Crébillon? La Popelinière (1693-1762)? ]: Tableaux des mœurs du temps dans les différents âges de la vie [RL II, S. 1-201]. 1774 [Barbe de Boyer, marquise d’Argens? ]: La Nouvelle Thérèse, ou la Protestante philosophe. Histoire sérieuse et galante. [Verw. A.: http: / / galenet.galegroup.com]. 1775 [Andréa de Nerciat (1739-1800)]: Félicia, ou mes fredaines. Londres [RL II, S. 591-872]. 1778 Anonym: Mémoires de Suzon, sœur de D.B., portier des chartreux, écrits par elle-même [RL II, S. 873-968]. 1783 [Gabriel Honoré de Riqueti, Marquis de Mirabeau]: (Le Libertin de qualité, ou) Ma Conversion. [Titel variiert in den Ausgaben; RL II, S. 973-1072]. 1784 [Mathieu-François Pidansat de Mairobert (1727-1779)]: Confession d’une jeune fille. In: ders.: L’Espion anglais, ou Correspondance secrète entre milord All’Eye et milord All’Ear. [RL II, S. 1139-1199]. 1786 [Gabriel Honoré de Riqueti, Marquis de Mirabeau? ]: Le rideau levé ou l’éducation de Laure. 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Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Tübingen: Niemeyer: 1-28. [Manuskript, im Ersch.] Titzmann, Michael 1990: “Empfindung” und “Leidenschaft”. Strukturen, Kontexte, Transformationen der Emotionalität/ Affektivität in der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts”, in: Klaus P. Hansen 1990 (ed.): Empfindsamkeiten, Passau: Rothe: 137-166. Titzmann , Michael 1991: “Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel Inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche”, in: Jörg Schönert (ed.): Erzählte Kriminalität, Tübingen: Niemeyer: 229-281. Wünsch, Marianne 2002: “Sexuelle Abweichungen im theoretischen Diskurs und in der Literatur der Frühen Moderne”, in: Christine Maillard u. Michael Titzmann 2002 (eds.): Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935, Stuttgart: Metzler: 349-368. Anmerkungen 1 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ Wiki/ Pornografie. 2 Als in den 1970er Jahren in der Taschenbuchreihe Heyne exquisit u.a. eine Menge der ppR erschienen, hatte ein offenbar unterbeschäftigter Münchner Staatsanwalt nichts Dringlicheres zu tun (gab es denn in München keine relevante Kriminalität? ), als für jeden Band mit Hilfe von Gutachten prüfen zu lassen, ob es sich um “Pornographie” im Sinne des Gesetzes handle: Da dies an Assistenten der Universität München im Bereich Literaturwissenschaft delegiert wurde, nahm die Reihe zum Glück keinen Schaden. 3 Auch was verbotene Verwandtschaftsgrade anbelangt, gibt es erhebliche Differenzen zwischen dem kanonischen Recht und den - untereinander wiederum verschiedenen - Regelungen der staatlichen Gesetzgebungen: vgl. dazu Titzmann: 1991. 4 Daher auch die Lexeme frz. “sodomiser” und abgeleitet davon dt. “Sodomit”, “sodomiert”, “sodomisiert” für eine männliche Person, die anal penetriert wurde. Das System der Klassifikation und Benennung abweichender Sexualität, das bis heute überdauert hat, entwickelt sich erst im späten 19. Jahrhundert - vgl. dazu Foucault: 1976ff und Wünsch: 2002. 5 Vgl. dazu im Überblick Titzmann 1990. 6 Als Beispiele können etwa Crébillons Tableaux des mœurs oder Nerciats Romane Les Aphrodites und Le diable au corps genannt werden. 7 Eine Abweichung ist Sades “tugendhafte” Justine, die aber, im Gegensatz zu seiner Juliette, im ppR-Korpus insofern die Ausnahme ist, weil sie bewusst nach dem Modell der “Heldin” des eR - der hier durch ihr totales Scheitern und auch verbal explizit verhöhnt wird - modelliert ist. 8 Männliche Protagonisten haben von diesen Texten nur Dom B***, die Anti-Justine und L’Enfant du bordel. 9 Nur einige Beispiele: “con” = Vagina, “cul” = Anus, “vit” = Schwanz, “bander” = in sexueller Erregung sein, “décharger” = entladen, einen Orgasmus haben, “foutre” = ficken, “enconner” = vaginal penetrieren, “enculer” / ”sodomiser”= anal penetrieren, “(se) branler” = (sich) manuell erregen, “bougre” = Homosexueller (auch generell: jmd. mit Präferenz für Analverkehr), “godemiché” = künstlicher Penisersatz, usw. 10 So im Übrigen schon im 17. Jahrhundert in zwei Texten aus Frankreich: der Ecole des filles 1655 und der Aloisia Sigea 1660. 11 Das Material findet sich in den beiden von Patrick Wald Lasowski hg. Bänden Romanciers libertins du XVIIIe siècle, Paris 2000 und 2005.