eJournals Kodikas/Code 39/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2016
393-4

Von der 'narzisstischen' zur 'nazistischen' Identität

2016
Hans Krah
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität Krisenbewältigung und Selbstvergewisserung in Marie Luise Kaschnitz Liebe beginnt (1933) Hans Krah (Passau) A narrative pattern specific for German literature from 1890 - 1930 (Frühe Moderne) is the ‘ Weg-Ziel-Modell ’ . The contribution focuses on it ’ s use in the novel Liebe beginnt. The novel ’ s protagonist, Silvia, aspires to live an emphatic life. For her this life consists of assimilation into a community. Fulfilment and female identity are to be found in maternity and self commitment to the male. Silvia ’ s process of writing reflects on this goal. Her writing does not only help her to cope with the crisis she is going through. First and for all it gives evidence of her mastering the crisis successfully. Silvia ’ s interpretation of an emphatic life amounts to an erosion of the ‘ Weg-Ziel-Modell ’ and a turning away from the paradigm of the ‘ Frühe Moderne ’ . Relating to literary history the combination of an individual life-story and collective demands as it is demonstrated in Liebe beginnt is symptomatic for the transitional period of the early 1930 ’ s. 1 Vorbemerkungen Über die frühen Werke von Marie Luise Kaschnitz ist in Walter Killys Literaturlexikon zu lesen: Unpolitisch im Sinne eines idealistischen Beharrens auf der ‘ reinen ’ , der Wahrheitssuche dienenden Kunst sind nur die frühen, unter der Bedingung der Inneren Emigration entstandenen Arbeiten (Killy 1990: 249). Zu Liebe beginnt, ihrem ersten Roman, wird bezüglich seines Genres spezifiziert, er sei eine “ psychologisch motivierte Liebesgeschichte[. . .] ” (ibid.). Nun handelt Liebe beginnt tatsächlich von einer Liebe, die aber, wie der Titel schon vorgibt, nicht nur narrativ eine Liebesgeschichte bedingt, sondern die vor allem diskursiv hinsichtlich ihrer sie tragenden Konzeption reflektiert wird. Diese Reflexion artikuliert sich über die Erzählsituation, die sich als Schreibakt eines weiblichen Ich bestimmt, das die eigene, existentielle Befindlichkeit mitteilt. Sie ist im Kontext der Paradigmen der Frühen Moderne zu sehen. 1 1 Siehe hierzu im Allgemeinen, grundlegend wie einführend, Titzmann 2009: 275 - 574 und Wünsch 2012: 9 - 377; zu einer ersten Orientierung cf. Titzmann 2002: 191 f. Das Erscheinungsdatum 1933 ist signifikant, da die politische Veränderung, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, mit einer textinternen Veränderung koinzidiert. Auch im Text vollzieht sich eine Wandlung, die als solche nicht nur selbst wahrgenommen wird, sondern, wie wiederum der Titel indiziert, programmatisch als Neuanfang erscheint. Diesem Neuanfang, der zunächst und explizit nur bezüglich einer neuen Liebeskonzeption postuliert wird, ist gleichzeitig, wie der Obertitel meines Beitrags pointieren soll, eine bestimmte ideologische Richtung inhärent. Dies möchte ich im Folgenden anhand einer detaillierten Analyse des Textes aufzeigen. Die der konkreten Textarbeit zugrunde liegende literarhistorische These ist, dass die in Liebe beginnt vorgeführte Engführung von Individualgeschichte und kollektiver Erneuerung und die dabei vorgenommene Instrumentalisierung des zentralen Erzählmodells der Frühen Moderne zugleich symptomatisch für diese Übergangszeit zu sein scheinen. 2 Wenn auch eher nebenbei, so sollen durch die zu leistende Analyse zudem selbstreflexiv literaturwissenschaftliche Narrative beleuchtet werden, wozu das Eingangszitat Anlass gibt: Inwieweit die hier vorgeführte Geschichte eine “ psychologisch motivierte ” ist, und was als Zuschreibung eines Textes als “ unpolitisch im Sinne eines idealistischen Beharrens auf der ‘ reinen ’ , der Wahrheitssuche dienenden Kunst ” gelten kann - zur Beantwortung solcher Fragen sollen Textbefunde geliefert werden, die zur Diskussion solcher Positionen nicht nur herangezogen werden können, sondern heranzuziehen sind. 2 Das Weg-Ziel-Modell: Bewusstwerdung/ Umweg/ Neues Leben Das Weg-Ziel-Modell dient in der Frühen Moderne als narratives Erzählmuster (wie als sprachliche Metaphorik) und bildet den personinternen Prozess einer Selbstfindung ab. Diese, die Identität der Person, zeigt sich als Erreichen emphatischen Lebens. 3 2.1 Ausgangssituation Paareinheit Liebe beginnt führt als Ausgangspunkt bereits das vor, was sich üblicherweise erst als Ergebnis einer - auf dem Weg-Ziel-Schema basierenden, individuell vollzogenen - geglückten Selbstfindung darstellt. Anhand des Paares Silvia und Andreas wird eine absolute und unbedingte Paareinheit vorgestellt, die sich in einer sich selbst genügenden Liebe von allem übrigen abschottet und die Umwelt ausblendet. So heißt es, “ was ging uns im Grunde alles an. Nichts ” (Kaschnitz 1933: 11), und “ Wir sprachen nur einer für den 2 Für Karl Aloys Schenzinger und seine Romane habe ich dies in Krah 2005 aufzuzeigen versucht. Die Ausführungen zu Schenzinger können die hier zu Liebe beginnt ermittelten Befunde konturieren und rahmen, wie diese dann auch wieder die vorherigen stützen. Neben dieser allgemeinen literarhistorischen Relevanz lässt sich Liebe beginnt zusätzlich in einem Diskurskontext Liebe verorten, der zeitgleich Kennzeichen der frühen 1930er Jahre ist, wie er sich in Titeln wie Wieviel Liebe braucht der Mensch (Gerhard Menzel, 1932) oder Wiedergeburt der Liebe (Frank Thiess, 1931) artikuliert. In diesen Texten, ob literarischer oder theoretischer Provenienz, fungiert Liebe als Vehikel und Träger, von dem ausgehend eine generelle Wertediskussion (und damit eine Reflexion/ Revision frühmodernen Denkens und neuer Positionen) installiert wird. Auch in Menzels Text ist dabei das Thema an den Erzählakt eines weiblichen Schreibens gebunden, so dass er in gewisser Weise als Negativfolie zu Liebe beginnt gelesen werden kann. Siehe hierzu auch Anmerkung 23. 3 Siehe hierzu etwa Wünsch 1983 und 1989 (wiederabgedruckt in Wünsch 2012), Titzmann 1989 (wiederabgedruckt in Titzmann 2009). 292 Hans Krah (Passau) andern ” (ibid.: 9). Diese Liebe organisiert das gesamte Leben, alle anderen Bereiche sind ihr untergeordnet, alles ist auf sie hin ausgerichtet und wird von dieser Perspektive aus interpretiert: Aber wie alles, ordnete ich auch dies nur ein in das Spiel der Liebe (ibid.: 11). Die Bilder, die wir mit hinübernahmen in unsere Träume waren düster, aber eine schmerzliche Süße entstieg ihnen, ein Hauch von Endlichkeit, Gefahr und Tod. So dienten alle Dinge unserer Freude (ibid.: 12). Das Paar ist Raum wie Zeit enthoben. Insbesondere für Silvia gilt, dass auch ihre personelle Vergangenheit vollständig gelöscht ist: “ Ich hatte vergessen, daß ich ein Kind gewesen war ” (ibid.: 15). Von ihrer Familie ist sie getrennt, “ Ich war nicht mehr zu Hause gewesen, seit ich mit Andreas zusammen lebte ” (ibid.: 67). 4 Diese Liebe ist zudem nicht gesellschaftlich legitimiert oder konform, sie ist eine nicht-eheliche und sie macht das Paar zu einer hermetischen Einheit: 5 “ Wir gehörten keiner Klasse an, wir paßten in keine Gemeinschaft, wir hatten kein Vaterland ” (ibid.: 15). 2.2 Reise und Bewusstwerdung von Differenz und Defizienz Insofern nun diese emphatische Paareinheit “ Alltag ” (ibid.: 19) geworden ist, ergibt sich aus der Logik frühmodernen Denkens die Notwendigkeit der Erneuerung. Genau dies ist Erzählgegenstand. Eine Reise dient als Aufbruch, durch den diese selbstgenügsame und auf sich selbst bezogene Beziehung selbst wieder einem Wandlungsprozess unterzogen und schlussendlich in eine stabile Beziehung überführt wird. Retrospektiv kann es dann über den Zeitpunkt, an dem die ReiseThema wird, heißen: “ Von diesem Abend an veränderte sich alles ” (ibid.: 7). Der Text, der in 15 Kapitel untergliedert ist, 6 folgt in seinem Discours der Struktur des Modells (cf. Abb. 1): Kap. 1 skizziert die Ausgangslage, in Kap. 2 bis 6 befindet sich das Paar auf der Reise, die als Grenzüberschreitung in einen fremden Raum Bewusstwerdungsprozesse und Fremdheitserfahrungen initiiert und katalysiert. Kap. 7 bis 11 widmen sich dem Ziel der Reise, Neapel, das als Extremraum fungiert, an dem die Entfremdung des Paares kulminiert und sich in einer als existentiell gesetzten Krise manifestiert. 7 In Kap. 12 4 Cf. auch: “ Er hatte sich gelöst von der Vergangenheit, und er verlangte, daß auch ich mich löste, ohne Geständnisse ” (Kaschnitz 1933: 81). 5 Diese Einheit artikuliert sich auch deutlich in der Kommunikationsstruktur: Alles, was nicht gemeinsam erlebt wird, muss dem anderen erzählt werden, um so die Einheit zumindest symbolisch (wieder) herzustellen. Dementsprechend wird das Sprechen mit Dritten (über sich selbst) als Verrat interpretiert, cf. ibid.: 142 (als Essenz des Kap. 9). 6 Die Kapitel, die nicht durchnummeriert sind, tragen folgende Titel: 1: “ Liebe - ein Spiel ” (ibid.: 5), 2: “ Erste Station ” (ibid.: 21), 3: “ Spiegelwelt ” (ibid.: 42), 4: “ Das andere Reich ” (ibid.: 70), 5: “ Neue Verbundenheit ” (ibid.: 85), 6: “ Die steinernen Mütter ” (ibid.: 96), 7: “ Die Stadt des Lebens und des Todes ” (ibid.: 108), 8: “ Wege und Wandlungen ” (ibid.: 122), 9: “ Der Verrat ” (ibid.: 136), 10: “ Worte wider Willen ” (ibid.: 143), 11: “ Andreas, mein Feind ” (ibid.: 156), 12: “ Dieses Land war zu schön ” (ibid.: 192), 13: “ Die letzte Nacht ” (ibid.: 203), 14: “ Heimkehr im Traum ” (ibid.: 213), 15: “ Liebe beginnt ” (ibid.: 245). 7 Signifikant ist, dass keine der Stationen der Reiseroute explizit benannt wird, selbst Italien wird an keiner Stelle explizit als Italien bezeichnet. Dennoch lassen sich einige Stationen durch kulturelles Wissen durchaus referenzialisieren (wie eben Neapel über die geographische Lage), wobei auf Verweise auf die eigentlichen bekannten touristischen Sehenswürdigkeiten eher verzichtet wird. Rom wird zum Beispiel nur durch die Bezeichnung “ Hauptstadt ” (ibid.: 94) signifiziert (und ist narrativ wenig relevant, da nur Durchgangsstation). Diese Strategie verleiht Italien durch diese Dereferentialisierung der konkreten Orte sowohl eine eher Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 293 und 13 eskaliert diese in einem Naturraum in der Nähe Neapels. In Kap. 14 findet die zweite, zentrale Bewusstwerdung statt, wobei der Modus des Traumes als todesähnlicher Zustand funktionalisiert wird. Kap. 15 bringt schließlich die Rückkehr in den Ausgangsraum und die Wiedervereinigung unter neuen Vorzeichen, das neue Leben. Abb. 1: Raumbewegungen und Weg-Ziel-Modell im Discours von Liebe beginnt Die Reise nach Italien und die damit einhergehende Konfrontation mit dem Fremden führen die Aufspaltung von Andreas und Silvia vor, wobei die topografische Fremde Katalysator für die Bewusstwerdung der Differenz des Paares ist. Diese Spaltung des Paares geht zunächst anhand der (erst jetzt) relevant gesetzten Kategorisierungen ‘ Mann vs. Frau ’ und ‘ jung vs. repräsentative als auch eine utopische Komponente, die generalisierend als wünschenswerter Zustand dann auch auf das eigene Land übertragbar ist. Identifizieren lassen sich im Übrigen die titelgebenden steinernen Mütter des Kapitel 6, die Silvia “ [e]ine Stunde vor unserem eigentlichen Ziel ” (ibid.: 96) wie zufällig allein in einem eher abgelegenen Museum findet - eine zentrale Begegnung, die für ihren Bewusstwerdungsprozess mit bestimmend wird. Hierbei handelt es sich um die Matres Matutae im Museo provinciale campano di Capua. Die Darstellungen der säugenden Mütter, teilweise hyperbolisch als Frauen mit acht Brüsten wahrgenommen, verweisen auf den zentralen Aspekt der natürlichen Fruchtbarkeit, vor dem Silvia zunächst noch Scheu empfindet, sich dann aber immer mehr auf diese Körperlichkeit einlässt. In der anfänglichen Ablehnung folgt sie der Sicht Andreas, der vor allem Kreatürlichen Abscheu empfindet, eine Einstellung, die gleichzeitig an die Angst vor einer gefährlichen weiblichen Körperlichkeit gebunden zu sein scheint; diese Implikationen werden jedenfalls angesichts Theweleits Männerphantasien konnotativ aufgerufen. 294 Hans Krah (Passau) alt ’ vonstatten. 8 Die zentrale Differenz, die sich artikuliert und in die diese Aspekte integriert sind, ist aber diejenige, die sich auf die jeweilige Lebenseinstellung der beiden bezieht. Für Andreas, der als “ ein Büchermensch. Ein Theoretiker ” (ibid.: 71) bezeichnet wird und ein Intellektueller ist, ist seine Ich-Bezogenheit wesentlich. Diese äußert sich darin, dass er frei sein und deshalb keine Kinder haben will. Er denkt individualistisch, daher haben für ihn Normverstöße gegen den Staat eine durchaus positive Qualität. Korreliert wird dies zum einen mit einer negativen Grundeinstellung. Andreas ist deutlich als “ Pessimist ” (ibid.: 200), als Skeptiker gezeichnet. Silvia fasst es zusammen: “ Was kannst du alles nicht leiden ” (ibid.: 200). Zum anderen wird er mit einer ihm innewohnenden Morbidität, einer ideologischen Nähe zu Tod, Verfall und Unfruchtbarkeit semantisiert. Dem Land Italien bringt er Interesse für Kunst und Sehenswürdigkeiten entgegen, nicht aber für das Land und seine Ordnung. Er hängt am Alten, wobei dieses generell nicht als Ordnung erscheint, sondern selbst als eher anarchischer Zustand an sich. Diese Einstellung kongruiert mit der skizzierten Liebeskonzeption der Ausgangssituation, die von Andreas getragen und weiter getragen wird, während sich Silvia immer mehr davon zu lösen scheint. Für sie wird immer mehr etwas bestimmend, das sie als Leben setzt, so dass als zentrale Konfliktlinie diejenige zwischen Liebe und Leben fungiert. Die frühmoderne Liebeskonzeption steht dem Leben, wie es Silvia für sich definiert, oppositionell gegenüber. Silvia öffnet sich dem Land, seinen Bewohnern und seiner neuen Ordnung, sie zeigt Interesse an Vorstädten und Müttern mit Kindern. Kunst affiziert sie nur als Abbildungsdimension von Leben. Immer mehr kristallisiert sich ein Kinderwunsch als ihr Weg heraus. Kennzeichnend und korrespondierend zu dieser gesetzten Opposition von Leben und Liebe, eine Opposition, die während der Reise immer deutlicher zu Tage tritt, werden Andreas und Silvia auch oppositionell gesetzten Räumen zugeordnet. Operiert wird mit einem Gegensatz von Meer und Land, wobei das Meer Andreas repräsentiert und für Unfruchtbarkeit ( “ Wasser [. . .] mit dem Geruch seiner eigenen, schwimmenden, faulenden Pflanzenwelt ” , ibid.: 202) und vor allem für Perspektivlosigkeit steht: “ Wer das Meer so liebt, der liebt die Zukunft nicht ” (ibid.: 208). Silvia dagegen sind das Land, der Boden, die Erde und die Semantik des Festen, Fruchtbaren und Kultivierten zugeordnet: “ Ich habe die Gärten gern und die Ordnung: das Leben, das weitergeht, und den Boden, der trägt ” (ibid.: 208). 8 So heißt es etwa bezüglich der nun als relevant gesetzten Geschlechtergrenze von Andreas: “ Natürlich, so seid ihr, das gefällt euch ” (Kaschnitz 1933: 24), wobei das “ ihr ” die Frauen meint, Silvia einschließend, die dieses hier noch thematisiert: “ Warum sagst du ‘ Ihr ’” (ibid.: 24). Aber auch sie argumentiert in der Folge vor der Folie der Geschlechterdifferenz und integriert sich in das Paradigma Frauen: “ Wir auch, dachte ich nach einer Weile - und zum ersten Male trat ich in die schwesterliche Gemeinschaft der Frauen - wir auch können einen Weg gehen, der euch verwehrt ist ” (ibid.: 79). Ebenso akzeptiert und setzt sie die Grenze zum Männlichen: “ Und ich fühlte, daß dieses Leiden etwas Nur-männliches sein mußte und daß ich es niemals teilen konnte ” (ibid.: 25; analog wird von der “ männlichen Lust der Vernichtung ” gesprochen, ibid.: 162). Bezüglich des Alters wird nun hervorgehoben, dass Andreas älter ist. Die Grenze wird hierbei zum einen daran festgemacht, dass Andreas Kriegsteilnehmer war (ibid.: 93), was einer anderen Lebensperspektive entspricht. Es heißt: “ Er hatte schon vor dem Krieg begonnen zu leben ” (ibid.: 47). Damit korreliert zum anderen, dass er mit dem Alten kooperiert und dem Neuen gegenüber nicht aufgeschlossen ist. So begründet er sein beiseite Stehen bezüglich der bevorstehenden neuen Ordnung nicht ideologisch, sondern biologisch mit “ Ich bin nicht jung genug ” (ibid.: 92). Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 295 2.3 Krise/ eigentliche Bewusstwerdung/ Opfer Im Laufe der Reise wird sich Silvia dieser Ausgangslage immer mehr bewusst. Die Paareinheit wird als Defizienz und Fremdbestimmtheit wahrgenommen. Als Quintessenz heißt es über Andreas: Ich dachte, er hat zugegeben, daß ihm das Leben nichts gilt. Niemals wird er mich heiraten und Kinder haben wollen und ein Haus, niemals wird er sich einordnen in die große Gemeinschaft der Menschen seines Landes. (Ibid.: 209 f.) In Neapel, dem Ziel der Reise, vollzieht sich die Entfremdung der beiden insbesondere deshalb, da Silvia immer mehr einen eigenen Weg gehen will und eine weibliche Emanzipation anstrebt: “ Aber etwas war aufgewacht in mir, das ich das Eigene nannte ” (ibid.: 198). Im Naturraum in der Nähe von Neapel kommt es zur Eskalation. Silvia versucht, Andreas mit einem Stein zu erschlagen und sich vollends von ihm zu lösen, stürzt dabei aber und verliert das Bewusstsein. In ihrem Traum, der Inhalt von Kap. 14 ist (mit dem Titel “ Heimkehr im Traum ” ), werden anhand einer Rückkehr zu ihrer Familie ihre zukünftigen Wünsche repräsentiert. Das Elternhaus mit Eltern und Geschwister wird als semantischer Raum, als Macht des Lebenswillens präsentiert. Dies korreliert für Silvia damit, sich einem ihr Fremden, der von der Familie für sie bestimmt ist, hinzugeben, was wiederum die Integration in eine neue Gemeinschaft (der Lebenden) bedeutet. All dies ist explizit gegen das Konzept Liebe und damit Andreas gerichtet, impliziert also dieses und diesen zu opfern. Der Traum ist dabei insofern ein Extremraum, als er ihr allein gehört und nur ihr zugänglich ist. Andreas ist hier maximal exkludiert. Wenn es inhaltlich darum geht, sich einem Fremden hinzugeben und mit ihm Hochzeit zu halten, dann kommt dies letztlich einer metaphorischen Tötung Andreas ’ gleich. Gleichzeitig verdeutlicht der Traum aber auch, dass es Silvia nicht um eine Emanzipation an sich geht, da sie sich vollständig dem Vater fügt und das von diesem für sie Vorgesehene wie selbstverständlich akzeptiert. Das Zuhause bildet dabei die mit diesem Leben notwendig verknüpfte Gemeinschaft im Kleinen homolog ab, wobei diese Gemeinschaft eine ist, die durch Uniformen gekennzeichnet ist (cf. ibid.: 233, 237). Mit dem Erwachen aus dem Traum erfolgt nun aber eine zweite Bewusstwerdung Silvias. Der Traum fungiert als Katalysator, ihr Erwachen entspricht einer Wiederauferstehung. So sehr Silvia das im Traum durchlebte Lebensmodell schätzt, so sehr gelangt sie dennoch zur Erkenntnis, dass sie nicht dafür bestimmt ist. Der Weg zur Familie erweist sich als Umweg, der ihr ihre eigentliche Bestimmung vor Augen führt: Ich wußte in diesem Augenblick, daß ich niemals reif sein würde, an ihr [der Gemeinschaft, HK] teilzuhaben, ehe ich nicht mein eigenes Schicksal erfüllte, das darin bestand, zu lieben . . . “ (ibid.: 241). Silvia leistet Verzicht. Nun wird vollständige Hingabe und Preisgabe propagiert. Im Sinne der bisherigen Liebeskonzeption heißt es: Ich wollte es hinnehmen, dass ich altern würde ohne das Leben weiterzugeben, ohne teilzuhaben an der großen Gemeinschaft. Ich hatte erkannt, daß mir nur galt zu lieben. Und was ich in all dieser Zeit als das Leben empfunden hatte, gab ich freudigen Herzens hin (ibid.: 255). 296 Hans Krah (Passau) 2.4 Neue Liebe und neues Leben Silvias Opfer wird nicht nur symbolisch belohnt, insofern es als Selbstfindung und Wiedergeburt ausgegeben wird, 9 diese Einstellung führt paradoxerweise genau dazu, dass sie ihre ursprünglichen Ziele tatsächlich erreicht. Denn mit dieser postulierten Verzichtsleistung gehen zentrale Veränderungen einher. So hat erstens ihre Positionierung auf Seiten der Liebe keine Konsequenzen mehr für ihre Person. War zuvor im Denken von Silvia die Opposition von ‘ Liebe vs. Leben ’ etabliert und Liebe mit Tod und Unfruchtbarkeit äquivalent, “ Weil ich dich liebe, werde ich nie empfangen können ” (ibid.: 58) hieß es, so löst sich diese Opposition nun auf: “ Aber die Liebe war nicht, wie ich geglaubt hatte, des Lebens Feind. In der Stunde, in der ich mich der Liebe verschwor, hat Andreas sich hingegeben an das Leben ” (ibid.: 255). Schlussendlich wird sie schwanger. Impliziert ist zweitens zudem eine Transformation auch von Andreas; die Problemlösung erscheint als gegenseitiger Austausch. Nun hat er keine Probleme mehr mit Schwangerschaft und Heirat ( “ wir sprachen auch davon, daß wir nun heiraten sollten. Es war alles selbstverständlich und leicht ” , ibid.: 259) und dies korreliert mit einer neuen Sicherheit bezüglich seiner Arbeit (cf. ibid.: 261). Drittens geht damit einher, dass die Exklusivität der Liebesbeziehung aufgehoben wird. Als weitere Veränderung findet eine Öffnung zur Umwelt statt: Denn wie ich so alles, das ich verließ, noch einmal umfaßte, erkannte ich, daß ich nicht mehr blind und taub durch dieWelt ging. Ich dachte nur an Andreas, aber meine Augen sahen, und ich verstand die Sprache aller Wesen, ich liebte ihn, aber nun durfte ich alle Dinge lieben (Ibid.: 242). Zurückgekehrt in den Ausgangsraum wird Kontakt zu Nachbarn gesucht, gibt es Interesse an Mitmenschen und deren (alltäglichen) Problemen. Nun impliziert Liebe also keine Paareinheit ohne Umwelt mehr, bei der alles, was nicht sie ist, ausgeblendet wäre. So sehr sich also Silvia auf der Oberfläche der durch Andreas getragenen Position wieder anzunähern scheint, werden aber gerade ihre Vorstellungen von der Gemeinschaft und deren zentralen Status nicht relativiert, sondern bestätigen sich. Wenn dabei das letzte Kapitel den Gesamttitel “ Liebe beginnt ” aufnimmt und damit mit der neuen Liebeskonzeption identifiziert, dann wird das Vorherige dadurch als Nicht-Liebe klassifiziert und qualifiziert. Die Ausgangskonzeption wird nicht nur in der Sukzession abgelöst, sondern zudem auch qualitativ auf eine andere Stufe gesetzt; indem sie als Spiel tituliert wird (Titel des ersten Kapitels: “ Liebe - ein Spiel ” ), erhält sie den Status des Artifiziellen, Künstlichen und anthropologisch den des Kindlichen, Unreifen. 3 Die Semantik der Gemeinschaft und der ‘ neuen ’ Beziehung Die Öffnung des Paares zur Umwelt korrespondiert mit dem Wunsch nach Integration ins Kollektiv. Waren Silvia und Andreas zunächst als Paar narzisstisch auf sich bezogen und egozentriert, so beinhaltet die neue Liebeskonzeption eine soziale Komponente und wird wesentlich durch diese Komponente mitgeprägt. 9 Mit dieser Wiedergeburt wird alles, was sie bis dahin gewollt hatte und sich bewusst geworden war, ihre Defizienz also, nun als scheinbar irrelevant ausgewiesen; aus dem Text heraus ist dies nicht hergeleitet, es wird, wie das obige Zitat zeigt, einfach als intuitives Wissen gesetzt. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 297 3.1 Vorbild Fremde und Feindbild Fremder Die raumzeitliche Situierung des Geschehens weist dieses als Gegenwartsgeschichte aus. Wie aus spezifischen Beschreibungen der Lebenssituation zu schließen ist, 10 muss sie zu Beginn der 1930er Jahre spielen. Die zunächst rein abstrakt formulierte Gemeinschaft lässt sich inhaltlich-semantisch füllen. Das Kollektiv, das als wichtig erachtet wird, ist eines im Sinne der Gemeinschaft des Nationalsozialismus. Dies wird umso deutlicher, da das als Vorbild ausgewiesene Italien eindeutig als das faschistische Italien Mussolinis zu identifizieren ist, das selbst als neue Ordnung erscheint und gegenüber den Resten eines alten, als negativ gesetzten Zustands abgegrenzt und favorisiert wird. 11 Genau dieses neue Italien ist Vorbild für das eigene Vaterland, ja mehr noch: diese Fremde ist Spiegel des Eigenen. 12 Das, was als neue Identität der Person ausgegeben wird, ist damit im Kontext einer spezifischen Ideologie verortet: Sie ist eine genuin faschistische und nazistische. Dies zeigt sich an den Merkmalen, die der Fremde, also dem neuen Italien, zugewiesenen werden, und dies zeigt sich an dem Fremden, auf den das von diesem Programm Abweichende appliziert ist. Die Fremde zeichnet sich, außer, dass es sich um das faschistische Italien im Allgemeinen handelt, durch zentrale Semantiken aus, die im Text fokussiert und betont werden und denen als den positiven Effekten des Neuen gehuldigt wird: Wir reisten durch das fremde Land. Wir sahen immer Neues, aber gewisse Bilder wiederholten sich immer. Es hingen überall dieselben Fahnen, und viele Soldaten durchzogen die Städte. So schien alles einbezogen in eine große Ordnung, auf die jeder einzelne stolz war. Ich konnte wohl sehen, daß es viel Armut gab. Aber ich hatte den Eindruck, daß die Menschen hier ihre Armut ebenso wenig fühlten, wie etwa Andreas und ich die unsere gefühlt hatten. Sie waren zufrieden mit sich und voller Hoffnung. Wenn die jungen Soldaten durch die Straßen marschierten, lachten sie und 10 Referiert wird auf Arbeitslosigkeit und Straßenkämpfe. So heißt es als Kommentar dazu, dass nachts Schüsse und schnelle Schritte zu hören sind: “ Solche Dinge geschahen häufig, die Zeit war unruhig. Es kamen viele Arbeitslose und wir gaben ihnen oft etwas ” (ibid.: 12). 11 Neapel, eine Stadt, die Silvia von vornherein nicht mag, erscheint als Extremraum dieses Gegenraumes: “ Es gibt doch eine Entwicklung, einen Fortschritt. Im ganzen Land ist er zu spüren, nur hier nicht. Es ist ein Zustand der Ruhe, in dem sich doch alles langsam einer Besserung nähert. Aber in dieser Stadt spricht jedes Ding dieser Entwicklung Hohn. Und es sollte mich nicht wundernehmen, wenn hier die Zelle wäre, von der aus alles wieder zerstört und aufgewühlt wird ” (ibid.: 178); analog wird Neapel als “ eine dämonische Stadt ” (ibid.: 110) bezeichnet und damit wiederum dem Fremden semantisch angenähert (siehe im Folgenden). Das Sprichwort “ Neapel sehen und sterben ” ( “ vedi napoli e poi muori ” ), von Goethe in seiner italienischen Reise aufgegriffen (II., 3. 3. 1787), scheint hier als eine Art Leitmotiv zu fungieren, allerdings durchaus ins Negative verkehrt; auffällig ist, dass der metaphorische Tod eben in der Nähe von Neapel situiert wird, ganz im Sinne der Lesart: Neapel sehen und dann Muori (ein Ort in der Nähe Neapels) sehen. 12 So heißt es etwa: “ Ich dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht an ihn. Ich reihte mich in Gedanken ein in eine Gemeinschaft von Menschen, die der entsprach, die wir hier erlebten. Ich erfand sie und wußte doch, daß es sie schon gab. Ich dachte an unser eigenes Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde ” (ibid.: 88). In dem ansonsten sehr brauchbaren Lexikon zur Literatur in Nazi-Deutschland heißt es hierzu: “ Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte in einem faschistischen Italien, das Kaschnitz mit Zügen des nationalsozialistischen Unterdrückungsstaats ausstattete. Dennoch konnte der Roman 1933 in der Vossischen Zeitung abgedruckt werden ” (Sarkowicz/ Mentzer 2000: 228). Richtig ist hier nur, dass Italien tatsächlich mit diesen Merkmalen ausgestattet wird. An keiner Stelle des Romans wird dies aber mit einem kritischen Potential versehen, wird also dieses faschistische Italien kritisiert. Im Gegenteil: Genau dies, der Unterdrückungsstaat, wird als der wünschenswerte Zustand gesetzt! Im obigen “ Dennoch ” ist also eine vollständige Verkennung der Semantik des Textes und damit seiner ideologischen Ausrichtung zu konstatieren. 298 Hans Krah (Passau) schwatzten miteinander. Sie hörten nicht auf, Menschen zu sein, und niemand sah sie feindlich an. Sie waren die Söhne und die Hoffnung, und viele von ihnen hatten schon Kinder, die die winzigen Soldaten einer großen Armee waren. So wie der Boden reich war in diesem Land und Ernte brachte ohne zu ermüden, wie die Frauen fruchtbar waren und gut nähren konnten, so schien mir auch diese Art zu leben einer Kette gleich, die sich abrollte, ohne sich je zu verschlingen oder zu reißen. Zum erstenmal dachte ich an das Leben, das sich fortpflanzt, nicht durch Gedanken und die Erinnerung an Taten, sondern durch den ewigen Willen der Natur, und es war wichtig und schön (ibid.: 48 f.). Das Land erscheint als Gemeinschaft, durch die soziale Unterschiede und Missstände, die es weiterhin gibt, im Denken relativiert werden. Die Ideologie dominiert die soziale Praxis und wird zur sozialen Praxis. Diese Gemeinschaft ist vor allem eine Ordnung. Sie ist als grundlegend strukturiert gedacht, wobei die Repräsentation dieser Ordnung sie als grundsätzlich soldatische ausweist. Sie zeichnet sich zudem durch eine positive Grundeinstellung aus und ist technikaffin, wobei diese Technik wesentlich der Urbarmachung des Bodens und seiner Fruchtbarkeit dient. 13 In der Parallelisierung von Raum und Mensch, die Silvia dabei euphorisch vornimmt, kommt dies dem sehr nahe, was als Blut- und Bodenideologie benannt und bekannt ist. Das alte und ewige Menschenwerk der Urbarmachung, der Verwandlung von Wildnis in brotgebendes Land lag vor meinen Augen. Ich begriff, daß die Menschen dieses Landes sich eins fühlten in ihrer gemeinsamen Arbeit, die ihrer Erde galt, der Erde, auf der sie lebten wie eine große Familie, die sie umgrenzten gegen die übrige Welt. Es kam mir vor, als hätte ich lange Zeit geschlafen. Ich vergaß, daß es die Liebe gewesen war, die mich umfangen hatte wie eine Muschel, in der die Geräusche der Welt nur ein schwaches gleichmäßiges Getön sind. Ich war erwacht und sah mich um. Ein fremdes Land umgab mich, aber ich dachte an das unsere, und in Gedanken nannte ich es Vaterland (ibid.: 87 f.). Diese Kultivierungsleistung wird selbst als Tat eines Einzelnen gesetzt und entspringt aus einem (genialen) Geist: “ Ein Wille hatte all dies geschaffen ” (ibid.: 89). Diesem einen hat sich alles unterzuordnen. Diesem einen kann Kraft seines Willens, so ist präsupponiert, auch keine Kritik entgegengebracht werden. Auch Umsiedlungen größeren Ausmaßes und Ansiedlungen von Soldaten sind keine ethisch zu reflektierenden Gegebenheiten, sondern Ausdruck von Größe. Schließlich zeichnet sich dieses Neue durch Einfachheit und Eindeutigkeit aus, es ist also für jeden nachvollziehbar und kann Orientierung bieten. Insofern die Gesetze des neuen Staats als “ die neuen einfachen Gesetze des Lebens ” (ibid.: 179) bezeichnet werden, impliziert dies zudem eine Natürlichkeit dieser staatlichen Ordnung. Dagegen kulminieren die Merkmale des Bereichs, der als noch dem Alten (und damit als dem Italien vor Mussolini) verhaftet den früheren Zustand repräsentiert, topografisch in Neapel. Sie werden personell von dem Fremden getragen, mit dem Andreas in Neapel ein geradezu konspiratives Treffen hat. Dieser Fremde trägt dabei das Merkmal des Fremden nicht als relationales, sondern es ist ihm wesentlich inkorporiert: Das von und mit diesem 13 Im Text artikuliert sie sich im Besonderen in einer Begeisterung für Dampfpflüge und Dampfmaschinen im Allgemeinen, ibid.: 86 f.; zu diesem Aspekt, der eine deutliche Affinität zum NS-Denken aufweist, cf. etwa den Film Die goldene Stadt, siehe auch Krah 2017 und, bezogen auf Schenzinger, Krah 2005. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 299 Fremden transportierte Denken ist fremd, egal, wo man sich befindet. So heißt es über ihn schon bei seiner Beschreibung: Welche Farbe die Augen hatten, weiß ich nicht, ich glaube, daß sie sich veränderten und bald grau waren, bald von einem gelblichen Braun. Obwohl er ziemlich ausgesprochene Züge hatte, war es unmöglich, ihn irgendeiner Nation einzuordnen, und merkwürdigerweise behauptete auch Andreas später, er wisse nicht, was für ein Landsmann er sei. Jedenfalls sprach er so gut deutsch wie wir (Ibid.: 169 f.). Der Fremde erscheint als nicht eindeutig und nicht einfach. Bereits seine physiologische “ Unübersichtlichkeit ” (ibid.: 169) verwirrt. Er steht für Rückwärtsgewandtheit und Intellektualität, die sowohl Komplexität als auch Distinktion signifiziert und damit als Negativfolie der neuen Ordnung erscheint. Dieser Fremde ist ontologisch fremd, er wird als “ Teufel ” (ibid.: 182) apostrophiert. Er gehört nicht dazu und ist nirgends dazugehörig. Silvia registriert dies instinktiv seismographisch ( “ Ich weiß ja jetzt, daß es nur das Nicht-einfache, das Zwiespältige war, das mich erregte ” , ibid.: 173) und fasst es in ein Bild: Es war sehr dumm und sicher sehr weiblich, daß ich in diesem wichtigen Augenblick an etwas anderes, nämlich an einen Bahnhof denken mußte, an einen Zug, dessen Lokomotive so wie Kinderlokomotiven den Preis umgehängt tragen ein Schild mit den Namen unseres Landes trug. Und während wir einstiegen, blieb der Fremde draußen stehen und es war aus irgendeinem Grunde unmöglich, daß er auch mit einstieg, obwohl er es wollte (Ibid.: 181). Dass dieser Fremde dann auch mit Zuhälterei in Verbindung gebracht und damit sexuell konnotiert ist, dass er als diabolisch, als gesteigert unmoralisch gesetzt wird, da sein Verhalten gegen das Wohl von Gemeinschaften gerichtet ist ( “‘ Das ist wohl die höchste Unmoral ’ , sagte ich streng, ‘ wenn jemand nicht ertragen kann, ein ganzes Volk zufrieden zu sehen ’” , ibid.: 180), ergibt mit der Semantik des Gemischten, Uneindeutigen und Hässlichen ein semantisches Konglomerat, das auch in anderen Texten der Zeit Verwendung findet, wenn es darum geht, Figuren zu stereotypisieren und durch kulturelles Wissen eine Zuordnung als ‘ jüdisch ’ nahezulegen und bereits dadurch zu disqualifizieren. 14 Hier im Text muss diese Eigenleistung der Identifizierung allerdings nicht erbracht werden, hier wird sie von Silvia expliziert: “ Ich beschloß den Fremden herauszufordern, den alten schmierigen Juden, der so häßlich seinen Kaffee schlürfte ” (ibid.: 174). 3.2 Erneuerter Mann und erdende Frau Bezüglich der individuellen Selbstbestimmung der Frau und des Verhältnisses der Geschlechter ist zu konstatieren, dass keine emanzipatorischen Momente in der favorisierten Lösung zu erkennen sind. Die propagierte harmonische Lösung, der Ausgleich zwischen den Geschlechtern und letztlich auch die Selbstfindung, also die Inszenierung eines Werts 14 So etwa in Josefa Behrens-Totenohls Der Femhof von 1934, wo die Figur des Robbe auf genau diese Weise des Gemischten charakterisiert wird. Weder diese Semantisierung an sich noch ihre textinterne argumentative Funktion bei der Sympathielenkung sind neu in den beginnenden 1930er Jahren. So wird sich etwa in Kellermanns Der Tunnel schon 1913 dieser Strategie bedient, wenn es um die Disqualifizierung der Figur S. Woolf geht (cf. Krah 2017). In diesen frühen Texten ist das semiotischeVerhältnis aber noch umgekehrt: Hier werden diese Merkmale an bereits eindeutig als jüdisch ausgewiesene Figuren zusätzlich als Signifikat herangetragen, während später sich diese Semantik als Wissenselement verselbständigt und selbst zum Signifikanten wird, der nun auf die Bedeutung ‘ jüdisch ’ verweist. 300 Hans Krah (Passau) des Ich, sind nicht Ausdruck einer tatsächlich modern-zukünftigen, gegenwärtige Strukturen überwindenden Orientierung, sondern Oberflächenphänomene und Argumentationshilfen eines konservativen Denkens. Denn das eigentliche Ziel weiblicher Individuation ist im Text die Ausrichtung auf den Mann und die Aufrichtung des Mannes, letzteres wiederum sozial funktional. Andreas ist Kriegsteilnehmer des 1. Weltkriegs, und als solcher, so kann aus dem Text geschlossen werden, traumatisiert. Seine Skepsis, sein Nihilismus, seine Abgrenzung gegenüber anderen werden subtil mit seiner Generation verknüpft, sind also nicht ursächlich in einer subjektiv-individuellen Verfasstheit seiner Psyche und der Psyche der Person im Allgemeinen zu suchen. Der Frau obliegt es nun, therapeutisch den Mann wieder für die Gemeinschaft und die Arbeit für die Gemeinschaft tauglich zu machen. Genau darin, und nur darin, äußerst sich die Transformation des Mannes, die ihn zurück zu dem ihm anthropologisch-natürlich angestammten Platz in der Ordnung führt, den er wieder einzunehmen hat. So kann es heißen: “ War es [Andreas Antlitz, HK] nicht ernster denn je und in völliger Männlichkeit mir entrückt? ” (ibid.: 259). Diese Veränderung geschieht mit der Mitteilung, dass er Vater wird (ibid.). 15 Entsprechend artikuliert sich die Rücknahme der Frau zugunsten dieses Mannes. Eine Emanzipation der Frau, ihr Aufbegehren und ihre individuelle Selbstfindung münden in eine rein mediale Funktion und werden als Konzepte negiert. Sie dienen nur Mann, Sohn und Gemeinschaft. Als einziger Wert für die Frau erscheint die Mutterrolle. 16 Selbst diese ist aber nicht als Selbstverwirklichung der Frau zu deuten; gerade dies, der Weg, den die Frauen gehen können, wird als Irrweg erwiesen. Kinder zu gebären ist nur dann legitim, wenn dies in den ideologischen Rahmen integriert ist: In jener Stunde, da jeder von uns sich um des anderen willen vergaß, ist ein Wesen zum Leben erwacht. Und ich weiß: es ist nicht das Geschöpf meines blinden und bösen Wahns, nicht das Kind, das mir allein gehören sollte und mit dem ich mir die irdische Unsterblichkeit erzwingen wollte. Es 15 Ausgedrückt wird dies im Text mit folgender Formulierung: “ Während er noch hastig ungläubige Fragen stellte, glaubte er doch schon und wehrte sich nicht ” (Kaschnitz 1933: 258). Glauben ist etwas, was im Text als positiv gesetzt wird, und was Andreas zuvor, noch in der Rolle des Intellektuellen, als Konzept negiert. Was hier im Text allerdings als Glaube erscheint, hat weniger etwas oder nichts mit Glauben im engeren christlichen Sinn zu tun, sondern manifestiert sich abstrakt als Glaube an die Zukunft. Dieses Konstrukt findet sich in elaborierter Ausformung dann als zentrales Element im Film des Nationalsozialismus. So wird etwa in Mutterliebe dem zum Zyniker gewordenen Paul durch seine Heilung dieser Glaube wieder gegeben, so wird in Heimkehr die Unfähigkeit des “ Schwarzsehers ” Fritz (an die Hilfe durch Hitler-Deutschland) zu glauben narrativ sanktioniert. Auch die Restituierung des Mannes (oder der Männer) ist eine gängige Strategie in NS- Texten. Gerhard Menzels Flüchtlinge (1933) führt dies als Plot vor, wenn der zum Führer prädestinierte, aber durch die Erfahrungen im ersten Weltkrieg traumatisierte Offizier sich wieder mit der Masse der verängstigten Deutschen vereint, diese zu einer Volksgemeinschaft nach dem Modell von Führer und Geführte formt und dadurch selbst sein Trauma überwindet. Ähnlich, ohne direkten Bezug zum 1. WK, führt eine solche Restituierung der Film Mutterliebe vor, wo es die Mutter ist, die durch ihr Opfer dem erblindeten und zynischungläubig gewordenen Sohn wieder zum Augenlicht verhilft und dieser, dadurch sehend geworden, nun als Arzt seiner Bestimmung für die Gemeinschaft nachgehen kann. 16 Diese Rolle ist eine, die oberflächlich sogar noch konservativer als diejenige ist, die in NS-Texten der 1930er Jahre propagiert wird. Hier wird regelmäßig die Frau als Kameradin vorgeführt, als Syntheseleistung eines modernen Frauenbildes, das aber vollständig auf den Mann ausgerichtet ist. Die Mutterrolle spielt hier keine Rolle. Der Herrscher und Serenade seien als filmische Beispiele genannt, Detatom als Science-Fiction-Roman. Weniger konservativ ist dies aber nur auf einer Oberflächenebene, denn hier wird nur eine andere Strategie gefahren, der Frau ihr emanzipatorisches, individuell-selbstbestimmtes Potential zu nehmen. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 301 ist Andreas, der heranwachsen wird in verwandelter Gestalt. Er selbst hat sich mir so geschenkt, und er ist es, den ich lieben werde in meinem Kind. Sein Wille zum Leben hat es erweckt (ibid.: 255 f.). Deutlich impliziert ist hier die Ungleichrangigkeit bezüglich der Geschlechterrollen. Die Schwangerschaft ist nicht funktional für Silvia gedacht, als Weg der Frauen, für ihre, so gesetzten egoistischen Interessen, sondern nun gibt es Einsicht und Ausrichtung auf den Mann. Sie definiert sich nur als Trägerin seines Sohnes (mit einer Gewissheit bezüglich des Geschlechts des Kindes, die nur ideologisch zu verstehen ist). 17 Die Dominanz des Mannes wird, als genuine Aufgabe der Frau, perpetuiert, zumal der Mann in dieser Zeugungsvorstellung Leben aktiv schafft, während sie als Frau nur das passive Gefäß ist. 18 Sie gibt die Nahrung, er den Willen (der männlich ist): “ So wie es eingeschlossen ist in den Kreislauf meines Blutes und sich nährt von meiner Nahrung, so zehrt es von Andreas Willen, von der neuen Zuversicht, die ihn erfüllt ” (ibid.: 256). Was Silvia leisten darf, ist also die Erdung des Intellektuellen, und zwar in der verwendeten Metaphorik ganz wörtlich: 19 wenn er wirklich nahe dran gewesen war, mich um eines höheren, mir verborgenen Zieles willen für lange Zeit zu verlassen, so fand er doch in der Nacht, die unsere letzte war an dem südlichen Meer, leidenschaftlicher denn je zu mir, und in mir zur Erde zurück (ibid.: 255). Waren Silvia und Andreas zuvor ein individuelles Paar, so erscheinen sie nun in der Argumentation wie in den verwendeten Metaphoriken weniger als subjektiv-individuelle Größen, sondern selbst nur als Repräsentation allgemeiner Gender-, Lebens- (und damit Sozial-)gesetze. 4 Der Erzählakt als ideologische Schließung Nun gibt es eine Eigenständigkeit von Silvia, die von diesen Rücknahmen scheinbar nicht betroffen ist, nämlich den Text selbst. Im Schreibakt artikuliert sich eine Eigenständigkeit Silvias und auf dieser Ebene eine Dominanz gegenüber Andreas. Sie ist es, die reflektiert. 17 Die Relevanz eines Kindes für eine stabile Beziehung im Rahmen der Regeln erotischer Beziehungen im Kontext frühmodernen Denkens konstatiert Wünsch 1990: 147 f. Allerdings gehen die ideologischen Implikationen des Kindes, wie sie hier in Liebe beginnt installiert sind, deutlich über jeden dort skizzierten semantischen Funktionskontext (etwa dem des Umwegs, cf. ibid.: 156 f.) und damit über die Paradigmen frühmodernen Denkens hinaus. 18 Die Vorstellung, dass Beitrag der Frau bei der Zeugung ist, als passives, Gestaltung empfangendes Prinzip zu dienen, geht auf aristotelische Vorstellungen zurück. Mit der Frau als Gefäß in Kombination mit der Lehre der Präformation, dass der männliche Zeugungsstoff die Gesamtanlagen des werdenden Menschen bereits in sich trägt, bemüht der Text hier ein Wissen (und überspitzt es zusätzlich, da es ja Andreas selbst ist, der hier quasi in geklonter Form wiedergeboren wird), das um 1930 als seit hundert Jahren gründlich als veraltet gelten kann: 1827 entdeckt Karl Ernst von Baer die Existenz des weiblichen Ovums, die Grundlage für die sich in der Folge schnell durchsetzende Kenntnis über die tatsächlichen Gegebenheiten bei der Zeugung. Siehe etwa Rutke 2007. 19 Dass dann diese Metaphorik von Wasser und Erde als sprachlicher Euphemismus auch beibehalten wird, wenn Silvia auf der Ebene der Sprechsituation uns erzählt, wie das Kind gezeugt wird, und zwar anstatt dass sie auf der Ebene der besprochenen Situation Andreas erzählt, was sie geträumt hat, ist da schon konsequent: “‘ Ich will dir erzählen ’ , murmelte ich. Aber er schüttelte den Kopf. Er warf sich an meine Brust, wie die Wellen sich in die Bucht werfen, wie der Regen niedergeht auf die warme offene Erde ” (Kaschnitz 1933: 248). 302 Hans Krah (Passau) Wie lässt sich also die Erzählsituation beschreiben und deren Implikationspotential offenlegen? Gegeben ist eine Ich-Erzählsituation von Silvia, die sich als expliziter Schreibakt setzt. Nach den Geschehnissen, wenn die beiden wieder zuhause sind, wird über mehrere Nächte hindurch retrospektiv dieses Geschehene niedergeschrieben. Der Ausgang steht demgemäß fest. Allerdings hält sich die Erzählung in ihrer Gliederung an die Chronologie, der Ablauf wird nachexerziert. In das Erzählte wird im Erzählen wenig eingegriffen. 20 Geschrieben wird tendenziell also vergegenwärtigend, im Nachvollzug der Geschehnisse, ohne große Reflexion und Kommentierung, als ob alles im Fluss und offen wäre, unter Betonung des Prozesscharakters des Ablaufenden. Generell kaschiert der Erzählakt damit als pseudoreflexive Ebene die oben offen gelegten Grundkonzeptionen des Textes, weil sie als eigene Erkenntnisse inszeniert sind, die in einem Prozess gewonnen werden und damit diese Normen nicht dogmatisch von außen als ideologische gesetzt erscheinen, sondern als individuell-subjektiv erfahrbar behauptet werden. Dabei leistet das Erzählen gerade die Nachvollziehbarkeit und das Verstehen dieser Erkenntnis. Der Erzählvorgang ist in sich schlüssig, nicht fragmentiert oder gebrochen, narrativ wird einem bekannten Modell gefolgt. Das Erzählen spiegelt gerade nicht einen subjektiven, psychischen, sprunghaften Prozess wider, sondern ist in seiner sprachlichen Gestaltung wie seiner Anordnung wohlgeordnet. Die Sprache hält sich an vorgegebene Ordnungen der Syntax wie der Semantik und bedient sich kultureller Metaphoriken oder Vergleiche, die in ihrer Explizitheit mögliches Individuelle formatieren und für Sinn sorgen. Insofern ein solcher Akt des Erzählens überhaupt als relevante Textdimension erscheint, wird an einem zentralen Diskurs der Moderne partizipiert - das Ich kann als modernes Ich erscheinen. Der Erzählakt fungiert damit, homolog zur Rolle der Frau im Erzählten, ebenso als intellektuelle Erdung: Intellektuell, da Wahrheiten nicht dogmatisch gesetzt, sondern erst im Akt der kommunikativen Aushandlung als Wissen generiert werden, wobei die Anbindung aber eine solche ist, dass sie eben für alle verständlich ist. 21 Anlass des Erzählens ist die festgestellte Schwangerschaft. Statt Andreas diese gleich mitzuteilen, beginnt der Schreibprozess. Dieser ist dabei in doppelter Weise mit der Schwangerschaft verbunden: Ein neues Leben begann, aber ich trug vieles mit mir herum, das nicht zu ihm gehörte [. . .] Da öffnete ich mich endlich ganz der Erinnerung. Ich begann das aufzuschreiben, was ich sah und wieder fühlte, ich schrieb nun an jedem Abend (ibid.: 252). Das Schreiben ist funktional für das neue Leben, Silvias Kind, und entspricht einer Art Reinigungsakt. Impliziert ist, dass sich Silvia von ihrer falschen ideologischen Einstellung symbolisch befreien muss (nämlich von ihrer dominanten, auf eigene Selbstbestimmung gerichteten Art), dass der Schreibakt also einer Veräußerlichung und Abspaltung von 20 Es gibt nur einige wenige Bewertungen ihres Verhaltens ex post, insbesondere bezüglich des Traumes, Kap. 14. Diese Ansätze von Reflexion beziehen sich aber nie auf Vorwegnahmen, was den Ausgang betrifft. 21 Ein Nebeneffekt der rekurrenten Verwendung von “ Ich weiß ” (statt ‘ Ich wusste ’ ) ist zudem, dass diese als Wissen ausgegebene Erkenntnis nicht als historisierbar und damit veränderbar gesetzt wird, sondern als außerzeitlich. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 303 fremdem Inneren gleichkommt; gleichsam in eugenischer Absicht, da sonst dem Kind Schaden zugefügt werden könnte. Darüber hinaus dient der Schreibakt aber auch gerade dazu, die Inhalte innerhalb des Paares zu kommunizieren. Sie gibt Andreas ihre Aufzeichnungen zu lesen; die Einheit ist wiederhergestellt: Als diese Nacht zu Ende ging, gab ich Andreas die Blätter, auf denen ich alles aufgeschrieben habe, die Geschichte einer Reise, die Geschichte von Tod und Beginn der Liebe. Und so nahe waren wir uns in dieser Stunde [. . .] (ibid.: 262). Diese Formulierung stellt eine Wiederaufnahme dar. Zu Beginn im Text heißt es über den Zeitpunkt des Schreibaktes: “ Es liegt nicht sehr viel Zeit zwischen dem Damals und dem Tage, an dem ich dies aufschreibe, die Geschichte von Tod und Auferstehung der Liebe ” (ibid.: 7). Etabliert werden zunächst sprachlich also ein Rahmen und damit ein Ende. Indem die Aufzeichnungen zudem eine kommunikative Öffnung erfahren, wird das zuvor subjektiv Geschriebene einer Außensicht als Prüfung unterzogen und damit autorisiert. Was rein subjektive Sicht und Silvias psychischer Disposition entsprungen sein könnte, gerade was ihre Wertungen und Bewertungen betrifft, wird durch einen Beteiligten beglaubigt. Denn Einwände von Andreas auf diese Version der Geschichte existieren nicht. Dies ist ein durchaus signifikantes Datum. Denn nicht nur bezüglich der Inhalte kaschiert der vorliegende Text seine Programmatik, dies gilt auch für die Erzählsituation selbst. Wie aus dem obigen Zitat zu rekonstruieren ist, lässt sich der Text mit der bisherigen Beschreibung noch nicht kohärent fassen, da über die Tempusverwendung eine weitere Erzähldimension indiziert ist. Die Formulierung “ Es liegt nicht sehr viel Zeit zwischen dem Damals und dem Tage, an dem ich dies aufschreibe ” weist durch die Deixis “ dies ” und das Präsens “ aufschreibe ” diesen Satz als der Erzählebene des Schreibaktes zugehörig aus. Diese Ebene des unmittelbaren Schreibens festigt sich, insofern während des Discours immer das Präsens benützt wird, wenn es um die Sachverhalte geht, die sich auf den Zeitpunkt des Schreibakts beziehen, etwa “ Ich weiß ja jetzt ” (ibid.: 173). 22 Wenn es am Ende aber heißt “ ich schrieb nun an jedem Abend ” , “ Ich schrieb bis in die Nacht hinein ” (ibid.: 252) und sie ihm “ die Blätter ” “ gab ” (und nicht gibt oder geben wird und nicht diese Blätter), dann artikuliert sich darin nicht mehr der Schreibakt, sondern eine Reflexion über den Schreibakt und über das eigene Schreib-Handeln. Dies impliziert zum einen Zeit, die vergangen ist, und zum anderen eine Differenz im Medium. Die Blätter, die Silvia Andreas gibt und in denen sich ihr Verschriftungsakt dokumentiert, und der vorliegende Text können eigentlich nicht identisch sein. Sie werden aber als identisch gesetzt. Obwohl also auf eine weitere Ebene des Erzählakts geschlossen werden muss, die 22 Siehe auch: “ ich erinnere mich sehr gut ” (ibid.: 5), “ Ich weiß noch ” (ibid.: 5), “ Aber ich weiß noch ” (ibid.: 19), “ Ich erinnere mich sehr gut ” (ibid.: 30), “ Ich weiß nicht mehr ” (ibid.: 83), “ Ich weiß nicht mehr, was mich damals bewog ” (ibid.. 103), “ Jetzt, in der Erinnerung kommt es wieder ” (ibid.: 113), “ ich entsinne mich ” (ibid.: 122), “ Es kommt mir vor, als sei damals ” (ibid.: 133), “ Oder scheint es mir nur so in der Erinnerung ” (ibid.: 142), “ Ich erinnere mich ” (ibid.: 143), “ Jetzt weiß ich es wohl ” (ibid.: 213), “ Manchmal glaube ich jetzt noch, ich sei wirklich fortgewesen ” (ibid.: 213), “ Jetzt, da alles so klar vor mir liegt ” (ibid.: 226). 304 Hans Krah (Passau) sich als übergeordnete etabliert, wird diese im Text selbst nicht thematisch, sondern auf die bisherigen Strukturen projiziert und damit unsichtbar gehalten. Das leistet erstens Beglaubigung des Erzählten. Diese steht mit dieser Strategie dann ja nicht noch aus, so ist impliziert, sondern ist in den Text hereingeholt. Würde sich der Text als Teil einer Kommunikationssituation setzen, wäre er als dieser Text auch nur ein Teil und damit wäre eine Offenheit seinen Inhalten gegenüber möglich. So aber wird eine solche mögliche Diskussion seiner Positionen, eine kritisch-rationale Beurteilung aufgrund eines (intellektuellen) Leseaktes ausgeblendet, die Möglichkeit eines solchen negiert. Die Beglaubigung wird durch diese Projektion also zweitens auf den Text zurückgeworfen und ergibt sich quasi unmittelbar von selbst, zudem wird der kommunikative Aushandelsprozess als abgeschlossen deklariert. Diese Rückbindung auf sich selbst schließt den Text auch ideologisch und immunisiert ihn. 23 23 Hier sei ein kleiner Exkurs zu Gerhard Menzels Wieviel Liebe braucht der Mensch eingefügt. Auch in diesem Text geht es um eine Liebesbeziehung, die allerdings deutlich facettenreicher ausgestaltet ist und bei der die Konflikte gerade nicht aus einer hermetischen Zweisamkeit resultieren, sondern im Gegensatz durch den Kontakt mit der Umwelt. Die Protagonistin Hela verlässt, durch ihre Liebe zu Alexander bedingt, mit diesem die Kleinstadt und gerät im großstädtischen Berlin an eine Gruppe, die laut Herausgeber den “ Pseudo- Zeitgeist ” (Menzel 1932: 12) repräsentiert, wodurch Hela moralisch auf Bahnen geleitet wird, die zu verschiedenen sexuellen Beziehungen führen, die schlussendlich wieder zu Alexander zurückführen und in einem gemeinsamen Liebestod enden. Sie tötet Alexander und dann sich. Im Gegensatz zu Liebe beginnt ist hier der Fokus also nicht auf das gelingende Neue gelegt, sondern auf das Alte, Gegenwärtige, das eben, aus der ideologischen Sicht des Textes (die dann von derjenigen von Liebe beginnt nicht allzu weit entfernt ist), nur in einer Katastrophe enden kann. Hierbei wird diese Ablehnung aber nicht nur durch den einleitenden Kommentar des Herausgebers deutlich, der die interpretatorische Hoheit über die Deutung der Geschehnisse hat, sondern bereits durch Hela selbst. Denn auch hier geht es wie in Liebe beginnt um einen expliziten Schreibakt, den Hela zwischen Tötung und Selbstmord verfertigt, und in dem sie sich “ Klarheit ” (ibid.: 19, 38, 155) verschaffen will. Dabei wird auch hier diese Klarheit ganz deutlich nicht erst durch den Schreibakt geschaffen, sondern sie ist dem Schreibmodus letztlich von vornherein inhärent. Nicht umsonst ist das Schreiben explizit an ein Du adressiert, und zwar an Louis, der als das Zentrum dieses nicht individuell gesetzten Generationenproblems erscheint ( “ Aber das ist nicht die Schuld eines einzelnen, sondern schon die Schuld einer ganzen Generation, als deren Vertreter ihr euch fühltet ” ibid.: 27 f.). Louis wird gleichermaßen als Dämon wie Zyniker stilisiert, dem die Verantwortung für das Geschehene zugesprochen wird. Helas Manuskript soll ihm gewissermaßen den Spiegel vorhalten, doch Louis verweigert die Kommunikation und damit eine Anerkennung seines Anteils, was seine Fremdheit bezüglich der konstatierten Problematik unterstreicht. Hier findet eine ganz eindeutige Abgrenzung statt, die als Selbstausgrenzung ausgegeben werden kann. Dementsprechend ist es der männliche Herausgeber, der die Mittlerrolle einnehmen und den weiblichen Text als authentisches Exempel und Warnung funktionalisieren kann: “ Ich wünschte, daß recht viele die warnende Stimme dieser Frau hören möchten, eines Geschöpfes, das ein Opfer des Pseudo- Zeitgeistes geworden ist ” (ibid.: 11 f.). Die Herausgeberfiktion erscheint für diesen Text durchaus notwendig, um die von Hela beschriebenen Sachverhalte und ihr Schreiben in das gewünschte Deutungssystem zu integrieren. Diesees ist eben eines, das in Richtung einer Überwindung derjenigen Zustände zielt, die mit einer negativen, da freizügigen Moderne verknüpft werden (und genau an die Weimarer Republik gebunden sind, beginnen die Kontakte mit dieser Generation doch gerade 1921). Ansonsten könnte der Text nämlich durchaus auch als pathologisch gelesen werden. Sich durch normalen Beischlaf am Abgrund befindlich zu stilisieren, ein Kind als Kind eines Mannes zu imaginieren, von dem es definitiv nicht ist, und schließlich um der Liebe willen einen Mord zu begehen, der aber als das ausgegeben ist, was Hela angeblich ohne Liebe geworden ist, sind Beispiele einer Weltsicht, die die Grenzen des einigermaßen Nachvollziehbaren verlässt. Dies mag daran liegen, dass hier eben deutlich konstruierter und durchschaubarer als bei Kaschnitz eine weibliche Sicht fingiert wird. Dass der weibliche Schreibakt etwa permanent mit militärisch-männlichen Metaphoriken operiert, konterkariert das Konstrukt, das um der Inszenierung von Unmittelbarkeit, psychischem Erleben und Ich-Identität eingeführt ist, nicht wenig. Eine geradezu gegenläufige Funktionalisierung eines weiblichen Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 305 Insgesamt bleibt durch diese Strategie einerseits die Relevanz von Unmittelbarkeit und Subjekt im Sinne eines Festhaltens an Paradigmen des Denkens der Frühen Moderne erhalten. Andererseits wird ausgeschlossen, dass es irgendwelche Reaktionen gegeben hat oder überhaupt geben könnte. Das bisher ideologisch Ausgewiesene bleibt als Wahrheit bestehen und wird Wissen. 5 Psychologie einer Wandlung - Fazit Gezeigt werden sollte, wie unter Anwendung des Weg-Ziel-Modells das schussendlich erreichte emphatische Leben im Aufgehen in einer und für eine Gemeinschaft besteht und als Glück und (weibliche) Identität Mutterschaft und die Ausrichtung auf den (nun selbst geläuterten) Mann propagiert werden. Dies kommt einer Pervertierung und Erodierung des Modells und der Abkehr von den Paradigmen der Frühen Moderne gleich. Der weibliche Schreibakt begleitet dies, wobei der selbstreflexive Erzählakt gerade dazu beiträgt, die notwendig zu durchlebende Krise nicht nur zu bewältigen, sondern vor allem die geglückte Bewältigung zu dokumentieren. Er dient nicht einer Vergegenwärtigung und eigenen Rekapitulierung vergangenen Geschehens als Erinnerungsleistung, aus der sich mosaikhaft ein Sinn der eigenen Existenz ergeben würde, sondern erscheint selbst als Selbstvergewisserung eines nicht zu reflektierenden neuen, allgemeingültigen Zustands; 24 die Frau fungiert als Medium diese Erkenntnis zu bewahren und zu tradieren. Was Silvia darf, ist Sprachrohr und Medium der Ideologie zu sein. Dies darf sie mit dem Text insgesamt, wie sie es immer wieder bereits im Text praktiziert, wenn sie Aussagen über die Menschen im Allgemeinen formuliert und als Wahrheiten verkauft, etwa: Die Menschen wollen [. . .] nur das Allereinfachste, essen, Ruhe haben, feste Gesetze. Sie wollen ehrenhaft und fleißig sein und sich sicher fühlen in dem, was alle verstehen und fühlen können und nicht nur ein paar Gebildetere, die so klug sind, daß sie an gar nichts mehr glauben (ibid.: 183). In Hinblick auf den Übergang frühmoderner Denkkategorien in solche, die neutral formuliert als Kennzeichen einer synthetischen Moderne gelten können 25 und weniger Tagebuchs führt im Übrigen Mechtilde Lichnowskys Delaïde (1935) vor. Hier wird gerade dadurch, dass das Tagebuch der durch Suizid gestorbenen Protagonistin nur diegetisch gelesen wird, diese Lektüre dem Rezipienten aber vorenthalten wird, auf tatsächlich psychisch motivierte Dispositionen und individuelle Problematiken der Person verwiesen, die sich eben nicht einfach durch Verschriftung klären und verallgemeinern lassen. Durch die Verweigerung des Tagebuchs kann nur durch eine Außensicht versucht werden, die Geschehnisse, die schlussendlich zum Suizid und vorher zu ihrerAufnahme in eine psychiatrische Klinik führen, zu rekonstruieren. Man weiß zwar, dass es die Beziehung zu ihrem Mann ist, aber was genau daran nun die Ursache ist, bleibt offen bzw. muss selbst in ein System zusammengeführt werden. Gerade die Distanz schafft hier Nähe, nicht zum Subjekt, aber zur Problematik der Identitätsfindung. 24 Wie in Wieviel Liebe braucht der Mensch, wenngleich dort etwas weniger subtil, wird Erzählen als Vergewisserung und Fixierung funktionalisiert. Als Anlass wird zwar eine außergewöhnliche Situation inszeniert, über die es gilt, sich Klarheit zu verschaffen, allerdings ist diese Klarheit schon von vornherein gegeben. Nicht das Schreiben, das Erinnern ist es also, was Identität fördert, wie dies etwa in Leo Perutz St. Petri Schnee vorgeführt wird. Hier (re-)konstituiert sich das Ich gerade in der Erinnerung durch den Erzählakt, und zwar auf eine radikal-subjektivistische Weise, unter Ausblendung der Umwelt. Bei Kaschnitz passiert gerade das Gegenteil. 25 Cf. zu diesem Konzept Frank und Scherer und Palfreyman 2005 b. 306 Hans Krah (Passau) neutral formuliert solche der NS-Ideologie sind, zumindest diese vorbereiten oder stützen, lassen sich folgende Aspekte auswertend resümieren: Wie das obige Zitat zeigt, artikuliert und manifestiert sich eine zentrale neue Leitkategorie, die den Rahmen der propagierten Semantik vorgibt, einer Semantik, die sich durch Technik, Kultur und Kultivierung (der unfruchtbaren Natur), durch Ordnung, Bewegung und Fortschritt auszeichnet und sich abgrenzen will von dem, was als unfunktionale Unruhe und destruktive Bewegung ausgegeben wird. Diese neue Leitkategorie ist Einfachheit, die einem semantischen Feld um Komplexität, Differenzierung, Problematisierung gegenübergestellt wird und verspricht, als heilsbringende Lösung sämtlicher Probleme zu dienen. Insbesondere eine politische Diskussion um Fortschritt im Besonderen und damit letztlich über den Staat im Allgemeinen wird als destruktiv, als “ geistige[. . .] Überheblichkeit ” (ibid.: 182) gesetzt und als rein “ ästhetische[r] Gesichtspunkt[. . .] ” (ibid.: 182) abgewertet, da, so ist unterstellt, solches notwendigerweise nicht das Wesentliche der Allgemeinheit tangiert. Propagiert wird stattdessen ein Konzept von Leben, das einem solchen, als Elitarismus, Intellektualismus und Ästhetizismus verbrämtem Denken entgegengesetzt wird und als körperlich, weiblich, mütterlich und damit als wirklich und einzig lebensrelevant mystifiziert wird. 26 Ebenso wird versucht, eine Neujustierung dessen, was ein (männliches und weibliches) Ich auszeichnen darf, zu implementieren. Der Text ist also im Diskurs einer Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Kollektiv/ Gemeinschaft zu situieren. Im Text bleibt zwar das Ich zentral, aber er zeigt, wohin dies führt, zu führen hat, nämlich zur Gemeinschaft, und zwar als Ziel und Bedürfnis des Ich. Geht es zunächst noch um eine private, individuelle Geschichte, so geht diese in eine typische, verallgemeinerbare über. Für das weibliche Ich ergibt sich eine neue Rolle der Frau, die zwar zu alten Denkmustern zurückkehrt, diese aber als neu ausgibt. Dies wird zudem als selbstbestimmt vorgeführt. Die Funktion der selbstreflexiven Erzählsituation ist ja gerade auch, dass keine fremde Beeinflussung von außen entscheidend ist. Die rein subjektive Sicht heißt: Sie selbst bestimmt und reflektiert darüber, die Entscheidung ist demnach auch nicht zufällig-beliebig, sondern bewusst gefällt und damit selbst ein emanzipatorischer Akt. Diese Subjektivität geht gleichzeitig aber wieder auf in ein Paradigma, denn Silvia agiert als Frau, nicht als Person. Schließlich sind hierbei insbesondere die Kategorien eigen und fremd funktional, deren Verhältnis einer Neubestimmung zugeführt wird. Andreas ’ anfängliche Position: “ Er konnte nichts Großartiges daran finden, daß die Menschen ihre Eigenart preisgäben, um dem Staate zu dienen ” (ibid.: 90), wird als veraltet ausgewiesen. Denn gesetzt wird zum einen, dass das Fremde gar nicht so fremd ist und nur so erscheint, während es eigentlich 26 Einfachheit und ihre Derivate Eindeutigkeit und Klarheit erscheinen als die zentralen Denkkategorien, unter die alles übrige subsumierbar ist, und damit als Maßstab der Welt ( “ ein junger Mann mit einem einfachen, klaren Gesicht ” , Kaschnitz 1933: 230) und Zugang zu ihr: “ Ich hatte recht gehabt, es gab eine Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hatte unter den eindeutigen und klaren Gedanken, den Zielen, die ich verstehen konnte und die allen Menschen gemäß waren ” (ibid.: 233). Einfachheit scheint ein Spezifikum der synthetischen Moderne (siehe Anm. 25) und für deren Denken grundlegend zu sein: Bis in die 1950er Jahre wird als Lösung kultureller Probleme nicht nur eine komplexitätsreduzierende Sicht auf Realitäten wie Wissen angeboten, sondern auch diese Vereinfachung statt als Abstraktionsprozess als natürlich gegeben und Rechtfertigung aus sich heraus gesetzt; cf. zu Einfachheit bezüglich der Popularisierung eines Spezialdiskurses Krah 2001: 93 f., 103, insbesondere Anm. 42 und 43. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 307 doch Spiegel des Eigenen ist ( “ Das fremde Leben war für mich nur ein Spiegelbild unseres eigenen Lebens ” , ibid.: 43; Kap. 3: “ Spiegelwelt ” ). Da dies damit korreliert, dass das eigene Selbst in einen größeren, eigentlich fremden Rahmen integriert ist, wird damit ein individueller Abgleich des Individuums hinsichtlich der Kategorien Selbstbild und Fremdbild obsolet. Diese scheinbare Aufhebung der Kategorien ‘ eigen vs. fremd ’ wird zum anderen aber dadurch ausgeglichen und stabilisiert, dass eine neue zentrale Grenze installiert wird. Alles das, was nicht sein soll, wird angelagert an ein wirklich Fremdes, das konstruiert wird, und hier, wie das Bild des Zuges verdeutlicht, ist keine Harmonie und Synthese vorgesehen oder wird als möglich erachtet, sondern hier bestimmt fundamentale Ausgrenzung das Denken. Die Vorstellung vom neuen Menschen, der hier als quasi notwendig für die neue Realität gesetzt wird, artikuliert sich zwar sprachlich: Andreas lebt, ich lebe. Aber die beiden Menschen, die die Stille der nächtlichen Wohnung immer wieder durchbrachen mit den Rufen ihrer glücklichen Unruhe, sind tot. Die Reise wurde Wirklichkeit, während das vorherige Leben versank. (Ibid.: 20). Das Konzept des neuen Menschen verbleibt dabei aber auf dieser metaphorischen Ebene. Insbesondere die Veränderung von Andreas wird letztlich nicht als wesensmäßig gesetzt, sondern mit dem Lebensalter korreliert ( “ Ich sah nicht ohne Wehmut, daß er wirklich ein Lebensalter überwunden hatte ” , ibid.: 261). Radikal erscheint dieses Denken nur insofern, als als Preis für die eigene Unzulänglichkeit das Kind als Pfand für die Synthese der Generationen zu fungieren hat: Ich dachte: Unser Leben geht weiter und vielleicht, wenngleich wir noch jung sind, können wir uns doch nicht mehr völlig wandeln. Aber Andreas[ ‘ ] Sohn wird in einer Gemeinschaft aufwachsen. Er wird ihr angehören (Ibid.: 261 f.). Für diese neuen Ideologeme wird also das Weg-Ziel-Selbstfindungs-Modell nicht als Konzept problematisiert, sondern als tragfähiges Modell benützt. Der Text operiert mit ihm, um semantisch dagegen zu opponieren. Was als neue Liebeskonzeption und Wert-/ Weltvorstellung als Ergebnis erscheint, ist wenig individuell: Emphatisches Leben ist nicht mehr emotionales, intensives Erleben des Einzelnen, sondern Integration in eine Kollektivgemeinschaft. Dabei wird aber vordergründig nicht mit einer Abkehr vom Gegebenen oder einem Bruch mit der Vergangenheit argumentiert, sondern das Ergebnis als harmonische Lösung, und in gewisser Weise als Synthese, postuliert. Vorgeführt wird die Bewahrung der Beziehung, zwar unter neuer ideologischer Ausrichtung und damit einem impliziten Bruch, dieser wird oberflächlich aber kaschiert. Ob die aufgezeigten Befunde wirklich in Kategorien des Unpolitischen oder des Psychologischen auch nur annähernd adäquat zu fassen sind, wenn es um wissenschaftliche oder auch nur wissenschaftsvermittelnde textanalytische Reflexion und Diskussion von Textstrukturen geht, ist mehr als zu bezweifeln. Insofern sind solche Setzungen selbst wieder nur Symptom eines spezifischen Denkens, das wissenschaftshistorisch zu rekonstruieren wäre. Nur in einem solchen Sinne sollten solche Forschungspositionen tradiert werden. Mit dem Modus des weiblichen, selbstreflexiven Schreibens partizipiert der Text zwar oberflächlich an modernen Paradigmen, ebenso wie durch das Aufgreifen von 308 Hans Krah (Passau) Trauminhalten scheinbar Unbewusstes und psychoanalytisch Relevantes integriert wird. Deshalb eine Geschichte aber als psychologisch motiviert zu bezeichnen dreht die Verhältnisse um. Diese Dimensionen fungieren nicht als Motivation, sondern werden maximal als Zeichen funktionalisiert. Bibliographie Berens-Totenohl, Josefa 1934: Der Femhof, Jena: Eugen Diederichs Verlag. Frank, Gustav und Rachel Palfreyman und Stefan Scherer (eds.) 2005 a: Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur 1925 - 1955, Bielefeld: Aisthesis. Frank, Gustav und Rachel Palfreyman und Stefan Scherer 2005 b: “ Modern Times? Eine Epochenkonstruktion der Kultur im mittleren 20. Jahrhundert - Skizze eines Forschungsprogramms ” , in: Frank und Palfreyman und Scherer (eds.) 2005 a: 387 - 430. Kaschnitz, Marie Luise 1933: Liebe beginnt, Berlin: Universitas. Deutsche Verlags-Aktiengesellschaft. Kellermann, Bernhard 1981 [1913]: Der Tunnel. Ungekürzte Neuausgabe, München: Heyne. Killy, Walter (ed.) 1990: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 6, Gütersloh / München: Bertelsmann Lexikon Verlag. Krah, Hans 2001: “ Atomforschung und atomare Bedrohung. Literarische und (populär-) wissenschaftliche Vermittlung eines elementaren Themas 1946 - 1959 ” , in: Titzmann (ed.) 2001: 83 - 114. Krah, Hans 2002: “ Fantastisches erzählen - fantastisches Erzählen: Die Romane Leo Perutz ’ und ihr Verhältnis zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne ” , in: Ders. und Ort (eds.) 2002: 235 - 257. Krah, Hans und Claus-Michael Ort (eds.) 2002: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten - realistische Imaginationen, Kiel: Ludwig. Krah, Hans 2005: “ Literatur und ‘ Modernität ’ : Das Beispiel Karl Aloys Schenzinger ” , in: Frank und Palfreyman und Scherer (eds.) 2005 a: 45 - 72. Krah, Hans 2017: “ Der Ingenieur als Weltretter. Technik in der Frühen Moderne zwischen Fantastik und Arbeitswelt ” , in: Schenk & Zeisberger (eds.) 2017: 117 - 144. Lichnowsky, Mechtilde 1935: Delaïde, Berlin: S. Fischer Verlag. Menzel, Gerhard 1932: Wieviel Liebe braucht der Mensch. Die Beichte eines leidenschaftlichen Herzens, Breslau: Wilh. Gottl. Korn Verlag. Menzel, Gerhard 1933: Flüchtlinge. Erlebnis der Heimat in fernen Ländern, Hamburg: Deutsche Hausbücherei. Meyer, Friedricke und Claus-Michael Ort (eds.) 1990: Literatursysteme - Literatur als System, Frankfurt a. M. etc.: Lang (= SPIEL Siegener Periodikum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 9, H.1) Perutz, Leo 1989 [1933]: St. Petri Schnee, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Pfister, Manfred (ed.) 1989: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau: Rothe. Richter, Karl und Jörg Schönert (eds.) 1983: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart: Metzler. Rutke, Ulrike 2007: Schülervorstellungen und wissenschaftliche Vorstellungen zur Entstehung und Entwicklung des menschlichen Lebens - ein Beitrag zur Didaktischen Rekonstruktion, Dissertation LMU München. Sarkowicz, Hans und Alf Mentzer 2000: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Hamburg / Wien: Europa Verlag. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 309 Schenk, Klaus und Ingold Zeisberger (eds.) 2017: Fremde Räume. Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen, Würzburg: Königshausen und Neumann. Sieg, Paul Eugen 1936: Detatom, Berlin: Scherl. Theweleit, Klaus 1977: Männerphantasien. 2 Bde, Frankfurt/ Main: Roter Stern. Thiess, Frank (ed.) 1931: Wiedergeburt der Liebe. Die unsichtbare Revolution, Berlin etc.: Paul Zsolnay. Titzmann, Michael 1989: “ Das Konzept der ‘ Person ’ und ihrer ‘ Identität ’ in der deutschen Literatur um 1900 ” , in: Pfister (ed.) 1989: 36 - 52. Titzmann, Michael (ed.) 2001: Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien (= Kodikas/ Code. Ars Semeiotica 24, 1 - 2), Tübingen: Narr. Titzmann, Michael 2002: “‘ Grenzziehung ’ vs. ‘ Grenztilgung ’ . Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‘ Realismus ’ und ‘ Frühe Moderne ’” , in: Krah und Ort (eds.) 2002: 181 - 209. Titzmann, Michael 2009: Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, München: belleville. Wünsch, Marianne 1983: “ Das Modell der ‘ Wiedergeburt ’ zu ‘ neuem Leben ’ in erzählender Literatur 1890 - 1930 ” , in Richter und Schönert (eds.) 1983: 379 - 408. Wünsch, Marianne 1989: “ Wege der ‘ Person ’ und ihrer ‘ Selbstfindung ’ in der fantastischen Literatur nach 1900 ” , in: Pfister (ed.) 1989: 168 - 179. Wünsch, Marianne 1990: “ Regeln erotischer Beziehungen in Erzähltexten der Frühen Moderne und ihr theoretischer Status ” , in: Meyer und Ort (eds.) 1990: 131 - 172. Wünsch, Marianne 2012: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur, München: belleville. Filmographie Die goldene Stadt (D 1942, Veit Harlan) Der Herrscher (D 1937, Veit Harlan) Heimkehr (D 1941, Gustav Ucicky) Mutterliebe (D 1939, Gustav Ucicky) Serenade (D 1937, Willy Forst) 310 Hans Krah (Passau)