eJournals Kodikas/Code 40/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
401-2

Überwindung von Schuld durch Reflexion

2017
Stephanie Großmann
Stefan Halt
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Überwindung von Schuld durch Reflexion Filmische Selbstreflexivität und Metaisierung als Mittel von Subjektkonstruktion Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) This paper examines, by taking the films Stay (USA 2005, Marc Forster) and Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) as examples, how narrative structures use self-referential, self-reflective and meta-referential techniques to negotiate anthropological and poetic concepts. Here we take into consideration both the level of ‘ discours ’ and the level of ‘ histoire ’ as potential carriers of these processes. The films correlate cinematic selfreflexivity with existential questions of guilt and forgiveness for the characters, which can only be dealt with through the process of reflective contemplation and (psycho) analysis. On a superordinate level, the films problematize the phenomenon of media perception and the unreliability of semiotic processes. 1 Einleitung Die sogenannte Postmoderne gilt als Höhepunkt von Erzähltechniken und Darstellungsverfahren, die sich selbst zum Gegenstand machen. In diesen medialen Produkten dient der Vorgang des Erzählens dazu, die Erzählung und das Erzählen als solche selbst zu thematisieren, zu dekonstruieren und bisweilen auch ein Neuverstehen zu provozieren. 1 Im Rahmen eines gefühlten “ Metareferential Turn ” (Wolf 2011b) scheinen konventionalisierte Semiose-Prozesse dekonstruiert und neu konstituiert zu werden. Indem Erzählen und Wahrnehmen als unzuverlässige und hochgradig subjektive Prozesse vorgeführt werden, entwerfen entsprechende Texte und Filme Modelle der Wirklichkeit, die auf zeitgenössisches Nachdenken über Raum und Zeit reagieren. Aus mediensemiotischer Perspektive ist hierbei unter anderem danach zu fragen, welche Funktionen den entspre- 1 Cf. allgemein zu Metaisierung und zur ihrer Begrifflichkeit Wolf (2007: 38 f.). Wolf versteht unter einer Metareferenz einen “ Sonderfall der Selbstreflexivität, bei der innerhalb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen [ … ] über dieses System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden. Dergleichen Metaaussagen setzen das Bewusstsein von der Natur des Aussageobjekts nicht als natürlich gegeben, sondern als (Teil) eines semiotischen Systems voraus. Bei medialen Systemen bedeutet dies, dass sich die Metareferenz regelmäßig auf deren ‘ Fiktionalität ’ im Sinne des medialen Artefaktcharakters und/ oder der Referenzqualität und auf damit zusammenhängende Aspekte bezieht und die Rezipienten zu einschlägigen Reflexionen anregt. ” Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [116] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL chenden Medienprodukten dadurch zukommen und welche Leistung sie und die in ihnen kodierten Metaisierungsprozesse für die jeweilige Kultur erbringen (cf. Wolf 2007: 59 - 61). Am Beispiel des Mediums Film deutet sich in der jüngeren Vergangenheit an, dass diese selbstreflexiv auf Umbrüche in der kulturellen Konzeption von ‘ Person ’ und ihrer Beziehung zur Gesellschaft reagieren: 2 So ließe sich zum Beispiel für den populären Film Inception (USA 2010, Christopher Nolan) konstatieren, dass die komplexe Struktur ineinander verschachtelter Erzählebenen ein Mittel ist, im Sinne der Gesellschaft defizitäre Subjekte so lange unter Quarantäne zu stellen, bis diese (wieder) mit den implizierten Normen und Werten der dargestellten Welt kompatibel sind (cf. Großmann & Halft 2014, auch für das Folgende). Der Protagonist Dominick Cobb muss erst in die tiefste Ebene seines Inneren vordringen und sich dort seinen Schuldgefühlen wegen des durch ihn mitverschuldeten Selbstmords seiner Frau stellen, bevor er zu seinen Kindern zurückkehren kann. Auffallend ist dabei auch, dass ans Fantastische grenzende Darstellungsmodi, wenn sie psychopathologische Aspekte metaphorisch abbilden, gerade zur Überwindung dieser negativ semantisierten Figurenzustände funktionalisiert werden. Dies lässt sich auch für die Filme Stay (USA 2005, Marc Forster) und Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) behaupten. Beide Filme analysieren die Disposition ihrer Figuren mittels ihrer Erzähl- und Darstellungsstrukturen. Diese Disposition wird auf metadiegetischer Ebene an den kulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit zurückgebunden und reflektiert. Dass die Filme die Figuren potenziell als psychopathologisch konzipieren, verweist weniger auf eine Ausbreitung genuin psychischer Störungen in der Postmoderne, als vielmehr auf eine zunehmendeVerunsicherung über das Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum im Hinblick auf ein normatives Personenkonzept. Dieser Beitrag konzentriert sich im Kern darauf, in einem ersten Schritt die Struktur verschiedener Erzählebenen in den beiden Filmen zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt geht es uns dann jeweils um die Funktionen, die diese konkreten Strukturen in den Filmen erfüllen. 3 So lassen sich aus den Filmen sowohl poetologische wie auch anthropologische Implikationen ableiten, die wesentlich auf der Einführung einer selbstreflexiven Metaebene beruhen. Auffällig ist dabei, dass Selbstreflexivität nicht nur ein Discoursinduziertes Phänomen sein muss. 4 In Shutter Island wird selbstreflexives Potenzial vielmehr auf der Ebene der Histoire generiert. Die verhandelte Geschichte funktioniert wie ein Vexierbild, bei dem sich zwei oppositionelle Deutungsvarianten gleichberechtigt gegenüberstehen. Die Fragen, die dadurch für die Wahrnehmung innerhalb der Diegese aufgeworfen werden, geben überhaupt erst den Blick auf eine metadiegetische Ebene frei. Unseren Ausführungen legen wir das Konzept von Selbstreflexivität von Wolf 2007 zugrunde. Dieser begreift Selbstreflexivität als ein Phänomen, das semiotisches Systembewusstsein voraussetzt sowie durch eine Differenzierung zwischen Aussagen des und Aussagen über das Objekt im Medium selbst generiert wird. Diese Differenzierung regt zur Reflexion über Fiktionalität bzw. den Artefakt-, Medien- und Zeichencharakter eines Textes an. 2 Zur Metaisierung im Medium Film cf. Decker 2007b, Großmann & Halft 2014 und Wolf (2007: 49 - 51). 3 Methodisch basiert unser Beitrag auf einem filmsemiotischen Ansatz, wie er in Gräf et al. (2011) formuliert ist. 4 Dies zeigen sowohl Decker als auch Scheffel für das Medium Literatur (cf. Decker 2006 und Scheffel 2007). Überwindung von Schuld durch Reflexion 117 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [117] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 2 Metaisierung in Stay (USA 2005, Marc Forster) Der Kunststudent Henry fährt mit seinen Eltern und seiner zukünftigen Verlobten Athena durch die Straßen New Yorks. Auf der Brooklyn-Bridge platzt der Reifen seines Autos, wodurch sich dieses überschlägt und ausbrennt. Alle Insassen sind sofort tot, außer Henry, der schwer verletzt auf den Asphalt geschleudert wird. Dort wird er vom Arzt Sam und der Krankenschwester Lila bis zum Eintreffen des Notarztwagens unter Beobachtung von Schaulustigen betreut. Noch bevor der Notarzt eintrifft, stirbt Henry. Mit seinen letzten Worten macht er Lila, die er für Athena hält, einen Heiratsantrag. Durch das gemeinsame Schockerlebnis, den tragischen Unfalltod eines jungen Mannes mitzuerleben und nicht helfen zu können, nähern sich Sam und Lila einander an. 2.1 Rekonstruktion der Erzählebenen Die erzählte Zeit von schätzungsweise fünf bis zehn Minuten wird dadurch auf Spielfilmlänge ausgedehnt, dass die intradiegetische Rahmenhandlung um eine intra-intradiegetische Binnenhandlung 5 ergänzt wird, die sich vor dem inneren Auge des sterbenden Henry konstituiert. Henrys Innenwelt hat einen heterotopen Charakter: Sie ist räumlich und zeitlich nicht direkt an die Außenwelt gebunden und zeitweise offenbar auch nicht an konventionelle Realitätsvorstellungen. In diesem Imaginationsraum fließen sowohl letzte Sinneswahrnehmungen als auch persönliche Erinnerungen sowie auch unterbewusste Wunschträume zusammen und generieren die Handlung der Binnenerzählung. In dieser setzt sich Henry mit der Frage auseinander, ob er die Schuld am Tod seiner Familie trägt. Das Verhältnis zwischen Rahmen- und Binnenerzählung bleibt allerdings bis zum Ende des Films unklar. Die Binnenerzählung beansprucht für sich zunächst einen ‘ normalen ’ Realitätsstatus. Sie fokussiert den Psychologen Sam, der seiner Freundin und ehemaligen Patientin Lila einen Heiratsantrag machen möchte. Sam versucht seinen neuen Patienten Henry von einem geplanten Selbstmord abzuhalten. Indem er Nachforschungen über Henrys Leben anstellt, verstrickt er sich immer tiefer in scheinbar mysteriöse und tendenziell fantastische Strukturen. Aus der Perspektive der intradiegetischen Rahmengeschichte hingegen macht Henry sich in der intra-intradiegetischen Binnengeschichte selbst zum Objekt seiner Gedankenwelt. Er scheint in die Rolle von Sam zu schlüpfen bzw. identifiziert sich mit dessen Rolle als Psychologe, der sich nun selbst analysiert. Die Binnenerzählung ist entlang konventionalisierter Vorstellungen von Bewusstseinsprozessen zum einen vertikal strukturierbar: Henrys Bewusstsein stellt eine mittlere Ebene dar, einen Projektionsschirm, auf dem sich psychische Inhalte überlagern und die erzählte Geschichte in ihrer dargestellten Form generieren. Diese Inhalte stammen einerseits aus Henrys Sinneswahrnehmung, die ihn immer noch mit der intradiegetisch realen Außenwelt ‘ oben ’ verbinden. Diese manifestiert sich nicht nur in Form von Stimmen sondern auch als Figureninventar in der Binnengeschichte. Von ‘ unten ’ fließen andererseits Erinnerungen in die Geschichte ein (cf. Abb. 1). Diese werden vom Film dadurch als ‘ authentisch ’ gekennzeichnet, dass sie auf der mittleren Ebene in dort real gedachten Medien repräsentiert und durch Filter und Ähnliches als ‘ vergangen ’ markiert werden. Beispielsweise sind in einer 5 Zur Begrifflichkeit und ihrer Abgrenzung zur Begrifflichkeit von Genette cf. Decker (2006: 245 ff.). 118 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [118] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL von Henry besuchten Peep-Show auf einer großen Leinwand im Hintergrund Fotos und kurze Filmsequenzen aus seiner Kindheit und Jugend zu sehen sowie Fotos, die ihn und Athena als Liebespaar zeigen (Stay, 0: 49: 30). 6 Während diese Erinnerungen die Binnengeschichte zwar in ihren Grundzügen prägen, bezieht sie ihre Motivierung vor allem aus unterbewussten Inhalten, die sich auf Henrys Emotionen und psychische Dispositionen beziehen. Bezogen auf die Kohärenz der Binnengeschichte liegt ihre Funktion allerdings auch zentral in der Verunsicherung der Zuschauenden, denn zum einen scheint Henry selber diese Projektionen gar nicht wahrzunehmen und zum anderen kennt ihn Athena auf der intra-intradiegetischen Ebene nur flüchtig. 2.2 Semantische Räume und narrative Struktur Die auf der intra-intradiegetischen Ebene dargestellte Binnengeschichte ist mit der Rahmengeschichte strukturell verbunden (was wir hier nicht ausführlich herleiten können). Wesentlich ist jedoch, dass die Binnengeschichte eine konkrete Funktion für die Rahmengeschichte übernimmt: Obwohl Henry hier oft scheinbar nur als Nebenfigur auftritt, dreht sich die Binnengeschichte um ihn und um die Frage, ob er für den Tod seiner Familie verantwortlich ist. Dazu entspinnt Henry eine Geschichte, in der Sam Henrys Leben quasi detektivisch zu rekonstruieren versucht, um ihn, Henry, von einem geplanten Selbstmord abzubringen. Im Zuge dieser Geschichte begegnet Sam Manifestationen von Henrys Unterbewusstsein, mit denen dieser sich ebenso stellvertretend für Henry versöhnt. Währenddessen tauchen markante Objekte immer wieder in unterschiedlichen Sequenzen auf, wodurch sich bereits quasi auf einer ‘ horizontalen ’ Ebene Selbstreferenzen ergeben. Diese lassen sich retrospektiv tatsächlich als vertikale Spiegelungen der Rahmengeschichte in der Binnengeschichte dechiffrieren. Das markanteste Beispiel sind Bilder der Brooklyn-Bridge, Abb. 1: Intra-intradiegetische Ebene in Stay (eigene Darstellung) 6 Hier wie im Folgenden wird auf Sequenzen aus den Filmen so verwiesen, dass der Timecode der DVD in Stunden: Minuten: Sekunden angegeben wird, zu dem eine Sequenz beginnt. Überwindung von Schuld durch Reflexion 119 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [119] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dem Ort des Autounfalls in der Rahmenebene, die auf der Binnenebene immer wieder zu sehen sind: Über dem Bett von Sam hängen symmetrisch angeordnet 16 Fotografien der Brücke (Stay, 0: 02: 05), in einer Buchhandlung hängt ein von Henry gemaltes Bild der Brücke (Stay, 01: 11: 47), und Lila findet ebenfalls ähnliche Bilder von Henry in ihrem Atelier (Stay, 01: 15: 46). Auch fokussiert der Film einzelne Sätze, die entweder nur Henry zu hören scheint, oder die von immer wieder auftauchenden Figuren wiederholt werden. So sagt ein kleiner Junge in zwei unterschiedlichen Sequenzen beim Anblick Henrys völlig unvermittelt “ Mami, muss der Mann sterben? ” (Stay, 0: 35: 45 und 01: 17: 32). Diese Sequenzen werden dann in der Rahmengeschichte aufgelöst, da hier die Äußerung des Jungen in Kohärenz zum Anblick des schwer verletzten Henry steht (Stay, 01: 24: 40). Während die Binnengeschichte potenziell kathartisch und in Richtung des Publikums auf jeden Fall rehabilitierend wirkt, erschießt sich Henry am Ende der Binnengeschichte selbst. Dieser Moment stellt insofern eine Metalepse dar, da der Film auf der Rahmenebene jetzt an die Stelle zurückkehrt, an der Henry sterbend von Sam und Lila aufgefunden wird. Aufgrund der Umstellung der Chronologie scheint sich die Binnengeschichte (Selbstmord) auf die Rahmengeschichte (Unfalltod) auszuwirken. Auf einer selbstreflexiven Ebene bildet der Film in Bezug auf die Rahmen- und Binnengeschichte eine zeitliche Möbius-Schleife ab, denn am Ende erweist sich die soeben erzählte intra-intradiegetische Handlung als Ausgangspunkt für die nun von außen zu beobachtende Rahmenhandlung. Durch diese rekursive Verbindung der beiden Geschichten erhält die Reflexion Henrys über die Frage nach der Schuld am Tod seiner Eltern und seiner Verlobten eine Nullausdehnung der Zeit. 2.3 Funktionalisierung der Beziehung von Discours und Histoire Nachdem Henry auch in der Rahmenhandlung gestorben ist, nähern sich Sam und Lila einander an. Nur Sekunden nachdem der Film eine widerspruchsfreie Auflösung der verschiedenen Ebene ermöglicht hat, führt er ein Element ein, welches die gerade rekonstruierten Grenzen zwischen Realitätsbereichen potenzielle erneut in Frage stellt: Während Sam Lila zu einem Date einlädt, fokussiert die Kamera sein Gesicht. Durch das konventionalisierte Zeichen seiner ins Weite blickenden Augen wird suggeriert, dass er gerade nachdenkt. Was sich sodann in der Montage direkt anschließt, muss zunächst als Sams Bewusstseinsinhalt interpretiert werden. Was wir sehen, ist jedoch eine Mise-enscène, in der sich Bilder der von Henry imaginierten Binnengeschichte und aktuelle Wahrnehmungen von Sam überlagern. Diese ‘ Gedankenblitze ’ können als Prolepse einer neu beginnenden Geschichte der realen Figuren Sam und Lila gelesen werden. Dies lässt mindestens zwei zunächst vorläufige Deutungsebenen zu: Dadurch, dass vergangene Bewusstseinsinhalte von Henry nun auf Sam und Lila projiziert werden, scheint die Abgrenzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeweicht zu werden. Während Henrys Hellsichtigkeit in der Binnengeschichte noch auf äußere Wahrnehmungen zurückgeführt werden konnte, erscheint er nun ex post als echter Hellseher oder die äußeren Ereignisse als schicksalsgleich determiniert. Da die Inserts direkten Bezug auf Bewusstseinsinhalte nehmen, die nur Henry zugänglich sein konnten, deutet der Film an, dass Henrys Bewusstsein und Unterbewusstsein nunmehr Gegenstand von Sams Bewusstsein werden können und dort ebenfalls wieder eine konventionalisierte Liebesgeschichte generieren, die sich aus Wahrnehmungen und 120 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [120] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Wünschen generiert. Insgesamt wird suggeriert, dass Bewusstseinsinhalte sich möglicherweise aus einer übergeordneten, kollektiven Quelle, das heißt konventionalisierten kulturellen Narrativen, speisen könnten. Abb. 2: Metadiegetische Ebene in Stay (eigene Darstellung) Beide Lesarten machen jedenfalls überhaupt erst eine Ebene zugänglich, die der Film bislang verweigert hat, und die oberbzw. außerhalb der Diegese liegt. Denn nun stellt sich für die Sequenz der ‘ Gedankenblitze ’ die Frage, wer hier sieht und wer zeigt. Hierdurch wird letztlich das vom Film selbst konzipierte Prinzip von Abbildungsprozessen auf den Film im Allgemeinen projiziert: Henrys Bewusstsein bildete einen Projektionsschirm für seine unterbewussten Wünsche, Sehnsüchte und Emotionen sowie für konkreteWahrnehmungserlebnisse. Indem der Film ebendieses Prinzip homolog auch für Sam andeutet, dies aber in einer der Logik der dargestellten Welt widersprechenden Form umsetzt, lenkt er den Blick selbstreflexiv auf sich selbst als projektionsbasiertes Medium. Er stellt Deutungsangebote zur Verfügung, die zwar vom Dargestellten grundsätzlich vorgeformt sind, in deren Interpretation aber subjektive Identifikationsmechanismen des Publikums einfließen. Das konkrete und spezifische Filmerlebnis ist somit - wie auch Henrys Gedankenstrom - ein Amalgam aus den jeweiligen bewussten wie unterbewussten Vorstellungsinhalten und Dispositionen der Zuschauenden (cf. Abb. 2). Durch diese Form der Selbstreferenz eröffnet der Film zugleich eine selbstreflexive Ebene: Durch die zunächst systemimmanente Referenz lässt sich aufgrund der Inszenierung ableiten, dass der Film seinen Status als Medium anerkennt und diesen auf einer Metaebene Überwindung von Schuld durch Reflexion 121 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [121] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zum Gegenstand macht. Auf dieser Metaebene scheint Stay in Anlehnung an Christian Metz 2000 und Laura Mulvey 1994 auf die Vorstellung zu referieren, dass der Film als Projektionsfläche des “ Ich ” zu verstehen sei. Das heißt, die Zuschauenden identifizieren sich einerseits mit einer der Figuren des Filmes (Henry identifiziert/ spiegelt sich mit/ in Sam). Andererseits projizieren sie eigene Vorstellungen und Wünsche in die dargestellte Welt hinein, sodass diese individuell überformt wird ( ‘ Gedankenblitze ’ von Sam). Diese multiplen Projektionsprozesse verdeutlicht der Film mit dezidiert filmischen Mitteln auf der Ebene des Discours: Gleich zu Beginn bricht der Film den filmischen Kontrakt, indem Henry direkt in die Kamera blickt und auf sie zugeht. Durch die Fokussierung seiner Augen wird dann simuliert, dass die Kamera quasi in sein Bewusstsein eintritt. Diese Großaufnahme wandelt sich schließlich durch eine Überblendung in das Gesicht von Sam, der gerade aufwacht. Auf diese Weise provoziert, markiert und reflektiert der Film schon zu Beginn eine Identifikation mit beiden männlichen Figuren. Damit stellt sich für die letzte Sequenz auch die Frage, inwiefern die Inserts Sam zugerechnet werden können oder augenzwinkernd als gespiegelte Gedanken des Publikums zu verstehen sind. 3 Metaisierung in Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) In Shutter Island steigt das Publikum unvermittelt in eine laufende Handlung ein, die eine Vielzahl oberflächlich inkohärenter Perspektiven vereint. Im Folgenden versuchen wir einen ersten Handlungsüberblick, um dann eine kohärente Lesart des Films auf der Ebene einer strukturell in der Histoire installierten Selbstreflexivität vorzuschlagen. Der verwitwete U. S. Marshall Edward, “ Teddy ” , Daniels setzt zusammen mit seinem neuen Partner Chuck per Fähre auf eine Insel über, auf der es scheinbar einen Fall zu lösen gilt: Eine Patientin der dort angesiedelten Nervenheilanstalt, Rachel Solando, ist verschwunden. Im Rahmen der Untersuchungen scheinen sich Widersprüche zu ergeben, die Daniels vermuten lassen, dass auf der Insel geheime Experimente an Menschen durchgeführt werden. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Daniels Verbindungen zwischen seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Mord an seiner Frau und Vorgängen auf der Insel herstellt. Teddy steht nun vor mehreren, scheinbar korrelierten Fällen, die in letzter Konsequenz auf eine Verschwörung hindeuten. Obwohl die vermisste Rachel plötzlich wieder auftaucht, reist Teddy nicht ab. Seine letzte Erkundung der Insel führt ihn in eine geheime Kammer, in der sich alle Rätsel zu lösen scheinen. Der Film bietet (im Gegensatz zur literarischen Vorlage) 7 aufgrund unterschiedlicher Perspektiven nun mindestens zwei Versionen einer Geschichte an, die beide gleichermaßen möglich aber letztlich auch gleichermaßen inkonsistent erscheinen (cf. Abb. 3): 1. Teddy wurde durch Geschehnisse bei der Befreiung des KZ Dachau traumatisiert. Seine psychisch labile Frau bringt die gemeinsamen Kinder um, woraufhin Teddy sie erschießt. 7 In der literarischen Vorlage hebt eine Rahmung zum Teil Inkonsistenzen der Binnenhandlung auf und favorisiert einen Wahrheitsanspruch für die erste Leseebene: Indem die Geschichte durch einen Prolog von Dr. Lester Sheehan eingeleitet wird, in dem er beschreibt, warum er den Fall aufzeichnen möchte, wird Sheehans Identität als Psychiater bestätigt und damit zugleich seine von Teddy ihm zugewiesene Identität als sein Partner Chuck negiert. Implizit verursacht der Prolog aber dann doch auch wieder eine latente Verunsicherung, da hier Sheehan konsequent von Teddy und nicht von Andrew spricht (cf. Lehane 2005: 11 ff.). 122 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [122] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Tat führt zu einer Persönlichkeitsspaltung. Seitdem - so die Erklärung des Anstaltsleiters - erhält Teddy eine fiktive Geschichte aufrecht, die sowohl ihn als auch seine Frau entlasten. Basis dieses Konstrukts ist das “ Gesetz der Vier ” , bei dem Teddy - eigentlich Andrew - seinen Namen und den seiner Frau durch Anagramme ersetzt und die negativen Persönlichkeitsanteile jeweils auf fiktive Personen aufteilt. Die Erinnerung an seine Kinder, deren Existenz er in diesem Konstrukt leugnet, erhält er im positiven Sinne aufrecht, indem er ihre Namen ebenfalls in die Anagramme einfließen lässt. Der Fall ‘ Rachel ’ war ein Versuch, Andrew zu heilen, indem man ihn mit Repräsentanten seiner Geschichte konfrontiert. Da dies nicht funktioniert hat, soll er nun lobotomiert werden - es sollen also mittels eines neurochirurgischen Eingriffs Gehirnareale zerstört werden, wodurch sich seine Persönlichkeitsstruktur verändern und seine Identität sowie die Erinnerung an die schuldbeladenen Vergangenheit aufgelöst würden. 2. Teddy ist nicht verrückt, sondern er hat in der Tat eine komplexe Verschwörung aufgedeckt. Gewährsperson hierfür ist die scheinbar echte Rachel, eine ehemalige Psychologin der Anstalt, die Teddy in einer Höhle auf der Insel findet und die seine Geschichte bestätigt: Sie halten mich für verrückt. [ … ] Wenn ich sage, ich bin nicht verrückt, das würde nicht viel helfen, oder? Das ist die kafkaeske Seite daran. Andere behaupten, man sei verrückt und alle Beteuerungen des Gegenteils bestätigen das nur noch. [ … ] Hat man Sie erst für verrückt erklärt, ist alles was Sie tun nur noch Ausdruck Ihrer Störung. (Shutter Island, 01: 21: 30) Abb. 3: Rekonstruktion der Histoire Shutter Island (eigene Darstellung) Überwindung von Schuld durch Reflexion 123 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [123] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Aussage referiert ebenfalls auf die Vermittlungssituation des Filmes: Welche Version der Geschichte die ‘ wahre ’ ist, hängt davon ab, wie der Wahrheitsanspruch bestimmter Figurenaussagen hierarchisiert wird. Für die erste Version spricht, dass gewisse Trauminhalte von Teddy nur innerhalb dieser Version plausibel zu erklären sind (sieht man von komplizierten Erklärungskonstrukten ab) und dass sein Partner Chuck seine Identität als sein behandelnder Psychiater Dr. Lester Sheehan preisgibt. Die zweite Version wird durch die Sympathielenkung des Films auf die Figur Teddy legitimiert, an dessen Perspektive die Präsentation der dargestellten Welt gebunden ist. Dass eine sichere Chronologie der Historie nicht rekonstruiert werden kann, liegt unter anderem auch daran, dass der Film gezielt Gegenstände inszeniert, die ex post doppelt indexikalisch lesbar sind. So sorgt zum Beispiel ein Pflaster, das Teddy von Beginn an auf seiner Schläfe trägt, für Verunsicherung. Es wird zwar vom Film prominent inszeniert, aber eine Erklärung wird nicht gegeben. Da im Film alle Zeichen potentiell bedeutungstragend sind, scheint das Pflaster nur kohärent in den Kontext der Version des Anstaltsleiters zu passen. Dieser erzählt Teddy nämlich, dass er vor zwei Wochen eine schwere körperliche Auseinandersetzung mit einem anderen Patienten der Einrichtung hatte. Vielleicht ist es aber auch einfach ‘ nur ’ ein Pflaster. Auch bietet Teddys Verschwörungsgeschichte gerade das Material dafür, alle gegenläufigen Behauptungen als Teil der Verschwörung zu interpretieren. Dass dies intradiegetisch auch thematisiert wird, löst das Problem nicht auf sondern verschärft es noch. Hiermit erreicht der Film bereits eine selbstreferenzielle Ebene, wenn er sich auf Elemente bezieht, die er selbst generiert hat. 3.1 Rekonstruktion von Erzählebenen Wesentlich ist, dass Shutter Island im Gegensatz zu Stay am Ende keine fassbare Vermittlungsebene einführt: Schon der Beginn des Films spielt mit seiner auf dem unruhigen Wasser und bei dichtem Nebel spielenden Szene auf diese Undurchdringlichkeit an. Auch im Verlauf des Films wird dem Publikum keine zuverlässige Außenperspektive geboten. Somit bleiben nur die Perspektiven der intradiegetischen Figuren, deren Aussagen entweder ebenfalls intradiegetisch relativiert oder durch Strategien der Sympathielenkung manipuliert werden. Hierdurch eröffnet der Film nun eine selbstreflexive Ebene, die basierend auf dem Thema ‘ Schuld ’ angelegt ist. Innerhalb der Diegese wird das Thema Schuld auf mehreren Ebenen folgendermaßen verhandelt: Im Rahmen des NS-Diskurses wird nicht nur die Schuld der Deutschen am Holocaust thematisiert. Es wird auch die Frage gestellt, ob exildeutsche Wissenschaftler in das amerikanische System hätten integriert werden dürfen, wenn diese offenkundig an Experimenten beteiligt waren, die die Menschenwürde verletzten. Dem wird entgegengestellt, dass im Rahmen der Befreiung von KZs auch Selbstjustiz der Befreier geübt wurde, die ebenfalls eine Form von Schuld konstituiert. Neben diesen abstrakten und kollektiven Formen von Schuld verhandelt der Film - so suggeriert zumindest eine der intradiegetischen Versionen - auch persönliche Formen von Schuld: Teddys Frau hat aufgrund einer psychischen Krankheit, die dieser nicht ernst genommen hatte, die gemeinsamen Kinder getötet. Den Mord an seinen drei Kindern sanktioniert Teddy, indem er seine über alles geliebte Frau erschießt. Teddy fühlt sich indirekt schuldig für den Tod seiner Kinder und direkt schuldig für den Tod seiner Frau. 124 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [124] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Im Rahmen der Verschwörungstheorie knüpft der Film an die amerikanischen Antikommunismus-Prozesse der McCarthy-Ära an und thematisiert die zu dieser Zeit begangenen, politisch motivierten Verbrechen ebenfalls als Form von Schuld. Dies wird dadurch aufgegriffen, dass Teddy und die anderen Patienten potenziell Versuchskaninchen für die Entwicklung neuer Psychopharmaka sind. Die ersten beiden Schuldformen werden dabei homolog aufeinander bezogen: (i) Die KZ- Wächter sind gegenüber den in Dachau Gefangenen Schuldige, wie auch Andrew durch Selbstjustiz gegenüber den KZ-Wächtern zu einem Schuldigen wird; (ii) Dolores ist gegenüber ihren Kindern, die sie tötet, eine Schuldige, wie auch Andrew gegenüber Dolores zu einem Schuldigen wird, weil er sie für den Mord an den gemeinsamen Kindern tötet. Bezogen auf die Schuld werden die Elemente ‘ KZ-Wächter ’ und ‘ Dolores ’ jedoch deutlich unterschiedlich bewertet: Dolores ’ Handeln ist durch eine psychische Störung motiviert und sie damit nur bedingt schuldfähig. Die KZ-Wächter hingegen sind uneingeschränkt schuldfähig für die von ihnen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In beiden Konstrukten nimmt Andrew die Position einer Sanktionsinstanz ein. Aus der beschriebenen Logik heraus ist die Sanktion der KZ-Wächter als legitim einzustufen, die Sanktion von Dolores allerdings nicht. Diese ambivalente Bewertung der Schuld von Dolores wird zeichenhaft in einem Traum von Andrew aufgegriffen, in dem er sowohl seine Tochter als auch die Stellvertreterin seiner Frau auf dem gefrorenen Leichenberg in Dachau liegen sieht, sodass an dieser Stelle nicht nur seine Kinder mit den unschuldig ermordeten Gefangenen des KZ korreliert werden, sondern auch seine Frau. Diese Unterscheidung bestärkt der Film in Andrews Personenkonzept dadurch, dass er sich seiner Schuld in Bezug auf die geübte Selbstjustiz in Dachau durchaus bewusst ist, wohingegen er seine potenzielle Schuld am Tod der Kinder sowie seine tatsächliche Schuld am Tod der Ehefrau verdrängt. Diese drängt er ins Unterbewusstsein ab und erschafft fiktive Figuren, die ihn und seine Frau entlasten. Tatsächlich ist die Schuld damit aber nicht getilgt, da sich unterbewusste Inhalte immer wieder zeichenhaft in seinen Träumen manifestieren und auch in der Realität der dargestellten Welt repräsentiert sind. Jeder Versuch Teddys, sein Leben zu rekonstruieren, mündet entweder in ein Schuldeingeständnis, das zugleich seine Schizophrenie beinhaltet, oder aber in die Flucht in die Rolle eines geistig Gesunden, zu dessen Vergangenheit Schuld aber ebenso konstitutiv gehört. In seiner letzten Sequenz zeigt der Film Andrew, der sich scheinbar wieder gemäß seines fiktiven Lebensentwurfs verhält. Das führt konsequenterweise dazu, dass nun die Lobotomie eingeleitet wird. Auch hier sind nun zwei konkurrierende Lesarten mögliche. Entweder kann Andrew seine Schizophrenie tatsächlich nicht überwinden oder aber er hat sich bewusst dazu entschieden, sich der Gehirnmanipulationen auszusetzen, um nicht mehr “ als Monster ” leben zu müssen. 8 Im Gegensatz zu Stay würde Shutter Island damit andeuten, dass Andrew seine Schuld nicht in seine Identität integrieren kann, sondern diese quasi 8 Für die zweite Leseebene, die für den Protagonisten die wahre Identität als Teddy annimmt und eine Verschwörungstheorie darstellt, würde das Ende dann bedeuten, dass es den Psychiatern nicht gelungen ist, dem Protagonisten eine falsche Erinnerung einzupflanzen und er daher nun durch einen neurochirurgischen Eingriff unschädlich gemacht werden soll, damit die geheimen Experimente auf der Insel nicht an die Öffentlichkeit dringen können. Überwindung von Schuld durch Reflexion 125 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [125] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL amputieren will. Damit wird nicht nur die Person Andrew physisch wie psychisch versehrt, sondern es werden im Film auch konkurrierende Therapieformen problematisiert. 3.2 Selbstreflexivität als Histoire-Phänomen So wie der Film keine explizite extradiegetische Ebene zulässt, von der aus die intradiegetischen Versionen harmonisiert und tendenziell relativiert werden könnten, so zieht er auch die Zuschauenden immer wieder in die subjektive Weltsicht von Teddy hinein, ohne ein Außen zu eröffnen, mit dem sich das Publikum über dessen Perspektive erheben könnte. Nur in seiner vorletzten Sequenz signalisiert der Film, dass keine neutrale Vermittlungsinstanz vorliegt. In dieser Filmszene wird die potenzielle Unzuverlässigkeit der Vermittlung, die nur auf einer übergeordneten Ebene aufgelöst werden könnte, visuell vorgeführt: Während Teddys Wahrnehmung eine scheinbar echte Waffe zeigt, mit der er auf den Anstaltsleiter schießt und dessen Blut als Folge des Schusses verspritzt, wird diese Wahrnehmung sofort wieder zurückgenommen, da der Anstaltsleiter nicht tot umfällt und die Waffe in Kunststoffteile zerfällt. Abb. 4: Metadiegetische Ebene Shutter Island (eigene Darstellung) Hier wird erstmals explizit mit filmischen Mitteln abgebildet, was auf der Ebene der Histoire bereits latent angelegt wurde: Teddys ‘ Wahrnehmung ’ der dargestellten Welt und die ‘ Realität ’ der dargestellten Welt sind nicht deckungsgleich. Daraus wird auch für die gesamte Handlung rückwirkend die Frage aufgeworfen, inwiefern die Vermittlungsinstanz des Films an die Perspektive von Teddy gebunden und damit unzuverlässig ist (cf. Abb. 4). Gerade indem der Film auf diese Weise die Ebene der Darstellung - konkret: Wahr- 126 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [126] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL nehmungsperspektive und Informationsvermittlung - fokussiert, zeigt er ebenfalls semiotisches Systembewusstsein. Er differenziert zwischen sich als Medium einerseits und einer Reflexion über seinen sekundär-semiotischen wie modellbildenden Charakter andererseits. 4 Fazit: Anthropologische und poetologische Konzepte in Stay und Shutter Island Der selbstreflexive Gestus der Filme leistet aus unserer Sicht einen kulturellen Beitrag zur Verständigung über epistemologische Grundannahmen: Die Filme problematisieren im Kern das Phänomen medialer Wahrnehmung. Bei beiden Protagonisten werden äußere Eindrücke in eine innere Geschichte übersetzt. Diese scheint im Wesentlichen dazu zu dienen, ebendiese äußeren Eindrücke und Umstände in eine subjektiv sinnhafte und kohärente Wirklichkeit zu überführen, also Sinn zu stiften. Etwaige Abweichungen von der äußeren Realität und der inneren Wunsch-Wirklichkeit werden dabei zunächst scheinbar unterschlagen, durchsetzen aber zum Beispiel als sekundär semiotisierte Objekte die Diegesen. Hierdurch semantisieren die Filme die männlichen Protagonisten einerseits als nahezu solipsistische Existenzen. Die Geschichten selbst verhandeln dann aber andererseits durch selbstreferenzielle Bezüge selbstreflexiv die Themen Schuld und Verantwortung, wodurch das solipsistische Figurenkonzept problematisiert wird. Die Versuche der Protagonisten, selbstreferenziell sich selbstreflexiv selber zu erzählen, problematisieren dabei dann auch das filmische Erzählen an sich, dessen Zeichen eben in ihrer Eigenschaft als mediale Zeichen transparent gemacht werden. Das heißt, die Filme vermitteln den Zuschauenden im Sinne postmoderner Ästhetik, dass die Filme die Zuschauerinnen und Zuschauer mit zu deutenden medialen Zeichen, nicht aber mit validierbarer Wirklichkeit konfrontieren. Während Stay selbstreflexive Mechanismen nutzt, um den Film zumindest für das Publikum auch als kathartisches Medium zu etablieren, entlarvt Shutter Island diese selbstreflexiven Maßnahmen als unzuverlässig und potenziell manipulativ. Ironischerweise können beide Filme dies nur tun, indem sie massiv auf genuin filmische Darstellungsmittel zurückgreifen und kohärent an ein modernes Kinopublikum die Binsenweisheit vermitteln, dass eine eindeutigeWirklichkeit in medialen Zeichen zumindest prekär geworden ist. Bibliographie Blödorn, Andreas et al. (ed.s) 2006: Stimme(n) im Text. 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