eJournals Kodikas/Code 40/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
401-2

Kartografie einer Geschichte

2017
Steffi Krause
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Kartografie einer Geschichte Analyse selbstreflexiver Erzählelemente und der Medialität in Cloud Atlas Steffi Krause (New York) By claiming “ everything is connected ” as a slogan the movie Cloud Atlas (2012) already suggests an analytical perspective that goes beyond the decoding of the individual film segments. Instead, coherence is given by intersecting semantics of individual segments and their amalgamation into an overarching film narrative. The latter is established primarily through self-reflective processes and the specific use of media in the film. This essay will therefore focus on both the functions and semantics of the self-reflective narration and the discourse of mediality itself in Cloud Atlas. In a first step, the analysis will retrace the elements and symbols connecting individual episodes while also questioning them regarding their modes of transmission and susceptibility to manipulation. By reconstructing the relevance and semantics of those media artefacts, it is possible to reveal the superordinate level of meaning of the movie as they form an interreferential network and contribute significantly to the creation of meaning for both the protagonists and the film as a unit of meaning beyond itself. 1 Von unverfilmbar zu voll verbunden: Vorüberlegungen Als “ unverfilmbar ” (Pilarczyk 2012) galt das im Jahre 2004 erschienene Buch Cloud Atlas von David Mitchell, welches 2012 schließlich dennoch eine Adaption für die Leinwand erhielt (Cloud Atlas, Cloud Atlas - Alles ist verbunden, USA 2012, Tom Tykwer/ Lana Wachowski/ Andy Wachowski). Nicht zuletzt aufgrund dieser Klassifikation wurde die Veröffentlichung des dreistündigen Films von einer Rhetorik begleitet, die eine Bewertung der Besonderheit des Films teilweise unabhängig von seiner inhaltlichen Qualität betrachtet. So wird er als “ größenwahnsinnig ” (cf. Seeßlen 2012), als “ Mammutwerk ” (cf. Pilarczyk 2012) oder als “ aufgeblasen in seiner Ambition ” (cf. Pilarczyk 2012) bezeichnet. Diese Beschreibungen beziehen sich nicht zuletzt auch auf Aussagen des Romanautors selber (cf. Spines 2012), wodurch der Film Cloud Atlas schon vor seiner Veröffentlichung sowohl einem gewissen Hype als auch einem fixierten Rezeptionsrahmen ausgesetzt war, der sich in beinahe allen Rezensionen widerspiegelt. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [102] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Basis für die Annahme der Unverfilmbarkeit des Buches ist dessen komplexe Handlung (cf. Seeßlen 2012), welche sich in sechs abgeschlossenen narrativen Strukturen über sechs Epochen erstreckt, verschiedene Genres abbildet und an zahlreichen Stellen miteinander verknüpft wird. 1 Besonders der Aspekt der Vernetzung verschiedener zeitlich und räumlich weit auseinanderliegender Handlungsebenen in einem fortlaufenden filmischen, a-chronologischen Kontinuum wird nicht nur innerfilmisch ästhetisch, sondern auch metafilmisch auf allen Distributionskanälen als relevant hervorgehoben. Dem Film wird in der Vermarktung auf Plakaten und Werbematerialien von Warner Brothers das Motto “ Future. Present. Past. Everything is connected ” gegeben; in der deutschen Filmversion findet sich dieses sogar im Titel ( “ alles ist verbunden ” ) wieder. Eine derartige Rahmung des Films offenbart bereits ein Desiderat für seine Untersuchung: Es gilt herauszuarbeiten, inwiefern die einzelnen Segmente oder Fragmente des Films tatsächlich auf eine kohärente und den isolierten Erzählebenen übergeordnete Gesamtbedeutung des ‘ Textes ’ 2 hinarbeiten, welche Funktionen also die zahllosen Korrelationen und Spiegelungen auf den Ebenen des Discours und der Histoire für die koexistierende episodenspezifische und eine mögliche universelle Sinnstiftung erfüllen. So oder so gibt ein derartiges Motto auch unabhängig von einer analytischen Perspektive jedenfalls schon eine spezifische Lesart für die Rezipientinnen und Rezipienten vor, einen Rahmen, der das Verstehen des Films auch ohne dessen Durchdringung bis ins Detail - immerhin dauert der Film drei Stunden - möglich macht. Diese Zuschauerlenkung wird verstärkt, indem die zentral und dominant etablierten Paradigmen, Korrelationen und Bedeutungszusammenhänge redundant auf allen Ebenen und in allen Segmenten vermittelt werden. Angesichts der daraus resultierenden Vielzahl der Zugriffspunkte gehen die folgenden Ausführungen privilegiert auf die Erzählsituation, ausgewählte Elemente der Montage und die Filmmusik ein und arbeiten ihre Funktionen für die Medialität des Films heraus. 2 Alle Stimmen sind geschmolzen zu einer: die Erzählinstanz Cloud Atlas lässt sich jenseits ihrer sie alle vernetzenden Präsentationsebene in sechs voneinander unabhängig erscheinende narrative Strukturen - im Folgenden als Episoden bezeichnet - gliedern, welche zu verschiedenen Zeitpunkten in der - vom Produktionszeitpunkt aus gesehen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft situiert sind und je eigene, im Grunde abgeschlossene Handlungsstränge entwickeln. Das Figureninventar der jeweiligen Episoden lässt sich dabei grob differenzieren in (i) Hauptprotagonisten, aus deren 1 Die Fragmentierung der sechs Episoden in verschiedene Segmente und ihre Rekombination erzeugt im so genannten ‘ Short Cuts ’ -Erzählmodell den Effekt, dass die einzelnen Teilals simultane Parallelgeschichten semantisiert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass der Beitrag nicht ausführlich auf Cloud Atlas als ‘ Short Cut ’ -Film eingeht. Ausführliche Grundlagen zu ‘ Short Cut ’ -Narrationen liefert cf. Nies 2007, zu Cloud Atlas als eine ‘ Short Cut ’ Narration cf. Nies 2015. 2 Texte wie Literatur und Film werden hier mit Jurij M. Lotman als “ sekundäre Modell bildende Zeichensysteme ” verstanden (cf. Lotman 1993: 22). Kartografie einer Geschichte 103 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [103] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL eingeschränkter Perspektive die Episoden erzählen, (ii) ihnen entgegengesetzte Antagonisten und (iii) Sympathisanten und Helferfiguren (cf. Abb. 1), die in der Erzählung eine unterschiedlich große Rolle spielen. Innerhalb der Diegese gibt es dabei variierende Erzählstandpunkte und Erzählinstanzen, die sich den sechs einzelnen, eigentlich chronologisch aufeinander folgenden Episoden zuordnen lassen. Dabei werden die sechs rekonstruierbaren Episoden fortlaufend so miteinander verschnitten, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer oft während einer Handlung mit Sprüngen durch Zeit und Raum von einer Episode in einer anderen Episode konfrontiert werden. Abb. 1: Übersicht aller Episoden und der sie verbindenden Medien (eigene Darstellung) Die sechs Episoden werden jedoch alle durch eine übergeordnete, intradiegetisch körperlich repräsentierte Erzählinstanz gerahmt. Die Narration wird durch eine zu diesem Zeitpunkt unbekannte Figur initiiert und beendet, wobei diese Rahmenebene weder zeitlich noch räumlich näher bestimmt wird. Hierdurch wird die Rahmenerzählung nicht nur im Kontrast zu den anderen eindeutig zeitlich und räumlich situierbaren Episoden als exzeptionell ausgewiesen. Zu Beginn des Films ist zudem unklar, wer Adressat dieser Erzählung ist. Statt in Richtung eines potentiellen innerfilmischen Publikums, richtet sich der Blick des Protagonisten durch die vierte Wand hinweg direkt in die Kamera (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 00: 01) 3 . Dadurch wird zumindest suggeriert, dass der Sprecher sich an die realen Zuschauerinnen und Zuschauer im Kinosaal wendet. Hierdurch nimmt die Rahmenerzählung eine gewisse Transzendenz des Erzählten über den Film hinaus vorweg, da sie unabhängig von deren Raum und Zeit Gültigkeit beansprucht. 3 Hier wie im Folgenden werden Belege aus dem Film Cloud Atlas mit dem Timecode in Stunden: Minuten: Sekunden angegeben, zu denen die Belegstelle beginnt. 104 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [104] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 2 und 3: Zacharys Erzählperspektive zu Beginn des Films und in der diegetischen Auflösung (eigene Screenshots) Diese Eingangsperspektive wird am Ende des Films teilweise aufgelöst, indem den Zuschauern mithilfe einer Schultereinstellung die Zuhörer dieser Rahmengeschichte gezeigt werden: Eine Gruppe Kinder, die um ein Lagerfeuer versammelt sind (cf. Cloud Atlas, 0: 02: 34). Dies ist insofern keine problematische Auflösung, als der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls weiß, dass der Erzähler der Rahmenebene der gealterte Zachary ist, der Hauptakteur der sechsten Episode. Zachary wird dieser Episode demnach enthoben und bündelt alle Episoden als gleichermaßen isolierte und zugleich doch miteinander verbundene Aspekte einer kohärenten Geschichte. Dieser zunächst auf der Darstellungsebene eingeführte Zusammenhang setzt sich auch auf der Ebene der Histoire fort und wird durch Zacharys Monolog eingeführt: Oh, einsam ’ Nacht. Die Babas brüllen. Wind frisst ‘ rum an Knochen. So ’ n Wind wie der ist mit Stimmen voll. Die Vord ’ ren heulen dir Fabeln zu, Gebrabbel von Geschichten. Alle Stimmen sind geschmolzen zu einer. Aber eine Stimme ist nicht wie die andern. Sie flüstert in der Nacht, beglotzt dich aus dem tiefen Dunkel; der gefressliche Teufel, Old Georgie selber. (Cloud Atlas 2012, 0: 01: 00) Kartografie einer Geschichte 105 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [105] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hier werden verschiedene Aspekte des Films vorausgegriffen und durch die Rahmung am Ende für den Zuschauer rückwirkend auch als Präsuppositionen sichtbar markiert. Zachary referiert auf den Wind als Medium einer Erinnerungskultur, als Mittler von Stimmen und Mythen, welche sich in der hier gewählten Form der Lagerfeuererzählung wieder materialisieren. Dabei sind viele dieser Geschichten und Erinnerungen zu einer übergeordneten Stimme synthetisiert worden, einem dem Anschein nach der Menschheitsgeschichte übergeordneten Paradigma, welches sich in ihnen wiederfindet. Bereits in dieser Urgeschichte kristallisiert sich ein Antagonist heraus, welcher von Zachary als der Teufel bezeichnet wird, und dem damit ein Konglomerat kultur- und religionsübergreifender negativer Werte und Charakteristika zugeordnet werden kann. Die folgende Geschichte sei ein Bericht des ersten Treffens mit diesem Teufel (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 02: 00), wobei eben keine Überleitung zu Zacharys Episode, sondern zum Fragment von Adam Ewing und dessen erster Begegnung mit Henry Goose erfolgt, die im Jahr 1849 stattfindet. Dieser Anschluss ist jedoch keinesfalls beliebig, im Gegenteil: Goose nimmt in dieser Episode tatsächlich die Funktion des Antagonisten ein. Allerdings erfolgt diese Markierung der Figur als Gegenspieler durch Zacharys Einleitung lediglich für die Zuschauerinnen und Zuschauer, welche also gegenüber Ewing als Figur in der ersten Episode einen Wissensvorsprung haben und die Intention und Handlungen der Figur noch vor deren Inszenierung antizipieren können. Die Rahmenerzählung eröffnet also eine weitere Komplexitätsreduktion, die das Verstehen des Films erleichtert, da sie eine klar binär aufgeteilte Kategorisierung von Figuren in ‘ gut ’ versus ‘ böse ’ zulässt. Zusätzlich zum Rahmenerzähler wird die Handlung der einzelnen Episoden durch eine eigene Erzählinstanz, meist retrospektiv, berichtet. Zwar können die Erzählpositionen in der Regel einem Protagonisten zugeordnet werden, sie wirken jedoch nie nur in ihre eigene Erzählebene hinein, sondern weisen signifikanteVerknüpfungspunkte zu anderen Episoden auf. So wird im Verlauf des Films durch die Montage häufig das Gesagte einer Episode in einer anderen Episode realisiert, erhält eine entsprechende Referenzhandlung und damit sowohl eine von vielen möglichen Interpretationen als auch einen übergeordneten Wahrheitswert innerhalb der Diegese. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet Sonmis Verhör in der fünften Episode, in dessen Verlauf sie über ihre Vorstellung von einem Leben nach dem Tod berichtet. Ich glaube, dass der Tod nur eine Tür ist, wenn sie sich hinter uns schließt, wird sich eine andere öffnen. Wenn ich mir vorstellen wollte, was der Himmel ist, dann würde ich mir eine Tür vorstellen, die sich öffnet und dahinter ist er [ihr Geliebter Hae-Joo Chang, Anm. v. S. Krause] und wartet auf mich. (Cloud Atlas 2012, 2: 34: 00) Gleichzeitig zum Gesagten werden zunächst die Kampfszenen, bei deinen Hae-Joo ums Leben kommt, und dann die Heimkehr Adam Ewings durch die Haustür zu seiner geliebten Frau Tilda aus der ersten Episode gezeigt. Hier wird die metaphorische Tür in der fünften also zu einer konkreten Pforte in der ersten Episode, durch die der Geliebte hindurchtritt. Auffällig geht bei diesem Beispiel auch eine weitere Strategie des Films auf. Beide Paare der jeweiligen Episoden sind mit denselben Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, was die übergreifende Botschaft des universellen Zusammenhangs allen Lebens, den Sonmi proklamiert, bestätigt (cf. Nies 2015: 356). An vielen Stellen wird diese Transzendenz des 106 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [106] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Lebens durch die Mehrfachbesetzung eines relativ überschaubaren Hauptcasts bestätigt, der in den jeweiligen Episoden an verschiedenen Stellen auftaucht. Statt einer Endlichkeit des Lebens manifestiert sich hier also dessen prinzipielle Unendlichkeit, wobei die gesellschaftlichen Funktionen und Rollen der Menschen variieren und sie abwechselnd gut oder böse sind und abwechselnd als Protagonisten oder Antagonisten agieren. Wiedergeburt, wie sie das beschriebene Beispiel suggeriert, wird hier zur Grundannahme der Diegese. Die im Beispiel gezeigte sowohl auditive als auch visuelle Verknüpfung der beiden Paare ist also weder Zufall noch irrelevant, sie verdeutlicht vielmehr die Konkretisierung der filmspezifischen Anthropologie und des narrativen Sinnstiftungsangebots. Während Sonmi und Hae-Joo tragisch sterben, finden Adam und Tilda schließlich glücklich zusammen. Obwohl es insbesondere die Erzählinstanz der Rahmenerzählung ist, die “ eine Kohärenz stiftende narrative Ordnung erkennbar [macht] ” (cf. Nies 2015: 346) tragen auch die Erzählerstimmen der einzelnen Episoden dazu bei, dass die Diegese innerhalb dieses Rahmens als kohärentes Ganzes, als semantisches Gesamtwerk interpretiert werden kann, dessen einzelne Ebenen zwar zum Teil redundant auf sich selbst verweisen, damit jedoch ein dichtes Netz an Interpretations- und Referenzvorlagen zur Verfügung stellen, welche sich als eine Art Verstehensfolie auf den Film projizieren lassen und damit jederzeit den Zugang zu dieser Gesamtsemantik ermöglichen. 3 Nahtlose Übergabe: Verknüpfungselemente zwischen den Episoden Die zunächst durch die Erzählebenen dominant auditive Ebene der Kohärenzschaffung wird vielfach durch visuelle Elemente ergänzt. So bieten entweder vergleichbare Ereignisse oder ähnliche Geräusche Anschlusspunkte für einen Schnitt und eine Fortsetzung in einer anderen Episode. Gleich zu Beginn des Films wird das Laden der Pistole von Robert Frobisher mit dem Klang der magnetischen Fesseln Sonmis überspielt (cf. Cloud Atlas 2012: 0: 03: 00) und eine Bitte um Hilfe, die 1973 telefonisch an Luisa in der dritten Episode gestellt wird, löst sich 2012 durch ein nahtlos anschlussfähiges Telefonat zwischen Timothy Cavendish und seinem Bruder in der vierten Episode auf (cf. ebd. 0: 42: 00). Auch gleiche Bewegungsabläufe und Perspektivierungen bieten Anlass für den Sprung zwischen verschiedenen Sequenzen. Eine Verfolgungsszene in der fünften Episode im Jahr 2144 wird etwa mit einer für den Sklaven Autua vergleichbar lebensbedrohlichen Szene in der ersten Episode im Jahr 1849 parallelgeführt, indem die Schnitte einerseits kürzer und andererseits als Extension des Vorangegangenen eingesetzt werden. Dies wird in der genannten Sequenz mehrfach aufeinanderfolgend vollzogen, etwa durch eine parallele Perspektivierung des jeweils Verfolgten aus der dem Verfolger zurechenbaren Froschperspektive. Hierdurch entsteht nicht nur eine Unmittelbarkeit der Gefahr, welche funktional für die jeweiligen Episoden ist, sondern erneut ein gemeinsamer Rahmen für Erwartungen, die der Zuschauer an den Ausgang des Geschehens stellen kann. Beide möglichen Ausgänge werden dabei exerziert: Während die Verfolgungsjagd im Jahr 2144 mit Sonmis Festnahme und Hae-Joos vermeintlichen Tod endet, wird das Leben des Sklaven Autua im Jahr 1849 verschont. Vergleichbar zu diesem Beispiel bietet auch ein gemeinsames narratives Paradigma wie Verfolgung und Bedrohung oder Freiheit (cf. zum Beispiel Cloud Kartografie einer Geschichte 107 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [107] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Atlas, 1: 21: 00) Anlass zur Verknüpfung. Diese unmittelbaren Kohärenzmittel sind insofern funktional für den Film, als er häufig und nicht chronologisch zwischen den Episoden springt und diese in Abfolgen von ca. 150 Sequenzen präsentiert. 3.1 Der Komet als sinnstiftendes anthropologisches Zeichen Eine weitere filmübergreifende Verknüpfung erfolgt durch das Zeichen des Kometen, welcher in Form eines Muttermals der Protagonistinnen und Protagonisten in allen Episoden auftaucht. Dies ist in zweierlei Hinsicht relevant für die Vermittlung der Filmsemantik: Der Komet repräsentiert erstens sowohl eine Welt abseits der Erde und der Materialität, die den Menschen zugänglich ist als auch die Anwesenheit und Sichtbarkeit von Materie, die eigentlich bereits vergangen ist und nicht mehr existiert. Er kann demnach als Zeichen verstanden werden, welches auf die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft referiert. Dies zeigt sich im Gespräch zwischen Sixsmith und Luisa in der dritten Abb. 4 und 5: Anschluss durch Montage gleicher Bewegungsabläufe (eigene Screenshots, Cloud Atlas 2012, 01: 18: 00) 108 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [108] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Episode, indem Sixsmith das Muttermal erkennt - sein früherer Geliebter Robert Frobisher hatte es ebenfalls in der zweiten Episode - und Luisa als Folge dessen ebenfalls mit positiven Charaktererwartungen versieht. Er macht sie zur Trägerin seines Wissens über die Korruption rund um den Atomreaktor auf der Insel Swannekke und stößt als Konsequenz die eigentliche Handlung dieser Episode an (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 18: 00). Zweitens suggeriert das gleichförmige Muttermal einen genetischen Zusammenhang der Figuren und verstärkt damit den Gedanken einer Verbundenheit allen Lebens, wie er bereits zu Beginn formuliert wird. Folgt man dieser Lesart, wird die entsprechend zugrundeliegende Semantik am Filmende nochmals überhöht, wenn nicht nur das Muttermal auf Zacharys Hinterkopf sichtbar wird, sondern der Film mit einer Totalen auf die bereits eingangs gezeigte Milchstraße endet, welche von einem Kometen gekreuzt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 41: 00). Die Verbindung aller Figuren, welche offenbar kosmische und damit über den Einflussbereich des Menschen hinausgehende Ursachen hat, setzt sich hier also über die Erzählinstanz hinaus fort und etabliert sich als Grundgedanke, der als Teil einer intradiegetischen Offenbarung Sonmis auch verbalisiert wird (cf. Cloud Atlas 2012: 2: 33: 00): “ Unsere Leben gehören nicht uns. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit anderen verbunden. In Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft. ” Sowohl die hier vermittelte Konzeption des Lebens als transzendent und über den individuellen Körper hinausgehend als auch die Vorstellung, dass Handlungen einen Kausalzusammenhang für die Zukunft aller Menschen haben, werden mit keiner einzelnen Religion oder Kultur verknüpft, sondern synthetisieren verschiedene Modelle zu einer universellen Anthropologie. 3.2 Das Wolkenatlassextett als musikalischer Nexus Die Filmmusik wird ebenfalls in diese filmische Anthropologie integriert und dient neben den oben genannten visuellen Beispielen der auditiven Verknüpfung der Handlungsstränge. So komponiert Vyvyan Ayrs mithilfe Robert Frobishers etwa das Stück Ewige Wiederkehr, welches filmintern als gleichermaßen “ vollendet ” und “ tollkühn ” bezeichnet wird (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 50: 00), jedoch semantisch von geringerer Relevanz bleibt. Anders ist dies beim titelgebenden Wolkenatlassextett, welches von Frobisher allein komponiert wird. Dessen Fertigstellung passiert filmisch genau in dem Moment, in dem Sonmi ihre Offenbarung über das Leben hat und sich entschließt gegen die unterdrückerische Regierung aufzubegehren (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 23: 00). Diese Stelle markiert ein im Film wiederkehrendes Paradigma der Autonomiegewinnung einer bisher unterlegenen Person als Repräsentantin eines schwächeren Kollektivs gegen seine Tyrannen, welches durch die spezifische Inszenierung unwiderruflich mit dem Sextett verbunden wird. Es taucht daher an solchen Stellen im Film sowohl in Ausschnitten als auch in voller Länge auf, die diesem Paradigma entsprechen und kontextualisiert diese sowohl explizit als auch implizit als Sequenzen, in denen Figuren gesellschaftlich gesetzte Konventionen zugunsten der Autonomiegewinnung brechen, wie etwa Frobishers Abschiedsbrief an Sixsmith vor seinem Selbstmord (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 00: 00), Sonmis Sexszene mit Hae- Joo (ebd.) oder Cavendishs Liebesszene mit Jugendliebe Ursula (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 59: 00). Auch die Reporterin Luisa stößt bei ihrer Recherche über Sixsmith auf das Sextett Kartografie einer Geschichte 109 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [109] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL und scheint sich entgegen aller Wahrscheinlichkeiten daran zu erinnern (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 57: 00). Erneut werden hier Bezüge zu ihren vorherigen Figurenidentitäten sichtbar, welche sich in der Entstehungsgeschichte des Sextetts widerspiegeln. Frobisher proklamiert, “ komplette Sätze in der Vorstellung geschrieben [zu haben], dass wir zwei [Ayrs und er, Anm. S. Krause] uns in unterschiedlichen Leben und Epochen immer wieder treffen ” (cf. Cloud Atlas 2012: 1: 30: 00). Das Stück ist demnach genuin als Konnex oder auch als Medium angelegt, welcher/ welches Zeit und Raum überwindet und im Discours eine Möglichkeit zur Kontextualisierung, Rahmung und Auflösung von einzelnen Sequenzen bietet - etwa des Traums von Sixsmith, der dramaturgisch mit der Melodieführung gleichgeführt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 00: 00). Dies passiert vor allem an solchen Stellen im Film, an denen keine weitere Verortung oder Verknüpfung durch die Erzählinstanz geleistet wird. Zusammenfassend kann herausgehoben werden, dass der Film sein Motto der Verbundenheit und Kohärenz auf Ebene des Discours selbstreferenziell umsetzt. Die bis zu 150 Sequenzen aus insgesamt sechs Episoden werden redundant sowohl auf einer rein technischen Ebene entweder durch Parallelführungen von Kameraeinstellungen und -perspektiven oder durch Geräusche und Musik als auch auf einer tieferen Ebene durch sich wiederholende Symboliken und Paradigmen sowie das Wolkenatlassextett miteinander verknüpft. Dabei ist das titelgebende Musikstück selbst eine perpetuierte Referenz auf die Struktur des Films: Obwohl dieser aus sechs einzelnen Episoden besteht, kann nur durch die Gesamtheit aller dieser Fragmente ein Gesamtwerk entstehen. 4 Inhaltliche Spiegelungen Die bisherigen Ausführungen haben bereits darauf hingewiesen, dass die Verknüpfung der Episoden und Szenen nicht nur oberflächlich, etwa zur visuellen Kohärenzschaffung, sondern auch als Instrument der Verstärkung der diskutierten Werte und Normen dient. Auf ausgewählte Beispiele, in denen die inhaltlicheVerknüpfung im Vordergrund steht, genauer vier horizontale Spiegelungen, soll nun eingegangen werden. Eine erste Spiegelung lässt sich zwischen Adams und Zacharys Episode identifizieren. Adam Ewing kämpft in der ersten Episode nach der Vergiftung durch den Antagonisten Goose um sein Leben, während letzterer ihn berauben will. Zachary ist mit seinem Schwager und Neffen in der sechsten Episode in einer Schlucht von Kannibalen umzingelt und versteckt sich, während seine Verwandten exponiert sind. Beide Situationen verlaufen zunächst insofern analog, als eine Bekämpfung des Antagonisten Goose oder der Kannibalen jeweils nur durch eine dritte Partei möglich ist. In Adams Fall ist dies der Sklave Autur, während es in der sechsten Episode Zachary ist, der seinen Verwandten das Leben retten kann. Für den Zuschauer wird diese Verknüpfung erst an späterer Stelle verdeutlicht, sie zeigt sich jedoch schon in der an beiden Stellen wiederholten Formel: “ Es wandern die Schwachen den Starken in den Rachen ” (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 34: 00). Die Unterscheidung dessen, wer als stark oder schwach semantisiert wird, zeigt sich in den Handlungen der Figuren. Während Zachary in seinem Versteck bleibt, überwältigt Autur Goose und rettet Ewing das Leben. Die Überwindung des Tyrannen, wie sie bereits oben als Paradigma beschrieben wurde, findet sich auch hier wieder und kann nur durch Mut und freundschaftlichen Zusammenhalt umgesetzt werden. 110 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [110] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Dies bestätigt sich durch eineWiederholung der Gefahrensituation für Zachary, bei der er vor dieselbe Entscheidung des Verharrens oder Helfens gestellt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 27: 00). Relevant sind nun einerseits die eingangs benannte Korrelation zwischen Goose und dem Teufel und andererseits der Fakt, dass sowohl Zachary als auch Goose mit Tom Hanks vom selben Schauspieler verkörpert werden. Gooses Vergangenheit und Untaten in der ersten Episode werden also jetzt in der sechsten Episode durch den Teufel (HugoWeavig als Old Georgie) verkörpert, der Zachary imaginär erscheint. Gooses Vergangenheit und Untaten sind damit transformiert auch in Zacharys Gegenwart präsent. Auffällig ist auch Zacharys Steinkette, die den Westenknöpfen gleicht, welche Goose dem sterbenden Ewing stiehlt (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 27: 00). Erst durch Rückbesinnung auf Sonmis Geschichte, die als Mythos in der postapokalyptischen Welt fungiert, und durch das Zerreißen der ihn symbolisch an diesen Mythos fesselnden Kette im Kampf kann Zachary Meronym helfen und die Kannibalen besiegen. Hier befreit sich der Protagonist also nicht nur symbolisch, sondern auch explizit von den Geistern seiner Vergangenheit und seinen inneren Dämonen und emanzipiert sich von der Unterdrückung seines Denkens und Handelns ebenso, wie von der ihn fremdbestimmenden mythischen Erzählung. Die zweite relevante Spiegelung auf der Ebene der Gesellschaftskonstitution entsteht zwischen der Episode um Adam Ewing und der von Sonmi. Beide Weltmodelle werden von einer initialen als “ naturgegeben ” (Cloud Atlas 2012, 2: 39: 00) konstatierten Weltordnung bestimmt, welche bestimmte ethnische Kollektive (einerseits Sklaven, andererseits Duplikanten) als minderwertig ansieht und unterdrückt. Beide Protagonisten müssen diese Ordnung überwinden, indem sie ein eigenes Weltbild und einen freien Willen entwickeln. Dies ist jeweils nur durch eine emotional-affektive Grenzüberschreitung möglich. Ewing auf der einen Seite freundet sich mit Autur an und erodiert damit die Hierarchisierung zwischen Weißen und Schwarzen. Sonmi verliebt sich in ihren Befreier und schläft mit ihm, wodurch sie die Zweckausrichtung der Duplikanten auf die Arbeit unterläuft. Beide werden zudem in die Lage versetzt, ihr neu erlangtes Weltbild gegenüber Vertretern der traditionellen Weltordnung zu behaupten. Ewing verbrennt den für seinen Schwiegervater gedachten Sklavenvertrag (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 37: 00) und schließt sich den Sklavenbefreiern an. Sonmi gibt ihre Offenbarung vor ihrem Tod an den Verhörleiter weiter, sodass jeweils ein Erhalt des nonkonformen Gedankenguts gesichert ist (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 35: 00). Die dritte betrachtete Spiegelung manifestiert sich auf der Ebene der Paarbeziehungen. So gibt es jeweils zwei Mal eine Paarung, die durch die gleiche Schauspielerin und den gleichen Schauspieler verkörpert wird und die einmal tragisch und einmal glücklich endet. Die beginnende Beziehung zwischen Isaak und Luisa in der dritten Episode etwa wird durch Isaaks Ermordung unmöglich. Zachary und Meronym hingegen finden in der sechsten Episode zueinander. Die Beziehung zwischen Hae-Joo und Sonmi in der fünften Episode endet mit deren Tod, während Tilda und Adam in der ersten Episode zueinander finden. Hier perpetuiert sich die Möglichkeit zur Wiedergeburt, wobei das Verhalten der Protagonisten den Ausgang der Geschichte nur eingeschränkt definiert. Vielmehr wird deutlich, dass die Relevanz emotional-affektiver Beziehungen allgemein im Film besonders hoch ist, da sie Katalysator für Handlungen einerseits und die individuelle Emphase der Figuren andererseits ist, unabhängig von deren Schicksal. Dies zeigt sich auch in der Re- Kartografie einer Geschichte 111 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [111] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Installierung der Beziehung von Cavendish zu seiner Jugendliebe Ursula (Cloud Atlas 2012, 2: 35: 00) oder dem ungebrochenen Glauben des gealterten Sixsmith, dass seine Liebe zu Frobisher auch über dessen Tod hinaus real sei (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 29: 00). In einer weiteren Spiegelung wird eine direkte Relation zwischen Adam Ewing und Robert Frobisher hergestellt. Letzterer proklamiert diese Verbindung selbst, indem er sich etwa als Ewing in einem Hotel ausgibt, um nicht erkannt zu werden, oder, indem er in Briefen an Sixsmith darauf hinweist, dass Ewing blind gegenüber seinen potentiellen Antagonisten sei und damit Stellung zu dessen Leben bezieht (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 40: 00 & 1: 43: 00). Interessant ist nun, inwiefern diese Relation zum Problem für Frobisher wird. Da er nur das halbe Buch Ewings lesen konnte, hat Frobisher auch keine Kenntnis vom positiven Ausgang der Geschichte. Stattdessen ist er dem Glauben verhaftet, dass die Vergiftung Ewing zum Verhängnis wird. Analog dazu schätzt auch er seine Zukunft als problematisch ein. Die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation und die Angst vor der gesellschaftlichen Isolation führen dazu, dass Frobisher Suizid begeht, noch bevor eine dritte Partei eingreifen und ihn retten kann. Als Komponist des Sextetts jedoch hinterlässt er den Konnex zu seiner eigenen Zukunft. Insgesamt fällt auf, dass viele der zentralen inhaltlichen Spiegelungen die zeitlich erste Episode betreffen. Obwohl diese den Ursprung der diegetischen Chronologie bildet, ist sie keinesfalls als genuine Ursprungsgeschichte zu verstehen. Vielmehr erlauben die Rückbezüge auf diese Episode ein Verständnis und eine Grundlage für die weitere Handlung und eine Grundlage, mithilfe derer eine Kategorisierung der anderen Figuren stattfinden kann. Die diesen Kategorien zugrundeliegende Ordnung jedoch, hat ihren Ursprung nicht 1849, sondern erscheint als naturgegebene anthropologische Konstante, welche dem Menschen übergeordnet ist. 5 Medialität in Cloud Atlas Bis hier sollte deutlich geworden sein, dass Medien in Cloud Atlas eine besondere Rolle zugeschrieben wird und man sie hinsichtlich ihrer Reliabilität und ihrer Funktion für die Figuren hinterfragen sollte. Mediale Texte sind insofern relevant für den Film, als sie die signifikantesten Instrumente der Verknüpfung auf der Ebene der Histoire darstellen und damit ihrer genuinen Vermittlerfunktion nachkommen. Dabei greift die jeweils spätere Episode durch ein Medium die Erzählung der früheren Episode auf, wobei jede Querverbindung hinsichtlich des gewählten Mediums und der Verlässlichkeit des Erzählers variiert (cf. Abb. 1, wo die Medien symbolisch zwischen den Episoden visualisiert werden). Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel einer Sequenz, die mit dem Tagebucheintrag Adam Ewings in der ersten Episode startet, welches Robert Frobisher in der zweiten Episode als Erzählung 1936 liest und von dem er in seinen Briefen an Sixsmith berichtet, welcher diese 1973 liest (cf. Cloud Atlas 2012: 0: 40: 00 - 0: 41: 00). Zwischen der 1849er und 1936er Episode vermittelt also ein Tagebuch, wobei bereits erwähnt wurde, dass dessen partielle Rezeption katastrophale Konsequenzen für eine der gezeigten Figuren hatte. Frobishers Briefe aus der zweiten Episode dienen als Medium zwischen 1936 und der dritten Episode 1973 und wirken dort sowohl als Initiator der Handlung, sowie als Auflösungselement, indem sie an Familienmitglieder weitergegeben werden. Luisas Geschichte aus der dritten 112 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [112] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Episode wird vom Nachbarsjungen Javier Gomez als Buch aufgeschrieben und das Manuskript 2012 in der vierten Episode von Timothy Cavendish gelesen (cf. ebd. 0: 53: 00). Dieser schreibt seine Geschichte autobiografisch auf; als Medium zur nächsten, der fünften, Episode dient jedoch dessen Verfilmung, welche Sonmi 2144 in Neo Seoul sieht. Auch hier kommt es zu einer partiellen Rezeption des Videos, was erneut zur Eliminierung einer Figur aus der Diegese beiträgt (Cloud Atlas 2012, 0: 31: 00). Erst mit dem vollständigen Sehen und dem Zugang zu weiterem Wissen wird die Medienrezeption für Sonmi als charakterbildend erkannt. Ihre Emanzipation spitzt sich in ihrer Offenbarung zu, welche in die Post- Apokalyptische Zeit Zacharys in der sechsten Episode als göttlicher Mythos übertragen wird. Diese letzte Episode hat nun sogar einen Bezug zur Rahmenerzählung, in der “ filmisch die archaischste Form von Geschichtenerzählen, die mündliche Tradierung ” (cf. Nies 2015: 356) am Lagerfeuer gewählt wird. Insgesamt lässt sich argumentieren, dass Medien im Film eine katalytische Funktion erfüllen. Mit Blick auf diesen Zusammenhang zwischen Rezeption und darauffolgendem Aktionismus in den narrativen Strukturen werden Medien zunächst als gesellschaftlich relevant und positiv eingestuft. Allerdings wird wie im Beispiel von Frobisher auch deutlich, dass Medien und deren Rezeption manipulierbar sind. So wird in der vierten Episode recht eindringlich gezeigt, dass nicht der Inhalt eines von Cavendish verlegten Buchs den Erfolg ausmacht, sondern ein Skandal um dessen Autor für große Absatzzahlen sorgt. Auch die Rolle eines Buchkritikers für die Rezeption wird hier thematisiert, da diese Form literarischer Popularisierung sich als höchst problematisch erweist, ist sie doch Auslöser für alles, was Cavendish zustößt. Mediale Produkte können also nur dann eine positive Funktion für Individuen und damit eine positive Rolle in der Gesellschaft einnehmen, wenn sie einerseits nicht zensiert und fragmentiert werden, wenn also ihre Gesamtbedeutung erhalten bleibt, und wenn sie andererseits durch andere Wissensquellen kontextualisiert werden, wie es für Sonmi oder später Zachary im Umgang mit Sonmis Offenbarung relevant wird 4 . Andernfalls kommt es zu einem Stillstand, der sich als ein Verharren in entweder religiösen oder gesellschaftlichen Status Quo-Zuständen manifestiert, welche in jedem Fall systematisch durch die Protagonisten zu erodieren sind. Hat für Sonmi die Filmrezeption überhaupt erst ermöglicht, ein differenziertes Weltbild zu konstruieren, zeigt sich an anderer Stelle, dass Medien auch die entgegengesetzte Wirkung haben können, dann nämlich, wenn durch sie nur dasjenige einer Geschichte übertragen wird, was überhaupt medial festgehalten ist. Sonmis Offenbarung etwa hat in Zacharys Zeit den Status einer göttlichen Weisung, sie ist in einer Art Bibel festgehalten und Sonmi wird als Gottheit angebetet. Erst Merowyn kann Zachary über die wahre Geschichte Sonmis aufklären und seine Weltsicht damit teilweise säkularisieren. Mediale Übertragungen enthalten also immer auch Leerstellen, Informationen, die nicht übertragen werden, deren Fehlen jedoch den Rezeptionsprozess beeinflussen und neu kontextualisieren und gleichermaßen Umdeutungen, sowie Mystifizierungen zulassen. Dennoch sind es Medien, die überhaupt eine intradiegetische Verknüpfung zwischen den 4 Dies zeigt sich auch an der ersten Episode, deren Erzählanlass erneut ein Schriftstück (der Vertrag mit den Sklavenhändlern) ist, und in der philosophische Texte die Grundlage für die naturgegebene Ordnung zwischen Weißen und Schwarzen festschreiben. Auch hier führt eine Ergänzung des Wissenskontextes durch Adam Ewing dazu, dass das