eJournals Kodikas/Code 39/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2016
393-4

Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder

2016
Ines Veauthier
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder Ines E. Veauthier (Mainz) While communication may seem to rely on verbal messages, words can become more than mere graphic signs. The subsequent analysis of contemporary US-American prose combining both mainstream American and Mexican-American cultural elements, shows on the one hand that language can carry a deeper meaning which only the cultural context will reveal. On the other hand, words can also conjure up images which may help to understand one ’ s reality or change it to create a new reality. The analysis of the Chicana novel So Far From God aims to prove the thesis that the author Ana Castillo uses language as an instrument of power, thus blurring the boundary between real and imagined, authentic and performed, verbal and visual worlds and the mental frames that go with it. 1 Sprachliche Inszenierung mentaler und kollektiver Bilder Sprachliche Äußerungen lassen sich zunächst als Kommunikationsangebot einordnen und im Sinne der Verständlichkeitsforschung auf Struktur und Sinngehalt untersuchen. In literarischen Texten erschließen sich bei näherer Betrachtung weitere Aspekte, die häufig erst im Zusammenhang mit einem ganzen Kulturraum ihre volle Bedeutung erkennen lassen. Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit zeitgenössischer US-amerikanischer Prosa, die die Lebenswelten von Latinos und Latinas darstellt. Dabei soll die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, mit der eigenen Fiktionalität, mit Authentizität und Repräsentation herausgearbeitet werden. Als Primärwerk wurde Ana Castillos Roman So Far From God gewählt, der in seiner Vorgehensweise an die in antiken Texten häufig eingesetzten Ekphrasen erinnert, die zumeist ein nur in der textuellen Fiktion existierendes Kunstwerk beschreiben. Castillo verwendet inszenatorische Strategien, um mentale Bilder sprachlich zu evozieren und nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Identitätsmuster vor deutlichen Alteritätsfolien zu entwerfen. Die bikulturelle Verortung der Hauptfiguren scheint an den gewählten Bildern, den Handlungen und der sprachlichen Umsetzung auf und wird nur mit Hilfe des kulturellen Kontextes verständlich. Die Untersuchung soll aufzeigen, wie die medialen Wahrnehmungsmuster genutzt werden, um die Visualisierung und Verknüpfung von fiktiven mit fiktionalisierten historischen oder quasi-historischen Figuren als Schlüsselmetaphern einzusetzen. Diese Augenzeugenschaft dient zugleich als Authentisierungsformat. 1 Die Analyse geht von der These aus, dass die semiotischen Grenzen diffuser werden und mit der Vermischung von sprachlichen und bildlichen Elementen angedeutet wird, wie sich verbal eingebettetes Denken in einer immer stärker bildbestimmten Umgebung der Macht der Bilder zuneigt. Dabei bleibt die durch Bildlichkeit erzeugte Authentizität ein wichtiger Faktor, der den Bildern ihre Macht verleiht. 2 Ikonen der Populärkultur Am Beispiel von Ikonen der Populärkultur lässt sich herausarbeiten, wie in den untersuchten Prosatexten die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, mit der eigenen Fiktionalität, mit Authentizität und Repräsentation dargestellt wird. Ana Castillos Roman So Far From God gewährt Einblicke in das Leben der Protagonistin Sofia, die mit ihren vier Töchtern Esperanza, Caridad, Fe und La Loca in dem kleinen Ort Tome in New Mexico lebt und in ihrem bikulturellen Umfeld verwurzelt ist. 2.1 Männlichkeitsideale und Beziehungskonzepte Die Hauptfigur Sofia spielt auf weithin verbreitete Männlichkeitsideale an, wenn sie sich an die ersten Begegnungen mit ihrem späteren Ehemann Domingo erinnert, der das Aussehen von gleich zwei großen Idolen in sich vereint, da er sowohl Clark Gable als auch Frank Sinatra ähnelt (cf. Castillo 1993: 104 - 106). Dieses Idealbild bleibt dabei nicht eindimensional und distanziert, wie es etwa die Abbildung von Ikonen wie Clark Gable oder Frank Sinatra auf Filmplakaten ist, sondern die in Sofias Lebenswelt zur Realität gewordenen Traumbilder üben eine spürbare Macht aus: “ There was a time when Domingo had only to look at Sofi and she would go to him, dissolving in his embrace like liquid gold ” (Castillo 1993: 110). Durch den Vergleich mit dem Edelmetall Gold, das erst bei Temperaturen über eintausend Grad Celsius zu schmelzen beginnt, wird die dramatische Wirkung spürbar, die von einem männlichen Idealbild ausgeht, das durch die bloße Nennung des Namens im Bewusstsein der Leserschaft heraufbeschworen wird. Zugleich verdeutlicht diese Erinnerung den nostalgischen Blick der Protagonistin auf ihr eigenes, durch die männliche Dominanz bestimmtes Leben und damit ebenso die idealisierte, verklärte Wahrnehmung des Gegenübers. Männliches Handeln und Sein erscheint deutlich überhöht, da es auf die Ebene der Ikone gehoben wird. Diese Idealisierung von Männlichkeit erfährt in So Far From God jedoch noch eine Steigerung. Die Protagonistin Sofia muss sich, als sie Domingo kennenlernt, zunächst auf die Schilderungen von Freunden verlassen, die das Idol Frank Sinatra beschreiben, seine Musik für sie abspielen und damit ein mentales Bild verbunden mit positiven Emotionen entwerfen. Sofias Eltern verhindern, dass sie mit Abbildungen des Originals oder den Kinofilmen in Berührung kommt, so dass ihr nur ihre innere Visualisierung zur Verfügung steht. Diese Gleichsetzung des eigenen Verehrers mit dem weithin idealisierten Star verinnerlicht Sofia so umfassend, dass ihr Akt der subversiven Resignifikation logisch und 1 Der Begriff der Authentisierung wird in diesem Beitrag durchgängig im Sinne einer Herstellung von Authentizität verwendet, so wie Bergmann (1998) es in seiner Untersuchung darlegt. 312 Ines E. Veauthier (Mainz) folgerichtig erscheint: “ Since once Sofi got to see what the gangly Frank Sinatra looked like she decided her querido looked more like what the singer should look like than what he actually did ” (Castillo 1993: 112). Domingo soll für die Protagonistin nicht nur einen blassen Abklatsch der Ikone darstellen, sondern wird im Gegenteil zu deren Verbesserung herangezogen. Das Bedürfnis, ein makelloses äußeres Erscheinungsbild zu erzielen, entspricht wiederum den gesamtgesellschaftlichen Tendenzen zur persönlichen Optimierung und perfekten Eigeninszenierung und verweist zugleich auf das Postulat der dominanten Populärkultur, nach dem der eigene Körper, etwa durch Sport, Ernährung und plastische Chirurgie, beliebig konstruierbar ist: Popular culture does not apply any brakes to these fantasies of rearrangement and selftransformation. Rather, we are constantly told that we can ‘ choose ’ our own bodies. [. . .] Of course, the rhetoric of choice and self-determination and the breezy analogies comparing cosmetic surgery to fashion accessorizing are deeply mystifying. They efface not only the inequalities of privilege, money, and time that prohibit most people from indulging in these practices, but also the desperation that characterizes the lives of those who do (Bordo 1997: 337). Die Kluft zwischen dem Anspruch und den Möglichkeiten zur Verwirklichung wird im Roman So Far From God beispielsweise daran erkennbar, dass die finanziellen Mittel der Protagonistin sehr begrenzt sind, sie den Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder mit der Arbeit in einer Metzgerei bestreiten muss und nur ein einziges Mal ein festliches Kleid kauft, um ihre Vorzüge herauszustreichen und sich selbst in Szene zu setzen (cf. Castillo 1993: 111 - 113). Die subversive Resignifikation wiederum beschränkt sich nicht auf eine idealisierte Männlichkeit, sondern dient auch dazu, den eigenen Lebensentwurf der Protagonistin erträglich zu machen. Nach etwa fünfzehn Jahren Ehe geht ihr Mann Domingo eigene Wege und lässt sie mit den vier gemeinsamen Töchtern alleine, so dass sie als “ la pobre Sofi ” allseits bedauert wird (Castillo 1993: 135). In ihrem Umfeld wird Sofia übereinstimmend als ‘ la abandonada Sofi ’ angesehen und sie selbst identifiziert sich auch mit dieser Bezeichnung, da sie von ihrem Mann verlassen wurde (cf. Castillo 1993: 134). Auch als Domingo nach zwanzig Jahren Abwesenheit ohne weitere Erklärung plötzlich zurückkehrt, bleibt Sofia ‘ La Abandonada ’ . Dieser Begriff des oder der Verlassenen besitzt im deutschen oder auch amerikanischen allgemeinen Sprachgebrauch keine besondere Bedeutung, doch ‘ la abandonada ’ ist im Roman bereits durch die Wahl der spanischen Sprache im mexikanischamerikanischen Kulturraum zu verorten. Entsprechend sind das mit dem Begriff verknüpfte Bild und die damit einhergehende emotionale Aufladung nur zu verstehen, wenn diese Facette der Chicanokultur etwas eingehender beleuchtet wird. El Abandonado ist der Titel und auch Teil einer Strophe aus einer bekannten Ballade der Vaqueros oder Charros. Vaqueros weisen Parallelen zum nordamerikanischen Cowboy auf. Sie sind auf die Arbeit mit Pferden spezialisiert und führen ihr Können bei Rodeos oder Charreadas vor. Bestimmte Aspekte dieser Figur werden hervorgehoben und idealisiert, erlangen im Lauf der Zeit nationale Bedeutung und bedienen die nostalgische Vorstellung von mexikanischer Männlichkeit: “ After the Mexican Revolution the charro image became a national symbol reinforced by literature, by becoming the national costume of mariachi (singing musicians) groups, and by a nationalism that evoked a romantic regional cultural Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 313 history of Mexico ” (Castro 2001: 51, Hervorh. im Original). Die Balladen der Vaqueros zeichnen melancholische Bilder von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, so auch in der Version von El Abandonado, die West anführt (1988: 130). Verlassen zu sein bedeutet hier den Verlust von Lebensfreude und Unbeschwertheit und somit eine Einschränkung der eigenen Persönlichkeit. Entsprechend bedeutet die Festlegung auf den Lebensentwurf ‘ La Abanonada ’ für Sofia einen gewissen Druck zur Rollenkonformität und eine eingeengte Eigeninszenierung. 2 Im Falle der Protagonistin stellt sich die Festlegung auf ein eingeschränktes, aber gesellschaftlich sanktioniertes Leben als ‘ La Abandonada ’ als eine subversive Inszenierung und damit auch zunächst bewusste Resignifikation heraus. Diese Zusammenhänge dienen als Anschauungsbeispiel des Inszenierungsbegriffs, wie er von Erika Fischer-Lichte definiert wird: Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird - auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen “ (Fischer-Lichte 1998: 88). Als ein bedeutender Faktor ist hierbei anzusehen, dass möglicherweise verborgene positive Aspekte vorgegebener Leitbilder ins Gewicht fallen. Sie können auf Grund ihrer festen kulturellen Verankerung umfassende soziale Akzeptanz bieten, woraus wiederum folgt, dass eine unangepasste Lebensweise verbunden mit veränderten Leitbildern auf Ablehnung stößt und schlimmstenfalls soziale Ausgrenzung zur Folge hat. Nach den tradierten Vorstellungen, die für den Zeitraum der Romanhandlung Gültigkeit besitzen, erfährt eine mexikanisch-amerikanische Frau durch ihre Mutterschaft Akzeptanz in der Gesellschaft und sollte ihren Selbstwert an ihrer Stellung in der Familie ausrichten: “ A Chicana is usually devoted to the care and rearing of children, with tendencies towards overprotectiveness. More often than not she lives through the accomplishments of her sons and daughters ” (Solís 1977: 88). Während der jahrelangen Abwesenheit ihres Mannes verdrängt Sofia die Einzelheiten der Trennung und arrangiert sich mit ihrem neuen Selbstbild. Erst als Domingo wieder zurückkehrt, nach einiger Zeit in seine alten Gewohnheiten verfällt und sogar das gemeinsame Haus verspielt, erinnert sie sich genauer daran, dass seine zunehmende Spielsucht zwanzig Jahre zuvor der eigentlicheTrennungsgrund gewesen war: [H]ow back in those early days Domingo was little by little betting away the land she had inherited from her father, and finally she couldn ’ t take no more and gave him his walking papers. Just like that, she said, “ Go, hombre, before you leave us all out on the street! ” Yes! It had been Sofia who had made Domingo leave. Believe it or not, comadre. But for twenty years, everyone (starting with Sofia herself ) had forgotten that one little detail, calling her la “ Pobre Sofi ” y la “ Abandonada ” (Castillo 1993: 214 - 215). Für Sofia entsteht eine eigene Wirklichkeitsform, in der die Trennung von Elementen der Realität und der Fiktion nebensächlich wird. Bereits Nietzsche stellte die Objektivität und eindeutige Wahrnehmbarkeit von Realität grundlegend in Frage: 2 Wie wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, geht mit diesen Zusammenhängen unweigerlich eine psychische und physische Belastung einher (cf. Andersen 1988: 77). 314 Ines E. Veauthier (Mainz) Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, daß es einen wesenhaften Gegensatz von “ wahr ” und “ falsch ” gibt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins - verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht - nicht eine Fiktion sein? (1984: 46). Mit seiner Frage zweifelt Nietzsche die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung an. In ähnlicher Weise erscheint für die Protagonistin in So Far From God nicht die Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Einbildung lebenswichtig, sondern eine Form der authentischen Lebenswirklichkeit, die die äußeren Umstände erträglich macht. Die Gründe für Sofias Auslegung der Wahrheit sind wiederum in ihrem Umfeld und ihrer Sozialisation zu finden. Die Chicanokultur zeichnet sich insbesondere durch ihren Synkretismus und den sogenannten folk Catholicism aus. Historisch lassen sich diese Strömungen überwiegend zurückführen auf das vorkoloniale aztekische Weltbild und dessen Vermischung sowohl mit den katholischen Glaubenslehren der Missionare und spanischen Conquistadores, die ab dem 16. Jahrhundert das Leben im Gebiet des heutigen Mexiko bestimmten, als auch mit den Formen des Aberglaubens, die zugleich mit den Glaubensformen aus Kastilien eingeführt wurden. 3 Unter Chicanos findet sich die Tendenz, Traditionen zu achten und der älteren Generation Respekt entgegenzubringen. Entsprechend kommt der Einhaltung gesellschaftlicher Sitten und Gebräuche und religiöser Vorschriften besonders in festgefügten Gemeinschaften ein hoher Stellenwert zu. Sich scheiden zu lassen widerspricht für die Protagonistin von Castillos Roman nicht nur der katholischen Lehre, sondern würde das Verhältnis zu ihrer Mutter zerstören. Daher sieht Sofia zu Lebzeiten der Mutter die heimliche Trennung von Domingo und damit die Schaffung einer neuen Lebenswirklichkeit für sich selbst als einzigen Weg an, in ihrer Umgebung akzeptiert zu bleiben. Zwanzig Jahre zuvor, als Sofia eine Entscheidung treffen musste, hätte das Zulassen einer anderen Realität zur Folge gehabt, dass der jungen Frau die Position einer klaren Alterität zugewiesen worden wäre: But back then, to be excommunicated was more fearful to Sofia than the thought of destitution; not to mention that her mother was still alive then, and her mother had been like the Church ’ s conscience incarnated to her daughter. If anything ever brought the fear of God to Sofi even more than the thought of being excommunicated it was her mother ’ s disapproval, so divorce had been out of the question (Castillo 1993: 218). Trotz ihres starken Willens und ihrer eigenständigen Denkweise schreckt die Protagonistin vor einer alteritären Lebensgestaltung zurück. So entsteht durch ihre Inszenierungen eine Dynamik zwischen den konkurrierenden Bildern von idealer Männlichkeit und Weiblichkeit und den Bedingungen und Wirkungen von Identitätsrestriktionen. 2.2 Einflüsse von Werbung und Medien Die aufgezeigten Darstellungen idealisierter Bilder der traditionsgeleiteten und der populären Kultur illustrieren auch den großen Einfluss, den Werbung und Medien ausüben. Ana Castillos Roman So Far From God entspricht durch seine Inszenierungen den Konventionen einer im mexikanisch-amerikanischen Kulturraum angesiedelten Seifen- 3 Umfassende Ausführungen zu diesen Zusammenhängen finden sich u. a. bei Baumgartner 1971, Briesemeister und Zimmermann 1996, Nebel 1992 und Rodriguez 1994. Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 315 oper, was im Klappentext des Romans als Chicana telenovela bezeichnet wird. Dieses Genre entwickelte sich aus europäischen Traditionen der Fortsetzungsgeschichten im 19. Jahrhundert und ist überwiegend als Serie im Fernsehen anzutreffen. 4 Das Fernsehen wiederum wird durch seine Darstellung der Welt als Metapher einer ganzen Kultur angesehen. Besonders deutlich erscheint der Kontrast zwischen den Medien Fernsehen und Buch, die als Wort oder Bild jeweils ganz eigene, prägende Spuren im geistigen Leben hinterlassen: “ Das ist der Unterschied zwischen dem Denken in einer wortbestimmten und in einer bildbestimmten Kultur ” (Postman 1988: 80). Der Roman So Far From God entspricht zwar äußerlich den Kriterien des wortbestimmten Denkens, aber er neigt sich durch die bild- und emotionsfokussierte Inszenierung dem anderen Ende des Spektrums zu. 3 Bildgewalt - Ekphrasis - Schlüsselmetaphern Ana Castillo präsentiert ihren Roman ohne jegliche Abbildungen, Illustrationen, Diagramme oder Fotos, und doch gelingt es ihr, den Leserinnen und Lesern Bilder zu übermitteln. Mit ausschließlich sprachlichen Mitteln kreiert die Autorin mentale Welten, die sehr bildgewaltig sind und an die in der Antike häufig eingesetzte Technik der Ekphrase erinnern. Der Begriff der Ekphrasis bezeichnet eine sehr anschauliche und daher eindringliche Erzählform, die Zeugnis “ von der Bildkraft der Sprache ” ablegt (Boehm 2014: 15). Auch die Macht aufgrund des Wahrheitsanspruchs einer ekphrastischen Darstellung besitzt eine lange Tradition (cf. Brinker-von der Heyde 2009: 219 - 246). 3.1 La Malogra Die Wirkmacht einiger Bilder ist in So Far From God etwa an ihrer geballten Kraft zu erkennen. Caridad, die zweitälteste Tochter der Protagonistin, wird Opfer eines Überfalls, der durch seine Brutalität und Rohheit menschliches Vorstellungsvermögen schier übersteigt (cf. Castillo 1993: 33). Es findet geradezu eine Negation des Menschlichen statt, die an den Wunden und Verstümmelungen des Opfers zu erkennen ist. Damit entsteht eine sekundäre Sichtbarkeit des Täters, für den als Erklärungsansatz eine übernatürliche Macht, La Malogra, angenommen wird: And they three knew that it wasn ’ t a man with a face and a name who had attacked and left Caridad mangled like a run-down rabbit. [. . .] It was not a stray and desperate coyote either, but a thing, both tangible and amorphous. A thing that might be described as made of sharp metal and splintered wood, of limestone, gold, and brittle parchment. It held the weight of a continent and was indelible as ink, centuries old and yet as strong as a young wolf. It had no shape and was darker than the dark night, and mostly, as Caridad would never forget, it was pure force (Castillo 1993: 77). Diese Beschreibung wiederum entspricht dem Phänomen La Malogra, dessen Bild in das kollektive Weltverständnis von Chicanos und Chicanas eingebettet ist und nur unter Berücksichtigung der kulturellen Wurzeln verständlich ist. So wird La Malogra beispielsweise in folkloristischen Erzählungen aus New Mexico folgendermaßen visualisiert: “ [An] 4 Ausführliche Untersuchungen dieser Zusammenhänge bieten beispielsweise Grafs Literary Translations: Telenovelas in Contemporary Chicana Literature (2011) sowie der Sammelband Soap Operas and Telenovelas in the Digital Age: Global Industries and New Audiences (Ríos und Castañeda 2011). 316 Ines E. Veauthier (Mainz) evil spirit which wanders about in the darkness of the night at the crossroads. It terrorizes the unfortunate ones who wander alone at night, it has usually the form of a large lock of wool ” (Cobos 1983: 104). Caridads jüngste Schwester sieht genau diese Materialisierung von La Malogra in einer Traumvision, “ the shape of sheep ’ s wool, large, voluminous, not in animal form but something just evil ” (Castillo 1993: 78). Die Gefühle von Ohnmacht bei dem Anblick einer derartigen Schreckgestalt, ob in einer selbst erlebten Begegnung oder indirekt durch die heraufbeschworenen Bilder, werden durch die kulturellen Erklärungsmuster so stark rationalisiert, dass sie einen Teil ihres Schreckens verlieren. In der mexikanischamerikanischen Tradition sind diese Bilder und Erfahrungsberichte fest verankert und sollen eine belehrende Funktion übernehmen. Mit Hilfe von gruseligen und angsteinflößenden Szenarien sollen vor allem Kinder Gehorsam gegenüber ihren Eltern verinnerlichen. Je nach Region variieren die Einzelheiten der Phänomene, deren übereinstimmende Funktionen darin bestehen, Kinder zu beschützen, von Gefahren fernzuhalten und sie zu Hygiene und Disziplin zu erziehen (cf. Torres 2009: 75 - 77). 3.2 La Llorona - La Malinche Eine solche doppelte, zugleich sozialisierende und beschützende Funktion findet sich in der Chicanokultur ebenfalls in der Legende von La Llorona. Die Erzählungen zur Figur La Llorona sind noch bekannter als die zu La Malogra und in weitaus mehr Varianten anzutreffen. Zumeist wird diese Frauengestalt mit der historisch belegten Figur La Malinche verbunden, die im Zusammenhang mit der Conquista steht und in der traditionellen Sichtweise als Verräterin angesehen wird. Neuere Lesarten hingegen zollen La Malinche Respekt für ihre Friedens- und Vermittlungsbemühungen. 5 Unabhängig davon, ob La Malinche und La Llorona als unterschiedliche Figuren oder als identisch gesehen werden, bleibt die moralische Einordnung die gleiche. Ebensowenig ändern die Abweichungen der regionalen Varianten die Botschaft der beharrlichen Abgrenzung gegen diese mythischen Gestalten, wodurch die Ablehnung unerwünschter Weiblichkeit offengelegt wird. Die historischen Belege zu La Malinche dienen im allgemeinen Diskurs als Untermauerung des Wahrheitsanspruchs der Aussagen und damit einerseits als Rechtfertigung von Ausgrenzungsakten. Andererseits wird eben durch die Nachweisführung mit Hilfe geschichtlicher Fakten die Zuschreibung von Alteritätspositionen zu weiblichen Lebensentwürfen als essenziell festgelegt. Damit wirken diese Zusammenhänge nicht mehr nur auf vergangene, sondern gleichermaßen auf gegenwärtige Identitäten. Die Historizität der Figur La Malinche wird als gleichbedeutend mit der Augenzeugenschaft angesehen, wodurch ein klares Authentisierungsformat und damit die Legitimation für entsprechende Handlungen geschaffen wird. Eine wissenschaftliche Hinterfragung der Legitimation setzt etwa bei der Ausgangssituation von La Malinche an. Sie wurde dem Conquistador Hernán Cortés, der im 16. Jahrhundert im Auftrag der spanischen Krone das aztekische Reich eroberte, als Geschenk übergeben und war damit nach der damals gültigen Gesellschaftsordnung gezwungen, sich seinem Willen unterzuordnen. Diese Unterordnung wird ihr jedoch als 5 Ausführlichere Untersuchungen zu den Mythen, ihren historischen Bezügen und ihrem Stellenwert im gegenwärtigen Alltag von Chicanos bieten u. a. Gish 1996, Candelaria 1980 und West 1988). Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 317 Verrat vorgeworfen. Die einseitige Schuldzuweisung und Sündenbockfunktion wird auf vielen Ebenen perpetuiert, wobei es auch seit geraumer Zeit Studien dazu gibt, dass literarische Werke und ihre Autoren eine Mitverantwortung tragen: “ Octavio Paz, Samuel Ramos, Carlos Fuentes and many other writers, both Mexican and foreign, have made this one woman, Doña Marina (La Malinche) the symbolic object of all their negative feelings about the conquest and Mestisaje ” (Cotera 1976: 32). Wenn wissenschaftliche Quellen fehlen oder nicht bekannt sind, stehen dennoch subversive Strategien zur Verfügung, um sich gegen die Bildgewalt zur Wehr zu setzen. Die Protagonistin Sofia ist deutlich von ihrer bikulturellen Verortung geprägt und betrachtet etwa übernatürliche, amorphe und damit geschlechtslose Schreckgestalten wie La Malogra als unvermeidlichen Teil ihres Alltags. Eine alteritäre Frauenfigur wie La Llorona dagegen will sie nicht als Bild in den Köpfen und Herzen ihrer Töchter verankern. Sofias Weg, die gesellschaftliche Ächtung nicht nur dieser legendenumwobenen, sondern damit jeder real existierenden Frau zu unterwandern, ist die konsequente bildliche und sprachliche Ausblendung von La Llorona: La Llorona was a bad woman who had left her husband and home, drowned her babies to run off and have a sinful life, and God punished her for eternity, and she refused to repeat this nightmare to her daughters. Sofia had not left her children, much less drowned them to run off with nobody. On the contrary, she had been left to raise them by herself. And all her life, there had always been at least one woman around like her, left alone, abandoned, divorced, or widowed, to raise her children, and none of them had ever tried to kill their babies (Castillo 1993: 161). Die positiven Gegenbeispiele aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit bestärken die Protagonistin darin, die Legende und ihren Wahrheitsanspruch anzuzweifeln. Indem Sofia die Bilder und das damit verbundene Gedankengut ausblendet, durchbricht sie die Traditionen ihrer Kultur und entzieht daher sowohl den Bildern als auch den Kulturträgern die Macht, mit der sie weibliche Konformität erzwingen wollen. Bezogen auf beide im Kontext des Romans So Far From God untersuchten Beispiele der Bildgewalt, La Malogra und La Llorona, lässt sich resümieren, dass es der Protagonistin gelingt, mediale Wahrnehmungsmuster in ihrem Sinne zu nutzen, um die Visualisierung und Verknüpfung von fiktiven mit fiktionalisierten historischen oder quasi-historischen Figuren als Schlüsselmetaphern einzusetzen. Durch die Verbildlichung ebenso wie durch die Verweigerung einer Visualisierung lässt sich Handlungsraum für den konkreten Lebensalltag der vorgestellten literarischen Figuren schaffen. 4 Authentisierung und Performativität Eine genaue Abgrenzung von wahrhaftigen Begebenheiten, Erlebnissen und Gefühlen gegen nur als solche ausgegebene zu ziehen liegt oftmals im Auge des Betrachters. Ähnlich verhält es sich mit der Visualisierung im Zusammenhang mit Bildbeschreibung. Die Argumentationskette ‘ Cogito, ergo sum ’ ließe sich entsprechend ummünzen in ‘ Video, ergo sum ’ oder ‘ Ich habe es erlebt, also ist es wahr ’ . Die Objektivierbarkeit und eindeutige Wahrnehmbarkeit von Realität lässt zurückerinnern an Nietzsches Ausführungen zu den Stufen der Scheinbarkeit oder valeurs. Dies wirft die Frage auf, was letztlich das Maß sein 318 Ines E. Veauthier (Mainz) soll, an dem der Sinn des Lebens auszurichten ist oder wessen Erinnerung letztlich den Anspruch auf Wahrheit erheben darf: “ Why this obsession with identity and difference, much of which involves a preoccupation with cultural traditions and cultures of memory, in other words: with versions of the past? ” (Sielke 2011: 294). Die objektive Wahrheit mag je nach Situation schwer festzulegen sein. Was jedoch erkennbar an Tragweite gewinnt, sind die Auswirkungen von bedeutungstragenden Bildern: die Anziehungskraft eines Menschen aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Ikonen der Populärkultur, die Verringerung von Ohnmachtsgefühlen durch die Rationalisierbarkeit der Gewalt, indem die Geschehnisse in kulturell vorgegebene und abgesegnete Muster passen. Solche kulturellen Vorgaben und Konventionen zu durchbrechen und zu einer neuen Realitäts- und Eigenwahrnehmung zu gelangen, ist ein wichtiger und schwieriger Schritt. Für die Protagonistin Sofia ist dies, wie zuvor analysiert, die Erkenntnis, dass sie nicht mehr das Bild von La Abandonada verkörpern muss. Hier erfolgt eine Befreiung von “ ikonoklastischen Bilder[n], die andere Bilder überlagern oder gar im wörtlichen Sinn beschreiben, indem sie sie überschreiben ” (Nöth 2009: 57, Hervorh. im Original). Die Loslösung von solchen Zwängen ist wiederum nicht nur ein individueller Akt, sondern bewirkt auch eine kollektive Entwicklung zu mehr Selbstbestimmung: “ Following this route they become women who transgress all borders, the re-conquistadoras of their cultura ” (Zygad ł o 2007: 105, Hervorh. im Original). Allerdings veranschaulicht diese über viele Jahre beibehaltene Lebensgestaltung auch eine extreme Form der Performativität. Die literarische Figur Sofia macht sich alle Aspekte von La Abandonada zu eigen und vollbringt damit einen jahrelangen, tagtäglich gelebten künstlerischen Akt oder performance art, um glaubhaft und authentisch zu sein (Mechelen 2006: 127 - 128). Zugleich bieten die gleichsam abgesegneten Identitätsentwürfe eine Schutzfunktion innerhalb der Chicanokultur. Damit einher geht eine Balance zwischen Authentizität und Performativität. 4.1 Glaube - Phantasie - Selbstreflexion Im Zusammenhang mit der gelungenen Befreiung der Protagonistin von den bisherigen Selbst- und Fremdbildern steht auch ihre Entscheidung, als Bürgermeisterin oder “ la Mayor of Tome ” Verantwortung für die Dorfgemeinschaft zu übernehmen, wobei sie sich “ community improvement ” als Ziel vorgibt (Castillo 1993: 130, 138). Indem sie sich selbst vor ihrem inneren Auge als Bürgermeisterin sehen kann, visualisiert Sofia nicht nur ihren individuellen Lebensentwurf, sondern auch die kollektive Entwicklung ihrer Schicksalsgemeinschaft in der GemeindeTome. Eine Freundin zweifelt Sofias Ambitionen an und wirft ihr vor, zuviel Phantasie zu besitzen. Diese Reaktion entspricht der althergebrachten Haltung ihres Kulturkreises, verweist jedoch gleichzeitig auf den Konflikt, der sich durch die gegenläufigen gesamtgesellschaftlichen Werte ergibt: In my culture, selfishness is condemned, especially in women; [. . .]. If you get above yourself, you ’ re an envidiosa. If you don ’ t behave like everyone else, la gente will say that you think you ’ re better than others, que te crees grande. With ambition (condemned in the Mexican culture and valued in the Anglo) comes envy (Anzaldúa 1987: 18, Hervorh. im Original). Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 319 Dem Vorwurf ihrer Freundin begegnet die Protagonistin, indem sie ihr Lebensgeheimnis verrät. Es ist ihr Glaube, der ihr immer wieder weitergeholfen hat: “‘ It ’ s not ‘ imagination ’ that I ’ ve always had, comadre, it ’ s faith! Faith has kept me going, ’ Sofi said [. . .] ” (Castillo 1993: 138, Hervorh. im Original). Sofias selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, darunter auch der Schaffung einer Fiktion als Realität, ähnelt bekannten Slogans im Stil des Spruchs “ If you can dream it, you can do it ” , der Walt Disney zugeschrieben wird. Im Lebensentwurf der Protagonistin von So Far From God vermischen sich die Ebenen von Authentizität und Performativität, was auch auf den Faktor Glauben zutrifft, den sie selbst als ihre Hauptantriebsfeder bezeichnet. Als Beleg für das Verschwimmen der Ebenen kann auch die Namensgebung der Hauptfiguren im Roman angeführt werden. Zwar ist der ursprüngliche Vorname der jüngsten Tochter so vollständig aus dem Alltagsgebrauch verschwunden, dass sie nur noch unter einem Spitznamen bekannt ist (cf. Castillo 1993: 25). Die Namen der drei älteren Töchter werden aber häufig genannt und lauten Esperanza, Fe und Caridad. Die Bedeutungen der Namen stellen gewissermaßen ein Lebensprogramm dar, da sie die drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe verkörpern, die vornehmlich aus dem 1. Korintherbrief des biblischen Textes bekannt sind. Glaube, Hoffnung und Liebe sind hier personifiziert und stellen daher gelebte und lebendige Sprache dar, die “ selbstreferentiell [ist], insofern sie das bedeute[t], was sie tut[t], und sie [ist] wirklichkeitskonstituierend, indem sie die sozialeWirklichkeit herstell[t], von der sie sprich[t] ” (Fischer-Lichte 2004: 32). Jede von Sofias Töchtern wächst in ihren jeweiligen Namen hinein und erleidet ein Martyrium, das ihr Leben im Diesseits beendet. Ihre Präsenz wird jedoch auch nach dem Tod noch als deutlich spürbar beschrieben, wodurch sowohl Realität und Fiktion als auch Performativität und physische Authentisierung unterwandert werden. 4.2 Beglaubigung des Erzählten durch die Erzählerstimme Als letzter Aspekt des Authentisierungsformats soll die im Roman verwendete Erzählstimme angeführt werden. Die erzählende Person wird nirgends benannt oder angesprochen, so dass ungeklärt bleibt, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, um jemanden aus der Verwandtschaft der Protagonistin oder aus dem Freundeskreis handelt. Deutlich wird jedoch zum einen, dass der oder die Erzählende aus nächster Nähe berichtet. Das wird an vielen kleinen, scheinbar belanglos hingeworfenen Bemerkungen offenbar, etwa “ Sofi seemed a little absentminded about things like that lately, you know? ” (Castillo 1993: 131). Auch beschränkt sich das Insiderwissen nicht auf Sofia und ihre Familie, so dass noch viele weitere Geschichten enthüllt werden könnten: “ But how Loretta came upon this ancient wisdom is another secret, and yet another story ” (Castillo 1993: 193). Zum anderen ist die Erzählstimme darauf bedacht, das Publikum immer wieder in das Geschehen hineinzuziehen. Auch dazu werden Bemerkungen wie in einem persönlichen Gespräch eingeflochten, beispielsweise “ you could bet ” (Castillo 1993: 27) oder “ Doña Felicia will tell you ” (Castillo 1993: 59). Gleichermaßen verweist die erzählende Figur von Zeit zu Zeit darauf, dass ihr die unterschiedlichen Perspektiven bewusst sind. So lässt sie Kritik an Fes Brautjungfernwahl einfließen, “ the three gabachas (my term, not Fe ’ s) she had chosen from the bank as her bridesmaids, instead of her sisters ” (Castillo 1993: 29) oder die eigene Berichterstattung wird nachkorrigiert “ But then I shouldn ’ t have said that no one 320 Ines E. Veauthier (Mainz) saw her ” (Castillo 1993: 81) oder “ I will do my best from here on to keep this story to the telling of the events of that day ” (Castillo 1993: 124). An anderer Stelle wird der eigene Auftrag klar formuliert “ one final rumor I would like to dispense with ” (Castillo 1993: 251). Durch die Strategie der Einweihung der Lesenden werden sie selbst zu Insidern und damit zu einem Teil der Handlung: “ Loca would not say a third of an inch, of course, but for our purposes here, I am adding specific measurements myself ” (Castillo 1993: 167). Entsprechend kann die Erzählstimme einen klaren Dialog anstoßen: “ But, you and I both know ” (Castillo 1993: 219), womit sie verdeutlicht, davon auszugehen, dass der Gesprächspartner mit ihrer Haltung übereinstimmt. Die potenzielle Metalepse durch die Fiktion der Leseransprache wird hier eingesetzt, um den Ebenenwechsel zwischen verschiedenen diegetischen Welten zu vollziehen. Er bewirkt damit zugleich die Authentisierung der Geschichte. 6 Ana Castillo nutzt hier Strategien ähnlich wie in einem Interview, bei dem die Zitate in ihrem direkten Wortlaut eine Art lebendiger Begegnung mit der befragten Person anbieten. Daher gehören nach dem Verständnis von Journalisten Authentizität und Spontaneität zu den wesentlichen Charakteristika von Interviews (Döhring 2010: 6). Allerdings wird das Interview von kritischen Stimmen als Kunstprodukt bezeichnet, das immer der Gefahr einer Verfälschung des Originals unterliegt (Schneider und Raue 1999: 71, 75), was der suggestiven Vorgehensweise der Erzählstimme in So Far From God entspricht. Die Einbindung der Lesenden suggeriert, dass das Gegenüber wahrgenommen wird, dass ein Dialog stattfindet und entsprechend die Handlung wiederum an Wahrheitsgehalt gewinnt. Die damit erreichte “ Augenzeugenschaft ” dient als Authentisierungsformat, weist allerdings auch manipulative Züge auf: “ The mass media act like communication technologies of the past, including writing, art and architecture, in having to construct communication exchanges that bind distant participants into an effective community, so that they can be subject to effects of power ” (Hodge and Kress 1988: 46). Mit Hilfe dieser Strategien kann derjenige, der den geschriebenen Text des Buches liest, zugleich mithören und mitsehen, was die Erzählstimme mitteilt, und wird zudem in das Geschehen mit einbezogen. Damit verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen außen und innen, zwischen aktiv und passiv, zwischen sehen, hören und erleben. 5 Mentale Bilder - kulturelle Kontexte Castillo nutzt in ihrem Roman So Far From God Inszenierungen, um mentale Bilder zu kreieren. Dazu verwendet sie eine Sprache, die durch die Vermischung von Englisch und Spanisch im Tex-Mex-Stil geprägt ist. Der Roman stellt individuelle Lebensentwürfe ebenso vor wie kollektive Vorgaben in Verbindung mit den kulturell verankerten Alteritäten. Ein tieferes Verständnis dieser Zusammenhänge erschließt sich nur unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes. Im Roman erfolgt die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion und deren Inszenierbarkeit. Die untersuchten Formen der Inszenierung zeigen die Auseinandersetzung zwischen akzeptierten und gesellschaftlich mit Abwertung verbundenen Per- 6 Zur Metalepse in modernen Medien s. a. Thoss 2015 und Häsner 2001. Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 321 sönlichkeitsgestaltungen. In Verbindung damit steht die Analyse der dynamischen Interaktion zwischen Identitäts- und Alteritätskonstruktionen, wie sie durch die Abgrenzung zu abgelehnten Identitäten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Es werden verschiedene Strategien aufgezeigt, die zurAuthentisierung von Personen und Begebenheiten dienen. Hierbei wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Wort und Bild ebenso verschwimmen wie diejenigen zwischen Bewertungskategorien wie Innen- oder Außenperspektive, aktiver oder passiver Publikumseinbindung, der Wahrnehmung und Bewertung durch bestimmte Sinneskanäle. Damit wird die These bestätigt, dass in dem untersuchten US-amerikanischen Prosawerk die semiotischen Grenzen unschärfer werden und sich das verbal definierte Denken durch immer stärkere Bildpräsenz auf die Macht der Bilder und die damit verknüpften mentalen Strukturen hinbewegt. Bibliographie Altnöder, Sonja et al. (eds.) 2011: Identität in den Kulturwissenschaften. Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag (= Giessen contributions to the study of culture 5). Andersen, Margaret L. 2 1988: Thinking about women. Sociological perspectives on sex and gender. New York: Macmillan. Anzaldúa, Gloria 1987: Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute. 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