eJournals Kodikas/Code 40/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
401-2

Immersion und Metalepse – von Sprüngen aus der virtuellen Welt

2017
Matteo Riatti
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt Matteo Riatti (Stuttgart) With their gameplay and their narrations videogames are putting gamers under their spell. To enhance this immediate experience, graphic techniques are used to render the medium itself invisible. However, this trend towards realism has since been juxtaposed by self-referential ludic or narrative elements in gaming. This article follows the assumption, that immersion does not depend on the videogame hiding its fictionality. Therefore, all examples of ‘ metalepsis ’ which address the framing of a narration and paratextual elements in virtual worlds will be analyzed. 1 Es ist doch nur ein Spiel In seinem ersten Abenteuer hat der Möchtegern-Pirat Guybrush Threepwood gestohlen, geplündert, gelogen und geraubt. Alles, was einen echten Piraten im Slapstick-Adventure The Secret of Monkey Island (Lucasfilm Games 1990) ausmacht. Nachdem er den bösen Geisterpiraten LeChuck besiegt hat, stellt er gegenüber seiner Angebeteten Elaine Marley fest, dass er gereift ist: “ At least I learned something from all of this … Never pay more than 20 bucks for a computer game. ” Es ist die Schlusspointe des ersten Computerspiels einer Reihe, die in mehreren Ablegern mit der vierten Wand bricht und keinen Hehl um die eigene Fiktionalität macht. Im zweiten Teil LeChuck ’ s Revenge (Lucas- Arts 1991) setzt sich diese Art des Humors fort, wenn sich Guybrush im Dschungel von Dinky Island verläuft und zur Hilfe die Servicehotline des Entwicklerstudios Lucas- Arts anruft. Guybrushs Einfall ist clever: Für die Figur gibt es keine mächtigere Instanz als seinen Autor. Dort darf sich Guybrush sogar persönlich über einen Streich beschweren, der ihm von den Entwicklern im ersten Teil gespielt wurde. Zu seinem Unglück sind die Witze in Monkey Island darauf ausgelegt, jede Erwartungshaltung zu enttäuschen. So Abb. 1: The Secret of Monkey Island (Lucasfilm Games 1990, eigener Screenshot) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [158] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL werden Beschwerde und Hilfegesuch zynisch quittiert und die Anrufung des eigenen Schöpfers bleibt unbeantwortet. Die Pointe ist dann, mit der lebhaften und unbeirrbaren Art des tollpatschigen Protagonisten daran zu erinnern, dass alles nur ein Spiel ist. Wie verhält es sich bei einem Bruch mit der vierten Wand, wenn die Spielfigur aus dem Werk hinaustritt, um sich Vorteile zu verschaffen? Ist der Spieler dann sein eigener Autor? Gerade durch diese an das Videospiel oft herangetragenen Fragestellungen erscheint es sinnvoll, die grundlegende Struktur von Videospielen zu erläutern und sie am Beispiel der Metalepse als narrativem Stilmittel in den Kontext von literaturwissenschaftlichen Theorien zu stellen. Die zentrale Frage, der hier nachgegangen werden soll, ist dabei, welche Funktionen die Metalepse für die Semantik des Videospiels haben kann. 2 Von Rahmen und Regeln des Videospiels Die Game Studies sind als Videospielwissenschaften im Spannungsfeld zwischen Spiel- und Literaturwissenschaften entstanden. Dass die Felder als verwandt angenommen wurden, liegt vermutlich im Untersuchungsgegenstand: Die Avantgarde der Videospiele hat seit den 1980er Jahren Geschichten in spielerische Systeme eingebettet. Schon die namhafte Reihe Ultima (Origin Systems 1981) setzt seit 1981 konstant auf die narrative Struktur der Heldenreise und wurzelt so in einer Struktur klassischer Erzähltheorie. 1 Heute ist es in Spieler- und Journalistenkreisen gängig, Videospiele danach zu unterscheiden, ob Sie eine Story und einen Plot haben oder nicht. Jenseits des Vorhandenseins einer narrativen Struktur sind Videospiele aber zunächst einmal und zuerst Spiele: Sie werden auf einem Computer realisiert und mit seiner Hilfe dargestellt. Der Computer ist wie das Brett beim Brettspiel die Plattform für die spielerische Praxis. Jenseits narrativer Kurzschlüsse zwischen zwei Erzählebenen ist damit die Frage nach der Metalepse im Videospiel also auch die Frage nach der Metalepse im Spiel allgemein: Kann es Metalepsen geben, wenn in Videospielen keine narrativen Strukturen im Sinne von Erzählebenen vorliegen, beispielsweise aber scheinbar inszeniert wird, dass sich Videospielrealität und Realität des Spielers vermischen? Problemfrei lässt sich der Begriff des literarischen Stilmittels dementsprechend nicht auf die Welt des Spiels übertragen, denn Spiele sind Spiele und Narrationen sind Narrationen. Abb. 2: Monkey Island II: LeChuck ’ s Revenge (LucasArts 1991, eigener Screenshot) 1 Joseph Campbells Struktur der Heldenreise liest sich schon wie ein Klappentext für Videospiele des RPG (Role-playing-Game)-Genres (cf. Campbell 1968: 30): “ A hero ventures forth from the world of common day into a region of supernatural wonder: fabulous forces are there encountered and a decisive victory is won: the hero comes back from this mysterious adventure with the power to bestow boons on his fellow man. ” Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 159 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [159] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Aber Spiele können Narrationen sekundär hervorbringen. Mit literaturwissenschaftlichem Inventar haben sich Espen Aarseth und Gonzalo Frasca damit auseinandergesetzt, wie Narrationen im Spiel entstehen (cf. Aarseth 1997: 1 − 23, Aarseth 2013; Frasca 1999). Aarseth greift dabei auf das von Mikhail Bachtin entwickelte Konzept des Chronotopos (cf. Bachtin 2008) zurück. Wenn der Autor eines Romans seinen Protagonisten in eine Welt mit ihren eigenen Ordnungssätzen und Regeln stellt, dann entscheidet der Autor für den Pfad des Helden. Beim Spiel liegt die Handlungsfreiheit dagegen scheinbar privilegiert beim Nutzer, der sich mit begrenztem Freiraum bewegen kann und seinen eigenen Pfad durch die Geschichte erspielt. Was sich bei sowohl Spielen als auch bei Narrationen jeden Mediums abzeichnet ist, dass sich die Handlung in einem Rahmen abspielt. Dieser Rahmen wird beim Spiel als ‘ Regelwerk ’ bezeichnet und beim Roman als ‘ Diegese ’ . Die dargestellte Welt ist einer Ordnung unterworfen, die sämtliche Bedeutungsträger strukturiert und untereinander hierarchisert. Werke des Films, der Literatur, der Kunst oder Spiele bestehen als in sich geschlossene, semiotische Konstrukte. Sie bauen auf der Sprache als primärem Zeichensystem auf und modellieren so sekundär den Entwurf einer eigenen Welt. Die Anordnung von Zeichen auf der Ebene der Syntax ergibt den Text: das heißt eine bedeutungstragende Textur. Während der Text bei einem geschriebenen Buch in gedruckter Form vorliegt, so wird er im Videospiel erst im Verlaufe produziert - man könnte sagen, aus einer Datenbank an Möglichkeiten abgerufen. An der Produktion des Textes wird der Spieler im Videospiel wohl beteiligt, zum Autor macht ihn das jedoch nicht. Es ist nur eine Illusion von Freiheit, da er sich doch durchgehend auf den Schienen des Regelwerks befindet, die ihn auf den vorprogrammierten Pfaden halten. Jedes Kunstwerk hat einen Rahmen. Also eine Grenze, die es nach außen hin trennt. Diese Grenze ist jedoch nicht der Rahmen des Gemäldes, der Rand der Kinoleinwand oder der Bildschirm. 2 Die eigentliche Grenzüberschreitung hinein in das Kunstwerk bezeichnet Kendall Walton als make-believe, also die willentlichen Annahme seiner Requisiten (props) und ihrer Regelgebundenheit. 3 In der Fiktion wird eine Sphäre aufgebaut, wie eine Spielsphäre, deren Betreten nur im Verständnis seiner Regeln und damit auch seines 2 Videospiele wie World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004) zeigen, dass eine Spielwelt ungebunden von einem Spielgerät existieren kann. Auch wenn der Computer aus ist, ist das Spiel nicht zu Ende. Die einzelnen Spielsessions sind natürlich an den Computer gebunden, aber wirklich austreten aus World of Warcraft kann der Spieler nur, wenn er sich entschließt, nicht mehr ein Teil der Welt zu sein und dem Spiel sozusagen abschwört. 3 Kendall stellt das ‘ make-believe ’ in den Vordergrund seiner Untersuchung der Formen Kunst, Literatur und etwa Film (cf. Walton 1993: 4): “ What all representations have in common is a role in ‘ make-believe ’ . Makebelieve, explained in terms of imagination, will constitute the core of my theory. ” Fiktion entsteht durch das ‘ ins Leben Rufen ’ der Vorstellung, die einem ein Kunstwerk anbietet oder nahelegt. Chris Bateman beruft sich auf Kendall, wenn er das Konzept auf Videospiele überträgt (cf. Bateman 2011: 70 f.): “ The principle contribution I am attempting to make via this exposition of the make-believe theory of representation is to show how it applies to board games, digital games, role-playing games and many other kinds of play that tend to fall into that gigantic crevasse between toy and art such that the esteem implied by the term ‘ art ’ is all too often denied to them. [ … ] [V]ia Walton ’ s theory [ … ] we can understand representational art as a kind of game. ” 160 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [160] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Rahmens gelingt. 4 Bedeutung erschließt sich demjenigen, der die Kodes kennt. Was bei einem Renaissancegemälde also ein Verständnis für Perspektive bedeutet, bedeutet im Roman die Kenntnis der Sprache und im Spiel die Kenntnis des Regelwerks. Die Bereitschaft, sich auf kulturelle Regeln einzulassen, und die eigene Erfahrung mit dem Kunstwerk spielen also eine Rolle für den Grad an ‘ Echtheit ’ , den der Rezipient erfährt. Wenn der Rezipient den Entwurf mit Bedeutung auflädt, dann ruft er die dargestellte Welt ins Leben: Der Leser durchdringt den Text, der Kinogänger vergisst die verstreichende Zeit, der Videospieler bedient un- oder unterbewusst den Controller und der Museumsbesucher verharrt für Minuten über Minuten vor einem Kunstwerk. Der Rezipient wird in das Werk ‘ hineingesogen ’ . Diese Immersion ist für alle Formen der Darstellung gegeben, ungeachtet des Grades medialer Simulation von ‘ Echtheit ’ . Denn die Fiktion entsteht nicht in der täuschenden graphischen Darstellung des Videospiels oder des Films, sondern im Kopf des Rezipienten. 5 Manch einer verliert sich mehr im Buch als er sich im Film verliert und umgekehrt. Gerade beim Spiel wird evident, dass die Regeln erst Bedeutung konstituieren. Was denkt man von einer Person, die sich konzentriert in redundanter Handlung beschäftigt? Wer jemals einen Menschen beobachtet hat, dessen Handeln partout keinen Sinn ergeben wollte, hat wohlwollend unterstellt, er spiele ein Spiel. Andernfalls müsste man die Person für verrückt halten. Und so falsch ist der Vorwurf nicht, Spielende als verrückt zu bezeichnen. Denn das Spiel ist eine in sich geschlossene, zweckfreie (aber nicht nutzlose) Beschäftigung. 6 Was machen Fußballspielende? Sie schieben einen Ball über eine Linie und bezeichnen dies als ein Tor. Und danach? Danach wiederholen sie das Ganze und freuen sich, Hände in die Höhe werfend, über die Redundanz ihres Handelns. Die Regeln eines Spiels konstruieren die Struktur, aus der die Bedeutung entspringt. Wer die Regeln kennt - explizit oder implizit - versteht das Handeln. Und nicht anders verhält es sich bei Filmen, der Literatur oder der Kunst. Die Bedeutung liegt in der Entschlüsselung der Struktur. 3 Von Metalepsen und Brüchen Eine implizite Regel ist also der Rahmen des Werkes. Der Leser nimmt an, die Figuren seien Teil ihrer Welt. Bei der Metalepse entflieht eine Figur dem Rahmen der sie konstituierenden 4 Roger Caillois definiert das Spiel als regelgeleitete Fiktion (cf. Caillois 1967: 43): “… le jeu [est] une activité: [ … ] reglée: soumise à des conventions qui suspendent les lois ordinaires et qui instaurent momentanément une législation nouvelle, qui seule compte; [et] fictive: accompagnée d ’ une conscience spécifique de réalité seconde ou de franche irréalité par rapport à la vie courante. ” 5 So Umberto Eco (cf. Eco 1979: 52): “… un testo vuole lasciare al lettore l ’ iniziativa interpretativa, anche se di solito desidera essere interpretato con un margine sufficiente di univocità. Un testo vuole che qualcuno lo auiuti a funizionare. “ 6 Die Isoliertheit der spielerischen Sphäre kommt etwa in Johann Huizingas Spieldefinition zum Ausdruck (cf. Huizinga 1991: 37): “ Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‘ Andersseins ’ als das ‘ gewöhnliche Leben ’ . ” Die Zweckfreiheit spielerischen Handelns bezieht sich auf die spielerische Zielsetzung, die in sich geschlossen ist. Dies ist auf keinen Fall mit Nutzlosigkeit gleichzusetzen (cf. Scheuerl 1975). Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 161 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [161] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Struktur und stellt damit auch die Zwänge und Regeln der eigenen Welt in Frage. 7 Dieses Verlassen des Werkes stellt auf der Oberfläche einen Regelbruch dar. Jedoch verlässt die Spielfigur oder der Protagonist nie wirklich das Werk. Die Metalepse ist schließlich ein vom Autor implementiertes Stilmittel. Und frei ist die Figur auch nicht: Sie bewegt sich weiterhin im Rahmen der Geschichte, in der ihr die Möglichkeit zur Metalepse eingeräumt wurde. Für die Metalepse im Videospiel würde das bedeuten, dass die eingeschriebene Möglichkeit zum Bruch mit zuvor gesetzten Regeln nur eine weitere Regel über den kontrollierten Bruch mit besagten Regeln ist. Das bedeutet: dem Spieler wird das Gefühl der Wirkmacht gegeben, wo er keine hat. Ein Beispiel dafür ist das Spiel Deadpool (High Moon Studios 2013). Der Videospielheld aus der gleichnamigen Comicreihe macht sich seine Superkraft - mit der vierten Wand zu brechen - zum Vorteil und umgeht gefährliche Hindernisse, indem er auf eigens gesprochene Sprechblasen klettert. Deadpool manipuliert so seine Umwelt, indem er die vermeintliche Autorenposition einnimmt und sich selbst aus gefährlichen Situation herausschreibt. Wirkmacht wird dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt auf den Spieler übertragen: die Geschichte sieht vor, dass Deadpool derart schummelt. Die Metalepse ist Teil des Regelwerks. Der Bruch mit der vierten Wand ist ein Bruch mit den Konventionen, aber kein tatsächliches Heraustreten aus dem Werk. Damit impliziert die Metalepse, dass das zuvor ausgemachte Regelwerk nicht vertrauenswürdig ist. Die vollständige Willkür einer Autoreninstanz erfährt der Spieler von The Stanley Parable (Galactic Cafe 2013). Hier wird der Protagonist Stanley zum Sklaven des Erzählers, der die Geschichte in scheinbar beliebiger Art und Weise umschreibt. Das Spiel fängt damit an, dass der Büroangestellte Stanley - seine Aufgabe besteht darin, nur Knöpfe zu drücken, die ihm das Programm seines Rechners abverlangt - vom Arbeitsplatz aufsteht und seinen Büroraum verlässt. Eine Stimme aus dem Off begleitet Stanleys Vorhaben und kommentiert den Weg, den er einschlägt. Weicht Stanley von seinem vorgegebenen Pfad ab, so empört sich der Erzähler und zwingt Stanley zurück, spielt ihm Streiche oder startet das Spiel einfach von vorne (Es hätte ja keinen Sinn, wenn Stanley nicht gehorche.). The Stanley Parable hat auch kein eigentliches Ende. Achtzehn verschiedene Pfade führen zwar zum Beenden einer Spielsession, aber dem Spieler erschließt sich schnell das eigentliche Ziel des Spiels: Die Erkenntnis, dass es kein Ziel gibt. Und schließlich muss der Spieler auch noch feststellen, dass er wie Stanley im Büro nur ein Sklave des Spiels ist, das von ihm die Eingaben verlangt, die über den Bildschirm angefordert werden. 7 Erving Goffman bezeichnet wie Kendall das ‘ make-believe ’ als Annahme spielerischer Fiktion (cf. Goffman 1976: 43): “‘ Make-believe ’ : By this term I mean to refer to activity that participants treat as an avowed, ostensible imitation or running through of less transformed activity, this being done with the knowledge that nothing practical will come of the doing. The ‘ reason ’ for engaging in such fantasies is said to come from the immediate satisfaction that the doing offers. A ‘ pastime ’ or ‘ entertainment ’ is provided. ” In der Fiktion ist bei Goffman die Rede vom “ keying ” - der Modulation des primären Rahmens. Das bedeutet, dass sich der angenommene Bezugspunkt für die Interpretation, wandelt (cf. Goffman 1976: 44): “ I refer here to the set of conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary framework, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite else. ” Der Bruch mit der vierten Wand stellt dann ein “ downkeying ” dar, da die Figur den Rahmen der eigenen Diegese aufzeigt und damit alles zuvor Gezeigte in einen fiktiven Kontext stellt, während das Publikum zuvor von seiner Unwissenheit über die Fiktion ausging. 162 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [162] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 3: The Stanley Parable (Galactic Cafe 2013, eigener Screenshot) „ Alright, I have got a solution. This time, to make sure we don ’ t get lost, I have employed the help of the Stanley Parable Adventure Line. Just follow the line. How simple is that? ” - folgt der Spieler gehorsam der Linie, so endet er dennoch in einer Sackgasse. Der Erzähler stellt empört fest, dass auch er von der Adventure Line betrogen wurde. In The Stanley Parable verliert auch der Erzähler, vermeintlicher Autor von Stanleys Geschichte, die Kontrolle über die Geschichte. Ähnliches erfährt der Spieler vom Western-Shooter Call of Juarez: Gunslinger (Techland 2013). Der Plot erzählt die Geschichte des gealterten Kopfgeldjägers Silas Greaves, der gespannten Zuhörern in einem Saloon von den eigenen Heldentaten berichtet. Das Element der Rahmen- und Binnenerzählung wird im Spiel zum gestaltenden Merkmal und zum Dreh- und Angelpunkt der spielerischen Darstellung. Stilistische Brüche, Ereignisse und Perspektivwechsel werden durch Metalepsen herbeigeführt, die so das spielerische Erlebnis prägen. Wenn sich Greaves plötzlich erinnert, dass es nicht Banditen, sondern Indianer waren, die ihn in der Postkutsche überfielen, dann folgt auf die erzählende Stimme aus dem Off, dass die Figuren vor der Flinte des Spielers kurzerhand ausgetauscht werden. Die Zuhörer von Greaves werfen im Saloon ein, haken nach und erzählen zum Teil, was sie in Romanen über Greaves gelesen haben wollen. All diese Einwände beeinflussen die Binnenerzählung die als ludischer, also spielerischer, Raum Beeinflussung durch diese erzählerischen Wechsel findet. Für den Spieler, der in den Binnenerzählungen den jungen Greaves verkörpert, wird der erzählende alte Greaves im Saloon zum Schöpfer des eigenen Abenteuers. Da sich dieser vor den Zuhörern im Saloon profilieren möchte, prahlt er mit den tausenden von Widersachern die ihn angegriffen haben und der Spieler muss dann seine Lügengeschichten ausbaden. Durch die Binnenerzählung verschiebt sich dabei der Rahmen Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 163 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [163] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL um eine Ebene: In der Spielhandlung ist nicht der Programmierer der Autor, sondern eine Figur der Rahmenhandlung wird zum Autor der Binnenhandlung - dort findet auch das eigentliche Spiel statt. Abb. 4: Call of Juarez: Gunslinger (Techland 2013, eigener Screenshot) Silas Greaves rechtfertigt sich vor den lauschenden Saloonbesuchern für die historiographischen Ungenauigkeiten in seinen Erinnerungen. 4 Von Immersion und ‘ immediacy ’ Als Unterhaltungsmedium knüpft das Videospiel an eine mediengeschichtliche Entwicklung zur immer umfassenderen Immersion an. Damit ist das Gefühl der Unmittelbarkeit des Weltentwurfes gemeint, in den der Nutzer eintaucht. Jay David Bolter prägte dafür den Begriff ‘ immediacy ’ . Damit ist gemeint, dass die medial simulierte Realität möglichst unmittelbar erscheint, dass das Medium hinter seiner Botschaft verschwindet und über die eigene Gemachtheit hinwegtäuscht. 8 Ein Schritt zur ‘ immediacy ’ ist dieVereinnahmung der Sinnesebenen, die sich vom Buch über das Radio und die Kinoleinwand bis hin zum Computer vertieft hat. Informationen werden gleich mehrfach aufgearbeitet und zum Hören, Fühlen und Sehen präsentiert. Das Erlebte solle sich wie ‘ echt ’ anfühlen. Jean-Louis Baudry (cf. Baudry 1978) vergleicht den Kinozuschauer mit den Figuren aus dem Höhlengleichnis Platons: Bei Platon sind die Menschen in einer Höhle gefesselt und können nur auf ein projiziertes Schattenspiel blicken. Da die technische Apparatur unsichtbar bleibt, wird das Gesehene immediat und daher als Realität angenommen. In 8 Cf. Bolter & Grusin (2002: 21 - 22): “ Virtual reality is immersive, which means that it is a medium whose purpose is to disappear. This disappearing act, however, is made difficult by the apparatus that virtual reality requires ” und cf. Bolter & Grusin (2002: 24): “ To understand immediacy in computer graphics, it is important to keep in mind the ways in which painting, photography, film, and television have sought to satisfy this same desire. These earlier media sought immediacy through the interplay of the aesthetic value of transparency with techniques of linear perspective, erasure, and automaticity, all of which are strategies also at work in digital technology. “ 164 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [164] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL vergleichbarem Maße werde der Kinobesucher zum total vereinnahmten Rezipienten. 9 Der Hinweis auf den Projektor am Ende des Saales müsste doch aus der Illusion herausreißen. Aber will der Kinozuschauer davon wissen? In Platons Höhlengleichnis werden jene, die den Gefesselten von der Welt jenseits des Schattenspiels berichten, verjagt oder für verrückt erklärt. Das gleiche Motiv zieht sich durch die Filme The Matrix (Wachowski 1999) (Immersion in einer computergenerierten Realität) oder Inception (Nolan 2010) (Immersion in Traumwelten) und behandelt dort jeweils das Thema, dass die Fiktionalität des Weltentwurfes zur angenommenen Realität gemacht wird. Die Filme deuten an, was die Medientechnik zu erreichen scheint: Mit besserer ‘ immediacy ’ eine höhere Immersion zu erreichen. Das Eintauchen in die virtuelle Welt wird immerzu als Ideal virtueller Realität bezeichnet. 10 Die aktuelle Entwicklung von VR-Brillen, also Brillen, die den gesamten Sichthorizont des Nutzers besetzen und durch Sensoren die Kopfbewegung im virtuellen Raum graphisch umsetzen, bringt die Erfahrung virtueller Räume auf ein bisher unbekanntes Niveau. Wie im Traum befindet sich beim Aufsetzen der VR-Brille der Kopf des Subjekts in der virtuellen Welt. Jedoch steckt in der angenommenen Bemühung, die Realität abzubilden, nicht die Hoffnung, sie zu ersetzen. Denn ein Spiel, ein Film, ein Roman ist nur solange ein Kunstwerk, wie die Sphäre des Andersseins bestehen, also das Spiel als solches von dem ‘ Ernst des Lebens ’ unterscheidbar bleibt. Die Katharsis auf der Dramenbühne erfolgt nur, wenn der Zuschauer um die Mimesis - die Gemachtheit - weiß. Ein Beispiel: Der Tod ist in vielen Videospielen ein symbolischer Indikator für das spielerische Scheitern. Als solches beendet er zwar eine Session, nicht aber das Spiel per se. Die Überlistung des Todes ist so notwendiger Bestandteil für die Wiederholbarkeit des Spiels. Das mag nicht ‘ realistisch ’ sein, aber wer würde schon ein Spiel spielen, das nach einmaligem Scheitern für immer beendet wäre? Videospiele semantisieren den Tod der Spielfigur häufig und unterschiedlich. Ein tatsächliches Sterben findet selbstverständlich nicht statt. Unrealistisch ist die virtuelle Reinkarnation dann nur, wenn das Spiel außerhalb seines eigenen Regelwerks bemessen wird. Für das jeweilige Videospiel ist der Tod ein umkehrbarer Status und innerhalb der eigenen Logik nicht widersprüchlich. Spielwelten sind semantisch geschlossen, deshalb führt ein von außen an ein Spiel herangetragener Realismus zu Missverständnissen: Wer viele Videospiele spielt, geht prinzipiell davon aus, dass der Tod der Spielfigur nichts Dramatisches ist. 11 Was im Spiel passiert, bleibt dort, und jeder Ernst verliert sich, wenn das Spiel beendet ist. Wie bei einem verfliegenden Traum hat alles zuvor Gesehene keine Bedeutung mehr. Dies ist ein normativer Grundgedanke, der in allen Kulturkreisen das Spiel in der Praxis begleitet: 9 Cf. Baudry (1978: 27): “ Il s ’ agit toujours de la scène de la caverne: effet de réel ou impression de réalité Copie, simulacre, et même simulacre de simulacre. Impression de réalité ou réel, plus-que-réel? ” Bei Baudry steht dann im Weiteren der ideologische Effekt des Mediums im Vordergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Kino. 10 Cf. Bolter & Grusin (2002: 22) : “ In order to create a sense of presence, virtual reality should come as close as possible to our daily visual experience. Its graphic space should be continuous and full of objects and should fill the viewer ’ s field of vision without rupture. But today ’ s technology still contains many ruptures: slow frame rates, jagged graphics, bright colors, bland lightning, and system crashes. ” 11 Man könnte von einem gruppenspezifischen, kulturellen Wissen sprechen. Die Umkehrbarkeit des Todes in Videospielen ist eine allgemein “ für wahr gehaltene Proposition ” (cf. Zum Begriff Titzmann 2013: 94 f.). Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 165 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [165] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Alles sich im Spiel Ereignende soll auch im Spiel verbleiben. Wenn es heißt “ Mensch ärgere dich nicht! ” , dann ist damit gemeint, dass ein spielerischer Akt keinen Schatten auf die Welt jenseits des Spiels werfen soll. Der verweigerte Handschlag nach einer Partie gilt nicht zuletzt als Bruch des Fairplay-Gedankens und stellt ein gesellschaftlich inakzeptables Verhalten dar. In Einzelfällen werden deshalb auch körperliche Verletzungen als strafrechtliche Tatsachenbestände - etwa im Profisport - betrachtet, wenn dem Verursacher Vorsatz unterstellt werden kann. Das Spiel ist eine Sphäre, die gewisse gesellschaftliche Peinlichkeits- und Schamgrenzen überschreitet. So ist in vielen Sportarten Körperkontakt erlaubt, der außerhalb des Spiels verboten wäre und dieser Umstand darf nicht das Spiel überdauern. 12 Dahingehend lässt sich auch das italienische Sprichwort “ Alla fine della partita il re e il pedone vanno nella stessa scatola ” ( ‘ Am Ende des Spiels gehen der König und der Bauer in dieselbe Kiste ’ ). zweifach deuten: Zum einen sind die während eines Spiels eingenommenen sozialen Rollen ohne Bezug zu den sozialen Rollen außerhalb des Spiels, und zum anderen wird jedes neue Spiel ohne Rücksicht auf die vorherigen Ereignisse von vorne gestartet. Damit wird die Isoliertheit der Spielsession betont. Zur Vermittlung von spielerischer Fiktion gehört also auch immer die Kenntnis über ihre Gemachtheit. Man könnte auch sagen: Fiktion ist nur, wenn sie als solche erkannt wird. Und Fiktion muss sich als solche erkenntlich zeigen. Die Fiktion wird schließlich auf zwei Ebenen identifiziert: 1. Fiktion ergibt sich aus der Analyse der intradiegetischen impliziten Ordnungssätze und ihrem Abgleich zum eigenen Entwurf von Realität. 2. Aus der Analyse der extradiegetischen Eigen- und Fremdzuschreibungen durch Paratexte, die Kenntnis über den Rahmen des Werkes und den Umstand der Wahrnehmung lässt sich Fiktionalität erkennen. Im Zusammenspiel aus 1. Und 2. wird etwa Star Wars (USA 1977, George Lucas) als Fiktion entlarvt, weil (1) die Vorstellung über technische/ physikalische Entwicklungen in der Diegese (Lichtschwerter oder die Macht) als nicht existent oder nicht realisierbar angenommen werden und der Text somit in sich selbst seine Fiktionalität markiert. Und (2) weil sich der Kinogänger seiner Rolle als Zuschauer bewusst ist und einen Spielfilm besucht, der als fiktionales Werk beworben wird und für den die Gesellschaft eine entsprechende Lesart implizit vorschlägt. Beim Bruch mit der vierten Wand verbinden sich diese beiden Ebenen. Der Text verweist explizit auf die eigene Rahmung, indem Figuren oder Elemente der virtuellen Welt aus ihr heraustreten, um den Gegenstand von außen zu betrachten und ihn dadurch als Fiktion entlarven. Für die oben genannten Videospiele ist der Bruch mit der vierten Wand programmatisch. Es ist Teil der Diegese, dass diese erschüttert und in Frage gestellt wird. Die Metalepse ist in diesen Beispielen Element für die Immersion, obwohl damit explizit auf die Fiktionalität hingewiesen wird. 12 Cf. Elias & Dunning (1986: 115): “ [S]ince the lessening of controls in human societies of all kinds, but particularly in societies so well ordered and complex as ours, always entails risks, the de-controlling function of leisure activities which opens up the way for the refreshment of emotions is on its part too surrounded with precautionary rules so that it can be socially tolerable. ” 166 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [166] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 5 Und das Spiel bleibt Spiel In einem drogeninduzierten Alptraum heckt Max Payne (Remedy Entertainment 2001) im gleichnamigen Videospiel die Horrorvision aus, er könne sich in einem Videospiel befinden. Ironischerweise bezeichnet der Protagonist, der Frau und Kind verloren hat und wegen Mordes an einem Polizisten gesucht wird, dies als “ most horrible thing I could think of ” . Nachdem er aus dem Alptraum erwacht, ist der Gedanke auch wieder verloren. Abb. 5: Max Payne (Remedy Entertainment 2001, eigener Screenshot) Das im mittleren Bild des dreiteiligen Panels von Max Payne gesprochene “ [t]he paranoid feel of someone controlling my every step ” ist an den Spieler adressiert, der für dieses Gefühl verantwortlich sein muss. Max Payne ist die Spielfigur des Werkes und hält sich an die Befehle des ihn steuernden Spielers. Hingegen befolgt dieser wiederum die Regeln der Welt, in der Max Payne die Fäden zieht. Der Spieler ist Objekt des Spiels. Wer spielt dann eigentlich mit wem? Freiheit in Videospielen wurde bereits als Illusion bezeichnet. Videospiele befreien den Spieler durch Hypertextstrukturen nicht etwa, sondern sie gaukeln ihm die Freiheit vor in einem Weltentwurf, der genauso restriktiv ist wie die Histoire eines Romans. Der Spieler kann von den Regeln der dargestellten Welt nicht abweichen und findet sich in den Momenten, in denen er an sein Spielen erinnert wird, gefesselt an den Gegenstand. Baudrys Sorge um die ideologische Funktion des kinematographischen Apparats gewinnt bei der Betrachtung der auf sich selbst aufmerksam machenden Apparate in Videospielen eine perfide Note: 13 The Stanley Parable erklärt den Spieler zur Maus im Labyrinth und lässt ihn 13 Cf. Baudry (1978: 26): “ Le cinéma peut donc apparaître comme une sorte d ’ appareil psychique substituif répondant au modèle défini par l ’ ideologie dominante. ” Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 167 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [167] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL protestlos gehorchen. Ein Protest ist beim Spiel nicht möglich: Denn jedes Spielen bedeutet auch das Respektieren des Rahmens. Der Spieler schafft sich seine Immersion, wenn er eine Kommunikation aufnimmt und vertieft, wenn er die Regeln der Welt annimmt - ganz gleich, ob diese ihre Fiktionalität durch zu verstecken oder zu demonstrieren versucht. In vielen Videospielen kommen gleichzeitig Darstellungstechniken zum Ausblenden wie auch zum Einblenden des Apparats zum Einsatz. Die Graphik mit Fluchtpunktperspektive ist dann sicherlich ein Element, das Videospiele von anderen Spielen unterscheidet - so kann die Darstellung abstrakte Ortszuschreibungen aufheben. Die Spielfigur befindet sich nicht etwa wie bei Monopoly auf einem Feld, das durch das Regelwerk in einer abstrakten Zuschreibung als Schloßallee markiert wird, sondern in einem Raum, der ohne Allegorese für sich selbst steht. Max Payne stellt hingegen in seinem Alptraum die Statusanzeigen fest, “ [w]eapon statistics hanging in the air, glimpsed out of the corner of my eye ” und schließt daraus, dass er sich in einem Videospiel befindet. Statusanzeigen über Leben, Ausdauer, Fähigkeiten oder Inventar einer Spielfigur werden in Videospielen üblicherweise als paratextuelle Anzeigen oder Statistiken dargestellt. Während Informationen wie die topographische Verortung in der Spielwelt meist durch die immediate, realistische Darstellung erfolgt “ die Figur befindet sich in einem Wald ” , geben Datenblätter Auskunft über die räumliche Verortung hinaus. Die Ästhetik in Videospielen ist also geprägt von zwei Idealen: ‘ immediacy ’ und ‘ hypermediacy ’ . 14 Die raumzeitliche Verortung der Spielfigur wird immediat, spielerische Information hypermediat vermittelt. Und obwohl es Trends dazu gibt, die Spielanzeigen zu reduzieren oder zu intradiegetischen Elementen zu erklären, müssen Spiele nie verbergen, dass sie Spiele sind. 15 Denn der Spieler ist sich immer bewusst, dass er spielt. Daher reißt auch das intradiegetische Stilmittel der Metalepse den Spieler nie wirklich aus der Immersion des Spiels. 16 Die Metalepse hat dennoch den Effekt, die aus der Narration deduzierten impliziten Ordnungssätze der dargestellten Welt in Frage zu stellen. 17 Und so finden sich Metalepsen auch nur in Videospielen, die eine Narration beinhalten. Im Bereich 14 Cf. Bolter & Grusin (2002: 41 f.): “ In the logic of hypermediacy, the artist (or multimedia programmer or web designer) strives to make the viewer acknowledge the medium as a medium and to delight in that acknowledgment. She does so by multiplying spaces and media and by repeatedly redefining the visual and conceptual relationships among mediated spaces — relationships that may range from simple juxtaposition to complete absorption. ” 15 Bei Half-Life (Valve Corporation 1998) oder bei Halo (Bungie Studios 2001) werden sämtliche HUD(Head-up- Display)-Anzeigen vermeintlich dem Protagonisten in seinem Schutzanzug dargestellt und sind damit keine extradiegetischen Informationsanzeigen. 16 Cf. So auch Nohr (2008: 32): “ Im Spiel greifen [ … ] nicht nur dialektisch aufeinander bezogene Formen der ‘ immediacy ’ und ‘ hypermediacy ’ (Bolter & Grusin) aufeinander und sorgen durch die parallele Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Gemachtheit des Spiels für die Konstitution einer Umittelbarkeitserfahrung eines (ominösen) Realen. Die Naturalisierungstendenz des Spiels im Medium ist eine, die zunächst und vor allem darin begründet liegt, dass parallel zur Technizität und zur Apparathaftigkeit des Spiels auch die anhängige Ideologie verunsichtbart wird. ” 17 Ordnungssätze versteh ich hier im Sinne von cf. Renner (2004: 364): “ [Ordnungssätze], das sind die Allsätze, die als Korrelat der Grenze die Struktur der dargestellten Welt festlegen. [ … ] Ordnungssätze halten Sachverhalte fest, die [ … ] als wahr gelten sollen. ” Ein Ordnungssatz in der dargestellten Welt von Max Payne ist etwa, dass er ein New Yorker Polizist ist. Die Metalepse stellt genau das in Frage, wenn er den Gedanken fasst, er könne eine Videospielfigur sein. 168 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [168] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL des ‘ competitive ’ Gaming, wo Narrationen untergeordnete bis keine Rolle spielen, laufen erzähltheoretische Ansätze ins Leere. Bibliographie Aarseth, Espen 1997: Cybertext. Perspectives on ergodic literature, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press Aarseth, Espen 2013: Ludo-Narratives vs. the Meta-Chronotope, auf der DiGRA Conference, USA: Atlanta, 27. 08. 2013 Bachtin, Michail 2008: Chronotopos, Frankfurt am Main: Suhrkamp Bateman, Chris 2011: Imaginary Games, Lanham: O-Books Baudry, Jean Louis 1978: L ’ effet cinema, Paris: Ed. Albatros Bolter, Jay David & Richard Grusin 2002: Remediation. Understanding new media, Cambridge, Mass.: MIT Press Caillois, Roger 1967: Les Jeux et les Hommes. Le masque et le vertige, Paris: Éditions Gallimard Campbell, Joseph 1968: The Hero with a Thousand Faces, Princeton: Princeton University Press Eco, Umberto 1979: Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrative, Mailand: Bompiani Elias, Norbert & Eric Dunning 1986 b: „ Leisure in the Spare-time Spectrum ” , in: Elias & Dunning (ed.) 1986: 91 − 125 Elias Norbert & Eric Dunning (eds.) 1986 a: Quest for excitement. Sport and leisure in the civilizing process, Oxford: Blackwell Frank, Gustav et. al. (eds.) 2004: Norm - Grenze - Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft, Passau: Stutz Goffman, Erving 1976: Frame analysis. An essay on the organization of experience, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press Huizinga, Johan 1991: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2013: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, Passau: Stutz Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Nohr, Rolf F. 2008: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel, Münster: LIT Verlag Renner, Karl Nikolaus 2004: “ Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman ” , In: Frank et al. (eds.) 2004: 357 − 381 Scheuerl, Hans (ed.) 1975 a: Theorien des Spiels, Weinheim und Basel: Beltz Scheuerl, Hans 1975 b: “ Einführung ” , in: Scheuerl (ed.) 2004: 9 − 12 Titzmann, Michael 2013: “ Propositionale Analyse − kulturelles Wissen − Interpretation ” , in: Krah & Tizmann (eds.) 2013: 87 − 112 Walton, Kendall L. 1993: Mimesis as make-believe. On the foundations of the representational arts, Cambridge, Mass.: Harvard University Press Internetquellen Frasca, Gonzalo 1999: „ Ludology Meets Narratology. Similitude and differences between (video)games and narrative ” , in: Parnasso 3 (1999), im Internet unter http: / / www.ludology.org/ articles/ ludology. htm [02. 03. 2016] Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 169 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [169] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Videospiele Blizzard Entertainment 2004: World of Warcraft, Frankreich: Vivendi Bungie Studios 2001: Halo. Combat Evolved, USA: Microsoft Game Studios Galactic Cafe 2013: The Stanley Parable, USA: Valve High Moon Studios 2013: Deadpool, USA: Activision LucasArts 1991: Monkey Island 2: LeChuck ’ s Revenge, USA: LucasArts Lucasfilm Games 1990: The Secret of Monkey Island, USA: Lucasfilm Games Remedy Entertainment 2001: Max Payne, USA: Rockstar Games Origin Systems 1981: Ultima, USA: California Pacific Computer Company Techland 2013: Call of Juarez: Gunslinger, Frankreich: Ubisoft Valve Corporation 1998: Half-Life, USA: Sierra Entertainment Filmographie Star Wars (USA 1977, George Lucas) Inception (USA 2010, Christopher Nolan) The Matrix (USA 1999, Andy Wachowski & Lana Wachowski) 170 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [170] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL