eJournals Kodikas/Code 35/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Humoristische Textsorten wie Witze und Glossen sollen den Hörer oder Leser zum Lachen bringen. Viele Autoren untersuchen die Rezipientenperspektive, etwa die Funktionen des Lachens oder die kognitiven Prozesse beim Verstehen solcher Texte. Dieser Beitrag bietet ergänzend einen sehr persönlichen Blick auf einige Aspekte der Produktion von Humor. Einleitend beschreibt er die Struktur und Funktion von zwei regionalen Textsorten, nämlich von kleinen Erzählungen im rheinischen Platt und von Büttenreden als wesentlicher Teil einer Karnevalssitzung. Anschließend stellt er einige Diskursstrategien vor, die Humorhersteller häufig auch im Alltag verwenden. Veräppeln und Sprücheklopfen erweisen sich als besondere Sprachspiele, die in informellen Situationen wie dem Stammtisch den Gruppenzusammenhalt stärken. Da die Autorin in einer Familie professioneller Humorproduzenten aufgewachsen ist, vermag sie die besondere Rolle von Kindern als Lieferanten und Adressaten von Pointen zu definieren. Der letzte Abschnitt versucht die positiven und negativen Spätfolgen einer solchen Kindheit einzukreisen.
2012
351-2

Büttenmarsch! Ein persönlicher Blick auf linguistische und psychologische Aspekte der Herstellung humoristischer Texte

2012
Dagmar Schmauks
1 Dieser Text ist meinen Eltern gewidmet, denen ich vieles verdanke: Meiner Mutter Sophie Tremblau (1920- 2010), dass ich etwas von Sprache und Humor verstehe, und meinem Vater Hans A. Tremblau (1912-1987), dass ich die Menschenwelt nicht allzu ernst nehme. Ferner danke ich Norbert Reithinger für seine weiterführenden Verbesserungsvorschläge zu einer Vorversion. Büttenmarsch! Ein persönlicher Blick auf linguistische und psychologische Aspekte der Herstellung humoristischer Texte 1 Dagmar Schmauks Humoristische Textsorten wie Witze und Glossen sollen den Hörer oder Leser zum Lachen bringen. Viele Autoren untersuchen die Rezipientenperspektive, etwa die Funktionen des Lachens oder die kognitiven Prozesse beim Verstehen solcher Texte. Dieser Beitrag bietet ergänzend einen sehr persönlichen Blick auf einige Aspekte der Produktion von Humor. Einleitend beschreibt er die Struktur und Funktion von zwei regionalen Textsorten, nämlich von kleinen Erzählungen im rheinischen Platt und von Büttenreden als wesentlicher Teil einer Karnevalssitzung. Anschließend stellt er einige Diskursstrategien vor, die Humorhersteller häufig auch im Alltag verwenden. Veräppeln und Sprücheklopfen erweisen sich als besondere Sprachspiele, die in informellen Situationen wie dem Stammtisch den Gruppenzusammenhalt stärken. Da die Autorin in einer Familie professioneller Humorproduzenten aufgewachsen ist, vermag sie die besondere Rolle von Kindern als Lieferanten und Adressaten von Pointen zu definieren. Der letzte Abschnitt versucht die positiven und negativen Spätfolgen einer solchen Kindheit einzukreisen. Humorous text types such as jokes and glosses are intended to make the hearer or reader laugh. Many authors investigate the perspective of recipients, e.g., the functions of laughter or the cognitive processes in understanding such texts. In addition, this contribution offers a very personal view on some aspects of humor production. As an introduction, it describes the structure and function of two specific text types from the Rhineland, namely of little narratives in local dialect and of carnival speeches as an integral part of a carnival meeting. Subsequently, it presents some discourse strategies which humor-producers frequently also use in everyday life. Joshing and talking big are characterized as specific language games for establishing group cohesion in informal situations such as one’s local pub. As the author grew up in a family of professional humor-producers, she is able to define the special role of children as suppliers and addressees of points. A last section tries to encircle the positive and negative late effects of such a childhood. “[…] es gibt wenig ernste Sachen, die nicht auch eine komische Seite hätten…” Der alte Stechlin in Der Stechlin (Fontane 1985, Bd. 3: 149) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 144 1. Methode und Zielsetzung In jeder Kultur werden Geschichten erzählt, deren Umfang von kurzen Anekdoten bis zu weitverzweigten Sagen reicht. Ein Teilbereich sind humoristische Textsorten wie Witze, Schwänke, Glossen und andere pointierte Darstellungen von Begebenheiten, die lustig sind oder auf einen lustigen Aspekt hin zugespitzt werden. Sie sollen den Hörer oder Leser zum Lachen bringen, wobei dieses Lachen mannigfache Ursachen und Färbungen hat. MIT jemandem lachen ist oft versöhnlich und stiftet Gemeinschaft, ÜBER jemanden lachen hingegen ist eher schadenfroh, abwertend oder ausgrenzend. Vergleichsweise viele Untersuchungen betreffen die Rezipientenperspektive, insbesondere die psychologischen Ursachen des Lachens sowie die kognitiven Prozesse beim - hoffentlich erfolgreichen - Verstehen humoristischer Textsorten. Ein immer noch lesenswerter Klassiker zu den Arten und Wirkungen des Lachens ist Freuds Monographie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905). Die dort bereits skizzierten und nicht sehr zahlreichen Grundmuster des Witzes beschreibt Hirsch (2001) detaillierter auf der Basis von rund 700 erstklassigen Beispielen. Demgegenüber ist die Produzentenperspektive weit weniger erforscht, zu denen vor allem die Motive und Strategien der Herstellung solcher Texte zählen. Eine Ausnahme ist Vorhaus (2001), der in Form eines Ratgebers nützliche Regeln vorstellt und den Untersuchungsbereich auf neuere Formen wie Sketch und Comedy ausdehnt. Der deutsche Titel Handwerk Humor betont, dass die Herstellung humoristischer Texte wie jede Kulturarbeit als Handwerk aufgefasst werden kann, das gleichermaßen Begabung wie auch harte Arbeit erfordert. Vorhaus beginnt mit allgemeinen Vorschlägen etwa zur geschickten Wahl von Helden und Schauplatz. Die anschließenden Kapitel beleuchten bewährte Detailstrategien wie die “Dreierregel” (ebenda 162ff), die in Beispielen wie “Friede, Freude, Eierkuchen” nach scheinbarer Einführung einer Gesetzmäßigkeit diese sofort wieder bricht. Und so wie im Schreinerhandwerk die Skala vom Billy-Regal bis zur Chippendale-Kommode reicht, gibt es bei Humoristen einerseits wortgewaltige Künstler wie Karl Valentin oder Helmut Qualtinger, aber auch eine Flut unkreativer Stümper. Der vorliegende Beitrag möchte einige linguistische und psychologische Aspekte der Humorherstellung aus einem besonderen persönlichen Blickwinkel erhellen, der sich methodisch der teilnehmenden Beobachtung verpflichtet fühlt. Ich bin als Nachkriegskind (*1950) in Neuss am Rhein aufgewachsen, einer der Hochburgen des Rheinischen Karnevals, dessen Zentrum das Dreieck Aachen - Köln - Neuss bildet. Für alteingesessene Neusser strukturierte sich der Jahresablauf rund um Karneval (Februar/ März) und Schützenfest (Ende August); noch in meiner Kindheit gab es emsige Sparvereine, die ganzjährig Geld für diese Höhepunkte zurücklegten. Meine Familie umfasste zwei Generationen sehr aktiver Büttenredner, meine Mutter schrieb zusätzlich “Stöckskes” (s. Abschnitt 2.1) und Artikel zur Stadtgeschichte. Der Leser möge also beachten, dass meine Aussagen keineswegs in statistisch abgesichertem Datenmaterial wurzeln, sondern in eigenen Erfahrungen mit nahe verwandten Humor- Handwerkern. Dieser Zugang bringt notwendigerweise eine Beschränkung mit sich - in der sich bekanntlich der Meister zeigt -, und er grenzt sich ausdrücklich von einer kühldistanzierten “Veranda-Ethnologie” (Girtler 2004: 9ff) ab, die vom Schreibtisch aus forscht. Abschnitt 2 charakterisiert einleitend die beiden regional typischen humoristischen Textsorten, die im Zentrum dieses Beitrags stehen, nämlich sog. “Stöckskes” sowie Büttenreden. Abschnitt 3 widmet sich ausgewählten psychologischen Aspekten des Humor-Handwerks, insbesondere der gezielten Suche nach Schwachpunkten des Gegners sowie dem Büttenmarsch! 145 ritualisierten Veräppeln. Die oft schwierige Rolle von Kindern, die in Familien von Humor- Handwerkern aufwachsen, ist Thema von Abschnitt 4. Abschließend versucht Abschnitt 5 abzuschätzen, welche positiven und negativen Auswirkungen die gewohnheitsmäßige Suche nach den humoristischen Aspekten der Welt mit sich bringt. 2. Charakterisierung der untersuchten Textsorten Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf zwei inhaltlich überlappende humoristische Textsorten, nämlich zum einen kurze Erzählungen in der regionalen Mundart, die im Rheinland “Stöckske” (= Stückchen) oder “Verzällche” (= kleine Erzählungen) heißen, und zum anderen Büttenreden, die während einer Karnevalssitzung vorgetragen werden. 2.1 Stöckskes Gute Erzähler machen aus “der Geschichte” durch mehr oder weniger raffinierte Methoden “eine Geschichte”, die sie anderen mündlich oder schriftlich mitteilen. Geschichte als unpersönliches Geschehen besteht aus zahlreichen eng verwobenen Ereignissen, die gleichzeitig oder nacheinander stattfinden. Erzähler wählen aus diesem unüberschaubaren Geflecht einen Strang von Ereignissen aus, die kausal verknüpft und aus der Perspektive einer bestimmten Person beschreibbar sind. Der Erzähler wird zum Dramaturgen und treibt seine Helden in klug berechneten Spannungsbögen durch ihre großen oder kleinen Abenteuer, bis sie schließlich in Bewährung oder Scheitern enden. Stöckskes sind sehr kurze Texte, die ohne literarischen Anspruch kleine Alltagsereignisse wiedergeben. Häufig erzählt der Autor aus seiner meist verklärten Kindheit, wobei jahreszeitliche Bräuche und geschichtliche Ereignisse aus kindlichem Blickwinkel im Mittelpunkt stehen. Da Stöckskes regional verankert sind, werden sie oft im Dialekt geschrieben, in einem Heimatverein vorgetragen oder im Feuilleton der Regionalzeitung veröffentlicht. Nur erfolgreiche Autoren fassen ihre verstreuten Arbeiten später in Sammelbänden für einen ebenfalls regionalen Leserkreis zusammen. Stöckskes umfassen oft nur ein bis zwei Seiten und liegen damit zwischen Anekdote und Kurzgeschichte. Sie sind sehr einfach strukturiert und geben ohne Vor- und Rückblenden chronologisch den Ablauf eines einzigen Ereignisses wieder. Erzählt der Autor mit typischen Einleitungen wie “Stellt Euch vor, was mir gestern passiert ist! ” aktuelle Erlebnisse, so zielt er häufig auf belustigtes Mitgefühl der Leser ab. Stöckskes aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters sind deutlich süffisanter, vor allem wenn sich der Autor zusammen mit dem Leser über die beschriebene Person lustig macht. Da sich das Geschehen zügig auf eine Pointe hin zuspitzen muss, werden Ausgangssituation und Personen nur knapp skizziert. Während die sympathischen Hauptpersonen handfeste regionale Namen wie “Jupp” (Josef) oder “Zilla” (Cäcilie) tragen und vorhersehbar handeln, werden Außenseiter mit deutlich anspruchsvolleren Namen wie in vielen Witztypen als bevorzugte Zielscheiben des Spotts inszeniert, also insbesondere Angeber, Neureiche und Zugezogene. Dennoch ist der vorherrschende Ton durchaus noch mitfühlend und versöhnlich, was Stöckskes von satirischen, sarkastischen oder polemischen Texten abgrenzt. 2.2 Büttenreden Büttenreden sind die wichtigsten Teile einer Karnevalssitzung, die wiederum zu den regional unterschiedlichen Karnevalsritualen zählt, deren Ursprung in vorchristlicher Winteraus- Dagmar Schmauks 146 treibung längst vergessen ist und hier auch keine Rolle spielt. Wie in der Einleitung betont, stammen die folgenden Details aus dem Neusser Karneval. Wie wichtig die Karnevalssaison im Rheinland ist, belegt ihre Bezeichnung als “fünfte Jahreszeit”. Sie beginnt am 11.11. um 11.11 Uhr - manchmal mit dem Erwachen des Hoppeditz, einer Symbolfigur -, und endet am Aschermittwoch. Zwar gibt es bereits ab dem Dreikönigstag am 6. Januar immer mehr Sitzungen, jedoch der eigentliche Karneval beginnt erst am Donnerstag vor Aschermittwoch mit der Altweiberfastnacht. An diesem Tag übernehmen die Frauen das Regiment, toben durch die Stadt und schneiden unvorsichtigen Männern die Krawatte ab. Hierzu wissen Freudianer sicher einiges anzumerken, aber auch die Kulte vorrömischer Muttergottheiten klingen noch von ferne an. Sechs Tage lang herrscht nun Karneval, wobei jeder Tag einen besonderen Namen trägt und an jedem ein Umzug mit maskierten “Jecken” (= Narren) stattfindet. “Rosenmontag” und “Veilchendienstag” sind weit verbreitet, wobei Spötter den Veilchendienstag weniger vom bescheidenen Blümlein herleiten als von den mittlerweile veilchenblauen Feiernden. Der Karnevalssonntag heißt in Neuss “Kappessonntag”, wobei “Kappes” der regionale Name des Weißkohls ist, der im fruchtbaren Löß der Kölner Bucht besonders gut gedeiht. Der Karneval endet in der Nacht zum Aschermittwoch, wobei um Mitternacht manchmal die am 11. November erwachte Symbolfigur verbrannt oder beerdigt wird. Karnevalssitzungen werden von Karnevalsvereinen veranstaltet und sind straff organisiert. Sitzungspräsident und Elferrat thronen mit ihren Uniformen, Insignien und Orden auf der Bühne. Ein Prologius führt in das Motto des Abends ein, das oft Heimat- und Weltaspekte verknüpft. So spiegelten sich 2007 neue Wirtschaftkontakte nach China sowie die Gründung einer deutsch-chinesischen Gesellschaft im Motto “Nüsser överall - och Chinese fiere Karneval” (= Neusser überall - auch Chinesen feiern Karneval). Die eigentlichen Höhepunkte einer Sitzung sind die Büttenreden, die von Tanz- und Gesangsbeiträgen umrahmt werden. Jeder Redner zieht feierlich angekündigt und von der Kapelle mit einem Büttenmarsch begleitet in den Saal ein. Während der Rede fordert der Zeremonienmeister bei gelungenen Pointen zu allgemeinem Beifall auf, indem er seinen mannshohen Stab auf den Boden stößt, oder als Steigerung zu einer “Rakete”, einem lauten Pfeifen und Fußgetrampel. Nach ihrem Vortrag werden die Redner vom Präsidenten gewürdigt und mit einem Karnevalsorden ausgezeichnet. Der Name “Büttenrede” ist vom Rednerpult abgeleitet, das einer “Bütt” ähnelt, also einem Zuber. Geübte Büttenredner tragen ihre Rede frei vor, denn das Ablesen eines humoristischen Textes gilt bei Kollegen und Publikum zu Recht als stümperhaft. Falls die Rede gereimt ist, werden einfache Formen wie der Paarreim bevorzugt. Während Büttenreden heute, insbesondere die im Fernsehen übertragenen, überwiegend banalen Klamauk bieten, sollten sie ursprünglich dem einfachen Volk eine Stimme verleihen, so dass es ohne Furcht vor Strafe die Obrigkeit kritisieren und verspotten durfte. “Zu allen Zeiten haben ja die jeweiligen Machthaber die Kunst verstanden, einmal im Jahr ihren Untertanen ein paar Tage der Zügellosigkeit zu gestatten, nur um sie nachher desto besser beherrschen zu können” (Tremblau 1987: 17). Der Büttenredner schlüpfte also in eine geeignete Rolle, die einen Blick “von unten” vor allem auf die Kommunalpolitik erlaubte. Typische Dauerbrenner waren also “Putzfrau im Rathaus” oder “Chauffeur des Bürgermeisters”. Das ursprüngliche Anliegen des Karnevals war also entschieden subversiv, wenn auch zeitlich auf die “tollen Tage” begrenzt (zu den “Zeitinseln” der Lachkultur vgl. Bachtin 1969). Ein äußeres Zeichen der zeitweiligen Hierarchieumkehrung ist der närrische Gruß, bei dem man die gestreckte rechte Hand nicht wie beim Militär an den rechten, sondern an den linken Büttenmarsch! 147 Kappenrand führt. Einschlägige öffentliche Auszeichnungen belegen, wie sehr man bissige und zugleich humorvolle Kritik auch heute noch im Rheinland schätzt. Anders als der in Aachen verliehene “Orden wider den tierischen Ernst” ist jedoch der Neusser “Rekeliser- Orden” nur lokal bekannt. Sein Name stammt von einem alten Werkzeug, das man in Zeiten der Zentralheizung nicht mehr kennt: Mit dem “Rekeliser” (= Rekel-Eisen) stocherte man im Ofen, um Asche und Schlacken durch den Rost zu rütteln und die verbliebene Glut anzufachen, dass sie hell aufloderte. Die Neusser Heimatfreunde verleihen diesen Orden ihren Statuten gemäß an Personen, “die es verstehen, selbst bittere Wahrheiten in humorvoller und spritziger Weise darzustellen” (Heimatfreunde Neuss Website). So wurde 2012 der Bankdirektor Rainer Mellis ausgezeichnet, weil er eine stark fehlgeplante Hafentreppe, die im Nichts endet, als “Nirwana-Treppe” weithin bekannt machte. Begabte Büttenredner beherrschen ihr rhetorisches Handwerkszeug und führen ihre Zuhörer durch eine Abfolge sich steigernder Pointen bis zum “Finale furioso”. Aber auch innerhalb einer Sitzung gibt es eine Stufenfolge günstiger Zeiträume, um die hinter den Kulissen erbittert gekämpft wird. Zu Beginn des Abends sind die Zuhörer noch nicht warm geworden, unmittelbar vor und nach der Pause sind sie oft gar nicht im Saal, und je weiter der Abend fortschreitet, desto mühsamer macht der steigende Alkoholpegel das Verstehen der geistreicheren Pointen. Die idealen Positionen im 3. oder 4. Fünftel des ersten Teiles sowie im 2. oder 3. Fünftel des zweiten Teiles sind also so begehrt, dass altgediente Redner eine abweichende Platzierung als Affront auffassen. Wieder einmal widerlegt wird also eine irrige Annahme der Volkspsychologie, die Beruf und Charakter kurzschließt: Nicht zwingend sind Menschen, die professionell andere zum Lachen bringen, auch selbst heiter, fröhlich, versöhnlich oder insgesamt von sonnigem Gemüt. Bei meinen karnevalistisch aktiven Verwandten war es eher umgekehrt so, dass sie erhebliche innere Spannungen durch die gezielte Arbeit an ihren Werkstücken auszugleichen versuchten. Die bekannte Frage, ob ein Glas nun halb voll oder halb leer ist, hätten sie wohl ähnlich beantwortet wie ihr Wiener Kollege Josef Hader. In seinem Programm Hader spielt Hader bringt er die Unannehmbarkeit von freudigem Optimismus kaum überbietbar auf den Punkt: “Na ja, halb voll - aber der Rand ist so weit oben …” 2.3 Karneval und Katholizismus Wer Karneval und Katholizismus ethnologisch betrachtet, bemerkt mühelos einige wesentliche Gemeinsamkeiten, von denen sich hier nur wenige knapp auflisten lassen: • Der Jahresablauf kennt eine klare Trennung zwischen Alltag und “Heiligen Tagen”. • Die Funktionäre tragen prunkvolle Gewänder und treten pomphaft auf. • Die Rituale (Messe/ Karnevalssitzung) haben einen strikt festgelegten Ablauf. • Gemeinsames Singen sowie gemeinsame Bewegungen (Hinknien/ Schunkeln) wecken oder verstärken Gemeinschaftsgefühle. • Der Priester löst im Wechselgespräch mit der Gemeinde deren vorgefertigte Antworten aus / Der Zeremonienmeister stellt durch Signale sicher, dass die Zuhörer an den richtigen (! ) Stellen lachen. Wie ähnlich sich die beiden Bereiche sind, verdeutlicht sehr anschaulich die regional bekannte Anekdote Der Papst und der Papagei: Dagmar Schmauks 148 Ein Kölner Kardinal hatte seinem Papagei beigebracht, viele fromme Sprüche aufzusagen und ihn täglich mit “Guten Morgen, Eure Eminenz! ” zu begrüßen. Als der Kardinal gestorben war, schenkten seine Kollegen den Vogel dem Papst. Im Vatikan bewunderten alle die Beredsamkeit des Papageis und beklagten nur, dass er nie den korrekten Gruß “Guten Morgen, Eure Heiligkeit! ” lernte. Schließlich schlug ein Berater dem Papst vor: “Gehen Sie doch einmal in vollem Ornat ins Arbeitszimmer, dann ist der Papagei sicher so beeindruckt, dass er endlich richtig grüßt”. Gesagt, getan - am nächsten Morgen schreitet der Papst feierlich mit Mitra, Hirtenstab und prunkvollem Messgewand ins Arbeitszimmer. Der Papagei stutzt verwirrt, dann reckt er sich, schlägt mit den Flügeln und kreischt begeistert: “Kölle Alaaf! ” 3. Psychologische Aspekte des Humor-Handwerks “[Die Bosheit ist] die glänzendste Waffe der Vernunft gegen die Mächte der Finsternis und der Häßlichkeit.” Der Humanist Settembrini in Der Zauberberg (Mann 1967: 66) Wer beruflich humoristische Textsorten herstellt, erwirbt mit der Zeit besondere Diskursstrategien wie das Lauern auf geeignete Stichworte als Anknüpfungspunkte eigener Beiträge. Während sich diese Strategien in funktionalen Kontexten leicht negativ auswirken können, ist das gewohnheitsmäßige Veräppeln und Sprücheklopfen unter Gleichgesinnten ein durchaus gebräuchliches Sprachspiel. 3.1 Schwachpunktsuche und Stichwortlauern Sachlich gesehen liegt es nahe, Individuen anhand auffälliger Merkmale von Aussehen, Charakter oder Verhalten zu benennen, man denke an Tiernamen wie “Knickohr “ oder “Mohrle” sowie an Menschennamen wie “Editha Schwanenhals”, “Karl der Kühne” oder “Buffalo Bill”. Insofern sie eindeutig bezeichnen und einer größeren Gruppe bekannt sind, lassen sich diese Kennzeichnungen als echte Eigennamen verwenden. Während jedoch Märchenfiguren oft positive oder neutrale Namen tragen wie “Schneeweißchen” oder “Rotkäppchen”, wählen boshafte Zeitgenossen natürlich lieber negative oder zumindest fragwürdige Eigenschaften wie in “Bohnenstange” und “Brillenschlange”. Zwar gilt diese Namensgebung mittlerweile als politisch inkorrekt, ist aber in umgangssprachlichen Spitznamen durchaus lebendig geblieben. Sogar manche Autoren von Weltliteratur prägen gern sprechende Namen als verschleierte Anspielungen, beispielhaft Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg (1967). Die weibliche Hauptperson Madame Chauchat, deren Name im Französischen wie “heiße Katze” klingt, schleicht lieblich durch die Kurklinik und verführt Hans Castorp mit ihren schmal geschnittenen Katzenaugen. Auch einige weitere Mitpatienten benennt Mann lustvoll anhand ihrer Marotten. Ferdinand Wehsal klagt unaufhörlich über seine unerwiderte Liebe, während Karoline Stöhr nicht nur dauernd stört, sondern auch bevorzugt durch den Hinweis nervt, sie könne 28 unterschiedliche Fisch(! )saucen zubereiten. Das Rheinische Platt bildet Spottnamen nach dem Muster <Familienname im Genitiv + kennzeichnendes Merkmal>, folglich heißt “Schmitze Puckel” wörtlich “Der Bucklige aus der Familie Schmitz”. Weitere gängige Zusätze sind “Fuss” (Fuchs = rothaarig), “Hinkepoot” (hinkt), “Schäl” (schielt), “Plaat” (kahl) oder “Knubbel” (klein und dick). Ebenso beliebt sind Tiervergleiche, so war der Boxer Peter Müller (1927-1992), ein Kölner Original, wegen Büttenmarsch! 149 seiner geduckten Angriffshaltung regional besser unter seinem Spitznamen “Müllers Aap” (= Affe) bekannt. Die Kenntnis solcher Namensmuster verleitet dazu, bei Mitmenschen gewohnheitsmäßig nach stabilen Eigenschaften für veräppelnde Kennzeichnungen zu suchen. Das Lauern auf ein Stichwort begleitet alle Gespräche. Witzbolde und Scherzkekse hören anderen Leuten zwar sehr genau zu, haben dabei aber ein überwiegend egoistisches Ziel: Sie warten mehr oder weniger geduldig auf einen Ausdruck im Redefluss, an den sich ein Witz, ein Kalauer, ein flapsiges Wortspiel oder eine eigene Anekdote anschließen lässt. In diesem Fall reißen sie umgehend die Sprecherrolle an sich - auch wenn der Stichwortgeber noch weiterreden wollte - und beginnen ihren Beitrag mit typischen Formeln wie “Da ist mir gestern etwas viel Krasseres passiert…”, um den Gesprächspartner zu übertrumpfen. Universal einsetzbar ist der Ausdruck “apropos”, der aus dem Redefluss etwas Geeignetes herausfischt: “Apropos Papagei - kennt ihr den vom Papst und seinem Papagei? ” Noch allgemeiner gesprochen beobachten Humor-Handwerker die belebte und unbelebte Welt insgesamt unter der Leitfrage, was durch Stilisierung eine Pointe liefern könnte. Eine recht plakative Darstellung eines zwanghaften Anekdotenschleuderers ist der Vertreter Knoll aus Spoerls Roman Die Feuerzangenbowle, der nach einigen vergeblichen Bremsversuchen und zahlreichen flauen Unterschied-Witzen schließlich nur durch die Frage “Kennen Sie den Unterschied zwischen drinnen und draußen? ” zu vergraulen ist (Spoerl 1973: 42-44). 3.2 Veräppeln und Sprücheklopfen als Sprachspiele Veräppeln ist ein besonderes Sprachspiel, das in bestimmten informellen Situationen wie der gemeinsamen Arbeitspause, am Stammtisch oder auf dem Fußballplatz beliebt ist (vgl. die “Orte des Lachens” bei Bachtin 1969: 56 sowie die Detailanalysen in Schmauks 2002). Typisch für solche Gespräche ist die Bevorzugung besonders plastischer Ausdrücke, deren Skala von salopp bis vulgär reicht. Sogar für zahlreiche Alltagsobjekte gibt es geläufige Spottnamen, die unter Freunden als witzig, von Fremden hingegen als befremdlich oder deutlich abwertend wahrgenommen werden. • Frikadelle Bremsklotz • Füße Quadratlatschen • Kamm Läuseharke Besonders kreativ ist der sog. “Volksmund” bei Tabuthemen wie Ausscheidung und Sexualität. Entsprechende Ausdrücke füllen ganze Lexika wie den Klassiker von Borneman (1974), ein paar noch recht harmlose Beispiele sind • urinieren Bier wegschütten • sich übergeben rückwärts essen • Sex haben eine Nummer schieben Außenstehende empfinden den rüden Umgangston oft als aggressiv, Beteiligte hingegen drücken so ihre gemeinsame Einstellung aus und grenzen sich nach außen ab. Und ob man “Heilige Einfalt! ” haucht oder den anderen einen “lupenreinen Blödmann” nennt, ist letztlich nur eine Frage der bevorzugten Sprachebene. Wie beliebt das Veräppeln ist, belegen die vielen einschlägigen Verben wie “anpflaumen”, “aufziehen”, “foppen”, “frotzeln”, “hänseln”, Dagmar Schmauks 150 “hochnehmen” “necken”, “verkohlen” und “verulken”. Varianten wie “anstänkern”, “verarschen”, “verkackeiern” und “verscheißern” beweisen zusätzlich die Vorliebe des Deutschen für Fäkalausdrücke. Hinzu kommen komplexere Wendungen wie “auf den Arm nehmen” oder “auf die Schippe nehmen”. An dieser Stelle empfiehlt sich ein kurzer Blick darauf, wie das Veräppeln ethologisch gesehen in der innerartlichen Aggression wurzelt. Wenn Tiere mit Artgenossen kämpfen, geht es entweder um Zugriff auf Sexualpartner, Reviere oder andere begrenzte Ressourcen, oder um das Aushandeln einer Rangordnung. Bei vielen höheren Arten üben die Jungtiere das artspezifische Aggressionsverhalten im sog. “Spielbeißen” systematisch ein. Mit Wurfgeschwistern und anderen gleichaltrigen Jungtieren erproben sie die Teilhandlungen von Angriff und Verteidigung sowie die begleitenden Lautäußerungen. Sie lernen auch, durch eindrucksvolle Drohgebärden einen Kampf ganz zu vermeiden sowie bei Unterwerfungsgebärden des Gegners von diesem abzulassen. Die entsprechenden “Kommentkämpfe”, mit denen eine Rangordnung festgelegt wird, verlaufen daher meist unblutig und erlauben so ein Kräftemessen ohne Verluste von Individuen. Da der Ablauf der Interaktionsschritte stark ritualisiert ist, haben einzelne Tiere wenig Verhaltensspielraum und der Kampf eskaliert nur selten zum Beschädigungskampf. Auch beim Menschen ist das Veräppeln stark ritualisiert und setzt bestimmte Rahmenbedingungen voraus, so würde man etwa eine offensichtlich sehr bedrückte Person nicht verbal angreifen. Inhaltlich geht es neben einem nicht unbedingt kenntnistriefenden Politisieren oft um Reibereien innerhalb der Stammtischrunde, wobei man beim Lästern und Sticheln gern vorgefertigte Muster verwendet. Sie machen das Gespräch kognitiv unaufwändig, wie man es von einer entspannenden Feierabendrunde zwischen Beruf und Familie erwartet. Dieses Sprachspiel heißt sehr treffend “Sprücheklopfen”, wobei der Ausdruck “Spruch” selbst schon subversiv verballhornt wurde. Während er bildungsbürgerlich eine Lebensregel oder zutiefst durchdachte Einsicht bezeichnet (a), hat der Stammtischspruch deutlich mehr Bodenhaftung (b). a) Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele. (Plato) b) Überlass das Denken lieber den Ochsen, die haben größere Köpfe. Wer von einem selbst verschuldeten Missgeschick berichtet, wird Bemerkungen wie “Dumm geboren und nichts dazugelernt! ” hören. Trotz seiner aggressiven Form setzt dieses Anpflaumen symmetrische soziale Beziehungen voraus, denn es “ist zwar wettbewerbsorientiert, fördert aber den Zusammenhalt der Gruppe” (Schwanitz 2001: 138). Wer Angriffe schweigend einsteckt, gilt als humorloser Spielverderber und wird schnell zum Außenseiter. Erwartet wird eine witzige Antwort auf gleicher Ebene wie “Na klar, du als vielseitig Unbegabter hättest das natürlich besser gemacht! ” Man sieht hier gut, dass verbale Schlagfertigkeit ein - sozusagen kulturell höher stehender - Ersatz für echte Handgreiflichkeiten ist. Zuhörer kommentieren treffende Angriffe lobend oder steuern selbst einen Spruch bei wie: “Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde! ” Natürlich werden auch Abwesende genüsslich verspottet, insbesondere der Chef, gemeinsame Bekannte oder Prominente. Insgesamt herrscht eine unverhohlene Respektlosigkeit gegenüber allen Autoritäten und “höheren Gegenständen” (Rühmkorf 1969), wobei das gemeinsame Schimpfen aus dem Blickwinkel “kleiner Leute” eher einer ungezielten Affektabfuhr als einer kognitiven Problemlösung dient. Typischerweise werden beim Veräppeln auch allerlei vorgefundene Sprachschnipsel von Zitaten über Bauernregeln bis zu Werbesprüchen verballhornt (Schmauks 2009: 32ff und 2010: 33ff). Um etwa die Dummheit des Büttenmarsch! 151 Gegenübers farbenprächtig zu schildern, kann man die Bibel bemühen (“Selig die Armen im Geiste”) oder einem altehrwürdigen Geflügelten Wort mutig die Schwingen stutzen (“Torheit schützt vor Alter nicht”). Gerade das scheinbar müßige Gerede an Lachorten wie dem Stammtisch erweist sich demnach als eine mögliche Brutstätte sprachlicher Kreativität. Neben den zahlreichen Wendungen zur flächendeckend grassierenden Dummheit illustrieren dies zwei gegenläufige speziellere Sprachspiele, nämlich das Veräppeln von besonders zimperlichen oder auffallend hartgesottenen Zeitgenossen (vgl. die zahlreichen “Weicheier-“ und “Harteier-Listen” im Internet). Während Ausdrücke wie “Türgriffe-Desinfizierer” und “Socken-Bügler” eine zwanghaft-vorsichtige Haltung der Welt gegenüber ins Bild setzen, weisen die als “Kampfhund-Treter” und “Stromleitungs-Pinkler” Gekennzeichneten so kleinliche Ängste weit von sich. Veräppeln als Sprachspiel wird besonders in bestimmten Metropolen gepflegt, allgemein bekannt sind die schnoddrige “Berliner Schnauze” sowie der melancholisch grantelnde “Wiener Schmäh”. Wer mit diesem Umgangston nicht vertraut ist, wird sich rüde beleidigt fühlen, wenn er etwa statt der höflichen Frage “Lassen Sie mich bitte vorbei? ” ein schnoddriges “Mann, woll’n Se hier übernachten? ” hört. Die Lust an verbalen Angriffen und scharf geschliffener Kritik ist jedoch keineswegs auf das “einfache Volk” beschränkt, sondern tritt mit je spezifischen sprachlichen Mitteln quer durch alle Gesellschaftsschichten auf. Eine einprägsame literarische Darstellung eines Menschen aus durchaus “besseren Kreisen”, der solche Verhaltensweisen verinnerlicht hat, ist Kommerzienrat Ezechiel van der Straaten in Fontanes Erzählung L’Adultera, der “in seiner Eigenschaft als kritiksüchtiger Berliner nichts Reizenderes kannte, als Größenniedermetzelung und Generalnivellierung, immer vorausgesetzt, daß er selber als einsam überragender Bergkegel übrigblieb” (Fontane 1985, Bd. 1: 30). Van der Straaten illustriert aber auch wie mehrere Personen Fontanes die liebenswerte Seite einer durchgehend ironischen Haltung, nämlich den Einschluss einer hellsichtigen und ebenso bissigen Selbstironie. 3.3 Verwandte Sprachspiele Vom Veräppeln aus gibt es gleitende Übergänge in einige verwandte unernste Sprachspiele. Beim unspezifischen Blödeln oder Erzählen von Witzen zielt man zwar sachlich gesehen nicht auf eine bestimmte Person ab, dennoch findet auch hier unterschwellig ein Wettkampf statt (vgl. Schwanitz 2001: 138). Dieser wird mit Beredsamkeit und Schlag(! )fertigkeit ausgefochten, wobei die aufschlussreichen martialischen Beschreibungen für sich selbst sprechen. Man nennt diese Handlung sogar “Witze reißen”, was ebenfalls eine aggressive Note ausdrückt. Weit umfangreicher als das rein verbale Veräppeln sind sorgfältig geplante Irreführungen, die Witzbolde insbesondere am 1. April produzieren. Einschlägige Wendungen hierzu sind “einen Bären aufbinden”, “ins Bockshorn jagen”, “aufs Glatteis führen” oder “an der Nase herumführen”. Wie enttäuscht war etwa die Tierfutterhandlung, die mein Vater anrief, um vielerlei Futter für einen “kleinen Wanderzirkus” zu bestellen, und die dann bei jeder ungewöhnlichen Tierart vom Ameisenbär bis zum Zwergpinguin immer misstrauischer wurde. Wenn jemand andere nicht mehr nur an bestimmten Lachorten oder zu bestimmten Zeiten veräppelt, hat sich eine zunächst situationsabhängige Verhaltensweise zu einem stabilen Charakterzug verfestigt. Dagmar Schmauks 152 4. Die Rolle von Kindern innerhalb des Humor-Handwerks Kinder erwerben die Gesetzmäßigkeiten ihrer Muttersprache zwar ungesteuert, aber dennoch in bestimmter Reihenfolge. So ist es lebensweltlich einsichtig, dass die Namen vertrauter Objekte eher verstanden werden als Abstrakta und einfache Aussagen eher als Konditionalsätze. Diese zunächst begrenzte Sprachkompetenz hat gegenläufige pragmatische Auswirkungen: Sie macht das Kind als naiven Sprecher für Erwachsene amüsant, während umgekehrt dem Kind als Hörer die auftretenden Sprachspiele oft unbegreiflich bleiben. 4.1 Kinder als Pointenproduzenten Professionelle Humoristen verachten unkreative Kollegen, die lediglich altbackene Witze abhaspeln. Wenn also der Blick von Büttenrednern spätestens im Herbst immer glasiger wird, suchen sie dringend frische Pointen, die sie vorzugsweise aus dem Leben schöpfen, indem sie wie Luther “dem Volk aufs Maul schauen”. Besonders geeignete Lieferanten sind natürlich die eigenen Kinder, deren drollige Bemerkungen und ungeschickte Handlungen sich leicht publikumswirksam zuspitzen lassen. So entstehen als knackige Alternativen zu den eher flauen Witzchen, die in der Rubrik “Aus Kindermund” oder mit Standard-Helden wie “Klein Erna” auftauchen, gekonnt zurechtgefeilte persönliche Erlebnisse. Lustige Streiche und leichtsinnige Dummheiten verursachen jedoch üble Zielkonflikte, denn obwohl sie als Pointenrohstoff hochwillkommen sind, kann man sie als Elternteil natürlich nicht ungestraft durchgehen lassen. Humoristenkinder balancieren daher ständig auf einem messerscharfen Grat. Einerseits ergattern sie nur dann einige Funken elterlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung, wenn sie witziger und origineller als andere Kinder sind, andererseits dürfen sie dabei natürlich nicht ins Freche oder gar Aufsässige abdriften. Eins von vielen Beispielen möge dies erhellen. Als ich etwa 12 Jahre alt war, sollte ich eine dicke Scheibe Panhas (= Blutwurstmasse in Kastenform) zu meiner Großmutter bringen. Leider war sie nicht zu Hause, und um mir eine nochmalige Fahrt mit dem Rad zu ersparen, stopfte ich den Panhas mühsam aber gründlich durch Omas Briefkastenschlitz. Die Riesensauerei wurde natürlich rasch entdeckt, kundgetan und von meiner Mutter mit lockerer Hand bestraft. Mit der Zeit verblasste jedoch der Schmuddelaspekt und das Ulkige der kleinen Szene trat in den Vordergrund, um schließlich zu einem “Stöckske” verarbeitet zu werden. Noch heute wissen meine Schwester und ich genau, wer welche Schandtat begangen hat, die nach spontaner Bestrafung und humoristischer Gärung schließlich gefällig bearbeitet die regionale Literatur bereicherte. Nach solchen Veröffentlichungen hörten wir von Bekannten öfters den Stoßseufzer “Ach, so eine lustige und verständnisvolle Mutter hätte ich als Kind auch gerne gehabt! ” Wenige Jahre später lag mir immer der Vorschlag “Dann nimm sie am besten gleich mit! ” auf der Zunge, aber brave Mädchen lächeln natürlich nur höflich. Nachzutragen ist, dass die Grenze zwischen grobem Spaß und Straftat in jeder Epoche neu gezogen wird. Ein gebräuchlicher Streich meiner Kindheit bestand darin, einen alten Gummiball mit Beton oder Zement zu füllen und nach dem Trocknen auf den Gehweg zu legen. Aus sicherer Deckung heraus konnte man dann abwarten, ob jemand dagegen treten würde… Damals hätte man Erwachsene, die auf diesen schon recht abgedroschenen Scherz hereinfallen, für beklagenswert naiv (vulgo: für hoffnungslos vertrottelt) gehalten, während im Sommer 2006 in Berlin während der Fußball-Weltmeisterschaft der Staatsschutz wegen “Körperverletzung durch Beton-Fußbälle” ermittelte. Büttenmarsch! 153 4.2 Kinder als Pointenrezipienten Wie alle kognitiven Leistungen entwickelt sich auch das Verstehen von Humor schrittweise. Grob gesprochen wird für Kinder die Erwachsenenwelt umso leichter verständlich, je getreuer ihre Bezugspersonen die Stufenfolge vom eigentlichen zum uneigentlichen Sprachgebrauch einhalten. Zwar finden schon Vorschulkinder einfache Als-ob-Spiele lustig, bei denen sie wie eine Katze miauen oder eine Tasse als Hut aufsetzen. Ironie, Sarkasmus und das Ausnutzen sprachlicher Mehrdeutigkeiten hingegen werden frühestens gegen Ende des Grundschulalters verstanden. Aus denselben Gründen bleiben die vielen uneigentlichen Redewendungen wörtlich verstanden oft rätselhaft - ein Problem, das Kinder mit Nicht-Muttersprachlern teilen. Das Kind könnte also Vaters stolzgeschwellte Aussage “Ich habe Hans beim Tennis geschlagen! ” mit Erschrecken hören, die augenzwinkernde Mitteilung “Kevin hat ein Auge auf Julia geworfen” makaber finden und sich bei “Dann haben wir die Kurve gekratzt” kauernde Menschen mit Harken vorstellen. Ein eher wunderliches Weltbild entsteht also, wenn Alltagsgespräche häufig mit vorgefertigten Sprüchen durchsetzt und auf Pointen hin zugespitzt sind. Was denkt etwa ein Kind, wenn ein Elternteil eine unzumutbare Bitte abschmettert mit “So sieht er aus, der Maggiwürfel! ” oder einen allzu kleinen Erfolg flapsig kommentiert mit “Besser in die hohle Hand geschissen als gar kein Blumenstrauß”? (Nebenbei bemerkt war die Deftigkeit solcher Aussagen natürlich nur Erwachsenen erlaubt! ) Gar nicht selten versagen bei bewusst bizarren Aussagen sogar erwachsene Zuhörer. Erzählte unser Vater absichtlich Absurdes wie “Der arme Kerl hat links nur einen Arm”, so hörte er häufig die bedauernde Antwort: “Ach, wie schrecklich…” Brachte ich Poesiealben von Klassenkameradinnen mit nach Hause, so schrieb er heimlich unter pompösen Namen erbauliche Gedichte hinein wie: “Wer auf den lieben Gott vertraut und im Sommer Kappes (= Weißkohl) klaut, der hat im Winter Sauerkraut.” Eine ähnlich gerissene Grundeinstellung drückt diese Bitte an die Nachbarn aus: “Dürfen wir heute unsere Reibekuchen in eurem Öl braten? Dann dürft ihr morgen eure Wurst in unserer Suppe kochen…” Ältere Kinder verstehen das Sprücheklopfen als unernstes Sprachspiel, nehmen die gezielt absurden Aussagen also nicht mehr als Tatsachenbeschreibungen. Allerdings werden sie das elterliche Verhalten mit Eintritt in die Pubertät eher nervig oder in Hörweite anderer auch peinlich finden. 5. Spätfolgen einer Kindheit unter Humor-Handwerkern Das Aufwachsen unter Humor-Handwerkern hat langfristige Auswirkungen in wichtigen Lebensbereichen. Das Negativste zuerst: Wer alle Ereignisse auf Pointen hin zurechtfeilt, witzelt auch bei ernsten Themen und vermittelt seinen Kindern eine allzu schiefe Sicht auf die selbst erlebte Vergangenheit. Vor allem der Zweite Weltkrieg erschien uns durch die Anekdoten unseres Vaters als dichte Folge grober Scherze sowie burlesker Ereignisse wie dem Explodieren einer Feldküche. Dieser Krieg klang nicht sehr bedrohlich, vielmehr wie ein jahrelanger Abenteuerurlaub in einer “rauen aber herzlichen” Männergruppe. Darin gab es weder Heldentaten noch Dagmar Schmauks 154 Kriegsverbrechen, sondern als äußerste Straftat das trickreiche “Beschaffen” von Lebensmitteln oder listige Übertölpeln von schikanösen Vorgesetzten (Der Brave Soldat Schwejk aus Jaroslav Hašeks Roman lässt grüßen…). Erzählungen unserer Mutter trafen eine ähnlich tendenziöse Auswahl, so war es bei Abschüssen feindlicher Fallschirmspringer vor allem wichtig, möglichst schnell die Fallschirmseide als begehrten Rohstoff für Unterwäsche und Kleider zu “retten”. Wer solche Diskursstrategien verinnerlicht hat, neigt auch im Alltag zu unangebrachten Witzeleien und ist oft in Gefahr, bereits vor gründlicher Sichtung der Lage eine schlagfertige Antwort oder einen launigen Kommentar abzugeben. Typisch etwa die kleine Szene an einer Berliner S-Bahn-Station: Die Türen schließen sich schon, das Warnlicht blinkt, als ein angetrunkener Mann eine Tür noch einmal aufstemmt und sich ins Wageninnere drängt. Die Bahnbedienstete ruft hektisch “Zurückbleiben bitte! ” und ich krakeele fröhlich “Der ist doch schon zurückgeblieben! ” über den Bahnsteig. Ferner fallen Humoristenkinder anderen häufig ins Wort und ergänzen deren Sätze pointierter als die Sprecher selbst es in der Regel vorhatten. Dies ist weniger respektlos als gedankenlos, denn es bekundet zwar ein überdurchschnittliches “Mitdenken” - nur leider nicht mit der Absicht des Verstehens, sondern des Übertrumpfens. Unterschwellig wird dabei oft die Langsamkeit des Denkens verspottet, denn dem nicht erbetenen “Voraussprechen” liegt eine überhebliche Einstellung zugrunde, die verbalisiert lauten würde: “Während Du behäbig Deinen Satz zu Ende friemelst, hab ich schon einen Binnenreim gefunden”. Diesen vererbten Berufskrankheiten stehen aber auch beachtliche Vorteile gegenüber. So kennen Humoristenkinder das Theatralische und seine absichtliche Hergestelltheit so gut, dass sie völlig gefeit sind gegenüber unangebrachtem Imponierverhalten und aufgeblasenem Blabla. Im günstigsten Fall wird man gegenüber Autoritätsgläubigkeit, Personenkult und Massenbegeisterung so immun, dass Ideologen jeglicher Färbung keinen Angriffspunkt finden. Falls nahe Verwandte gern und erfolgreich öffentlich auftraten, wird man oft auch eigene Auftritte eher genießen als fürchten. Wer schon als Kind ständig Schlagfertigkeit trainiert, lässt sich durch spöttische Angriffe nicht einschüchtern, sondern wird unverzüglich zu einem gezielten Gegenschlag ausholen. Im psychischen Bereich vermag sich eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber sozialen Auffälligkeiten zu entwickeln. Hat ein Kind öfters das wunderliche Verhalten naher Verwandter erlebt, wird es vielleicht auch vergleichsweise unbeeindruckt die Seltsamkeiten anderer Erwachsener sehen, man denke etwa an Wutanfälle oder Trunkenheit. Die deutlichsten Vorteile zeigen sich im kognitiven Bereich. Wer mit Sprüchen aufwächst, erwirbt notwendigerweise ein sehr eigenständiges Weltbild, da er die bizarren Aussagen seiner Eltern ständig mit dem eigenen erfahrungsbasierten Weltwissen abgleichen muss. So entsteht ein ausbaufähiges kognitives Arrangement mit der Kontingenz der Welt und den Ungewissheiten des Menschenlebens. Ein solider Alltags- und Galgenhumor vermag sogar aus unschönen Situationen noch einen ulkigen Aspekt herauszuschälen - oder notfalls herauszuquetschen. Etwa die medizinische Darmspiegelung: Ist es nicht auch spaßig, dass allermodernste Technologie es erlaubt, sich selbst in den Hintern zu schauen? Wer sich einen Blick für die witzigen Aspekte des Seins erarbeitet hat, wird trüffelschweingleich viele glitzernde Fundsachen aufstöbern, von seltsamen Speisekarten mit “Terramisu” bis zu bedenklichen Todesanzeigen, die “UNSERE liebe Gattin” beklagen (vgl. Schmauks 2007: 226-250). Gerade wenn die Welt anscheinend so gar keinen Anlass zum Lachen bietet, sollte man sicherheitshalber noch einmal etwas gründlicher suchen. Büttenmarsch! 155 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Kindheit unter Berufshumoristen einer Universalimpfung gegen viele Gefahren gleicht, die durch falsche Ehrfurcht vor vermeintlich “höheren Dingen” und “ewigen Werten” entstehen. Von Humorherstellern verschont wird in der Regel ausschließlich das leidende Individuum, aber der ganze “Überbau” mit Religion, Nation, Geschichte, Kunst und all den anderen großen Themen gilt als fehlbares Menschenwerk und darf daher genüsslich verspottet werden. Wer das blasphemisch findet, möge sich einmal ernsthaft fragen, ob ein allmächtiger Schöpfer aller Galaxien sich wirklich durch kurzlebige Humoristen auf einem krümeligen Planeten angegriffen fühlen könnte. Literatur Bachtin, Michail 1969: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München: Hanser Borneman, Ernest 1974: Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. Reinbek: Rowohlt Fontane, Theodor 1985: Romane und Erzählungen in drei Bänden. München: Hanser Freud, Sigmund 1905: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Wien: Deuticke. Gesammelte Werke Bd. 6. Frankfurt a.M.: Fischer 1948 Girtler, Roland 2004: 10 Gebote der Feldforschung. Wien: LIT Heimatfreunde Neuss (ed.): Rekeliserorden. http: / / www.bkg-heimatfreunde.de/ rekeliserorden/ (Zugriff Juni 2012). Hirsch, Eike Christian 2001: Der Witzableiter oder Schule des Lachens. Erweiterte und überarbeitete Neuauflage. München: Beck Mann, Thomas 1967: Der Zauberberg. Frankfurt a.M.: Fischer Rühmkorf, Peter 1969: Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek: Rowohlt Schmauks, Dagmar 2002: “ ‘Sach ens Blootwoosch! ’ Ein scherzhaftes zweistufiges Schibboleth aus Köln”, in: Matthias Rothe und Hartmut Schröder (eds.): Ritualisierte Tabuverletzung, Lachkultur und das Karnevaleske. Frankfurt a.M.: Peter Lang: 353-370 Schmauks, Dagmar 2007: Semiotische Streifzüge. Essays aus der Welt der Zeichen. Münster: LIT Schwanitz, Dietrich 2001: Männer. Eine Spezies wird besichtigt. Frankfurt a.M.: Eichborn Spoerl, Heinrich 1973/ 1933: Die Feuerzangenbowle. München: dtv Tremblau, Sophie 1987: “Neusser Bräuche in dunkler Jahreszeit”, in: Heimatfreunde Neuss (ed.): Almanach für den Kreis Neuss 1987: 10-18 Vorhaus, John (1994): The Comic Toolbox. To Be Funny Even If You’re Not. Los Angeles: Silman-James Press (deutsche Übersetzung 2001: Handwerk Humor, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins)