eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Dieser Band vereint die Beiträge der Sektion "K/konkretes Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film“ des 12. "Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen“ (Universität Stuttgart 9.-12.10.2008). Gegenstand der Sektionsarbeit war, an konkreten literarischen und filmischen Beispielen zu untersuchen, wie sich ein 'Konkretes‘ in Literatur und Film semiotisch beschreiben lässt und welche Funktionen es innerhalb seiner medialen und kulturellen Kontexte einnehmen kann. Einführend zu den Beiträgen wird dabei das Verhältnis des Konkreten zu narrativen und metaphorischen Prozessen im Kontext sekundärer semiotischer Systeme (nach Lotman) problematisiert.
2009
323-4

'K/konkretes' Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film

2009
Jan-Oliver Decker
‘K/ konkretes’ Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film. Eine Einführung Jan-Oliver Decker Dieser Band vereint die Beiträge der Sektion “K/ konkretes Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film” des 12. “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen” (Universität Stuttgart 9.-12.10.2008). Gegenstand der Sektionsarbeit war, an konkreten literarischen und filmischen Beispielen zu untersuchen, wie sich ein ‘Konkretes’ in Literatur und Film semiotisch beschreiben lässt und welche Funktionen es innerhalb seiner medialen und kulturellen Kontexte einnehmen kann. Einführend zu den Beiträgen wird dabei das Verhältnis des Konkreten zu narrativen und metaphorischen Prozessen im Kontext sekundärer semiotischer Systeme (nach Lotman) problematisiert. This issue comprises the contributions of the section “K/ konkretes Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film” of the 12th “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen” (Universität Stuttgart 9.-12.10.2008). Subject of the section were the questions, i) how in a semiotic way something ‘concrete’ could be described in literature and film and ii) which function a ‘concrete’ could get in medial and cultural contexts. Introducing the contributions the relations and problems of the ‘concrete’ in narrative and metaphoric processes will be shown from a point of view that defines literature and film as semiotic systems on a secondary level of meaning constituition (cf. Lotman). 1. Das ‘Konkrete’ aus der Sicht sekundärer semiotischer Systeme Nach Jurij M. Lotman gehören Literatur und Film zur Klasse der sekundären semiotischen Systeme, das heißt, Literatur und Film bedienen sich vorgegebener primärer Zeichensysteme (Sprache, Schrift, Geräusch, Musik, Filmbilder etc.) und bilden in ihren Texten selbst neue Zeichen zweiter Stufe. 1 Diese gehorchen als sekundäre semiotische Systeme eigenen, individuell und textuell konkret entworfenen Gesetzmäßigkeiten. Literatur und Film bilden auf diese Weise wie auch die sekundären semiotischen Systeme Oper, Comic Strip und die bildenden Künste sekundäre (Vorstellungs-)Welten aus, die als kulturelle Selbstreproduktionen kulturelles Wissen ihrer Produktionskultur verarbeiten und zu diesem in ein sekundäres, alternatives Verhältnis treten (können). Auf diese Weise reduzieren Medien sinnhaft kulturelle Komplexität und können relevante Einstellungen, Probleme und Mentalitäten einer Kultur überhaupt kommunizieren und verhandeln. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 252 Ein genuin ‘Konkretes’ entzieht sich damit zunächst dieser zweifach gestuften Semiose, denn ein Konkretes bedeutet aus semiotischer Perspektive zunächst nichts weiter als sich selbst. Ein Konkretes sperrt sich somit gegen seine Einbindung in Sinn gebende narrative und/ oder metaphorische Prozesse. Dagegen lassen sich in Literatur und Film prinzipiell zwei Arten unterscheiden, durch die ein ‘Konkretes’ zeichenhaft vermittelt werden kann: 1. Das ‘Konkrete’ in sekundären semiotischen Systemen sind die primären semiotischen Systeme. Diese werden als ‘konkretes’ Textmaterial bewusst gemacht und damit die Ebene der Signifikanten fokussiert, die von ihren Signifikaten und möglichen Referenten entkoppelt werden (Stichwort “konkrete Poesie” und nach Jakobson poetische Sprachfunktion 2 ). 2. In sekundären semiotischen Systemen wird genau dann ein ‘Konkretes’ auf Signifikatebene konzipiert, wenn in Literatur und Film die vermittelten Signifikate nichts weiter bedeuten als sich selbst und scheinbar nicht in ein übergeordnetes Bedeutungsgefüge des literarischen oder filmischen Textes eingebunden sind (Stichworte “Realitätseffekte”, reiner Objektbezug, bloße Referenz auf das “So-sein” an sich, Spezifikation der dargestellten Welt). 3 Gleichgültig ob die Ebene der Signifikanten oder die der Signifikate betrachtet wird, wird hier zum einen evident, dass in Literatur und Film das ‘Konkrete’ ein Texteffekt ist, der erst mittels textueller und damit mittels semiotischer Verfahren überhaupt erzeugt wird. Zum anderen wird deutlich, dass sich das ‘Konkrete’ in sekundären semiotischen Systemen im Spannungsfeld von ‘Selbstreferenz vs. Fremdreferenz’ und somit zwischen den Polen ‘Unmittelbarkeit - Authentizität vs. Semiotisierung - Narrativität’ bewegt. Das heißt, dass sich ein ‘Konkretes’ einerseits den semiotischen Kohärenzbildungsverfahren entzieht, andererseits aber gleichzeitig auch in Verfahren textuell manifester Bedeutungsproduktion eingebunden ist. Genau hier setzten die vorliegenden Beiträge an, indem sie die Konstruktion eines ‘Konkreten’ in literarischen und filmischen Texten sowie sein Zusammenwirken mit generellen Verfahren der Semiotisierung und insbesondere der Narrativierung beleuchten. Exemplarisch möchte dieser Band dabei der Vermittlung und der Funktion von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film nachgehen, zum Ersten weil Sexualität und Gewalt Konstanten unserer medialen Kultur und damit besonders stark semiotisiert sind, zum Zweiten weil Sexualität und Gewalt paradigmatische, in Literatur und Film inszenierte semantische Felder darstellen, in denen sich ein ‘Konkretes’ konstituiert, das sich kulturellen Sinngebungs- und Semiotisierungsversuchen widersetzt. Hier möchte dieser Band am Beispiel von Sexualität und Gewalt Raum für sowohl eine theoretisch-methodologisch orientierte Beschreibung und Klassifikation der Hervorbringung eines ‘Konkreten’ bieten (vgl. den Beitrag von Sing) als auch Fallanalysen konkreter Texte oder Textkorpora bereitstellen, anhand derer sich die Bedeutungsdimensionen des ‘Konkreten’ in Literatur und Film aus einer semiotischen Perspektive im Allgemeinen und aus einer narratologischen Perspektive im Besonderen beschreiben und erklären lassen (vgl. die Beiträge von Blödorn/ Podewski, Großmann, Müller, Orosz, Pabst, Reichlin, Titzmann, Vittrup). 2. Das ‘Konkrete’ als Referenzphänomen Ausgehend von einem dreigliedrigen Zeichenmodell, das im einfachsten Falle zwischen Signifikant, Signifikat und Referent unterscheidet, lässt sich das ‘Konkrete’ zunächst als Unterbindung der Bezeichnungsfunktion zwischen Signifikat und Signifikant verstehen: 4 Der materielle Zeichenträger verweist im Falle des ‘Konkreten’ auf kein abstraktes Konzept, das Eine Einführung 253 durch eine feststehende, konventionalisierte Zuordnungsrelation in einem Kode als Inhaltsseite einer Ausdrucksseite zugewiesen wird. Dagegen lässt sich das ‘Konkrete’ unter dem Aspekt seines Objektbezuges als Referenzialisierung begreifen, bei welcher der Zeichenträger einen konkreten Referenten in einem kontextuellen Bezugsystem des Zeichens individuell und konkret benennt (Ein solches ‘Konkretes’ wäre bspw. der spontane, individuelle Schmerzensschrei einer Person, die sich den Fuß stößt. Schrei, Person und Schmerz sind scheinbar unmittelbar an eine konkrete Situation gebunden.). Selbstverständlich ist in diesem Falle festzuhalten, dass zur Wahrnehmung eines ‘Konkreten’ eine kulturell kodierte, vorgängige Wahrnehmungs- und Unterscheidungssemantik vorliegen muss, damit ein ‘Konkretes’ als ‘Konkretes’ erkannt wird. Das heißt, es muss kulturell kodiert sein, dass etwas als etwas wahrgenommen wird, das für nichts anderes als für sich selbst steht. Ohne die damit verbundenen epistemologischen Fragen auch nur anzureißen, geschweige denn klären zu können, soll hier pragmatisch nur von Bedeutung sein, dass sich ein ‘Konkretes’ in einem gewissen Sinne auf der Ebene der Beziehung von Zeichenträger und Objektbezug aus der Perspektive des Objektbezugs als Form der Selbstreferenz bestimmen lässt und aus der Perspektive des Zeichenträgers in der Kommunikation über das vermeintlich Konkrete als Herstellung einer Tautologie: Ein ‘Konkretes’ ist aus der Perspektive des Referenten und damit der Bedeutung selbstreferenziell, weil es nichts anderes außer sich selbst bedeutet; ein ‘Konkretes’ ist aus der Perspektive des Signifikanten/ des Zeichenträgers die Bildung einer Tautologie über einem als solchen konstruierten Referenzsystem außerhalb der Zeichen, auf das sich der in ein Zeichensystem eingebundene Zeichenträger in einer kulturellen Zuordnungsrelation bezieht. In diesem Zusammenhang sind die beiden zentralen Effekte zu benennen, die ein ‘Konkretes’ erzeugt: i) Ein ‘Konkretes’ signalisiert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Signifikant und Referent und lässt sich damit als - zumindest rudimentäre - indexikalische Beziehung definieren, die scheinbar kausal, authentisch und unverstellt auf als solche kodierte reale Qualitäten verweist. ii) Umgekehrt (zer-)stört das ‘Konkrete’ als selbstreferenziell so Seiendes zugleich die Repräsentationsfunktion zwischen Zeichenträgern und ihren Bedeutungen in geordneten Zeichensystemen, weil sich das ‘Konkrete’ als Tautologie unmittelbar übergeordneten Sinngebungs- und Bedeutungsmustern entzieht. Gerade hierin liegt aus der Perspektive der in sekundären semiotischen Systemen entworfenen Vorstellungsräume das semantische Potenzial des ‘Konkreten’: i) Entweder das ‘ Konkrete’ erhöht den Spezifikationsgrad der dargestellten Welt, weil sich vorhandene Signifikate nicht in die übergeordneten Deutungs- und Sinnmuster der erzählten Geschichte und ihrer Metaphoriken einbinden lassen; ii) oder aber das ‘Konkrete’ bricht die übergeordneten Muster der Sinngebung auf, die innerhalb der erzählten Werte und Normen und Sinn gebender Metaphoriken in Literatur und Film jeweils konkret entwickelt werden. Hier entzieht sich das ‘Konkrete’ seiner Benennbarkeit, seiner sprachlichen Erfassbarkeit und Kommunizierbarkeit; es macht die kommunikative Ebene der Zeichen, denen es sich entzieht, als artifiziell und kulturell konstruiert bewusst. Im Falle der als Realitätseffekt benannten hypertrophen Ausgestaltung der dargestellten Welt ist semantisch eine Überdeterminierung zu konstatieren, das heißt, es werden mehr signifikante Terme realisiert als zur Determinierung eines Signifikates notwendig sind; 5 im anderen Falle wird durch die Konfrontation des ‘Konkreten’ mit dem Zeichenhaften eine Desemantisierung der dargestellten Welt erreicht, die im Extremfall als Dekonstruktion nicht nur in der ‘konkreten Poesie’, sondern auch in der als ‘postmodern’ etikettierten Philosophie und in ebenso klassifizierten postmodernen Medienprodukten Verwendung findet. 