Medium und die darin konservierte Ordnung infrage gestellt werden. Kartografie einer Geschichte 113 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [113] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Zeitaltern ermöglichen. Ihnen werden hier die “ Tradierung, Kohärenzstiftung und die Verursachung neuer Wirkungen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg zugeschrieben ” (cf. Nies 2015: 356), weshalb sie ebenfalls als eine anthropologische Konstante der filmischen Diegese identifizierbar sind. 6 Fazit Cloud Atlas erschafft durch das Maß seiner Selbstreferenzialiät, welche sich auf allen filmischen Ebenen manifestiert, eine Art filmspezifischen Code, einen ‘ Lösungsschlüssel ’ , der das Verstehen der Diegese nicht nur anleitet, sondern überhaupt ermöglicht. Die Redundanz zentraler Semantiken evoziert dabei eine dominante Lesart des Films, welche eventuell fragmentierte oder isolierte Interpretationsansätze konstant unterläuft oder unmöglich macht. Dabei postuliert der Film die Existenz eines übergeordneten Sinns, welcher zwar bereits a priori mithilfe des Distributionskontextes erfassbar ist, der sich jedoch in seiner umfänglichen Semantik erst nach dem Sehen des Films ausdifferenziert. Dieser Sinn und seine Findung kristallisieren im Film in der vorgeschlagenen Anthropologie und Philosophie, welche das Leben vom konkreten Materialismus in den jeweiligen Epochen löst und stattdessen durch Handlungen und deren Kausalitäten determiniert. Obwohl diese Handlungen hochgradig individuell sind, etabliert der Film eine zunächst scheinbar paradoxe Vorstellung des Subjekts. Dieses soll sich aus seiner Gefangenschaft - manifestiert in der Ungleichheit der Geschlechter, dem Sklavenhandel, der Heteronomie diktatorischer Regierungen etc. - befreien und gegenüber seinem Unterdrücker emanzipieren und damit die bestehende soziale Ordnung erodieren. Nies erkennt darin eine “ quasi didaktische Funktion [des Films]: Er begründet die Notwendigkeit von Ethik in Zeiten des Verlustes aller übrigen Glaubens- und Überzeugungssysteme ” (cf. Nies 2015: 357). Erreicht werden kann diese individuelle und gesellschaftliche Aufklärung jedoch in jedem Falle nur mithilfe Dritter, da Problemlösungen stets mit der Konstruktion emotionalaffektiver Beziehungen einhergehen. Diese neu etablierten Kleinstkollektive sind familiär, freundschaftlich oder auch national motiviert, wobei die Problematisierung des vorgeführten Nationalismus gänzlich ausbleibt. Es geht demnach nicht per se um eine völlige Auflösung gesellschaftlicher Kollektive, sondern vielmehr um die Integration des Individuums in für die Individuen funktionale Beziehungen in Gemeischaften. Scheitert diese Integration in solche Gemeinschaften, scheitern auch die Figuren vorläufig, was sich an der Figur Robert Frobisher nachzeichnen lässt. Obwohl beinahe alle Figuren eine relevante Funktion innerhalb der Gesamtchronologie des Films einnehmen und diverse Handlungsstränge anstoßen, kann historische Kontinuität dennoch nur indirekt durch Menschen erreicht werden. Diese erfolgt stets sekundär, indem sie ihre Geschichten medial konservieren und dadurch kulturell spezifisches Wissen 5 für die Nachwelt erhalten. Medien fungieren also als Wissensspeicher, welche zwar hinsichtlich des Leitmediums variieren, insgesamt aber eine Konstante im Film darstellen. Vor diesem Hintergrund betrachtet proklamiert Cloud Atlas als mediales Produkt 5 Dem zugrunde liegt das in Krah 2006 beschriebene Konzept kulturellen Wissens und kultureller Wissensspeicher. 114 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [114] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL unserer Kultur ein Modell, welches Fragmentierung zugunsten von dichter Vernetzung, isolierende Individualisierung zugunsten von persönlichen Beziehungen und gesellschaftspolitische Resignation zugunsten von Widerstand und Transformation auflöst. Es bleibt fraglich, inwiefern diese Sinnstiftungsmodelle immer auch extradiegetisch Anspruch auf Gültigkeit besitzen. Dennoch bietet die Persistenz, mit der das Motto des Films entworfen und vermittelt wird ein Gegenkonzept zu “ der empfundenen Orientierungslosigkeit des Einzelnen ” (cf. Nies 2015: 352) und ein Interpretationsangebot sowie Handlungsinventar in Bezug auf zentrale Sinnfragen der Gegenwart. Bibliographie Decker, Jan-Oliver 2007 (ed.): Erzählstile in Literatur und Film, (= KODIKAS/ CODE. Ars Semeiotica 30.1 − 2 (2007)), Tübingen: Narr Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse (=LIMES. 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Wie sich das Popcornkino unter dem Druck der Fernsehserien verändert: Cloud Atlas von den Geschwistern Wachowski und Tom Tykwer ” , in: Zeit online, im Internet unter http: / / www.zeit.de/ 2012/ 47/ Film-Cloud-Atlas-Wachowski-Tom-Tykwer [16. 07. 2017] Spines, Christine 2012: “ Bringing the ‘ Unfilmable ’ Cloud Atlas to Screen: An Interview with Author David Mitchell ” , in: Signature. Making well-read sense of the world, im Internet unter http: / / www. signature-reads.com/ 2012/ 10/ bringing-the-unfilmable-cloud-atlas-to-screen-an-interview-withauthor-david-mitchell/ [16. 07. 2017] Kartografie einer Geschichte 115 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [115] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL