eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
383-4

Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität in deutschen und polnischen Texten

2015
Urszula Topczewska
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität in deutschen und polnischen Texten Urszula Topczewska (Warschau) The essay examines the social functions of media discourse utterances connected with juvenile delinquency. The term “social function” is understood as the function related to identity construction in language interaction (the construction of the images of self and other as well as group images). This function can be fulfilled by means of either internal or external attribution. Examples of both types of attribution are shown on the basis of German and Polish texts. The examples also demonstrate how these attributions depend on their respective contexts. The analysis leads to the hypothesis that the social functions of utterances can be viewed as constitutive of meaning and sense, since the social context of an utterance, including the attitudes and background knowledge of the audience, is relevant for its understanding. Kriminalität stellt für die Medien ein attraktives Thema dar und wird vielfach zu meinungsbildenden Zwecken funktionalisiert. Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung steht ein diskursanalytisches Erfassen von Argumentationsstrategien, die soziale Funktionen von Äußerungen im öffentlichen Diskurs 1 über Jugendkriminalität markieren und über deren Wirkung im Zusammenhang mit der öffentlichen Meinungsbildung in hohem Maße entscheiden. Dieser Zielsetzung wird aus der diskurslinguistischen Perspektive nachgegangen, wie sie Busse & Teubert 1994, Hermanns 1990 und Gardt 2007 vorgezeichnet haben. Sie ermöglicht es, über die intra- und intertextuelle Ebene hinweg auch die interaktive Ebene sprachlicher Kommunikation zu erfassen und somit einen wesentlich breiteren Zugang zur semantischen Tiefenstruktur von Äußerungen zu gewinnen, als es die traditionellen Sprachanalysemethoden erlauben. 2 1 Unter Diskurs verstehe ich im Anschluss an Warnke & Spitzmüller 2008 eine Sprachgebrauchsformation, die eine transtextuelle Struktur aufweist. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des theoretischen Status des Diskursbegriffs in der Diskurslinguistik eine nach wie vor offene Frage ist. Umstritten ist insbesondere, ob unter Diskurs eine Menge von Texten oder ein abstraktes Phänomen, dessen Manifestation einzelne Texte sind, zu verstehen ist - cf. Wengeler 2008: 232. 2 Zur Begründung cf. Gardt 2007. Eine detaillierte Darstellung der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse wurde in Warnke & Spitzmüller 2008: 24-44 bearbeitet; vgl. auch den Mehrebenenansatz von Spieß 2008. In beiden letztgenannten Ansätzen wird für ein breites Spektrum an Analysemethoden in der Diskursforschung plädiert. An einigen Beispielen, die dem deutschen und dem polnischen öffentlichen Diskurs über die Jugendkriminalität entnommen sind, werden im Folgenden stichprobenartig zum einen argumentativ erarbeitete, sprachliche Manifestationen von diskursiven Selbst- und Fremdbildern aufgezeigt; zum anderen wird die kontextuelle Prägung dieser Manifestationen und ihrer jeweiligen Funktion in gesellschaftlichen Interaktionen offengelegt. Es handelt sich in diesem Beitrag lediglich um qualitative Einzelfallanalysen; die gewählten Beispiele sind nur insofern für den öffentlichen Diskurs über die Jugendkriminalität repräsentativ, als sie den beiden grundsätzlichen Diskurssträngen angehören, die sich in Bezug auf die Sprecherabsicht in diesem Diskurs abzeichnen: den Diskursbeiträgen, die die jugendlichen Täter zu verstehen suchen, und den (sowohl in deutschen als auch in polnischen Internet-Foren deutlich dominierenden) Diskursbeiträgen, die eine angemessene Strafe für die Täter verlangen. Die aus den Analyseergebnissen hervorgehenden Folgerungen und Anmerkungen zu diskurspragmatischen Fragen schließen den Beitrag ab. 1 Sprachliche Äußerungen und ihre Funktionalisierung Sprachliche Äußerungen können in mehrfacher Weise funktionalisiert werden. Die jeweiligen Funktionen führte die antike Stillehre auf die rhetorische Wirkung einer Rede zurück, deren Haupttypen von Aristoteles pragma (logos), ethos und pathos genannt werden. Ueding und Steinbrink ( 3 1994: 277) charakterisieren diese drei Wirkungsfunktionen wie folgt: Sein Ziel, die Zuhörer oder Leser vom eigenen Standpunkt in einer Sache zu überzeugen, so daß sie ihre Meinung, gegebenenfalls ihre Haltung und Gesinnung, im gewünschten und schließlich richtigen Sinn ändern, kann der Redner auf dreierlei Weise erreichen. Einmal durch die Belehrung (pragma, docere), die auf einen rationalen Erkenntnisprozeß zielt und die intellektuellen Fähigkeiten der Adressaten anspricht [. . .], sodann durch die emotionale Stimulierung des Publikums, die auf die Erregung sanfter, gemäßigter, milder Affekte (ethos, delectare, conciliare) zielt, und schließlich durch die Erregung der Leidenschaften (pathos, movere, concitare). Eine Funktionalisierung sprachlicher Äußerungen, die auf die Veränderung der Meinung, der Haltung bzw. der Gesinnung von Rezipienten abzielt, ist dabei nicht nur im öffentlichen Diskurs zu beobachten. Selbst der wissenschaftliche Diskurs kann von “hinreißenden” Emotionen (dem aristotelischen pathos) gekennzeichnet sein; vorgeprägte Denkmuster (z. B. Vorlieben, Vorurteile u. a. affektive und kognitive Stereotype) schlagen sich manchmal bereits in seiner thematisch-argumentativen Struktur nieder - und sei es dadurch, dass der Versuch unternommen wird, diese Denkmuster zu wiederlegen bzw. abzubauen. Im Folgenden wird zusätzlich zu den in Diskursen vorkommenden sprachlichen Mitteln und Argumentationsstrukturen bzw. den mit ihnen vom Sprecher verfolgten Zielen auch ihr soziokultureller Kontext in die Untersuchung einbezogen. Seine diskurslinguistische Erfassung bringt zwar nach wie vor theoretische und methodische Schwierigkeiten, zu ihrer Überwindung können aber etwa soziopsychologische Konzeptionen herbeigezogen werden. Vor der Darlegung der der Analyse zugrundeliegenden theoretischen Annahmen ist allerdings zunächst die Klärung einiger Schlüsselbegriffe erforderlich. Unter sprachlichen Äußerungen werden hier Sprechhandlungen verstanden, die sowohl in der mündlichen als auch schriftlichen Kommunikation, also in jeder Form sprachlicher 308 Urszula Topczewska (Warschau) Interaktion vorkommen. Alles, was in der Sprechhandlungssituation für das Verstehen einer Äußerung relevant ist, wird dem Kontext zugerechnet 3 . Äußerungen, die untereinander semantische, kontextuelle 4 oder intertextuelle Beziehungen aufweisen, bilden einen Diskurs. Aus der Perspektive argumentationskritischer Diskursanalyse können sprachliche Äußerungen im Prinzip auch als Texte aufgefasst werden, insofern sie als Produkte von Sprechhandlungen betrachtet werden (cf. Busse & Teubert 1994: 18). Allerdings sind ihre sozialen Funktionen nicht mit den Textfunktionen im Sinne von Brinker ( 5 2001: 83 f.) gleichzusetzen, der unter “Textfunktionen” kommunikative Funktionen von Texten, insbesondere die dominierende, konventionell festgelegte Textfunktion bzw. die “Kommunikationsabsicht” des Textproduzenten (Brinker 5 2001: 95 f.) versteht. Soziale Funktionen sind weder mit den Absichten bzw. Intentionen des Sprechers noch mit den Illokutionen seiner Sprechakte gleichzusetzen. Ebenso wenig lassen sie sich von letzteren ableiten, insofern sie aus der Hörerperspektive erschlossen und erforscht werden. 2 Soziale Funktionen medienvermittelter Äußerungen Das Interesse an der sozialen Dimension der Sprache ist in der Linguistik nicht neu. In seinem Aufsatz zum Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft stellt Busse (2005) fest, dass die auf de Saussure zurückgehende Definition der Sprache als einer sozialen Tatsache (de Saussure 1969: 188) von der Systemlinguistik zwar lange verkannt wurde, dem Gründer dieser Disziplin jedoch von Anfang an klar war: Für Saussure selbst ist (sicherlich stärker als bei seinen Nachlassverwaltern und Nachfolgern) sogar das Sprachsystem, also die langue selbst, im Kern sozial, weil sie den gesamten Sprachbesitz der sozialen Gemeinschaft verkörpert, während die parole individuell sei, da sie nur einen durch die Psyche des sprechenden Individuums geleiteten Ausschnitt der Möglichkeiten des gesamtgesellschaftlichen Sprachsystems verwirklichen könne (Busse 2005: 26). In der neueren pragmatisch orientierten Linguistik wird vor allem das Sprechhandeln als soziale Tatsache angesehen, und zwar wegen seiner sozial relevanten Folgen (cf. Hermanns 1990: 46). In der Sprechaktanalyse werden diese zwar oft als “Perlokutionen” programmatisch aus dem Interessengebiet der Sprachwissenschaft ausgeschlossen, 5 meines Erachtens verdienen sie jedoch durchaus ein linguistisches Interesse, auch wenn ihre systematische Erfassung noch aussteht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass sich Perlokutionen als soziale Funktionen von Äußerungen mit dem diskursanalytischen Instrumentarium unter- 3 Der Kontext hat nicht nur eine statische Seite, sondern durch die Äußerung wird Kontext im Sinne einer Kontextualisierung auch hervorgebracht. Zum Kontext- und Kontextualisierungsbegriff cf. Busse 2007. 4 “Kontextuelle Beziehungen” konstituieren sich z. B. über einen gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang (cf. Busse & Teubert 1994: 14). 5 Zwar ist Meibauer ( 2 2001: 86) darin zuzustimmen, dass Perlokutionen von der Sprecherseite her betrachtet jeweils Effekte - seien es intendierte oder nicht intendierte - der Sprechhandlungen sind, diese Effekte stellen aber zugleich Akte des Hörers dar, z. B. das Sich-Überreden-Lassen, das Sich-Überzeugen, das Bestätigen eigener oder fremder Identität usw. Für Searle sind sie nur deswegen uninteressant, weil sie im Unterschied zu regelkonstituierten illokutionären Akten nicht regelgeleitet sind (cf. z. B. Searle 1969/ 1971: 113). Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 309 suchen lassen, was als Beitrag zur Erweiterung methodischer Möglichkeiten in sprachwissenschaftlichen Analysen verstanden werden soll. 6 Soziale Funktionen sprachlicher Äußerungen ergeben sich aus dem Doppelcharakter der Sprache, die “aufgrund ihrer linguistischen und sozialen Struktur” (Hartig & Kurz 1971: 139) eine Komponente sozialer Interaktionen ist. Im Folgenden werde ich einen der wichtigsten Aspekte der sozialen Funktionen aufgreifen, und zwar die Funktionalisierung von Äußerungen für die Identitätskonstitution in einer sprachlichen Interaktion. 