6 Jan-Oliver Decker 254 3. Das ‘Konkrete’ und seine Anschlusssemiosen Sowohl bei der Überdeterminierung als auch durch die Desemantisierung der dargestellten Welt kann eine umfassende und große Quantität des ‘Konkreten’ in konkret vorliegenden sekundären modellbildenden Zeichensystemen als Entropie jeweils in eine paradigmatische Qualität des ‘Konkreten’ umschlagen: Wenn nämlich nur noch eine schiere Aneinanderreihung desemantisierter Signifikanten vorliegt oder nur nicht über sich auf abstrakte Signifikate verweisende Referenten angehäuft werden, dann wird ein semantisches “Rauschen” erzeugt. Wenn kein übergeordneter narrativer oder metaphorischer Kontext als Bezugspunkt des vorliegenden ‘Konkreten’ mehr erkennbar ist, dann fehlt die Folie, auf deren Hintergrund das ‘Konkrete’ überhaupt als ein ‘Konkretes’ wahrgenommen werden kann. Wenn die Quantität des ‘Konkreten’ auf die Weise überhandnimmt, dass ein umgebendes, semantisches Bezugsystem, das durch semantische Berührung einen Sinnhorizont ausbildet, wegfällt oder nicht erkennbar ist, dann fällt das ‘Konkrete’ aus den kulturellen Unterscheidungssemantiken heraus und versinkt sozusagen hinter dem Horizont seiner möglichen Wahrnehmung. Wenn nur noch ‘Konkretes’ vorliegt, das auf nichts anderes als auf sich selbst verweist, dann ist das einzelne ‘Konkrete’ nicht mehr als diskrete Einheit wahrnehmbar, die sich semantisch von anderem unterscheidet. Damit gilt umgekehrt: Das ‘Konkrete’ erlangt nur auf der Folie eines semantischen Bezugsystems, das narrativ oder metaphorisch erzeugt wird, überhaupt den Status eines (potenziellen) Zeichens, das als distinkte Einheit von einem kohärenten Sinnzusammenhang unterschieden werden kann. Das ‘Konkrete’ ist also etwas, was sich nicht ontologisch oder absolut bestimmen lässt, sondern das ‘Konkrete’ ist etwas, das sich nur immer in Relation und vor allem relativ zu einem bedeutungshaften, Sinn stiftenden Kontext konstituiert und erst durch höher strukturierte, mit kohärenter, verweisender Bedeutung versehene Kontexte ex negativo als ‘Konkretes’ identifiziert und klassifiziert werden kann. Das ‘Konkrete’ ist also als solches nur auf der Folie eines es umgebenden, mittelbar im Verhältnis zum ‘Konkreten’ komplexeren semantischen Kontextes lesbar. Das ‘Konkrete’ ist also gerade keine - pointiert formuliert - bedeutungslose semantische “Hintergrundstrahlung”, sondern das ‘Konkrete’ ist vielmehr etwas, was in sinnhafte, umgebende Strukturen nur scheinbar nicht eingebunden ist, aber seine Eigenschaft des ‘Konkreten’, seine Schwelle zur Zeichenhaftigkeit, gerade erst durch diesen rahmenden semantischen Kontext erhält. Damit lässt sich das ‘Konkrete’ zwar nicht extensional oder intensional exakt, aber als relationale Struktur bestimmen: Das ‘Konkrete’ ist eine diskrete Einheit, die selbstreferenziell sich selbst bedeutet und sich nur auf der Folie eines relational zum ‘Konkreten’ komplexer strukturierten, nämlich über sich hinausweisenden semantischen Zeichengeflechts erkennen und lesen lässt. Das Konkrete wird sozusagen erst durch den umgebenden semantischen Kontext als ‘Konkretes’ markiert. Die Eigenschaft der Struktur des ‘Konkreten’, nur auf der Folie eines strukturierten semantischen Netzes erkennbar und deutbar zu sein, bedingt, dass das ‘Konkrete’ vor allem ein Grenzphänomen ist: Das ‘Konkrete’ markiert in seiner Eigenschaft der semantischen Nicht- Eingebundenheit und der selbstreferenziellen Bezugnahme die Grenzen einer kohärenten Vorstellungswelt. Das ‘Konkrete’ stellt sozusagen einen Bruch mit den semantischen Konventionen dar, die der konkret vorliegende literarische oder filmische Text als geltenden Standard setzt und denen das ‘Konkrete’ sich widerständig entzieht. Das ‘Konkrete’ verhandelt auf diese Weise den Gültigkeitsbereich des semantischen Bezugsrahmens, in den es eingebunden ist. Genau hier liegt eine der wesentlichen Funktionen des ‘Konkreten’ in Eine Einführung 255 Literatur und Film als sekundäre semiotische Systeme: Das ‘Konkrete’ ist eine relative Kategorie, die relational als Kontaktphänomen die Grenzen semiotischer Systeme und die Grenzen sekundärer und kulturelles Wissen verarbeitender Vorstellungswelten thematisiert. Als ‘Konkretes’, das sich zunächst einer kohärenten Deutung entzieht, provoziert das ‘Konkrete’ auf der Folie übergeordneter narrativer und metaphorischer Sinnzusammenhänge geradezu seine konsistente Einbindung in einen übergeordneten Bedeutungszusammenhang. Das ‘Konkrete’ in Literatur und Film erzeugt gleichsam einen systeminternen Widerspruch, indem es sich der Eigenschaft des sekundären semiotischen Systems zu entziehen scheint, überstrukturierende, Sinn stiftende Modelle auszubilden. Das ‘Konkrete’ evoziert damit in sekundären semiotischen Systemen die Suche nach Anschlusssemiosen, in denen sich das vordergründig ‘Konkrete’ nur als ein scheinbares erweist, das sich rückwirkend prozessual in neue, erst zu findende, neu zu abstrahierende, neu hinzuzuziehende semantische Bezugssysteme integrieren lässt. Genau dies ist die kulturelle produktive Eigenschaft des ‘Konkreten’: Das ‘Konkrete’ fordert in sekundären semiotischen Systemen dazu heraus, in einer prozessualen Anschlusssemiose entweder einen übergeordneten neuen narrativen oder metaphorischen semantischen Bezugrahmen zu suchen, der auch über den konkreten Text hinaus auf Kontexte verweist, in die das (als sekundär konstruierter Texteffekt verstandene ‘Konkrete’ (im konkreten) Text eingebunden ist. Das ‘Konkrete’ fordert dazu heraus, von der Selbstreferenz im Text auf eine Fremdreferenz des Textes zu seinen Kontexten umzuschalten, ohne dass die neuen Bezugsysteme schon im Text kohärent mitbedeutet werden (müssen). Das ‘Konkrete’ provoziert - überspitzt formuliert - seine Semiotisierung und Narrativierung in einer Anschlusssemiose, ohne dass diese Narrativierungen und Semiotisierungen eindeutig rein aus dem manifesten textuellen Material evozierbar sind. Vielmehr ermöglicht gerade die Selbstreferenz des ‘Konkreten’, dass die Grenzen des einen semantischen Bezugrahmens, auf dessen Folie sich das ‘Konkrete’ ereignet, mit vielen anderen semantischen Bezugsystemen polyvalent interagieren können. Wo Semiotisierung und Narrativierung als explizite textinterne Verfahren genau eine kohärente Bedeutungs- und Tiefenstruktur konstituieren, da ermöglicht das ‘Konkrete’ den vielfältigen Abgleich mit ganz unterschiedlichen semantischen textexternen semantischen Bezugsystemen. Gerade hier zeigen sich zwei für die mentalitätsgeschichtliche Funktion von sekundären semiotischen Systemen zentrale Eigenschaften des ‘Konkreten’: i) Das ‘Konkrete’ kann der Kalibrierung und Eichung eines semantischen Bezugssystems dienen. Das ‘Konkrete’ markiert, was in einer Kultur kohärent in ein bestimmtes semantisches Bezugsystem integriert werden kann und was nicht. ii) Darüber hinaus ermöglicht das ‘Konkrete’ (wohl vor allem) in Zeiten kulturellen Umbruchs, wenn sich die Systeme des Denkens und Argumentierens verändern und sich damit das Denksystem einer Kultur transformiert, dass durch den Aufbruch semantischer Bezugsysteme durch das ‘Konkrete’ vielfältige neue Bezugnahmen, neue Narrativierungen und damit neue kulturelle Semiotisierungen vorgenommen werden können. Ein Text kann auf diese Weise mittels des ‘Konkreten’ gehäuft in strukturellen Umbruchphasen textueller Systeme beliebige Anschlusssemiosen erzeugen, um sich als geschlossenes semantisches Bezugssystem und als semiotisches System abzugrenzen und gerade selbst nicht beliebig zu sein. In Bezug zu den Kontexten, die das selbstreferenzielle ‘Konkrete’ in eine Referenz auf neue semantische Bezugssysteme umdeuten, dient das ‘Konkrete’ damit der Kontingenzvermeidung: Semiotisierung und Narrativierung des ‘Konkreten’ dienen der Aushandlung kultureller Werte und Normen, indem neu auf die Diskurse und das Denksystem Bezug genommen und diese verarbeitet werden. Dies zeigt sich beispielhaft gerade immer wieder im Umgang mit Sexualität und Gewalt in sekundären semiotischen Systemen, die in Form der Zensur als einer kulturell Jan-Oliver Decker 256 relevanten Anschlusskommunikation an das literarische und filmische ‘Konkrete’ dem rechtswissenschaftlichen Diskurs unterworfen werden. 7 4. Die Beiträge dieses Bandes Die vorliegenden Beiträge dieses Bandes gehen alle von konkreten literarischen und audiovisuellen Beispielen aus und zeigen mehr oder weniger explizit auf, dass das ‘Konkrete’ vor allem der Verschleierung des Konstruktions- und Zeichencharakters des als Texteffekt konstruierten ‘Konkreten’ dient. Das nur als Texteffekt konstruierte ‘Konkrete’ ermöglicht (scheinbar) die Thematisierung des bisher nicht Thematisierbaren: Argumentation wird dabei durch Evidenz ersetzt. Beispielsweise zeigt Michael Müller in seiner Einzelanalyse von Cormack McCarthys No Country for Old Men, dass sich die für die dargestellte Welt konstitutive, paradigmatische Gewalt Semiotisierungen und narrativen Mustern der Sinngebung entzieht. Michael Titzmann konzentriert sich dagegen in seiner Korpus-Analyse des französischen philosophisch-pornographischen Romans der Aufklärung auf literaturinterne Prozesse um zu zeigen, auf welche Weise in konkrete Sprache überführte konkrete Sexualität der konsistenten Etablierung liberaler und aufgeklärter Werte und Normen dient, die in extremer Opposition zu religiösen Werten und Normen der Produktionszeit der Romane stehen und kohärent alternative Semiotisierungen von Sexualität in die Kultur einspeisen. Gerade diejenigen Beiträge, die Beispiele innerhalb epochaler Umbruchphasen aufgreifen, arbeiten dabei die prozessualen Semiotisierungen des ‘Konkreten’ heraus: Andreas Blödorn und Madleen Podewski weisen in ihrem Beitrag über Lenz’ Komödie Der Hofmeister nach, dass ‘Konkretes’ in der Interaktion von Nebentext und Figurenrede textintern ermöglicht, in Krisenzeiten zwischen Selbst- und Fremdreferenz als Lösungsstrategie für textintern nicht anders lösbare Aporien umzuschalten, wodurch seinerseits die Komödie selbst als Text einer Umbruchphase kenntlich wird. Susanne Reichlin fokussiert in ihrer Untersuchung der beiden Mären Die Wolfsgrube von Rosenplüt und Herrands von Wildonie Treuer Gattin fortlaufende Konkretisierungen von Metaphoriken, die ihrerseits spezifische Topoi und narrative Muster tradierter und etablierter Textsorten verarbeiten, um durch kontinuierliche Prozesse der Übertragung und Fortschreibung literarisches Wissen prozessual zu verdichten und zu reflektieren. Der Beitrag von Thomas Sing geht hier insofern einen Schritt weiter, als er ausgehend von fotografischen Beispielen in einer minutiösen Anwendung der Peirceschen Semiotik das ‘Konkrete’ als fortlaufenden Prozess der Verschiebung von Bedeutung offenlegt, der sich in postmoderne Theoriebildungen einbinden lässt. Stephanie Großmanns Korpusanalyse von Operninszenierungen Calixto Bieitos zeigt dagegen umgekehrt, dass sich Libretto, Musik und Visualisierung gerade aus der Perspektive konkret inszenierter, umdeutender und semiotisierender Gewalt- und Sexualakte kohärent zu einer konkret identifizierbaren, künstlerischen Handschrift eines Regisseurs verdichten. Ähnlich verfährt auch der Beitrag von Magdolna Orosz, der anhand ausgewählter Erzählungen Schnitzlers dessen epochenspezifische Stellung in der Literatur der Frühen Moderne auf der Basis der konkreten Ausstattung der jeweils spezifisch dargestellten Welten und ihrer zugleich metaphorischen und übertragenen Lesart verdeutlicht. Überraschenderweise kommen die Beiträge von Eckhard Pabst und Christian Vittrup jeweils in Einzelanalysen aktueller Filmproduktionen zu vergleichbaren Ergebnissen im Film: Eckhard Pabst beschäftigt sich in Detlev Bucks K NALLHART mit dem Verhältnis von (innerfil- Eine Einführung 257 misch) konkreter Jugendgewalt und ihrer (innerfilmischen) Medialisierung durch Handyvideos, das als Kreislauf gedacht wird, der nur durch Referenzunterbrechung aufgehoben werden kann. Christian Vittrup untersucht am Beispiel von Eli Roths H OSTEL aus der Perspektive des Horrorfilmgenres, wie die Darstellung konkreter Gewalt auf der Folie von Gattungswissen in H OSTEL als metafiktionales Element gelesen werden kann, wie also das ‘Konkrete’ im Film und des Films durch ein übergeordnetes kulturelles Wissen in einer (wissenschaftlichen) Anschlusskommunikation semiotisiert werden kann. Die Reihenfolge der Beiträge orientiert sich an der medialen Verfasstheit der untersuchten Beispielstexte, ihrer Chronologie und versucht einen argumentativen Bogen nachzuvollziehen: Eröffnet wird der Band von Thomas Sings detaillierter, semiotischer Beschreibung eines ‘Konkreten’ auf einer mikrostrukturellen Ebene. Der hier herausgearbeitete Prozess der Bedeutungsverschiebung findet sich aus einer rhetorischen Perspektive ähnlich in Susanne Reichlins Studie, die mit ihren Mären darüber hinaus die chronologisch frühesten literarischen Beispiele der Literatur untersucht. Es folgen nach der Chronologie ihrer untersuchten literarischen Beispiele die Beiträge von Michael Titzmann, Andreas Blödorn und Madleen Podewski, der Beitrag von Magdolna Orosz und derjenige von Michael Müller. Stephanie Großmanns Artikel zu Operninszenierung, der Untersuchungen von Libretto, Musik und Inszenierung verbindet, leitet über zu den beiden filmanalytischen Beiträgen von Eckhard Pabst und Christian Vittrup, die den Band beschließen. Literaturverzeichnis Barthes, Roland 2006: “Der Wirklichkeitseffekt”, in Ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 164-172. [Erstdruck 1968] Barthes, Roland 2007: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Erstdruck 1977] Decker, Jan-Oliver 2005: Madonna: “Where’s That Girl? ” - Erotikkonzeption und Starimage im medialen Raum, Kiel: Ludwig (= LIMES - Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien - KIEL, 3). Decker, Jan-Oliver 2007a (ed.): Erzählstile in Literatur und Film, Tübingen: Gunter Narr (= Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol. 30, No. 1-2). Decker, Jan-Oliver 2007b: “Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘Postmoderne’ am Beispiel von Michel Gondrys E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (V ERGISSMEIN - NICHT , USA 2004)”, in: Derselbe 2007a: 153-175. Decker Jan-Oliver und Hans Krah (eds.) 2008: Zeichen(-Systeme) im Film, Tübingen: Stauffenburg (= Zeitschrift für Semiotik Band 30, Heft 3-4). Decker, Jan-Oliver 2009: “Frank Wedekinds Lulu. Der Erdgeist. Die Büchse der Pandora”, in Hans-Edwin Friedrich (ed.): Literaturskandale, Frankfurt a.M.: Peter Lang: 87-112. Eco, Umberto 1991 7 : Einführung in die Semiotik, München: W. Fink Vlg. (=UTB 105). [Erstdruck 1968] Gomringer, Eugen 2005 (ed.): konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie, Stuttgart: Reclam (= Reclams Universal-Bibliothek, 9350). Roman Jakobson 1971: “Linguistik und Poetik”, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 142-178. 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[zuerst 1972] Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler. Petersen, Christer 2003: Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel, Robert Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr, Kiel: Ludwig. Michael Titzmann 2003: “Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft - Literatursemiotik”, in: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin/ New York: de Gruyter: 3028-3103. Anmerkungen 1 Vgl. zu sekundären semiotischen Systemen allgemein Lotman 1993, zur Literatursemiotik grundlegend Titzmann 2003 und einführend Krah 2006. Vgl. zum Zeichensystem Film zuletzt Kanzog 2007 und Decker/ Krah 2008. 2 Vgl. zur konkreten Poesie Gomringer 2005 und zur poetischen Funktion Jakobson 1971. 3 Vgl. Barthes 2006. 4 Vgl. Nöth (2000: 139f.) und allgemein Eco 1991. 5 Vgl. Decker 2005: 141f. 6 Vgl. beispielhaft Barthes 2007, vgl. zur postmodernen Literatur Petersen 2003, vgl. zur Postmoderne als Oberflächenphänomen im Film Decker 2007b. 7 Vgl. einführend zur Zensur Kanzog 2003; vgl. am Beispiel von Wedekinds Lulu eine konkrete Zensurgeschichte aus der Perspektive des Literaturskandals Decker 2009.