eJournals Kodikas/Code 39/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2016
393-4

Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen

2016
Jan-Oliver Decker
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur aus narratologischer Perspektive: Eine Einführung in den Band und ein Vorschlag zur Analyse und Funktion der Metalepse Jan-Oliver Decker (Passau) This issue comprises the contributions in literary studies of the section “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten ” of the 14th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Verstehen und Verständigung ” (Eberhard-Karls- Universität Tübingen, 23. - 29. 09. 2014). Subject of the section were the questions i) how in a semiotic way self-reference and self-reflexivity could be described in literature ii) which function self-reference and self-reflexive narrations could get in the history of literature and in their cultural contexts. Introducing the contributions the relations and problems of self-reference and self-reflexivity in narrative processes will be shown from a point of view that defines literature and film as semiotic systems on a secondary level of meaning constitution (cf. Lotman). The volume is rounded off with a chapter which reflects the mediality of literary texts and aesthetic objects in general. It serves both as a terminological foundation and as a link between this volume and its follow-up on films and computer games by reconstructing the notions of ‘ text ’ in language and literature (in textual linguistics, literary theory, intertextuality), by looking at its use in media theory (intermediality, hypertextuality), and by summarizing the structural and aesthetic implications of Hyperfiction or Digital Poetry. 1 Zur Genese und zum semiotischen Verständnis des Bandes Die hier vorgelegten Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen in der Sektion Literatur auf dem 14. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik mit dem Thema “ Verstehen und Verständigung ” vom 23.-29. September 2014 an der Eberhard-Karls- Universität Tübingen, die sich dem Thema der Selbstbezogenheit in Literatur, Film und Computerspiel gewidmet haben und hier in einem ersten Band zur Selbstreferenz und zur Selbstreflexion in der Literatur erscheinen. 1 Mit dem Thema “ Verstehen und Verständi- 1 Der zweite Band versammelt die Beiträge in der Sektion zu Film und Computerspiel. Als zeichen- und medientheoretisches Verbindungsstück zwischen beiden Bänden figuriert ein abschließender Beitrag zur gung ” werden zwei der zentralen Begriffe in den Theorien und Methodenbildungen der Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und Germanistik im Besonderen und der Literatur- und Mediensemiotik im Allgemeinen adressiert. Darüber hinaus ist der Begriff des Verstehens Kern einer Geschichte der Hermeneutik im Speziellen und der Auslegung von Texten in allen Disziplinen überhaupt, die Textanalysen ins Zentrum stellen (also neben den Nationalphilologien beispielsweise auch Rechtswissenschaft, Theologie und Philosophie). Verstehen ist in seiner theoriegeschichtlichen Dimension Gegenstand zahlreicher Debatten. 2 Begreift man das Verstehen von literarischen Texten aus einer engeren literatursemiotischen Perspektive operational zunächst vor allem als das Verstehen von semiotisch aus Zeichen konstruierten, materiellen Artefakten, die in einen Kommunikationsprozess eingebunden sind und der Verständigung dienen (cf. für die Literatur Krah 2006; für audiovisuelle Formate Gräf et al. 2011 und Decker/ Krah 2011), dann lässt sich der Umgang mit Texten, ihr Verstehen und die Verständigung über dieses Verstehen zum einen auf das in Kodes regulierte Verhältnis von Zeichensystemen und Zeichenbenutzern herunterbrechen (Pragmatik) und von einem Verstehen von Texten unterscheiden, das zum anderen durch den konkreten Text selbst geleistet wird (Semantik). Für die Semantik von Texten gilt grundlegend, dass literarische und audiovisuelle Texte im Sinne des estnischen Literaturwissenschaftlers Jurij M. Lotman (1993) und auch im Sinne des französischen Kulturwissenschaftlers Roland Barthes (1964) aus primären Zeichensystemen (wie Sprache, Musik, Filmbild usw.) sekundäre semiotische, Modell bildende Zeichensysteme aufbauen. Als sekundäre semiotische Systeme, die ein Modell von Welt aufbauen, übersetzen Texte kulturelles Wissen in mediale Zeichen. In genau dem Maße, in dem Texte als sekundäre semiotische Systeme kulturelles Wissen verarbeiten, ermöglichen sie ihrer Produktionskultur, sich über sich selbst zu verständigen. Sekundäre semiotische Systeme wie Literatur und Film machen auf diese Weise Bedeutungsangebote, die als kulturelle Selbstreproduktion einer Kultur dazu dienen, a) Komplexität zu reduzieren und b) eine Verständigung über Werte und Normen, Mentalitäten und Einstellungen, Probleme einer Kultur und ihre möglichen Lösungen in virtuellen, medialen Probehandlungen vorzunehmen (cf. Titzmann 2003). In genau diesem Sinne leisten die vorliegenden Beiträge semiotisch geleitete Reflexionen von rekonstruierbaren Textbedeutungen, die der Verständigung einer Kultur über ihre zentralen Probleme, Mentalitäten und Ideologien dienen. 2 Selbstreferenz und selbstreflexives Erzählen - ein Problemaufriss Ausgehend von den oben skizzierten, artefaktbasierten Bedeutungspotenzialen und Verstehensangeboten literarischer Texte und erweitert durch erzähltheoretische Fragestellungen untersuchen die hier vorgelegten Beiträge aus semiotischer Perspektive Formen selbstreflexiven Erzählens in der Literatur. Selbstreflexives Erzählen ist dabei zunächst Fundierung eines polykodierten und multimedialen Textbegriffs, der einer Analyse von literarischen (ästhetischen) Produkten gleich welchen Mediums zugrunde gelegt werden kann. 2 Die Heterogenität des Verständnisses von Verstehen zeigt sich schon in der Aufspaltung des Begriffs Hermeneutik in zwei Lemmata und drei Begriffe im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (cf. Weimar 2000 und Figal 2000). 206 Jan-Oliver Decker (Passau) einmal nur neutral als ein Erzählen zu verstehen, das sich selbst im Erzählvorgang als Erzählen thematisiert (cf. Scheffel 1997). Diese Spiegelung des Erzählvorganges im Erzählen selbst lässt sich mit Harald Fricke (2003) als gestufte Iteration begreifen. Semiotisch gesprochen ist unter einer gestuften Iteration nach Fricke die Reproduktion von textuell manifesten Zeichen einer Textebene auf einer anderen Ebene des Textes durch Ableitung oder Variation zu verstehen. Das heißt: Wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt, dann wird ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte. Selbstreflexives Erzählen bedeutet also, dass die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird. Zu selbstreflexivem Erzählen in Literatur und Film liegen eine ganze Reihe aktueller methodischer Studien aus narratologischer Perspektive vor. 3 Jedoch bleibt eine semiotisch orientierte Analyse selbstreflexiven Erzählens, die sich semiotischer Analyse- und Beschreibungsinventare als ihrer Methoden bedient, sowohl in der Theorie als auch in der Anwendung bis heute ein Desiderat. Um diese Lücke zu schließen, versuchen die hier vorgelegten Beiträge in einer methodisch geleiteten, vorwiegend narratologischen Herangehensweise Verfahren selbstreflexiven Erzählens - wozu hier auch Formen selbstreferenzieller Bezugnahmen gezählt werden - von der einfachen Spiegelung bis zur Metalepse und zum narrativen Kurzschluss (Genette 2010) in historischen Beispielen semiotisch zu beschreiben und zu erklären. Erst auf einer breiten Basis diachroner und synchroner Studien mit semiotischer Ausrichtung, die an ausgewählten Beispielsanalysen in Literatur, Film und in anderen Medien aus einer semiotischen Perspektive Phänomene selbstreflexiven Erzählens exemplarisch analysieren, ließe sich ein semiotisch orientiertes Beschreibungsinventar multimodaler Selbstreflexion ableiten, das dann auch Funktionen und Reichweiten unterschiedlicher Formen von Selbstthematisierung, Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion zu beschreiben imstande wäre. Dieses medienübergreifende semiotische Beschreibungsinventar zur semiotischen Analyse selbstreflexiven Erzählens gilt es in einem nächsten Schritt an ausgewählten Beispielen zu etablieren. Darauf ausgerichtet bieten die Beiträge im vorliegenden Band einen vielfältigen, fundierten ersten Überblick. In einem zweiten Schritt erproben dann die Beiträge des Folgebands auf diesem Fundament ein medienübergreifendes semiotisches Beschreibungsinventar für selbstreflexives Erzählen. 3 Selbstreflexion als Selbstvergewisserung - die Beiträge Im Mittelpunkt der Sektion standen im Bereich der Beispielsanalysen vor allem Beiträge, die erzählerische Selbstvergewisserungen individueller und/ oder kollektiver Identität(en) untersucht haben. 3 Cf. zur Selbtsreflexivität in der Literatur beispielsweise Schmid 2005 und Martínez/ Scheffel 2012, cf. zum Film bspw. Grimm 1997 und Kuhn 2013, cf. zur Übertragung literaturwissenschaftlicher Analyseverfahren Wolf 2005. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 207 So hat sich Christoph Rauen aus einer kritischen Perspektive mit der Methodenreflexion beschäftigt, die sich an selbstreflexivem Erzählen entzündet. Dabei überblickt Rauen in seinem Beitrag neuere Ansätze der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Selbstreflexivität und ihre kritischen Revisionen, die zu Recht inflationäre Verwendungen eines unscharfen Modebegriffs von Selbstreflexivität beanstanden. Unter Rekurs auf kommunikationstheoretische Implikationen und Ansätze - auch in der Nachfolge Niklas Luhmanns - plädiert Rauen für eine theoretisch und historisch differenzierte Analyse von Selbstreflexivität. Dabei sollen gerade nicht universale Typologien entworfen, sondern unter Berücksichtigung der Forschungstradition historisch spezifisch die epistemologischen Bedingungen der Kommunikationsmodi rekonstruiert werden, die für die untersuchten Beispiele und ihre Produktionskultur relevant sind. Solcherart ließen sich nämlich Selbst- und Fremdreferenz, so Rauen, als polares Kontinuum jedes Textes begreifen, anhand deren Verhältnis sich kulturhistorisch spezifisch Funktionen von Selbstreflexivität bestimmen ließen. Rauens These ist dabei in Anlehnung an Katja Mellmann, Selbstreflexivität als kulturhistorisch spezifische Metakommunikation auch über institutionalisierte Kommunikationsmodi von Kommunikation zu begreifen. Solche Untersuchungen könnten dann in einer historischen Konzeptgeschichte die sich wandelnden Funktionen genrespezifischer oder in Literatursystemen dominanter Verhältnisse von Selbst- und Fremdreferenz produktiv auf die Kultur-, Ideen- und Mentalitätsgeschichte rückbeziehen. Den größten Raum nahmen im Bereich der Literaturwissenschaft - ganz im Sinne von Rauen - Beiträge ein, die sich mit einer literatur- und kulturhistorisch spezifischen Konzeption mentalitätsgeschichtlich relevanter Konzepte von Person, Kollektiv und Identität befassen, die in einzelnen, konkreten literarischen Texten/ Korpora durch selbstreflexives Erzählen verunsichert werden. Michael Buhl analysiert beispielsweise Ludwig Tiecks Die verkehrte Welt (1798) im Hinblick auf die zwei miteinander konkurrierenden Konzeptionen einer Kunst als Wert an sich und einer zweckgerichteten Kunst. Buhl arbeitet dabei heraus, dass durch die ironisierende Auflösung der diegetischen Ebenen die zunächst oppositionellen Rollen der Figuren innerhalb des Stückes ebenso einander angenähert werden wie die Funktionen des Schauspielensembles und der Theatermacher sowie der einzelnen Formteile. Auf diese Weise wird der Widerspruch der beiden zunächst disjunkten Kunstkonzeptionen spielerisch perpetuiert und sie als zusammengehörige, polare Komplemente miteinander verschmolzen. Ziel dieses selbstreflexiven ästhetischen Verfahrens ist dabei, eine über Kunst reflektierende Haltung aus dem Stück heraus an die Zuschauerschaft zu transferieren. Damit erweist sich Tiecks verkehrte Welt im Sinne Rauens als Reflexion über die Prämissen und Modi literarischer Kommunikation in der Goethezeit und ihren konkurrierenden Kunstauffassungen zwischen Aufklärung und Romantik. Stephan Brössel identifiziert mit einem ähnlichen Interesse an der Reflexion über die textimmanente Konzeption von Kunst in Friedrich Theodor Vischers Cordelia (1836) die metaphorische Verarbeitung der literarischen Epochen Romantik und Klassik für die Goethezeit auf der Ebene der Figurenkonstellation und der Kunstproduktion (im Text von den Figuren produzierte Malerei und Literatur, insbesondere Lyrik; intertextueller Bezug auf Shakespeares King Lear). Er klassifiziert auf diesen Befunden Cordelia als Metatext, der selbstreflexiv als zentrales Merkmal biedermeierlichen Selbstverständnisses im Scheitern 208 Jan-Oliver Decker (Passau) der Liebesbeziehung auf der Figurenebene auch ein Scheitern der Kunstkonzeptionen verhandelt. Dabei kann die Kunstproduktion gerade nicht die Defizite kompensieren, welche die Figuren in ihren Paarbildungsprozessen aufweisen. Im Ergebnis konstatiert Brössel, dass Cordelia damit selbstreferenziell ein Scheitern in der Suche nach einer eigenständigen Kunstkonzeption thematisiert, welche erfolglos anstrebt, die Goethezeit zu überwinden und damit paradigmatisch die Merkmale eines Literatursystems Biedermeier erfüllt. Magdolna Orosz untersucht anhand der Referenzen a) zwischen textinterner Fiktion und Produktionskultur, b) zwischen den syntaktischen und semantischen Beziehungen der erzählten Welt und ihrer Erzählung sowie c) den textinternen Bezugnahmen auf den Prozess der Hervorbringung der Narration Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/ 1933/ 1943), Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und Schnitzlers Der letzte Brief eines Literaten (1917/ 1932) als drei repräsentative Beispiele für den Roman der Frühen Moderne im Hinblick auf die Funktionalisierung selbstreflexiven Erzählens. Dabei gelangt Orosz detailliert zu dem Befund, dass im Spiel mit traditionellen Erzählformen durch metanarrative und selbstreflexive Verfahren das Erzählen selber als zum Teil radikal subjektivierte und unzuverlässige Konstruktion als Epochenmerkmal der Frühen Moderne thematisch wird. Hans Krah interessiert sich für den Übergang zwischen Früher Moderne und NS- Literatur und weist in Marie Luise Kaschnitz ’ Erstlingsroman Liebe beginnt (1933) bisher nicht in der Forschung gesehene faschistische Ideologeme nach: Unter Rekurs u. a. auch auf antisemitische Stereotype und unter der Oberfläche einer nur vermeintlichen weiblichen Emanzipation in einem nur scheinbar selbst bestimmten Erzählakt etabliert der Text auf der Basis des frühmodernen Weg-Umweg-Ziel-Modells der Reise zu sich selber die Norm biologischer Mutterschaft als Dienst an Vaterland und Kollektivgemeinschaft, die eine erotische Paarbeziehung als Wert an sich überwindet. Besondere Bedeutung kommt dabei dem weiblichen Schreibakt zu, der selbstreflexiv der Bewältigung der in der Fremde erfahrenen Krise und der Hervorbringung kollektiver Wertvorstellungen vom Opfer für den höheren Wert des Lebens und seiner Annahme als Eigenes dient. Damit werden frühmoderne Elemente des Erzählens und des Erzählten am Ende der Frühen Moderne in Elemente der NS-Literatur transformiert. Ines Veauthier untersucht schließlich die Macht imaginärer Bilder und Vorstellungen der Hauptfiguren und kultureller Images in Ana Castillos So far from God (1993). Dabei weist sie nach, dass die Grenzen zwischen verbalen und visuellen sowie vorgestellten und realen Welten performativ sowohl durch die Hauptfigur als auch durch die Erzählerstimme aufgelöst werden. Diese Entgrenzungen erlauben selbstreflexiv die Vernetzung sub- und teilkultureller Topoi der Chicano-Kultur (insbesondere Vaqueros, Charros, La Malogra, La Llorona, La Malinche) mit der literarischen Fiktion und ermöglichen so gleichzeitig ihr Beglaubigung durch die Evidenz der erzählten Geschichte und die imaginäre Gemeinschaft zwischen adressierter Leserschaft und beobachtender, aber unbestimmt bleibender Erzählerstimme. In einem größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang hat die Sektion hiermit vor allem Beiträge zu konkreten literarischen Fallbeispielen vorgelegt, die aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mentalitätsgeschichtliche Funktionen selbstreflexiven Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 209 Erzählens erläutern. Nicht zufällig zeigen dabei auch die hier vorgelegten Beiträge den in der Forschung bereits breit belegten Befund, dass literaturgeschichtliche Schwerpunkte selbstreflexiven Erzählens in der Romantik und in der (Frühen) Moderne zu finden sind (cf. Scheffel 1997). Beides sicher Epochen des Übergangs und Wandels zwischen stabilen Literatursystemen, die sich auf sich selber beziehen, um sich in einer Systemkrise über sich selber als Kunst und die Funktionen von Kunst im Verhältnis zu einer relativierten Realität zu vergewissern. Ernest W. B. Hess-Lüttich rundet den Band ab mit einem Beitrag zur begriffssystematischen Fundierung der Analyse ästhetischer ‘ Texte ’ gleich welcher Medialität, der zugleich als zeichen- und medientheoretisches Verbindungsstück zwischen diesem Band und seinem Folgeband figuriert (Anm. 1). Nach einem kurzen Rückblick auf die Forschungsgeschichte der Reflexion auf die Medialität des (literarischen) Textes versichert sich der Beitrag zunächst des begrifflichen Fundamentes, indem er die Textbegriffe der Sprach- und Literaturwissenschaft rekonstruiert (Textlinguistik, Literaturtheorie, Intertextualitätstheorie), dann ihren Gebrauch in den Medien(text)wissenschaften betrachtet (Intermedialität, Hypertextualität) und - als Voraussetzung von Hyperfiction - die Entwicklung des Hypertext-Konzeptes in genetischer, struktureller und ästhetischer Perspektive nachzeichnet. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Ansätze der Digitalen Poesie (Netzliteratur, Hyperfiction, Cyberfiction). 4 Selbstreflexives Erzählen als Krisenbewältigung und das Konzept des Anderen Wie sich in den einzelnen Beiträgen zu konkreten literarischen Beispielen gezeigt hat, dient selbstreflexives Erzählen oft dem Prozess einer Selbstvergewisserung in einer Krise und führt damit den Konflikt zweier Systemzustände sowohl auf der Ebene der besprochenen Situation als auch auf der Ebene der Sprech- und Erzählsituation vor: Ein altes, gegebenes System wird als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System ist noch nicht gefunden. Selbstreflexives Erzählen wird hierbei zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krisen und Phasen des Wechsels in der Vorstellung vom Eigenen, Anderen und Fremden. Im Folgenden möchte ich diesen Aspekt an zwei literarischen Beispielen selber noch einmal näher betrachten und insbesondere das in der Narratologie breit diskutierte Konzept der Metalepse differenziert beleuchten und hier einen neuen Vorschlag in die Debatte einbringen. 4 4.1 Tzvetan Todorov: Identität - Alterität - Alienität (Tzvetan Todorov 1985) hat in seiner Studie Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen einen kulturwissenschaftlichen Rahmen für Probleme kollektiver Identitätsbildung formuliert: Nach Todorov bilden sich kollektive und gleichermaßen personale Identität nur dann aus, wenn sich das Ich oder das Kollektiv der Herausforderung durch ein Anderes gegenüber gestellt sieht. In diesem differenzlogischen Denken bildet sich nur durch Abgrenzung zum anderen, das man individuell oder kollektiv bewusst gerade nicht 4 Vergleiche zur Produktivität der Analyse von Metalepsen den Sammelband zur Metalepse in der Populärkultur von Kukkonen/ Klimek 2011. 210 Jan-Oliver Decker (Passau) ist, überhaupt erst ein Verständnis von sich selbst als ein mit sich selbst identisches Eigenes aus. Da das Andere also eine notwendige Bedingung für eine permanent prozessual erfolgende Identitätsbildung ist, ist das Andere nicht per se etwas, das als fremd, als nicht zum Ich gehörig, abgespalten werden muss. Todorov unterscheidet dabei drei Ebenen des Kontaktes zwischen dem Eigenen und dem Anderen: Unter der a) axeologischen Ebene versteht Tododorv die kulturellen Werte und Normen, welche die Beurteilung des Anderen als Anderes leiten; die b) praxeologische Ebene ist der konkret erfolgende, reale Kontakt des Eigenen mit dem Anderen, also der Fall; mit der c) epistemologischen Ebene bezeichnet Todorov die Frage der Sichtbarkeit, Erkenntnis und Markierung des Anderen, also seine kommunikative Funktion und seine Zeichenfunktion. An der Peripherie des Eigenen kann das Andere als das Andere dabei durchaus eine Existenzberechtigung haben, um als Grenzphänomen die Identität im Zentrum des Eigenen zu konstituieren. Darüber hinaus kann es aber auch ein Anderes geben, das als Fremdes abgespalten und ausgegrenzt werden muss. DieTilgung des Fremden wird hier also in Kauf genommen oder angestrebt, weil das Fremde das Eigene in seinen Werten und Normen konkret im Kontakt und in seiner zeichenhaften Repräsentation fundamental bedroht. 4.2 Erzählmodell des Anderen Mir soll es im nun Folgenden anhand meiner zwei Beispiele um ein selbstreflexives Erzählen gehen, das Prozessen der Selbstvergewisserung dient, um sich selbst zu verstehen und eine Sprache der Verständigung über das eigene Selbst zu finden. Ich habe meine beiden Beispiele so ausgewählt, dass sie mehr oder weniger genau einem Erzählmodell entsprechen: Durch ein Anderes, das im Inneren der Person oder einer sozialen Struktur auftaucht oder durch ein Anderes, das von außen kommt, gelangt ein Ich in eine Krise. Das Andere katalysiert in dieser Krise einen Prozess der Selbstvergewisserung in Form eines selbstreflexiven Erzählens. Funktion dieses selbstreflexiven Erzählens ist dabei, den Konflikt zweier Systemzustände vorzuführen. Ein altes, gegebenes System wird als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System ist noch nicht gefunden. Neben einer ins Fließen geratenen personalen Identität haben wir es in beiden Beispielen auch mit der Konkurrenz mindestens zweier Systemzustände zu tun. Diese konkurrierenden Systemzustände finden sich nicht nur in der besprochenen Situation, also in der dargestellten Welt, sondern auch als selbstreflexives Erzählen auf der Ebene der Erzählsituation, der Präsentation und Hervorbringung der Geschichte, selbst. Der jeweils männliche Protagonist meiner beiden Beispiele beginnt einen Prozess des selbstreflexiven Erzählens, um sich selbst zu verstehen und sich dadurch selbst neu als Ich zu finden. Selbstreflexives Erzählen wird hierbei zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krise und Phasen des Wechsels in der Vorstellung des Eigenen, des Anderen und des Fremden. In meinem ersten Beispiel scheitert die Selbstfindung. In meinem zweiten Beispiel gelingt sie. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 211 4.3 Selbstreflexives Erzählen und scheiternde Selbstfindung in Der Steppenwolf (Hermann Hesse 1927) Der Steppenwolf erzählt bekanntermaßen die Geschichte des ehemaligen Journalisten, Privatgelehrten und Bohemien Harry Haller, der sich nicht von seinem kleinbürgerlichen Herkunftsmilieu lösen kann, unter dem er leidet. 5 Haller strebt aber zumindest in seinen Aufzeichnungen und literarischen Versuchen eine Überwindung der bürgerlichen Anteile seiner Person an. Das erzählende Ich Haller ist in eine Krise geraten, in der er Anteile seines Ichs, die Steppenwolf-Persönlichkeit, als ein Anderes im Todorovschen Sinne begreift, das seine personale Integrität und Identität bedroht und das er als Fremdes von seinem bewussten Ich abspalten möchte. Weil Haller aber mit dem Steppenwolf auch die ihm nicht voll bewussten Anteile seiner eigentlich Glück und sinnliche Erfüllung versprechenden Triebnatur ablehnt, droht ihm der Selbstverlust. In dieser Situation kommt es zu einer Art Selbstbegegnung mit seinem weiblichen Alter ego Hermine. Hermine und ihre Gehilfin Maria lehren Haller das bewusste Zulassen seiner Triebe und das Ausloten bisher verborgener erotischer, aber auch künstlerischer Persönlichkeitspotenziale. Doch Harry kann die letzte Grenze zu einem neuen Ich nicht überwinden: Als Hermine ihre Ermordung durch Haller fordert, verweigert er diesen Liebesdienst. Als er sie jedoch aus Eifersucht ersticht, weil sie mit einem anderen intim gewesen ist, offenbart sich in seinem Persönlichkeitskern die im Sozialisationsprozess angeeignete, bürgerliche Moral. Diese bürgerliche Moral wird gerade nicht überwunden. Auch eine im Drogenrausch imaginierte, also rein virtuelle, bisexuelle Orgie hat der prüde Haller zuvor verweigert. Diese Altherrenfantasie auf der Ebene der erzählten Geschichte wäre nicht weiter interessant, würde sie nicht im Gewand eines selbstreflexiven Erzählexperimentes daher kommen: Harry Haller versucht sich in seinen “ nur für Verrückte ” als Leser ausgewiesenen Aufzeichnungen selber zu finden, er verliert sich aber im magischen Theater der miteinander in einem narrativen Kurzschluss verwobenen Erzählebenen. In einer Wand tut sich die Tür zu einem magischen Theater auf, in dessen Umfeld Haller ein Traktat über den Steppenwolf bekommt, das merkwürdigerweise seine individuelle Psyche durchleuchtet. Innerhalb des magischen Theaters schlüpft Haller dann in verschiedene Aspekte seiner Person und lebt unterschiedliche Persönlichkeitsanteile aus. Am Ende entpuppt sich jedoch das als Steppenwolf-Identität wahrgenommene Andere, das eigentlich abgespalten werden soll, als eigentliches Eigenes, als Kern von Hallers Identität. Das erzählerische Spiel mit den Figuren im magischen Theater und den literarischen Figuren als Repräsentanten der Persönlichkeitsanteile wird beendet. Die Karten werden neu gemischt. Das Spiel muss von vorne beginnen, weil dieser eine selbstreflexive erzählerische Versuch der Selbstfindung missglückt ist. Hermine verzwergt, wie es heißt, zur Spielfigur und dann erkennt Haller auf einer nach Todorov epistemologischen Ebene, das das Spiel mit dem Anderen der Ausdifferenzierung seines Ich galt: Oh, ich begriff alles, [. . .] wusste alle hunderttausend Figuren des Lebensspiels in meiner Tasche, ahnte erschüttert den Sinn, war gewillt das Spiel nochmals zu beginnen, seine Qualen nochmals zu kosten, vor seinem Unsinn nochmals zu schaudern, die Hölle meines Innern nochmals und oft zu 5 Cf. zum Folgenden Decker 2006. 212 Jan-Oliver Decker (Passau) durchwandern. Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen. [. . .] (Hesse 1974: 278). Der literarisch fixierte Prozess des selbstreflexiven Erzählens wird hier als Lebenshilfe semantisiert, der immer wieder von vorne begonnen werden kann. Auf diese Weise wird hier das selbstreflexive Erzählen zu einer Lösungsstrategie stilisiert, die sich vom konkret geschilderten Fall in der dargestellten Welt prinzipiell entkoppelt. Das selbstreflexive literarische Erzählen wird potenziell zum Selbstzweck mit dem Sinn, Selbstvergewisserung nicht nur darzustellen, sondern Selbstvergewisserung als solche zu sein. Damit lässt sich hier im Text eine Verlagerung weg von der Dominanz des Erzählten hin zur Dominanz des experimentellen Erzählens beobachten, der typisch für die Literatur der Frühen Moderne ist. 4.4 Selbstreflexives Erzählen und gelingende Selbstfindung in Die unendliche Geschichte (Michael Ende 1979) Ähnlich wie Hesses Steppenwolf erzählt auch Michael Endes Die unendliche Geschichte von einer Literatur, die als Lebenshilfe konzipiert wird: Die Familie des Außenseiters Bastian Balthasar Bux ist durch den Tod der Mutter gestört. Vater und Sohn haben noch keine neue emotionale Beziehung zueinander gefunden, in der beide miteinander dieses Trauma verarbeiten können. Zu Beginn des Jugendromans desintegriert sich Bastian durch Diebstahl eines Buches mit dem Titel Die unendliche Geschichte in einem Antiquariat aus der sozialen Ordnung. Er begibt sich auf den Speicher der Schule zum Lesen, der durch das hier ausrangierte Gerümpel als Raum eines reduzierten Lebens und soziale Isolation markiert wird. Die Lektüre des gestohlenen Buches bindet Bastian nun emotional immer stärker an die märchenhafte Diegese des Landes Phantasien und seine Figuren: Der kleine Indianerjunge Atreju im gestohlenen Buch fungiert als Stellvertreter des Lesers Bastian außerhalb des Buches. Atreju verkörpert dabei oppositionell alle Merkmale eines Helden, die Bastian nicht hat, aber gerne hätte. Durch Empathie mit der Hauptfigur Atreju im Buch im Buch werden also Defizite Bastians zunächst imaginär und dann in einer fantastischen Realität kompensiert. Die emotionale Bindung geht schließlich so weit, dass Bastian seine intradiegetische Welt in Richtung der intra-intradiegetischen (cf. Decker 2006) Welt Phantasiens verlässt. Die Märchenwelt Phantasien droht unterzugehen, weil die Menschen nicht mehr träumen und ihrer Phantasie keinen Wert mehr beimessen, sondern diese als irrelevante Fiktion abwerten. Bastian kann nun zum Retter Phantasiens werden, indem er einen semiotischen Akt vollzieht: In einem Sprechakt benennt er die Kindliche Kaiserin, die Herrscherin Phantasiens, mit einem neuen Namen und wechselt so metaleptisch in die intra-intradiegtische Welt über. Genau in der Mitte des Buches, dessen Kapitel alle mit den fortlaufenden Buchstaben des Alphabets beginnen, wird als ideales Konzept von Literatur ein Eskapismus durch Literatur als Wert propagiert: Aus einem begrenzten Inventar an Zeichen lässt sich mittels der Phantasie eine unendliche Zahl an Geschichten generieren, mit deren Hilfe man aus einer defizitären Welt fliehen kann. Diese Konzeption von Literatur wird jedoch durch die zweite Hälfte des Romans relativiert. Bastian beginnt nun in der zweiten Hälfte des Buches, Phantasien und auch sich selber in seinem Äußeren und in seinen Eigenschaften nach seinen eigenen Wünschen neu Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 213 zu erschaffen. Jede Veräußerlichung seiner inneren Persönlichkeit geht dabei allerdings mit dem Verlust einer Erinnerung einher, was schließlich zu einem kompletten Selbstverlust führt. Nur mit Hilfe seines Freundes Atreju gelingt es ihm schließlich, durch einen erneuten semiotischen Akt die intra-intradiegetische Welt wieder zu verlassen und in seine Realität außerhalb Phantasiens zurückzukehren: Bastian benennt sich selbst mit seinem eigenen Namen und findet damit zu seiner Identität und auch zu seinem Vater zurück. Indem Bastian seinem Vater von seinen Abenteuern in Phantasien erzählt, wird das Trauma der Familie durch den Verlust der Ehefrau und Mutter bewältigt. Bastian und sein Vater sind in einer neuen emotionalen Gemeinschaft miteinander vereint. Das Eintauchen in die fiktionale Geschichte in der Geschichte erfolgt also nach dem Modell einer Identitätsfindung durch temporäre Übernahme der Rolle eines Anderen im Rahmen der Literatur. Durch emotionales Involvieren in das fiktionale Geschehen kann die Person des Lesers dabei traumatische Erfahrungen in der Realität bewältigen. Durch ein virtuelles Probehandeln in der Literatur gelingt eine Selbstvergewisserung, welche die Grenzen der Welt, von der erzählt wird (das intra-intradiegtische Phantasien), und der Welt, in der erzählt wird (die intradiegtische Familiensituation Bastians), selbstreflexiv und selbstreferenziell verwischt. Selbstreflexives Erzählen hat in der unendlichen Geschichte also die Funktion, sinnhaft den Kern der Persönlichkeit in einer Identitätskrise zu verteidigen. Hier ist das selbstreflexive Erzählen also anders als in Hesses Steppenwolf nicht Selbstzweck, sondern teleologisch auf das Herauspräparieren einer Art metaphysischer Funktion der Literatur als Lebenshilfe hin orientiert. 4.5 Ein narratologischer Vorschlag: Erzählebenen in Metalepsen als semantische Räume Mit Hilfe der beiden Beispiele kann ich zeigen, dass selbstreflexives Erzählen vor allem jeweils an die Konstruktion der Erzählebenen im individuellen Textbeispiel geknüpft ist, die in beiden Fällen durch Metalepsen miteinander verschmolzen werden, aber jeweils ganz unterschiedliche Funktionen in der Textsemantik erfüllen. Diese Metalepsen sind dabei mit Selbstreferenzen im Sinne der von Fricke 2003 beschriebenen gestuften Iteration verknüpft: Zeichen auf der Ebene der Erzählsituation und des Erzählten in einer Erzählebene, werden auf einer anderen Erzählebene reproduziert und so miteinander in Beziehung gesetzt. Im Rahmen dieser Potenzierung geht allerdings auch eine bisher weniger beachtete Verschränkung der Ebenen von Discours (Präsentationsformen einer Geschichte) und Histoire (präsentierte Geschichte) einher. Wie bereits unter 2. ausgeführt, wird beim selbstreflexiven Erzählen generell ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte, wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt. Insofern also beim selbstreflexiven Erzählen die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird, werden - wie in den beiden von mir angeführten Beispielen erkennbar - bei der Metalepse die Erzählebenen zu semantischen Räumen im Sinne Lotmans auf der Ebene der Histoire: Die Figuren können ihre Bindung an eine Erzählebene aufgeben und als Helden ereignishaft die Grenze zwischen einzelnen Erzählebenen überschreiten. Das bedeutet, im Falle der Metalepse lassen sich die Erzählebenen als semantische Räume in der 214 Jan-Oliver Decker (Passau) Diegese eines Textes beschreiben und analysieren, wie diese Verfahren exemplarisch von Lotman 1993, Titzmann 2003 und Krah 2006 beschrieben wurden. Konsequent lassen sich damit im Fall der Metalepse Discours-Phänomene wie die Erzählsituation und die Erzählebenen gleichzeitig auch als Phänomene der Histoire begreifen. Im Fall einer Metalepse verändert sich damit dann auch die Relationierung von Discours und Histoire: Der Realitäts- oder Fiktionalitätsstatus einer erzählten Geschichte hängt in der Regel in einem nicht-metaleptischen Geschehen vollständig vom Filter der Erzählsituation und ihrer Semantisierung unabhängig von der erzählten Geschichte beispielsweise auch durch die paratextuelle und textpragmatische Rahmung ab. Beim metaleptischen Erzählen wird dagegen die Erzählsituation vollständig der Semantik der erzählten Geschichte unterworfen, die auch und in erster Linie durch jeden konkreten Text und seine individuelle Diegese semantisiert wird. Damit mag es zwar auch - wie bisher oft geschehen - sinnvoll erscheinen, typologisch zu fragen, welche Arten von Metalepsen sich theoretisch durch die Überschreitung welcher verschiedenen Erzählebenen modellieren lassen. Aber erst wenn im Einzelfall konkret die Metalepse auf ihre Funktion für die erzählte Welt, die ihre Bedeutung wesentlich mit bestimmt, hin untersucht wird, lassen sich die typologischen Analysen auch sinnvoll und systematisch den literatur- und kulturhistorische Kontexten ihrer Produktionskultur zuordnen. Damit plädiere ich abschließend mit diesem Band und seinen Beiträgen dafür, historische Analysen des selbstreflexiven Erzählens zu ermöglichen, die einerseits die historisch übergreifende Bandbreite selbstreflexiven Erzählens aufzeigen und das selbstreflexive Erzählen andererseits kultur- und epochenspezifisch mentalitätsgeschichtlich funktionalisieren. Dies erscheint mir umso wichtiger, als heutzutage selbstreflexives Erzählen einzelne Medien und mediale Formate ebenso wie Epochen und Kulturräume überschreiten kann. 6 Als in diesem Sinne transmediales 7 Phänomen ist selbstreflexives Erzählen dabei nicht nur in den Einzeldisziplinen wie Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft oder der Narratologie von wissenschaftlicher Relevanz. Vielmehr erscheint selbstreflexives Erzählen, um sich über sich selbst zu verständigen und sich selbst zu verstehen damit ein kulturübergreifendes Phänomen zu sein, durch dessen Analyse und Reflexion auch das Verstehen und Verständnis unserer medialen Moderne ermöglicht wird. Bibliographie Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blödorn, Andreas et al. (eds.) 2006: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/ New York: de Gruyter. Braungart, Georg et al. (eds.) 2000: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2, H-O, Berlin/ New York: de Gruyter. 6 Vergleiche zum selbstreflexiven Erzählen im Spielfilm bspw. Decker 2007 a. 7 Vergleiche zum Phänomen transmedialen Erzählens und der Bedeutung der erzählten Diegese einführend Decker 2016, vergleiche zum selbstreflexiven Erzählen als medienübergreifenden Phänomen, die Beiträge im Kodikas-Folgeband Selbstreferenz und Selbstreflexion in Film und Computerspiel. Formen - Funktionen - Kontexte. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 215 Decker, Jan-Oliver 2006: “ Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf (1927) ” , in: Blödorn et al. (eds.) 2006: 233 - 266. Derselbe 2007 a: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Decker 2007 b (ed.): 153 - 175. Decker, Jan-Oliver 2007 b (ed.): Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica 30, 1 - 2), Tübingen: Narr. Decker, Jan-Oliver und Krah, Hans 2011: “ Mediensemiotik und Medienwandel ” , in: Institut für Interdisziplinäre Medienforschung (ed.) 2011: 63 - 90. Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171. Ende, Michael 1979: Die Unendliche Geschichte, Stuttgart: K. Thienemanns Verlag. Figal, Günter 2000: “ Hermeneutik 2 ” , in: Braungart et al (eds.) 2000: 29 - 31. Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Jan-Dirk Müller et al. (eds.) 2003: 144 - 147. Genette, Gérard 3 2010: Die Erzählung, Paderborn: Fink. Gräf, Dennis et al. (eds.) 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren. Grimm, Petra 1997: Einführung in die Filmnarratologie, München: Diskurs Film. Hennig, Martin und Krah, Hans (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiel (= Reihe Game Studies), Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch. Hesse, Hermann1974: Der Steppenwolf, Frankfurt/ Main: suhrkamp 1974. [zuerst 1927] Institut für Interdisziplinäre Medienforschung (ed.) 2011: Medien und Wandel (= Passauer Schriften zur interdisziplinären Medienforschung, 1), Berlin: Logos Verlag. Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig. Kuhn, Markus 2013: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/ New York: de Gruyter. Kukkonen, Karin und Klimek, Sonja (eds.) 2011: Metalepsis in Popular Culture (= Narratologia 28), Berlin/ New York: de Gruyter. Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink. Martínez, Matías und Scheffel, Michael 12 2012: Einführung in die Erzähltheorie (12. überarbeitete u. erweiterte Auflage), München: C. H. Beck. Meister, Jan-Christoph (ed.) 2005: Narratology beyond Literary Criticism: Mediality, Disciplinarity, Berlin: de Gruyter. Müller, Jan-Dirk et al. 2003 (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3: P-Z, Berlin/ New York: de Gruyter. Posner, Roland et al. (ed.) 2003: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin/ New York: de Gruyter. Scheffel, Michael 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer. Schmid, Wolf 2 2005: Elemente der Narratologie, Berlin/ New York: de Gruyter. Titzmann, Michael 2003: “ Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik ” , in: Roland Posner et al. (ed.) 2003: 3028 - 3103. Wolf, Werner (2005). “ Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon: A Case Study of the Possibilities of ‘ Exporting ’ Narratological Concepts ” , in: Jan Christoph Meister (ed) 2005: 83 - 107. Weimar, Klaus 2000: Hermeneutik 1, in: Braungart et al (eds.) 2000: 25 - 29. 216 Jan-Oliver Decker (Passau)