7 In diesem Sinne lassen sich im Anschluss an Quasthoff (1995) drei einander nicht ausschließende Funktionen von Äußerungen unterscheiden: l Selbstpräsentation des Sprechers (durch Distanzierung von Anderen oder durch die Übernahme ihrer Positionen), l Konstruktion von Fremdbildern (durch Stereotypisierung der Anderen oder durch Abbau von Stereotypen), l Konstruktion einer kollektiven Identität (durch Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen), das heißt in-group-konstituierende oder “gemeinschaftsstiftende” Funktion. Diese Funktionen können mit Hilfe zweier Argumentationsstrategien diskursiv realisiert werden: mit interner bzw. externer Attribuierung. 8 Die Attribuierungen können sowohl auf das Verhalten Anderer (im zu untersuchenden Kriminalitätsdiskurs auf die Taten jugendlicher Krimineller) als auch auf das eigene Verhalten des Sprechers bezogen werden. Eine interne Attribuierung liegt vor, wenn das zu kommentierende bzw. zu erklärende Verhalten auf innere, vom Täter selbst abhängige Faktoren (insbesondere auf seine innere Veranlagung) zurückgeführt wird. Hierbei wird der Täter für sein Verhalten verantwortlich gemacht. Von einer externen Attribuierung spricht man dagegen, wenn das Verhalten von äußeren, außerhalb der Kontrolle des Täters liegenden Faktoren abhängig gemacht wird. Damit wird es auf äußere Umstände zurückgeführt, die den Täter beeinflussen, einschränken bzw. festlegen. Im Laufe meiner Analyse werde ich die beiden Argumentationsstrategien eingehender erörtern und ihren Beitrag zu den genannten sozialen Funktionen von Äußerungen diskutieren. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Sprechhandlungen im Mediendiskurs in Bezug auf ihre soziale Wirksamkeit auch andere Funktionen erfüllen können, z. B. eine ideologische, eine rituelle bzw. eine sozialsymbolische. Ich werde mich aber ausschließlich auf die diskursive Konstitution sozialer Identität und somit auf die Analyse der vorher erwähnten Funktionen konzentrieren. 6 Bereits Gardt 2007 hat “eine der erfreulichsten Entwicklungen, die mit der Etablierung der Diskursanalyse einhergehen” im “Ausbau des textanalytischen Instrumentariums innerhalb der Philologien” gesehen. Seiner Meinung nach könnte das auf lange Sicht “derjenige Aspekt der Diskursanalyse sein, der auch über die Grenzen der linguistischen Teildisziplinen besonders nachhaltige Wirkungen zeitigt” (Gardt 2007: 42). 7 Die soziale Funktion einer Äußerung kann unterschiedlich aufgefasst werden. Als soziale Funktionen sind z. B. auch Jacobsons emotive, konative und phatische Funktion der Sprache bzw. ihre evokative Funktion im Sinne von Berger & Luckmann 1966 anzusehen. An dieser Stelle ist jedoch keine abschließende Aufzählung sozialer Funktionen von Äußerungen beabsichtigt. 8 Die Unterscheidung geht auf die Attributionstheorie Fritz Heiders (1958) zurück. In Czyżewski (2005: 212) werden die beiden Argumentationsstrategien resp. “interne” und “externe” Stimme genannt. 310 Urszula Topczewska (Warschau) Die zu analysierenden Äußerungen stellen Diskursfragmente im Sinne von Jäger ( 3 2001) dar, die thematisch dem Diskurs über Jugendkriminalität zuzuordnen sind. Die ausgewählten Äußerungen gehören verschiedenen medienvermittelten Kommunikationsformen (Zeitung, Internet) an und repräsentieren verschiedene Textsorten (Interviews, Forenbeiträge). Dadurch konnten in der Analyse unterschiedliche Sprachgebrauchsvarietäten im zu besprechenden Diskurs berücksichtigt werden. Die zwei ersten Beispiele stammen aus Interviews mit prominenten Politikern: dem hessischen Ministerpräsidenten und dem polnischen Staatspräsidenten. Ihnen folgen Internetbeiträge, die als Beispiele für Sprache der Forenkommunikation fungieren, wobei das deutsche Beispiel einem Forum entnommen wurde, das sich als Diskussion zu dem im vorangehenden Interview angesprochenen Thema “jugendlicher Täter” verstand. Auch der polnische Internetbeitrag bezieht sich auf das Täter-Thema und wurde einer polnischen Debatte über die Kriminalität von Jugendlichen entnommen. Das letzte Beispiel ist dem populärwissenschaftlichen Diskurs in Deutschland und somit der publizistischen Sprache zuzuordnen. 9 3 Zur Jugendkriminalitätsdebatte im öffentlichen Diskurs in Deutschland und Polen Das Thema Jugendkriminalität wird im öffentlichen Diskurs in Polen, in dem m. E. eher genuin politische oder wirtschaftliche Fragen dominieren, nicht so intensiv behandelt wie in Deutschland. Allerdings gibt es markante Beispiele medialen Interesses an dem Thema sowohl im politischen als auch im erziehungswissenschaftlichen Kontext. Als erstes Beispiel sei Aleksander Kwaśniewskis Rechtfertigung der von ihm während seiner Amtszeit ausgesprochenen Begnadigungen angeführt. Aus diskursanalytischer Sicht ist die Begnadigung ein Hoheitsakt, der ein altes kommunikatives Ritual darstellt. Die Ausübung des Rechtes auf Gnade, die heutzutage meist eine Handlung des hierzu gesetzlich ermächtigten Staatspräsidenten ist, war jahrhundertelang eine Handlung des Herrschers, der als Träger hoheitlicher Gewalt dafür zuständig war, Gnadenentscheidungen zu treffen. Indem er das ius gratiarum ausübte, gab er seiner Großmut Ausdruck, zum anderen war seine Barmherzigkeit auch Mittel zur Machtabsicherung und gesellschaftlichen Befriedung. Wenn die Begnadigung etwa aufgrund einer laetitia publica (Hochzeit im Herrscherhaus, Geburt eines Kronprinzen, Thronjubiläum des Herrschers u. ä.) oder der Losbitte durch das Volk erfolgte, stand sie im Dienste einer symbolischen politischen Kommunikation. 10 Öffentliches Vorzeigen der Großzügigkeit scheint im Falle der Begnadigungen Kwaśniewskis entscheidend zu sein: 9 Zum Verhältnis von Diskurs und Sprache cf. Warnke & Spitzmüller 2008. Die Autoren verstehen Sprache als Teilmedium bei der Symbolisierung in Diskursen und weisen auf die sich daraus ergebenden Grenzen diskurslinguistischer Untersuchungen hin: “Eine an spezifischen medialen Realisationen von Sprache ausgerichtete Analyse von Diskursen erlaubt es nicht, gültige Aussagen über den Diskurs an sich zu treffen. Methodologisch bedeutet das, dass ein Rückschluss von Sprache auf Diskurse immer nur partiell sein kann” (Warnke & Spitzmüller 2008: 10). 10 Die diskursive Tradition zur Legitimation von Gnadenakten reicht bis in das christliche Altertum zurück - cf. z. B. Mickisch (1996: 29-32 und 47-66). Vor diesem Hintergrund diskutiert Mickisch (1996: 75-147) die heutigen Funktionen von Gnadenentscheidungen. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 311 Prezydent RP: Uważam te decyzje może za najważniejsze w swojej działalności. Decyduję o dalszym losie konkretnych ludzi. Nie ukrywam, że ułaskawienia dają mi satysfakcję - mam poczucie, że pomagam ludziom, którzy uwikłali się w dramaty, często bez własnej woli lub bezmyślnie, którym wyrok więzienia może złamać życie. To nie są jakieś wielkie przestępstwa, ja nie ułaskawiam recydywistów, którzy mają na swoim koncie ciężkie przestępstwa. Ułaskawiam, jak powiedziałem, ludzi, którzy nie mają ciężkich, ale jednak przestępstwa i to takich, którzy udowodnili już, że rokują poprawę. Ułaskawiam często ludzi młodych, nierzadko kończy się to ustanowieniem dla nich kurateli (Gazeta Sądowa, 30. 11. 1999) Der polnische Staatspräsident: Ich halte diese Entscheidungen für die vielleicht wichtigsten in meinem Amt. Ich entscheide über das Schicksal konkreter Menschen. Ich mache kein Hehl daraus, dass mir die Begnadigungen eine Befriedigung geben - ich habe das Gefühl, dass ich Menschen helfe, die sich oft unfreiwillig oder gedankenlos in Dramen verwickelt haben und denen die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe das ganze Leben zerstören kann. Das sind keine großen Verbrechen, ich begnadige keine Wiederholungstäter, auf deren Konto schwere Straftaten gehen. Ich begnadige, wie gesagt, Menschen, die keine schweren, aber doch Straftaten begangen haben, und zwar solche, die schon bewiesen haben, dass von ihnen in Zukunft eine Besserung zu erwarten ist. Ich begnadige oft junge Leute; nicht selten endet das damit, dass ein Bewährungshelfer für sie bestellt wird. 11 Der ehemalige polnische Staatspräsident begründet seine Entscheidungen unter Berufung auf sein Verantwortungsbewusstsein und sein Mitgefühl. Ersteres bezeugt er, indem er Optimismus hinsichtlich der Folgen seiner Entscheidungen zeigt, letzteres, indem er sich als einen wohltätigen Menschen darstellt. Das positive Selbstbild des Sprechers wird im Kontext seiner umstrittenen Entscheidungen vor allem mit Hilfe der internen Attribuierung des eigenen anerkennenswerten Verhaltens erreicht: Kwaśniewski erklärt z. B., es sei ein inneres Bedürfnis für ihn, jungen Leuten, die ins soziale Abseits geraten sind, durch eine Begnadigung zu helfen. Er betont dabei explizit und mit Nachdruck die Eigenständigkeit seiner als Leistung dargestellten Rechtshandlungen: ich entscheide, ich helfe, ich begnadige. Die Formulierung ich helfe liefert zugleich eine moralische Legitimation für Kwaśniewskis Entscheidungen. Er fühlt sich moralisch verpflichtet, sozial Schwachen zu helfen. Auf diese Weise geht die Selbstpräsentation mit einer moralischen Aufwertung der eigenen Position einher. Die Argumentation wird zudem darauf gestützt, dass Kwaśniewski die Begnadigungsentscheidungen zu seinen wichtigsten zähle, er stuft also ihre Relevanz personalisierend hoch. Die zur Selbstpräsentation genutzte Argumentation wird durch die Konstruktion eines scheinbar differenzierten Bildes von Straftätern untermauert. Ihre Missetaten werden hier nicht als ihre eigenen Fehler dargestellt, sondern implizit durch externe Faktoren, d. h. durch externe Attribuierung, erklärt, so z. B. in der Behauptung, begnadigt würden Menschen, die sich zwar schuldig gemacht haben, aber dies nur unfreiwillig und unreflektiert getan haben. Sie brauchen also soziale Unterstützung, z. B. einen Bewährungshelfer. 12 Das Selbstbild wird also vom Sprecher nicht im Kontrast zum Fremdbild konstruiert, sondern auch das Fremdbild muss - entgegen dem verbreiteten Stereotyp - positiv ausfallen, um die angesprochenen Entscheidungen rechtfertigen zu können. Die Wahl dieser externen Attribuierung ist eine diskursive Strategie, die im Kontext einer Gefährdung des eigenen Image Kwaśniewskis der Gesichtswahrung dient. Die Attribuierung 11 Deutsche Übersetzungen der polnischen Beispiele von mir - U. T. 12 In Kwaśniewskis Gebrauch des Wortes bezmyślnie (dt. ‘gedankenlos’) steckt zwar eindeutig eine interne Attribution, aber der Ausdruck besitzt im gegebenen Zusammenhang eine relativierende Qualität. 312 Urszula Topczewska (Warschau) macht dabei Gebrauch vom Klischee des vom Schicksal benachteiligten Straftäters. Sofern sie auf Beeinflussung des Hörers zielt, könnte hier von einer Manipulation gesprochen werden: “Wird manipuliert, so suggeriert die sprachlich gelieferte Information eine ausreichende Entscheidungsbasis, so daß der Manipulierte von selbst und ohne schlechtes Gewissen handelt. In diesem Sinne ist auch jede Höflichkeitsfloskel manipuliert [. . .], jedoch bleibt dabei klar, dass manipuliert wird, dass ein Gesprächspartner vom anderen etwas will” (Köck 1972: 284). Das nächste Beispiel stammt aus einem “Bild”-Interview mit Hessens Ministerpräsident Roland Koch vom 28 Dezember 2007, also einen Monat vor den Landtagswahlen in Hessen und einige Tage nach dem brutalen Überfall auf einen Rentner (einen pensionierten Schuldirektor, 76) in der Münchner U-Bahn, der von einem 17-jährigen Griechen und einem 20-jährigen Türken - die Medien nennen bei nicht aus Deutschland stammenden Tätern oft die Nationalität mit - niedergeprügelt, bespuckt und zusammengetreten wurde, nachdem er sie aufgefordert hatte, ihre brennenden Zigaretten auszumachen: BILD: Herr Ministerpräsident, muss man nach dem Überfall von München nicht fragen, ob man als Deutscher im eigenen Land noch sicher ist? Roland Koch: Die Bilder des Überfalls zeigen eine atemberaubende Brutalität. Aber Gewaltausbrüche unter Jugendlichen ganz allgemein sind leider keine Einzelfälle mehr. Wenn das weiter einreißt, wird sich Verunsicherung in Deutschland breitmachen. BILD: Was lehrt der Münchner Fall konkret? Koch: Zivilcourage zeigen, es nicht hinnehmen, wenn Regeln verletzt werden! Aber zu dieser Zivilcourage gehört auch Solidarität der anderen, die sich mit unterhaken oder Hilfe holen. Die entscheidende Frage ist: Was lassen wir uns gefallen von einem kleinen Teil äußerst gewaltbereiter Jugendlicher, häufig mit ausländischem Hintergrund? “ (http: / / www.bild.de/ BILD/ news/ politik/ 2007/ 12/ 28/ koch-roland/ interview-deutschland-faust. geo=3361148, letzter Abruf am 20. 09. 2013) Unter Berufung auf Zivilcourage und gesellschaftliche Solidarität distanziert sich der hessische Politiker von denjenigen Akteuren der politischen Szene, die die jugendlichen Gewalttäter (nicht nur im Münchener Fall) in ihren öffentlichen Äußerungen zu entschuldigen oder zumindest zu verstehen versuchten. Koch bestätigt damit in der Öffentlichkeit sein eigenes Bild eines Politikers, der für konservative Werte steht, und zwar gerade dann, “wenn Regeln verletzt werden”. Parallel zu dieser rhetorisch vorwiegend auf aristotelischem Ethos aufbauenden Selbstpräsentation im Kontext des Wahlkampfs entwirft Roland Koch ein durchaus stereotypes Bild von jugendlichen Kriminellen. Er erreicht diese Stereotypisierung durch eine interne Attribuierung ihres problematischen Verhaltens, indem er von “äußerst gewaltbereiten Jugendlichen, häufig mit ausländischem Hintergrund” spricht, also von Jugendlichen, die zur Brutalität neigen. Die Formulierung “äußerst gewaltbereit” enthält zugleich eine implizite Verurteilung der Täter. Mit der Konstruktion dieses Fremdbildes kommt im angeführten Beispiel die in-groupkonstituierende Funktion zum Ausdruck, die auf die Opposition wir - sie zurückgeht: Aufgrund des Zusatzes “häufig mit ausländischem Hintergrund” in Bezug auf die Kriminellen bekommt das wir den Charakter eines “nationalen deutschen Wir”, dem tendenziell “AusländerInnen” als die Anderen gegenüber gestellt werden. Durch das generalisierende wir schreibt Koch die von ihm vertretene, konservative Position einer breiten Gesellschaftsgruppe zu, womit eine klare Abgrenzung nicht nur von den Kriminellen, sondern implizit Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 313 auch von den politischen Gegnern Kochs hergestellt wird. 13 Die Empörung, die in der Formulierung “Was lassen wir uns gefallen” zum Ausdruck kommt, und der Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der deutschen Bevölkerung, die zum Handeln aufgerufen wird (im Hinweis auf die Regelverletzung und im Aufruf zur Zivilcourage und Solidarität mit den Opfern) verstärken diese Abgrenzung zusätzlich. Von den zahlreichen Internetkommentaren zum Münchner Vorfall, die vor den Wahlen in Hessen im “Spiegel Online”-Forum geäußert wurden, habe ich einen Beitrag gewählt, der die Reaktion der Öffentlichkeit auf Kochs “Bild”-Interview exemplarisch darstellt. Dieses Beispiel drückt auf eine klare und rhetorisch ausgebaute Weise die Meinung beinahe aller Diskussionsteilnehmer aus: Die Strafe, die man als normaler Jugendlicher zu erwarten hat, fällt mit Sozialstunden usw. ja eher milde aus. . . Würden Sie einen unkontrollierbaren Gewalttäter, der in Tötungsabsicht auf den Kopf von z. B. Ihrem Kind eintritt, mit einem Klaps auf die Finger und 200 Sozialstunden plus einem seehr [sic] ernst gemeinten ‘Entschuldigungsbrief ’ davonkommen lassen? Vielleicht müsste er auch noch einen Kuchen für Sie backen. Würden Sie den essen? [. . .] Denn jeder Täter hatte eine schwere Jugend, war in sein Schaukelpferd verliebt, und leidet noch heute unter eingewachsenen Zehennägeln. (http: / / forum.spiegel.de/ showthread.php? p=1881002#post1881002, letzter Abruf am 20. 9. 2013) Die Äußerung spricht die Leser direkt an, wodurch eine sowohl den Sprecher als auch die Leser umfassende Gruppe potentieller Opfer der jugendlichen Gewaltkriminalität konstituiert wird. Die sprachliche Realisierung dieser gemeinschaftsstiftenden Funktion setzt bereits auf der formalen Ebene der Äußerung an: Durch eine Häufung von rhetorischen Fragen drängt der Sprecher seine Leser dazu, der von ihm geäußerten Meinung zuzustimmen. Diese Meinung zielt notwendigerweise - da es um die Abgrenzung der in-group gegenüber den jugendlichen Kriminellen geht - auf die Abwertung der (potentiellen) Täter ab, und obschon sie vom Sprecher nicht direkt ausgedrückt wird, wird sie dem Leser doch eindeutig zu verstehen gegeben. Darauf zielen nicht nur die vorgebrachten Argumente, sondern auch die damit einhergehende Anspielung auf Emotionen des Lesers (aristotelisches Pathos) ab. Im einzelnen sieht es der Sprecher als eine Verhöhnung der Opfer an (auch der potentiellen Opfer), dass den Tätern aufgrund einer - wie er unterstellt - oberflächlichen bzw. nicht aufrichtigen Entschuldigung Strafmilderung zugebilligt wird. Ebenso zeigt er sich verbittert darüber, dass die Täter aufgrund ganz banaler Gegebenheiten mit Verständnis seitens der Gesellschaft rechnen können. Das negative Bild der Täter wird auf eine doppelte, jeweils sehr wirkungsvolle Weise konstituiert: Zunächst wird in der Äußerung die interne Attribuierung des kriminellen Verhaltens ausgedrückt, und zwar implizit, das heißt durch den Verweis darauf, dass die jugendlichen Kriminellen unkontrollierbar seien); dann wird die externe Attribuierung - übernommen von der gegensätzlichen Position, die dieser stereotypen Schuldzuweisung und Herabsetzung der Gewalttäter entgegenwirken könnte - zwar explizit, aber ironisch 13 Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Äußerungen der Politiker spielt in der Wahlkampfzeit eine wichtige Rolle. Extrem zugespitzt kommt sie in folgender Äußerung des bayrischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) in einem Interview mit der “Bild”-Zeitung während des Wahlkampfs 2008 in Bayern zum Ausdruck: “Es würde niemand verstehen, wenn Ausländer, die eine derartige Brutalität an den Tag legen, weiter in Deutschland bleiben könnten” (zitiert nach Spiegel Online 08. 07. 2008). 314 Urszula Topczewska (Warschau) überspitzt formuliert: “Denn jeder Täter hatte eine schwere Jugend, war in sein Schaukelpferd verliebt, und leidet noch heute unter eingewachsenen Zehennägeln.” Letzten Endes dienen also beide Argumentationsstrategien einer Bestätigung der stereotypen Einschätzung von jugendlichen Kriminellen und damit der Forderung nach einer gerechten (i. S. v. nicht zu milder) Strafe. Als ein stereotypengestützter Appell an das Gerechtigkeitsgefühl des Lesers liest sich auch das nächste Beispiel. Es handelt sich um einen Internetbeitrag nach dem Selbstmord einer von ihren Klassenkameraden mit Gewalt ausgezogenen Gymnasiastin in Gdańsk im Jahre 2006: Dlaczego taki chłopak, który uważa się za super dorosłego, myśli, że wszystko mu wolno, dlaczego ma nie odpowiadać na takiej zasadzie na jakiej stawia sam siebie? Niech przejdzie nago po szkole, na dużej przerwie wśród wszystkich. . . takie jest moje zdanie: dzisiaj nie ma co stosować jakichś innych wydumanych kar, bo one nic nie znaczą. Teraz rzadko cokolwiek coś znaczy, więc może jeśli ci, którzy coś komuś zrobili poczują to samo co ich ofiary, zrozumieją jakimi są zwyrodnialcami? (http: / / www.wiadomości24.pl/ artykul/ jak_wychowywac_jak_karac_10281.html, letzter Abruf am 20. 09. 2013) Warum soll solch ein Junge, der sich für einen Super-Erwachsenen hält und denkt, dass ihm alles erlaubt ist, warum soll der sich nicht nach dem Prinzip verantworten, das er sich selbst setzt? Soll er doch in der Schule in der großen Pause vor allen anderen nackt herumlaufen . . . Meine Meinung ist: Heute sollte man nicht irgendwelche ausgeklügelten Strafen anwenden, denn die haben keinen Sinn. Heutzutage ist es überhaupt selten, dass etwas einen Sinn hat, wenn also diejenigen, die jemandem etwas angetan haben, am eigenen Leib dasselbe spüren, was ihre Opfer erfahren haben, werden sie vielleicht einsehen, was für Unmenschen sie sind? “ 14 Zusammen mit der Forderung nach Bestrafung der jugendlichen Täter, also mit der expliziten Verurteilung ihres Verhaltens, 15 vermittelt die Äußerung ein stereotypes, wenn auch nur implizit gezeichnetes Bild von Kriminellen. Die nachdrückliche Zuweisung der Eigenverantwortung an die jugendlichen Kriminellen impliziert, dass sie bewusst und freiwillig handeln. Damit verwendet der Sprecher eine interne Attribuierung des problematischen Verhaltens, die mit einer beinahe aggressiven Argumentationsweise einhergeht (“wenn also diejenigen, die jemandem etwas angetan haben, am eigenen Leib dasselbe spüren, was ihre Opfer erfahren haben, werden sie vielleicht einsehen, was für Unmenschen sie sind”). Die Attribuierung stützt sich zwar auf ein ethisches Argument (der Täter soll nach dem Prinzip gestraft werden, nach dem er selbst gehandelt hat), dieses gehört aber einer Ethik an, die Gleiches mit Gleichem vergelten lässt, 16 in diesem Fall also Gewalt als die angemessene Genugtuung für Gewalt fordert. Dieses ethische Prinzip wird zugleich für das einzig sinnvolle (wenn Sinn “heutzutage” überhaupt möglich ist) erklärt, ohne dass der Sprecher eine Begründung dafür gibt. Mit seinem Infragestellen der “ausgeklügelten Strafen” evoziert er lediglich das kollektive Wissen um die Unwirksamkeit heutiger Methoden der Resozialisierung. Auch in dieser Hinsicht erweist sich also seine Argumentation als ein stereotypengestützter Appell an das Gerechtigkeitsgefühl des Lesers. 14 Die stilistische Unbeholfenheit der Übersetzung entspricht dem Original. 15 Ein Junge sollte sich nach dem Prinzip verantworten, das er sich selbst setzt, was darunter gemeint ist, ist nicht völlig klar, es geht aber sehr stark um eine Aug-um-Aug-Zahn-um-Zahn-Mentalität. 16 Dieses ethische Prinzip stellt ein diskursives Muster dar, das ein Untertyp des Vergleichstopos ist und als Topos der Gleichheit bezeichnet werden kann. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 315 Das letzte Beispiel stammt aus dem populärwissenschaftlichen Diskurs in Deutschland und zeigt auf, dass die Konstruktion eines Fremdbildes nicht nur im politischen Diskurs mit der Selbstpräsentation einhergeht. In einem Zeitungsfeuilleton der “Tagespost” äußert sich die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christa Meves zu dem von Roland Koch in dem zitierten “Bild”-Interview ausgelösten politischen Streit um den richtigen Umgang mit jungen Gewalttätern wie folgt: Die Unsicherheit auf unseren Straßen wird von Jahr zu Jahr zunehmen. Das ließ sich aufgrund psychotherapeutischen Fachwissens bereits vor Jahrzehnten als Folge unseres vertechnisierten Lebens voraussagen, und das wurde durch die unzureichende Integration der Migranten mächtig verstärkt. Lieblose und gewalttätige Härte in der Erziehung bewirken das (Die Tagespost, 15. 01. 2008). Indem die Autorin das Phänomen der zunehmenden Gewalt bei Jugendlichen als von psychotherapeutischem Fachwissen schon lange vorhergesehen bezeichnet, stellt sie sich als kompetente, weitsichtige Expertin dar. Ihre Selbstpräsentation durch die interne Attribuierung geht mit der externen Attribuierung des kriminellen Verhaltens bei der Konstruktion des Bildes jugendlicher Täter einher. Christa Meves wertet somit die Täter nicht ab, sondern erklärt ihr Verhalten als gesamtgesellschaftliches Problem. Es sind die lieblose und die gewalttätige Erziehung, die Meves in starkem Maße mit MigrantInnen verknüpft, und nicht die Jugendlichen selbst, die für die Jugendgewalt verantwortlich gemacht werden. Damit nimmt Meves Partei für die Jugendlichen und grenzt sich deutlich von dem hessischen Ministerpräsidenten ab. 17 Interessant fällt dabei die gemeinschaftsstiftende Funktion dieser Äußerung aus: In das Personalpronomen unser sind - besonders deutlich bei dessen zweiter Verwendung - die Jugendlichen mit einbezogen. 4 Schlussbemerkungen Die exemplarischen Analysen berechtigen nicht dazu, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen, ermöglichen aber die Aufstellung von Arbeitshypothesen, die in weiteren quantitativ ausgerichteten Untersuchungen überprüft werden sollen. In den angeführten Interviews mit Politikern dient das Ausdrücken der eigenen Einstellung zur Jugendkriminalität hauptsächlich der Selbstpräsentation des Sprechers, darunter auch einer Markierung seiner politischen Position. Während aber im deutschen Beispiel das präsentierte Selbstbild kontrastierend zum Fremdbild der politischen Gegner entworfen wird und der Sprecher die eigene Position mit Hilfe des Topos der Zivilcourage als die richtige (die “gerechte”) angibt, legitimiert der Sprecher im parallelen polnischen Beispiel die eigene Position durch ein mitleiderregendes Bild der Straftäter. Das Fremdbild ist also in diesem Fall nicht dasjenige der politischen Gegner, trotzdem ist die ideologische Zugehörigkeit des Sprechers leicht zu identifizieren und von den ideologischen (vor allem konservativen) Gegenpositionen klar zu unterscheiden. 17 Die Äußerung Meves’ steht in einem deutlichen intertextuellen Zusammenhang mit dem berühmten Interview Kochs. Der Zusammenhang kommt nicht nur in der Thematik zum Ausdruck, sondern auch in der direkten Aufnahme des von Koch in den Vordergrund gestellten Sicherheitsgedankens im ersten Satz des oben angeführten Beispiels. 316 Urszula Topczewska (Warschau) Die angeführten Internetbeiträge sind zwar demselben Argumentationstypus (Verwendung interner Attribuierung unter Berufung auf eine ethische Ordnung) zuzurechnen, weisen aber auch markante Unterschiede in Bezug auf die Art und Weise der Darbietung dieser Argumentation auf: Dieselbe Forderung nach einer gerechten Strafe für die jugendlichen Kriminellen wird im deutschen Beispiel mit ironischer Ablehnung jeglicher Rechtfertigung der letzteren untermauert. Im polnischen Beispiel wird diese Ablehnung dagegen direkt und beinahe aggressiv ausgedrückt, wodurch diese Äußerung - trotz der rational wirkenden Argumentation - stark emotionsgeladen wirkt. Das zuletzt angeführte Beispiel für eine wissenschaftlich begründete Argumentation über das Problem der Jugendkriminalität erreicht ihre meinungsbildende Funktion dadurch, dass versucht wird, das stereotype Fremdbild, also das gängige negative Bild von Kriminellen, zu überwinden. Auch die gegebenenfalls festzustellende Selbstpräsentation ist dieser Funktion untergeordnet. Insofern sind die beiden Äußerungen ideologisch neutral, auch wenn ihre Verwertung zu ideologischen Zwecken in anderen, nicht-wissenschaftlichen Kontexten prinzipiell kaum auszuschließen ist. Die analysierten deutschen und polnischen Beispiele könnten in Bezug auf ihre Funktionalisierung zwei Untertypen des Diskurses über Jugendkriminalität zugerechnet werden, die ich Entlastungsdiskurs und Gerechtigkeitsdiskurs nennen würde. 18 Der erste geht in rhetorisch unmarkierten Fällen mit einer externen Attribuierung des problematischen Verhaltens und gegebenenfalls mit einem latenten Versuch moralischer Aufwertung der Täter einher (im Kwaśniewski- und im Meves-Zitat). Die Argumentation geht in diesen Fällen über die stereotype Schuldzuweisung hinaus, und die Jugendkriminalität wird als ein soziales Problem 19 dargestellt. Durch eine ironische bis sarkastische Verarbeitung dieser Argumentationsstrategie kann aber auch das Gegenteil, das heißt die moralische Verurteilung der jugendlichen Täter erreicht werden (siehe den deutschen Internetbeitrag), was schon zu den charakteristischen Zügen des Gerechtigkeitsdiskurses gehört. Dieser bedient sich in rhetorisch unmarkierten Fällen der internen Attribuierung in Bezug auf das problematische Verhalten und übernimmt im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte über Jugendkriminalität die Funktion der stereotypen Darstellung der Täter (siehe das Koch- Interview und den polnischen Internetbeitrag). Die oben analysierten sozialen Funktionen haben sich als sinngebende Größen erwiesen. Das Wissen um diese Funktionen kann zum verstehensrelevanten Wissen gerechnet werden und soll nicht bloß als persuasive Wirkung von Äußerungen abgetan werden. Die Funktionen betreffen nicht die “Oberfläche”, sondern die “Tiefenstruktur” der Diskurssemantik, und da sie nicht zur expliziten Bedeutung des jeweiligen Textes gehören, müssen sie mit der hermeneutischen Methode ermittelt werden. Die Textinterpretation als Methode der Diskurslinguistik ist insofern der korpuslinguistischen Methode vorzuziehen, als “the corpus-based analysis tends to focus on what has been explicitly written, rather than 18 Die Kategorie des Schulddiskurses (Czyżewski 2005) würde hier zu kurz greifen, denn es geht nicht um einen Appell an die Moralität der jugendlichen Gewalttäter, sondern um einen Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der Öffentlichkeit. Somit entfällt beim Gerechtigkeitsdiskurs der gegenüber dem Schulddiskurs erhobene Moralismus-Vorwurf (cf. ibid.: 244) sowie die von Czyżewski festgestellte Paradoxie, dass die Gewalttäter zwar moralisch verurteilt werden, aber zugleich “als Adressaten der universalen Moral durchaus anerkannt und eben dadurch zur Verantwortung gezogen” werden (ibid.). 19 Diese Argumentation stellt allerdings auch eine stereotype, “quasi-soziologische” Erklärung der Jugendkriminalität dar. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 317 what could have been written but was not, or what is implied, inferred, insinuated or latently hinted at” (Baker et al. 2008: 296). Es steht noch aus, das sinnkonstituierende Potential der ermittelten diskursiven Bedeutungen systematisch zu erfassen. Sie könnten möglicherweise als perlokutionäre Bedeutungen - parallel zu illokutionären Bedeutungen bei Austins (cf. Austin 2 1979: 117) - eingestuft werden. Abschließend ist anzumerken, dass eine Meinungsäußerung in den meisten Fällen prinzipiell auf das Erreichen einer (zumindest partiellen) Zustimmung abzielt. Sie grenzt dabei die eigenen Anhänger von den Andersdenkenden ab. Die medienvermittelte Kommunikation muss insofern nicht zwingend als Manipulation und Propaganda angesehen werden, sondern kann ebenso gut - ganz im Sinne der antiken rhetorischen Tradition - als Mittel zum Ausdruck des Selbst- und Fremdverständnisses gelten, zumal ihre sozialen Funktionen keine eindeutige Korrelation mit dem jeweils verfolgten Kommunikationszweck aufweisen. 20 Bibliographie Austin, John L. 2 1979: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam Baker, Paul, Gabrielatos Costas, Majid Khosravinik, Michal Krzyżanowski, Tony McEnery & Ruth Wodak 2008: “A useful methodological synergy? Combining Critical Discourse Analysis and Corpus Linguistics to examine Discourses of Refugees and Asylum Seekers in the UK Press”, in: Discourse & Society 19: 273-306. Berger, Peter L. & Thomas Luckmann 1966: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City, NY: Anchor Books Brinker, Klaus 5 2001: Linguistische Textanalyse. 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Im politischen Diskurs geht sie in komplementärer Weise mit der Funktion der Selbstpräsentation einher. Die gemeinschaftsstiftende Funktion kommt besonders deutlich im Kontext des Wahlkampfs zum Ausdruck, erscheint aber auch in den anderen Kontexten. 318 Urszula Topczewska (Warschau) Meibauer, Jörg 2 2001: Pragmatik. Eine Einführung, Tübingen: Stauffenburg Mickisch, Christian 1996: Die Gnade im Rechtsstaat. Grundlinien einer rechtsdogmatischen, staatsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Neukonzeption, Frankfurt am Main etc: Peter Lang Quasthoff, Uta M. 1995: “Ethnischer Diskurs und Argumentation”, in: Marek Czyżewski, Elisabeth Gülich, Heiko Hausendorf & Mary Kastner (eds.) 1995: Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. 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