eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
383-4

Versehren, Verschandeln und Bekritzeln

2015
Hiloko Kato
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Versehren, Verschandeln und Bekritzeln Tabu(brüche) an den Rändern von Texten Hiloko Kato (Zürich) The use of books requires a certain degree of intactness and integrity, despite unavoidable traces left behind by readers. This article is intended to show how the precarious momentum of damages manifests itself as a taboo at the material edges of texts. The focus therefore is not on the written, on the “main” text, but on the parts of a text, which are also perceived while reading, parts which so far have been mainly neglected by linguistics. Thus, by taking a close look at disfigured, damaged or scribbled margins of texts, the awareness for the fundamental potential of such marginal phenomena - which are neglected whenever we read - is sharpened. 1 Einleitung Über den “ehrlich ergriffene[n] Leser” sagt Max Brod in seinem Essay Umgang mit Büchern, dass sie [l]esen - mit dem Bleistift in der Hand; Stellen anstreichen, die einem ins Auge und Hirn leuchten, als lang gesuchte, endlich gefundene Erkenntnisse; den Seitenrand mit Rufezeichen, Fragezeichen, Anmerkungen verzieren, wiewohl das Aussehen des Buches davon gewiß nicht schöner wird. (Brod 2014: 329) Ein solcher Umgang biete die Möglichkeit, die beim stillen Lesen aufgeregte Aktivität zum Entladen zu bringen. Einzig, so Brod, bei Goethes Spruch- und Aphorismenwerk lasse sich der Bleistift beiseitelegen, da sonst alles angestrichen werden müsse. Verzieren von Seitenrändern, Anstreichen von einleuchtenden Stellen - Brods Wortwahl, die er hier und in der folgenden Passage zum Beschreiben einer Lesetätigkeit verwendet, die nicht nur zum Blättern Hand anlegt, sondern sogar das Hinzuziehen von versehrenden Werkzeugen nicht scheut, ist eine ungemein euphemistische. Sie verrät von Anfang an das Wissen um diesen ungewohnten Umgang mit Büchern und auch die weiteren erklärenden Beobachtungen führen den Gegensatz zwischen dieser “Unart” und den üblicherweise geforderten Lektüretätigkeiten vor Augen (Brod 2014: 329 ff.): (über-)eifrige Leseaktivität versus Passivität als Ärgernis; “Sitte oder Unsitte”; Verzieren versus Ruinieren; Versöhnen versus Verabscheuen. Bücher demnach nicht zu “‘schonen’, um es unter allen Umständen fein und rein [zu] bewahren” (Brod 2014: 331), dafür gibt es für Brod gute Gründe. Sein Essay liest sich als ein Plädoyer für die Aufforderung zu einem Handlungsverbot, für einen Bruch mit einem - im Vergleich mit anderen zugegebenermaßen harmloseren, aber dennoch - veritablen Tabu. Der vorliegende Beitrag nimmt sich dieses Tabus an und fokussiert zugleich auf die Tabubrüche, die an den Rändern von Buchseiten geschehen. 1 Diese Seitenränder sind als Phänomene zu oft aus dem Fokus des Lesers, auch des wissenschaftlichen, geraten oder sogar - etwas überspitzt formuliert selbst ein Tabu - mit Absicht ausgeblendet worden. Dies wohl aus dem Grund, dass sie (zumeist) trivialerweise leer sind, weiße Flächen um die Schriftfläche herum, zwar ‘da’, aber nicht weiter beachtenswert und marginal. Mit dem Aufkommen des Interesses an Materialität sind die Schriftfläche wie auch der Textträger zu neuen Ehren gekommen. 2 Es soll hier aber dezidiert nicht um die “Arbeit an der Materialität” gehen, die “ganz buchstäblich als kratzende, radierende und ausstreichende Behandlung der Schrift, der Buchstaben, der einzelnen Wörter und ganzer Texte” verstanden wird (Körte 2012: 18). Denn der Textrand - damit ist der Seitenrand, aber auch weitere Ränder eines Buchs gemeint - stand bislang (zu) selten im Fokus, ob in der Literaturwissenschaft oder in der Textlinguistik. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, dass für sein grundlegendes Verständnis ein interdisziplinärer Zugang erforderlich ist und neben einem textsemiotischen Ansatz auch buch- und medienwissenschaftliche Zugänge - etwa was seine bis zu den Praktiken der Schriftrolle zurückreichende Genese betrifft - gefragt sind (Teil 2 “An den Ränder von Texten”). Eingehende Beschäftigungen spezifisch mit dem Seitenrand sind nur punktuell zu verzeichnen. Ein Fall, die Untersuchung von Michael Camille zu Kritzeleien an Texträndern von gotischen Handschriften (Camille 1994), behandelt aber u. a. dezidiert Tabubrüche. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie Tabus historischen Vorstellungen unterliegen und sich im Lauf der Zeit vervielfältigen können (Teil 3 “Verschandeln”): Das rigorose Wegschneiden wurde gerade bei mittelalterlichen Codices durch frühneuzeitliche Sammler und Buchbinder praktiziert; später dann diese Praxis, die vom fehlenden Verständnis für die Randphänomene zeugt, wiederum verdammt. Heute begeistern ausgerechnet (reale) Bücher, die in verschiedenen Variationen das versehrende Moment insbesondere von Texträndern wieder ins Spiel bringen; sei es als konsequentes Mitmach-Buch (Teil 4 “Versehren”) oder als literarischer Bestseller, der die heute zur Verfügung stehenden drucktechnischen Möglichkeiten gänzlich ausreizt (Teil 5 “Bekritzeln”). Dies sicherlich vor dem Hintergrund der Neuen Medien, die die ursprüngliche Materialität so raffiniert ins Digitale zu kopieren und zu simulieren wissen, aber in Sachen Ränder der Texte ihren echten Pendants doch in Manchem nachstehen (Teil 6 “Und digital? Fazit”). 1 Nicht thematisiert werden hier bewusst weder die gänzliche physische Auslöschung eines Buchs, etwa in Form der Bücherverbrennung, noch das Feld der literarischen Umsetzungen. Vgl. dazu Körte & Ortlieb 2007 und Körte 2012. 2 Die Gründe liegen auch im Aufkommen der neuen Medien mit ihrer Bildlastigkeit und digitalen Raffinessen. Laut Stefan Münker habe sich seit der Mitte der neunziger Jahre ein “vor allem durch den medialen Umbruch der Digitalisierung initiierte[r] steigende[r] Reflexionsbedarf in nahezu allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen bemerkbar” gemacht (Münker 2009: 13). Nennenswert sind besonders die im Zuge dessen wiedergelesenen Klassiker wie Gumbrecht/ Pfeiffer 1988, Raible 1991, Gross 1994, Wehde 2000. 280 Hiloko Kato (Zürich) 2 An den Ränder von Texten Der Umgang mit Texten, wie er lange Zeit vorherrschte, fokussierte ganz auf dessen Inhalt: Für sein Verständnis hatte man durch das materiell Vorhandene und vornehmlich visuell Wahrnehmbare regelrecht hindurch zu blicken. Das Vordringen zu diesem Sinn - womit wohl im de Saussureschen Sinn das Primat der gesprochenen Sprache gemeint war - ließ nicht selten sogar die Schrift hinter sich. 3 Ausgerechnet die Textlinguistik beginnt trotz der anfänglich in äußerst pragmatischer Weise propagierten ganzheitlichen Vorgehensweise (Hartmann 1964, 1966, 1971) transphrastisch, inmitten zweier Sätze. Sogar das Dazugehören des Titel zum “eigentlichen Text” wurde angezweifelt (Harweg 1968: 164 und 156 f.), 4 wobei die Verneinung dessen konsequenterweise weitere Folgefragen nach sich zog: Daß der Satz ›Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer‹ Indikatoren enthielte, die auf den Beginn eines längeren epischen Textes schließen ließen, kann strukturell oder textlinguistisch nicht bewiesen werden. [. . .] Aber ist eine solche ›erste Zeile‹ der Textanfang? Setzt dort der Leser eines Buches ein? Wirft er nicht zunächst einen Blick auf Buchrücken, Buchdeckel, Titelblatt, Erscheinungsjahr und Copyright, vielleicht auf Verlagshinweis und Widmung und editorische Vorbemerkung, oder auf Inhaltsverzeichnis und Danksagung und Einleitung des Autors? (Hess-Lüttich 1981: 332) Seit einigen Jahren hat sich die Herangehensweise an Texte auf eine pragmatische Weise gewandelt, die als ‘lebensecht’ beschrieben werden kann. Nicht nur werden “nicht-sprachliche Faktoren” berücksichtigt (Fix 2008), sondern auch bei der Analyse die Reihenfolge des Untersuchten so eingehalten, dass sie einer tatsächlichen, sozusagen ‘natürlichen-alltäglichen’ Herangehensweise an Texte entspricht: So nimmt man zunächst seine Ganzheit und Begrenzbarkeit wahr, analysiert das Augenfälligste zuerst (z. B. die Bildseite einer Postkarte) und setzt anschließend die unterschiedlichen Merkmale in einen Zusammenhang, der die Ganzheit eines Texts weitgehend berücksichtigt und mono-funktionelle Aussagen meidet (Hausendorf & Kesselheim 2008). Zu einer solchen Herangehensweise gehören, auch wenn ihre Wahrnehmung und umso mehr ihre Beschreibung trivial klingen mögen, die Ränder eines Textes. In vielen Fällen scheinen sie tatsächlich nicht der Rede wert, sind aufgrund der Tatsache, dass Schrift immer einen Textträger benötigt - und sei es ein Baumstamm, eine Häuserwand oder ganz prototypisch ein Blatt Papier - zwangsläufig ‘da’. Manchmal aber werden Ränder ihrer Unscheinbarkeit entrissen, werden zum Schauplatz subversiver Bemerkungen und Gedankenspiele. Diese besonderen Fälle, kommen sie auch noch so selten vor, sind kleine Ereignisse, die den sonst so uniformen Texten mitsamt den, an diese Unauffälligkeit gewohnten Lesern den Spiegel vorhalten, um daran zu erinnern, dass hier Potentiale schlummern. 5 Georges Perec führt dies in Espèces d’espaces vor, wenn er seine Tätigkeit als Schriftsteller beschreibt: “J’écris: j’habite ma feuille de papier ” (Perec 1974: 19). 3 Vgl. etwa Krämer 2003. 4 Später revidierte Harweg freilich seine Meinung, vgl. Harweg (1983: 79). Interessant auch, in welchem Zusammenhang besonders vom “eigentlichen Text” oder “main text” gesprochen wird, nämlich häufig dann, wenn es um Fußnoten oder Anmerkungen am Rand geht, vgl. Grafton (1995 113, 154, 166), Tribble (1997: 263). 5 Technologiegiganten haben bereits erkannt, dass ein innovativer Umgang mit Geräterändern verkaufsförderlich sein kann (vgl. Samsung Galaxy S6 Edge, Galaxy Note Edge), und auch der User scheint sich regelrecht nach Veränderungen in diese Richtung zu sehnen, wenn Bilder möglicher Prototypen des nächsten iPhones auffällig oft keinen Gehäuserand mehr aufweisen. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 281 Wenn er eine neue Zeile beginnt, Zwischenräume auslässt und tatsächlich “dans la marge ” schreibt, um dies gleichzeitig auch sichtbar zu tun, erhalten seine Worte maximalen Wahrheitswert und verwandeln den Schreibprozess in einen echten performativen Akt. Gleichzeitig nützt Perec die Räumlichkeit, die eine Buchseite durch das Schreiben annehmen kann und erschafft Ränder. Dies, weil es der Vorgang nicht anders zulässt (“j’investis, je la parcours”) oder gerade aufgrund einer Verflechtung dessen, was einerseits Material (das Blatt Papier) und andererseits Konventionen (man lässt einen Rand frei) zulassen. Diesen Automatismus, der durch Perecs Text so simpel wie präzise entlarvt wird, gilt es für einen Augenblick abzuschalten, möchte man das Funktionieren von Texten und ihre Rezeption genauer verstehen. 6 Was in unserem spezifischen Fall lautet: Das Funktionieren von Tabus an den Rändern von Texten. Die codexikalische Form des heutigen Buchs besitzt zahlreiche Ränder: Die Seitenränder, um die es im Folgenden hauptsächlich gehen wird. Aber auch Titelblätter mit Vorsatzseiten, Motti, Widmungen am Beginn. “The End” und Leseproben, Werbeanzeigen oder leere Seiten am Ende der belletristischen Lektüre. Bei Sachbüchern Inhaltsverzeichnis und Glossar als rahmende Orientierungshilfen. Und noch weiter gegen Außen: Einband mit Deckeln und einem Buchrücken, eventuell Umschläge mit oder ohne Klappen, die leicht übersehbaren Unter- und Oberschnitte. Viele dieser Ränder hat Genette als Peritexte ausführlich beschrieben und mit einem bunten Beispielfächer eindrücklich gezeigt, wie trotz gewisser Uniformitäten die Möglichkeiten der Ausführungen ungemein vielfältig sind (Genette 1989). Andere sind insbesondere durch buchkundliche Publikationen beschrieben worden. So hat etwa ein Erlanger Forschungsprojekt, geleitet von Ursula Rautenberg, die “Entstehung und Entwicklung von Buchtitelseiten in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig” untersucht (Rautenberg 2008). Was heute als selbstverständlicher vorderer Peritext rasch überblättert wird, 7 ist eine aufgrund der Massenproduktion notwendig gewordene Erfindung der Buchdruckzeit. Trotz dieses Vervielfältigungsaspekts blieb das Buch noch längere Zeit ein individueller Gegenstand, da er zumeist ungebunden gekauft und erst vom Besitzer seine ganzheitliche Gestalt erhielt, bis Mitte des 19. Jahrhunderts die seriell hergestellten Verlegereinbände in Erscheinung traten. Zu Einbänden existieren einschlägige Überblicksdarstellungen, allen voran Mazals Einbandkunde (1997), und auch zu Umschlägen gibt es verschiedene Publikationen, die sich entweder überblicksartig mit der Thematik befassen (z. B. Buchumschläge des 20. Jahrhunderts) oder sich einzelnen Grafikern und ihren Werken (z. B. Georg Salter) widmen. Und sogar zu Schnitttiteln und -verzierungen, die heute kaum mehr vorkommen, findet sich eine detaillierte Untersuchung, die zum Schluss kommt: “Fast nur noch bei bibliophilen Handeinbänden werden die Schnitte in die Buchgestaltung einbezogen” (Goerke 2001: 3). All diese Untersuchungen zu unterschiedlichen Buchrändern sind aber tatsächlich nicht Lesestoff allein für Bibliophile, sondern führen ganz grundlegend vor Augen, wie eingeschliffen der Umgang mit Büchern in der Alltagspraxis ist, so dass zahlreiche Eigenheiten nicht mehr wahrnehmbar sind. Wenn Medien dazu tendieren, hinter dem Vermittelten zu 6 Nicht selten geht es sogar um das Nichtfunktionieren von Texten, etwa wenn das Lesen am Bildschirm zu Orientierungslosigkeit und schlechter Memorierbarkeit führt. Hier sind nichtveränderbare, haptisch fühlbare Texte deutlich im Vorteil. Vgl. Carr 2010. 7 Bei e-Books werden die vorderen Titelblätter oftmals automatisch übersprungen. 282 Hiloko Kato (Zürich) verschwinden, 8 so trifft dies bei den Rändern von Büchern in besonderer Weise zu. Man kann sogar davon ausgehen, dass in jahrhundertelanger Entwicklung alles dafür getan wurde, um die perfekten, d. h. maximal nützlichen, gleichzeitig aber möglichst unauffälligen Textränder zu schaffen. Somit haben sie beinahe unbemerkt dazu beigetragen, das Buch als optimal langlebiges, handhabbares und “lokomobiles” (Ehlich 1994: 30) Leseobjekt zu etablieren. Was die Seitenränder angeht, liegt ihr Ursprung in den leergelassenen Rändern der Schriftrollen. Zum einen dienten diese Ränder, indem sie Raum zu der oberen und zu der unteren Kante ließen, dem Schutz vor Abrieb - Martial spricht von “toga barbatos faciat” 9 und vor Beschädigung des Beschriebenen, insbesondere wenn die Bücher der Antike zur Lektüre aufgerollt waren. Zum anderen halfen die Leerräume zwischen den Kolonnen für bessere Übersicht und Lesbarkeit. Solch genügend breite Ränder zwischen den Kolumnen wie auch zum oberen und unteren Rand galten sogar als Qualitätsmerkmal (Blanck 1992: 76). Beim Übergang zur codexikalischen Form blieben diese Ränder - gegen alle Seiten - als Rahmung erhalten, in Weiterführung von bekannten und altbewährten Mustern. Der Schutzfaktor, der bei einem gebundenen Buch weniger notwendig scheint als bei einer Schriftrolle, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, wenn davon auszugehen ist, dass die früheste Form von Büchern in Codexform kaum gebunden waren. 10 Die Ränder boten zudem idealen Platz für Anmerkungen aller Art. Mit der Zeit gewann der leere Raum am Rand an Bedeutung und wandelte sich sogar zu einem wahren Prestigemerkmal, was nicht nur allein dem vorwiegend geistlichen Inhalt zuzuschreiben ist: Denn der ‘verschwendete’ Platz machte nicht nur die Wichtigkeit der wenigen, durch die Rahmung herausgestellten Schrift deutlich, sondern war zugleich auch eine Zurschaustellung der für den teuren Beschreibstoff aufgewendeten Mittel. In diesen Fällen trat demnach die übliche Mechanik “die Buchstaben als Vordergrund und die sie umgebende Fläche als Hintergrund zu sehen” (Giertler & Köppel 2012: 8) insoweit außer Kraft, als die rahmende Leere bedeutsam wurde und dem Stellenwert des Geschriebenen zusätzliches Gewicht verleihen konnte. Studien zum Buchdruck und zur Typographie haben dieses habituelle (Nicht-)Wahrnehmen von einer anderen, technischen Seite beleuchtet und das Augenmerk insbesondere auf Lücken zwischen den Wörtern und Zeilen gelenkt: Sie ist, auch für größere Zwischenräume, nicht einfach Leere, sondern ein mit Blindmaterial - dem so genannten Fleisch (Rautenberg 2003: 496; Hiller & Füssel 2006: 125) - gefüllter, “optisch neutralisiert[er]” Leerraum (Fries 2009: 167). 11 Seitenränder hingegen bilden in diesem Zusammenhang eine “Ausnahme”, da sie “außerhalb des Druckstockes liegen” (Giertler & Köppel 2012: 8). Im Lektürealltag freilich ist es aber schwieriger, die Zwischenräume gesondert von den Rändern wahrzunehmen; vielmehr erscheint dem Leser etwa eine Buchseite als eine Fläche aus Schriftbuchstaben auf einem darunterliegenden, ganzflächigweißen Textträger. Dies mag der Grund sein, dass Seitenränder als solche in der Philologie bislang wenig Beachtung gefunden haben. Sie stehen immer dann im Fokus, wenn sie auf irgendeine Weise beschriftet werden. In der Mehrheit befassen sich einschlägige Arbeiten mit Anmerkungen 8 Vgl. hierzu Mersch 2002 und Krämer 1998. 9 Martial Epigramm 14, 84; auch Blanck (1992: 72). 10 Vgl. die Diskussion bei Roberts & Skeat 1983. 11 Ein Beispiel für positiv gedrucktes Blindmaterial findet sich etwa bei Wehde (2000: 105). Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 283 und Fußnoten. 12 Dabei ist dem Untersuchungsgegenstand - ob Glossen oder Kommentare in mittelalterlichen Handschriften, Marginalia in neuzeitlichen Drucken oder Randbemerkungen in der postmodernen Literatur - gemeinsam, dass sein Schriftbild identisch zum Fließtext, also entweder ebenso handschriftlich oder ebenso gedruckt vorliegt. Damit wird jedoch die Möglichkeit, Tabus an den Rändern von Buchseiten zu beobachten, zwangsläufig ausgeblendet, sind es doch genau die Kombination bzw. Gegenüberstellung verschiedener Schriftmodi und sogar Zeichentypen, die sie in ihrer Eigenschaft ausmachen: Handschriftliches im Gedruckten oder Bilder in Handschriften. Genaugenommen ist diese Kombination zu präzisieren, insofern zum einen der Status des Schreibers eine wichtige Rolle spielt - Anmerkungen bekannter Denker oder vom Autor selbst werden sogar geschätzt -, 13 und zum anderen die Art und Weise des Gemalten. 3 Verschandeln In seiner Studie Image on the Edge befasst sich Michael Camille nicht nur mit Rändern, sondern auch mit tabuisierten, provokativen Malereien, die sich darin befinden. Er legt dar, wie diese Affen, Monster und Karikaturen an den Rändern sehr wohl in Beziehung zu setzen sind mit dem Werkinhalt, den sie umranden. Dabei sind sie nicht nur aufgrund dessen, was sie darstellen, leicht misszuverstehen, sondern auch deswegen, weil sie losgelöst vom Kontext an den Rändern zu flotieren scheinen. Um nicht den Eindruck einer rein zufälligen Positionierung zu erhalten, ist vom Leser die Fähigkeit gefordert, eine Folioseite als Ganzes wahrzunehmen - eine Perspektive, die für die Nutzung der Ränder von zentraler Bedeutung ist. Camille verortet diese neue Form der Wahrnehmung im Wechsel der Art und Weise des Lesens von laut zu leise: “this extra-textual space only developed into a site of artistic elaboration as the idea of the text as written document superseded the idea of the text as a cue for speech” (Camille 1992: 18). 14 Die Ursprünge der Bilder an den Rändern sieht Camille in den schriftlichen Erklärungen und Anmerkungen, die in einem ersten Schritt aufgrund ihrer expandierten Informationsfülle nicht mehr, wie im Fall von übersetzenden Glossen, interlinear gesetzt wurden. Damit verlagerten sie sich an die Ränder und fingen an, aus ihrer neuen Position nunmehr mit einem ganzheitlichen Text zu interagieren, “text that has come to be seen as fixed and finalized” (Camille 1992: 20). Gleichzeitig begannen sie ihn zu interpretieren. An diese schriftlichen Auswüchse an den Rändern hefteten sich allmählich auch bildliche Elemente. Schrift und Bild verbanden sich auf diese Weise zu gemeinsamen Aussagen, konnten aber auch divergierende Meinungen offenbaren. Ein Beispiel für das gemeinsame Zusammen- 12 Allgemeiner Überblick zu Anmerkungen bei Kästner 1984. Zu Fußnoten als vermeintlich aussterbende Spezies vgl. Hilbert 1989. Zu den Ursprüngen der Fußnote und ihre Wissenschaftlichkeit Grafton 1995 und Eckstein 2001. Zum Einfluss unterschiedlicher Kommentierarten auf die Entwicklung der handschriftlichen Buchgestaltung vgl. Parkes 1976. Wegbereiter der Postmoderne auch in Sachen Randbemerkungen sind natürlich Sternes Tristram Shandy und Joyces Finnegans Wake, vgl. dazu Benstock 1983. 13 Vgl. Neefs 1997 oder Eco & Carrière (2010: 101). Brod nennt den Fall, dass Schopenhauers Bemerkungen in seinen Exemplaren von Fichte oder Platon “in Grisebachs vierbändiger Nachlaß-Edition [. . .] säuberlich gedruckt” sind, “so versöhnt das wohl mit der Gepflogenheit, die der Bibliophile verabscheut”, Brod (2014, 331). 14 Vgl. hier natürlich Saenger 1997. 284 Hiloko Kato (Zürich) spannen sind etwa Textkorrekturen, wie sie in einem Stundenbuch des späten 13. Jahrhunderts zu finden sind: Die vergessen gegangenen Werkpassagen, die am unteren Rand hinzugefügt wurden, hievt ein hinzu gemalter Bauarbeiter mit Hilfe eines Seils an die richtige Stelle. 15 Während diese Formen der bildlichen Hinzufügung noch in offensichtlichem Zusammenhang mit dem Werkinhalt stehen, kommen auch zahlreichen Illustrationen vor, die in einem doppelten Sinn ‘randständig’ sind. Die Zeichnungen von entblößten (männlichen) Hintern, von sexuell konnotierten Metaphern (wie das Halten eines Eichhörnchens) oder sogar von Zurschaustellungen einiger Stuhlgänge können, wie Camille zeigt, keineswegs als willkürliche perverse Kritzeleien frecher Illustratoren abgetan werden. Sie zeugen aufgrund ihrer visuellen Tabubrüche viel mehr von den Möglichkeiten, das geschriebene Wort zu untergraben und auf subversive, zugegebenermaßen auch sehr derbe Weise, zu kommentieren. Auf der Rectoseite von Folio 124 der von Petrus de Raimbeaucourt illuminierten Missale von 1323 findet sich ein besonders reiches Beispiel, in dem am unteren Rand der Seite sich mehrere Affen über einen Schreiber lustig machen (Abb. 1). 16 Nicht genug, dass sie ihn nachäffen und Schreibwerkzeuge missbrauchen - ein Affe streckt ihm sogar den Hintern entgegen. Der Grund für diese derben Scherze ist offensichtlich eine unglückliche Trennschreibung des Wortes “culpa” im Gebetstext: “thus it reads Liber est a cul - the book is to the bum! ” (Camille 1992: 26). Was Camille nicht weiter ausführt, ist die Nachvollziehbarkeit zwischen schriftlichem Missgeschick und dessen bildlicher Verspottung, die der Illuminator raffiniert auf doppelte Weise herstellt: Nicht nur weist der hinter dem sitzenden Schreiber stehende Affe mit einer Zeigegeste in Richtung der verunglückten Stelle mit der Silbe cul, es wächst am rechten Rand sogar ein Rankwerk empor, auf dessen Spitze ein Vogel platziert ist, gerade auf der gleichen Höhe zur betreffenden Zeile. Damit kann dem Leser der Zusammenhang kaum entgehen. Auf solch versinnbildlichte Weise bringt sich der Illuminator, 17 der zwar bei der Tradierung heiliger Worte an letzter Stelle steht, als scharfer und unbarmherzig offenlegender Beobachter ein. Die wilde und ungeordnete Usurpation der Ränder in der gotischen Buchmalerei geschieht ganz bewusst, jedoch immer im Bewusstsein, dass der Werktext - “the always already written Word” (Camille 1992: 22) - vorgegeben und in seiner Existenz, Lesart und Rezeption unumstößlich ist. Gerade deshalb können die Freiheiten, die sich der Illustrator mitunter nimmt, überhaupt so schamlos und unanständig sein, untergraben sie doch die Autorität des Werks, sei es geistlicher oder weltlicher Natur, in keinster Weise. Gewisse Perversionen, etwa der nackte Po-Zeiger mit dem Gesicht Jesu, scheinen nur insofern akzeptabel, als sie keine echte Alternative repräsentieren (Camille 1992: 43). Trotz der Provokationen wird also nicht grundlegend an gegebenen gesellschaftlichen Normen gerüttelt, und genauso wenig führen moderne Deutungen zum Ziel: Stuhlgänge sind nicht 15 Das Beispiel lässt sich online einsehen: <http: / / www.thedigitalwalters.org/ Data/ WaltersManuscripts/ W102/ data/ W.102/ sap/ W102_000070_sap.jpg> [31. 10. 2016]. Ein Beispiel für die Offenlegung gegenteiliger Meinungen liefert Camille anhand der Figur Augustins, der in den Psalm-Kommentaren von Peter Lombardus’ Glossa Ordinaria am Rand hinzugemalt wurde: Bewaffnet mit einer Lanze, mit der er auf die kritisierte Werkstelle hinweist, wehrt sich der Kirchenvater gegen ein Zitat, das fälschlicherweise ihm zugeordnet worden ist - “non ego” steht auf einer Schriftrolle, das er akrobatisch mit der anderen Hand entfaltet, vgl. Camille (1992: 21). 16 Abbildung mit freundlicher Genehmigung durch die Koninklijke Bibliotheek, Den Haag. 17 Interessant in dem Zusammenhang ist das Wortspiel singe - signe, vgl. Camille (1992: 13). Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 285 Abb. 1: Bildlicher Tabubruch am Rand einer gotischen Handschrift. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek [KW 78 D 40]. 286 Hiloko Kato (Zürich) Metaphern für Verfall und Tod, sondern im Gegenteil wird der natürliche Vorgang als kreative Produktion bis hin zur Gleichsetzung von Exkrementen mit Geld betrachtet (Camille 1992: 115). Mit der Zeit jedoch ist in der Entwicklung der Buchmalerei das allmähliche Einfangen der bis dahin relativ frei an den Rändern gesetzten Malereien und kleineren Szenerien zu beobachten. Die Ränder wandeln sich von Orten der spontanen Reflexion zu vorgeplanten, gebundenen und kontrolliert ausufernden Rahmungen: “The marginal scenes are no longer painted upon the bare vellum, hovering between the text and the field, but are given their own circular pockets of space” (Camille 1992: 154). Somit endet nicht nur die Praxis der frivolen wie flotierenden Bilder an den Rändern, indem es immer mehr zu einer strikten Trennung zwischen bildlichen und schriftlichen Elementen auf den Seiten von Büchern kommt. Auch der Seitenrand wandelt sich immer stärker zu einem Gegenpart zur Schriftfläche. Die Auffassung dessen, was Tabubrüche an den Rändern von Texten ausmachen, unterliegt, wie die Beispiele aus Camilles Studie zeigen, stark dem Stellenwert der Ränder bzw. der zu der jeweiligen Zeit vorherrschenden Bedeutungszuschreibung von Rändern. Bei den gotischen Handschriften ist es eine komplexe, durch Aufgabenteilung und Auftragsarbeit geprägte, dennoch ganzheitliche Sicht, welche die Randzonen und das darin ungebunden und unverblümt Befindliche in den Zusammenhang des Gesamttexts einzupassen versteht. Die Nachwelt tat sich mit diesen frivolen Malereien freilich schwer: “The ornamentation of a manuscript must have been regarded as a work having no connection whatever with the character of the book itself ”, dies vor allem, wenn die “margins were made the playground for the antics of monkeys or bears and impossible monsters, or afforded room for caricatures [. . .]” (Thompson 1898, 309 zitiert nach Camille 1992: 31). 18 Auf solche Weise gleichzeitig marginalisiert und tabuisiert, konnte erst eine modisch-postmoderne Herangehensweise die Randphänomene salonfähig machen und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen beginnen. 19 4 Versehren William Blades, ein Zeitgenosse Thompsons, beschreibt in The Enemies of Books in zahlreichen Anekdoten und zuweilen auf satirische Weise die Ängste eines jeden Bibliophilen. Neben Feuer, Wasser, Hitze oder Wurmfraß können auch Menschen Feinde des Buchs sein, sogar solche, die professionell oder aus Passion mit Büchern zu tun haben: Buchbinder und Sammler. Restaurationsarbeiten von Buchbindern waren bis in das 19. Jahrhundert hinein oftmals gleichzusetzen mit der Zerstörung des ursprünglichen Buchformats. Denn ihr Tun beschränkte sich nicht nur auf das Ersetzen originaler Einbände, sondern sie beschnitten auch rigoros die Seitenränder: De Rome, a celebrated bookbinder of the eighteenth century, who was nicknamed by Dibdin “The Great Cropper”, was, although in private life an estimable man, much addicted to the vice of reducing the margins of all books sent to him to bind. So far did he go, that he even spared not a fine copy of Froissart’s Chronicles, on vellum, in which was the autograph of the well-known book-lover, De Thou, but cropped it most cruelly. (Blades 1888: 110) 18 Thompson war erster Direktor und oberster Bibliothekar des British Museum von 1888 bis 1909. 19 Nicht immer können aber postmoderne Ansätze schlüssige Erklärungen liefern, wie Camille zu recht betont. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 287 Erklärungen für dieses Beschneiden kann Blades nicht wirklich angeben. Umso vernichtender ist sein Urteil über gewisse Büchersammler, denn wie ihm ein Bekannter berichtet waren sie es, die jene Praxis verlangten, “so that they might look even on [their] bookshelves” (Blades 1888: 135). Einzig diejenigen Sammler, die über Bücherleichen gehen, werden von Blade noch vernichtender verurteilt. Zu ihnen gehört John Bagford, ein Mitbegründer der renommierten Society of Antiquaries. Dieser zog Anfang des 18. Jahrhunderts durch englische Bibliotheken, “tearing away title pages from rare books of all sizes”, um sie zu einer Sammlung zusammenzustellen, die die Geschichte des Buchdrucks dokumentieren sollte (Blades 1888: 142). Dass Bagford auf seiner Sammelreise sich tatsächlich den Namen eines Biblioklasten verdiente und nicht etwa aus Buchfragmenten die Stücke rettete, sieht Alfred W. Pollard, der sich als einer der Ersten mit Titelblättern auseinandersetzte, als erwiesen an, denn: “He cut the margins of the leaves he preserved, often close round the edge of the text; and the man who would do this, would do anything” (Pollard 1891: 3, Hervorhebungen im Original). Wenn mittelalterliche Handschriften auf diese Weise beschnitten werden konnten, dass das neue Format nur noch halb so groß war wie das ursprüngliche, wie es Blades beschreibt (Blades 1888: 129), müssen die Ränder tatsächlich sehr breit gewesen sein. Und Camille geht davon aus, dass durchaus auch gotische Handschriftenränder davon betroffen waren: “The urge to have clean edges often resulted in medieval manuscripts being cruelly cropped down, a practice typical of the increasing disrespect for everything but the text in subsequent centuries” (Camille 1992: 158). Auch wenn der “Text”, also die Schriftfläche nicht tangiert wird, fällt die Verurteilung und Sanktionierung dieser einschneidenden Tabubrüche an den Texträndern sehr deutlich aus: Die Versehrung der Ränder scheint der Verstümmelung eines Körpers nahe zu kommen und das mutwilliges Versehren von Büchern wird harsch verurteilt und sanktioniert. In der Bewahrung eines ganzheitlich intakten Buchkörpers zeigt sich der Respekt vor Büchern: “[S]eine mangelnde Pflege oder mutwillige Zerstörung hingegen beschwören vielfältige Praktiken der Büchervernichtung von der Antike bis zur Moderne als Ausdruck kulturferner Barbarei” (Körte 2012: 9). Es ist ein Handlungstabu, das bereits früh in der Lesesozialisierung antrainiert wird. Das Kind muss nicht nur lernen, beim Lesen still zu sitzen, 20 sondern auch ein Buch sorgfältig und pfleglich zu behandeln - es ist eben kein Spielzeug. 21 Falls bei einer solch frühen und permanenten Zügelung des Leseverhaltens die Imaginationskraft, was man alles Verbotenes mit einem Buch anstellen kann, verloren geht, schafft Keri Smiths Mach dieses Buch fertig (2013) Abhilfe. Es leitet ganz gezielt dazu an, alles zu vergessen, “was du über den Umgang mit Büchern gelernt hast” und Dinge zu tun, “die dir mehr als fragwürdig erscheinen”. 22 Auf jeder ansonsten leeren Doppelseite finden sich 20 “[Lesen im Allgemeinverständnis] ist in zweifacher Hinsicht körperfeindlich: der Eindämmung der Textmaterialität entspricht eine Ruhigstellung des Leserkörpers” (Gross 1994, 59). 21 Bei Büchern für die Kleinsten ist diese Verbindung von Spielzeug und Buch noch vorhanden: “To appeal to very young children, picturebooks are often disguised as playthings” (Kümmerling-Meibauer 2011: 3). Oder man versucht mit entsprechenden, speichelresistenten Beschreibstoffen wie Karton oder Plastik zu arbeiten. Eine besondere Stellung nehmen Zieh-und-Klapp-Bücher oder Pop-up-Bücher ein, die zwar oftmals für kleine Leser gemacht sind, jedoch besonders anfällig für Versehrungen sind: Die Klappen können abgerissen, die filigranen Konstruktionen aus Papier zerrissen werden. Ein Klassiker der Goldenen Ära dieser Pop-up-Bücher aus dem 19. Jahrhundert von Lothar Meggendorfer lautet denn auch Für brave Kinder. Bei diesen Büchern wird deutlich, wie sich in den Sozialisierungsprozess von Lektüre die Kontrollinstanz des Erwachsenen einschaltet, der nicht nur darüber bestimmt, was gelesen wird, sondern auch wie. 22 Körte spricht von einer “Sakralisierung [von Buch und Buchpflege], die nur den Leser und die Leserin in ihr Reich lässt und die alternativen Umgangs- und Rezeptionsweisen mit dem Buch hingegen als deviant abweist” 288 Hiloko Kato (Zürich) Vorschläge in handschriftlicher Typografie, den Anscheinend erweckend, es sei bereits hineingeschrieben worden. Die vielfältigen Vorschläge zielen darauf, Ungewöhnliches mit dem Buch anzustellen, wobei dies zumeist nicht im positiv-ästhetischen Sinn gemeint ist, sondern entweder als Anleitungen zu Nonsense-Handlungen (“Überziehe diese Seite mit Dingen, die weiss sind”, “Krame die Fusseln aus deiner Hosentasche. Klebe sie hier ein”) oder als Aufforderung zu einem enthemmten, respektlosen Umgang mit dem Buch (“Kritzle wild, aggressiv und total hemmungslos herum”, “Knüpfe das Buch an einem Faden auf. Schleudere es wild herum. Lass es gegen Wände knallen”). Der Wortschatz ist dementsprechend mit negativ konnotierter Semantik besetzt (herumkritzeln, austoben, verschmieren, verunstalten, abscheulich, Kacke, Kotze). Statt “dem perfekten Zustand [. . .], in dem sich dieses Buch ursprünglich befand”, nachzutrauern, soll das Vorgehen gegen dieses Perfekte, Saubere und Unversehrte - ganz in postmoderner Manier - als “schöpferische Zerstörung” betrachtet werden, die das Leben spannender machen könne. Die Reichweite dieser Zerstörung geht vom mehrmaligen Herausreißen von Seiten (um einen Papierflieger zu basteln oder ein Geschenk einzupacken, aber auch einfach, um die Seite zu zerknüllen) bis hin zu den Vorschlägen, eine Seite zu verbrennen, das Buch mit unter die Dusche zu nehmen oder “sofort etwas absolut Unvorstellbares, Zerstörerisches mit dem Buch” anzustellen. Nicht immer also wird das Schöpferische erkennbar. Vielmehr handelt es sich um bewusste Tabubrüche, die gleichzeitig die grundlegende Zerstörbarkeit eines Buchs aus Papier betreffen und das dazu herrschende stillschweigende Handlungsverbot vorzuführen und zu umgehen trachten. In Mach dieses Buch fertig werden auch explizit Buchränder malträtiert. Allen voran und bereits auf der zweiten Seite der Buchrücken unter Zuhilfenahme einer Körpermetapher: “Brich den Buchrücken”. Weniger drastisch muten die Vorschläge an, welche den Buchschnitt, das Cover, das Titelblatt, das Impressum und die Seitenränder in Mitleidenschaft ziehen. Statt diese wie ihre mittelalterlichen Pendants physisch zu zerstören, sollen sie den Tabubruch des Bekritzelns erleiden: “Schliesse das Buch. Kritzle etwas auf seine Kanten”, “Kritzle kreuz & quer über das Cover, die Titelseite, die Anleitungen, das Impressum. Knicke die Ecken Deiner Lieblingsseiten um” und “Alles voll kritzeln. [drei nach unten weisende Pfeile] Auch die Ränder”. 23 Interessanterweise unterscheiden sich gerade die beiden letzten Anleitungen fundamental von allen anderen: Diejenige, welche das Bekritzeln der Peritexte vorschlägt, bezieht sich als einzige nicht auf die gerade vorliegende Seite. Auf diese Weise wird an die Ganzheitlichkeit eines Buchs erinnert und bewusst gemacht, dass auch diese unscheinbaren, rasch überblätterten Seiten sehr wohl zum Buch dazugehören - und ebenfalls “fertig gemacht” werden müssen. Diejenige Anleitung zu den Seitenrändern ist insofern besonders, als dass sie die einzige Seite ist, die abgesehen von der Handschrift nicht leer, sondern zweispaltig mit einem Blindtext bedruckt ist wie eine “normale” Buchseite. Spätestens hier - Seitenränder werden erst spontan wahrnehmbar mit einer (bedruckten) Schriftfläche - wird der Widerspruch zwischen dem Titel Mach dieses Buch fertig und der allgemeinen Aufmachung des “Buchs” offensichtlich: Es ist ungebunden, erweckt mit der einzigen Ausnahme den Anschein, unbedruckt zu sein und möchte - zugegebenermaßen auf ausgefallene Art und Weise - “versehrt” werden. Es ähnelt somit eher einem Notizbuch. Aber (Körte 2012: 15). Die von Smith vorgeschlagenen Umgangsweisen lassen sich durchaus als Kontrapunkte zum Lesen verstehen. 23 Umsetzungen finden sich zahlreich im Internet, z. B. <https: / / www.flickr.com/ photos/ 34276479@N05/ 4016106773/ > [31. 3. 2016]. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 289 obwohl der Titel im Original tatsächlich Wreck this Journal lautet, ist auch diese Bezeichnung nicht wirklich befriedigend. Vielmehr macht es das Dilemma eines solchen Unternehmens deutlich, dass spielerisch mit konventionalisierten Handlungstabus umgehen will: Offensichtlich benötigt man die Anleihe an ein Buch - auch wenn es nur eine einzige bedruckte Seite ist -, um die Zerstörungsarten einerseits zu komplettieren und andererseits auf die Spitze treiben zu können. Denn Notizbücher und “echte” Bücher weisen einen gravierenden Unterschied auf: Die un-/ bedruckten Seiten. Diese sind es auch, die entweder dazu auffordern oder davon abhalten, hineinzuschreiben. Zur Intaktheit eines Buchs gehört offensichtlich, sein Bedrucktes von jeglicher Form von Handschriftlichem rein zu halten, es nicht zu der offensichtlichen Augenfälligkeit des Unterschieds zwischen Bedruckten und Hineingekritzelten kommen zu lassen. “Dies ist kein bedeutendes Stück Literatur”: Gerade dieser erste Satz des Blindtextes scheint zu verraten, dass das Handlungstabu des Bekritzelns genau so stark ist wie jeder Zerstörungsreigen, der die Physis eines Buchs angreift. 5 Bekritzeln “KEEP THIS BOOK CLEAN. Borrowers finding this book pencil-marked, written upon, mutilated or unwarrantably defaced, are expected to report it to the librarian” - diese gestempelte Aufforderung findet sich auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels eines 2013 erschienenen Romans, der laut Klappentext auf dem Schuber eine Liebeserklärung der Autoren Doug Dorst und J. J. Abrams an das geschriebene Wort ist. Auf diesem Schuber noch als S betitelt, zieht der Rezipient daraus stattdessen ein Buch mit dem Titel Ship of Theseus heraus, geschrieben von einem gewissen V. M. Straka. Dieses gebundene Buch ist mittels eines auf dem Buchrücken angebrachten Signaturklebers und weiteren Stempelschriftlichkeiten - nebst dem strengen Hinweis hinten findet sich auch ein “BOOK FOR LOAN” in Rot vorne auf dem Vorsatz - klar als Leihbuch aus einer Bibliothek erkennbar. Die Camouflage geht aber noch weiter: In die Hand genommen, scheint man sogleich die Abgenutztheit von gelesenem Papier haptisch spüren zu können. Und ein rasches Durchblättern bringt Überraschendes zum Vorschein: Handgeschriebene Briefe, Postkarten, Fotokopien, Zeitungsausschnitte und sogar eine Papierserviette (mit der aus Filmen musterhaft bekannten Kartenzeichnung) sind zwischen die Seiten geklemmt, das meiste wie das Buch selbst in angegilbt-gebrauchter Manier. Aber noch augenfälliger sind die Seitenränder von S bzw. Ship of Theseus: Sie sind ausnahmslos alle mit verschiedenfarbigen Schreibmitteln und in unterschiedlichen Handschriften beinahe vollständig bekritzelt - den eigens aufgestempelten Tabuhinweis aufs Ärgste übertretend (Abb. 2). Bereits aus der Schmutztitelseite geht aufgrund dieser Einträge hervor, dass hier zwei Leser über das Buch Korrespondenzen austauschen. Genauer handelt es sich um den Beginn des Austausches zwischen Jen, einer Collegestudentin, und einem in Blockschrift schreibenden ‘Kenner’ V. M. Strakas, der sich später als Unistudent namens Eric herausstellt. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, die Identität Strakas zu enthüllen. 24 Was sich auf den folgenden Seiten entspinnt, ist - im Druck - die Erzählung eines Mannes mit Gedächt- 24 Dieser Spannungsbogen wird zusätzlich dadurch intensiviert, indem die Identitätsfindung unter Zeitdruck steht: Erics bisherige Erkenntnisse wurden von seinem Professor gestohlen und drohen nun unter dessen Namen veröffentlich zu werden. 290 Hiloko Kato (Zürich) Abb. 2: Tabubruch aufgrund intensiven Lesens: Dorst & Abrams S (2013) Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 291 nisverlust, der auf ein Schiff entführt wird und den Sinn und Zweck seiner grausigen Reise zu finden sucht; die Suche nach Strakas Identität, der sich die beiden jungen Lesenden - in den Seitenrändern - ver-schreiben und nebenbei beginnen, ihre eigenen Identitäten preiszugeben; sowie - in den Fußnoten - das Streuen vermeintlich codifizierter Hinweise durch den Übersetzer namens F. X. Caldeira, der freilich das Mysterium Straka durch sein Vorwort überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Die Lektüre von S ist vor diesem mehrstimmigen Hintergrund so ungewöhnlich wie anstrengend, “schließlich muss man die eigenen Lesegewohnheiten aufgeben und neue entwickeln”, denn “[d]en eigentlichen Text des Romans wie mit Scheuklappen zu lesen und die Marginalien ebenso zu ignorieren wie die eingelegten Gegenstände, ist viel verlangt”, wie es in einer Rezension der FAZ heißt (Spreckelsen 2015). Die verschiedenen Farben zeigen unterschiedliche Zeitpunkte der Einträge an, so dass das Mäandern zwischen Strakas Erzählung und der Detektivarbeit in den Seitenrändern noch weitere verdichtende Schlenker erhält. Die Intensität der miteinander verwobenen Stimmen lässt den Rezipienten mit der Zeit seine durch den “BOOK FOR LOAN”-Stempel genährte Erwartungshaltung und damit auch den Tabubruch vergessen. Zudem wird ausgerechnet dieser Bruch auf den ersten Seiten durch Jen und Eric ausgehandelt: Jens Begeisterung über Strakas Roman lassen Eric zunächst kalt; er unterstellt ihr als Collegestudentin (“Dear undergrad lit major”) eine naive und oberflächliche Lektürehaltung (“if you thought it was an ‘escape’ then you weren’t reading closely enough”). Dies will Jen nicht gelten lassen: “I made some notes in the margins so you can see how closely I read”, was den Experten Eric, der bereits einige spärliche Notizen - farblich überaus blass - eingetragen hatte, empört: “I can’t believe you wrote all over my book”. Jens Antwort (“I know. It was so presumptuous of me. [. . .] Oh, by the way, you’ve totally missed something important about F. X. Caldeira”) bringt die Sache auf den Punkt: Der Tabubruch lässt sich rechtfertigen, insofern es sich um eine intensive - sogar der Wahrheitsfindung dienende - Lektüre handelt. Das Lesen wurde in diesem Fall auch zu einer gänzlich privaten Angelegenheit, denn das Buch ist von seinem ursprünglichen Platz entfernt worden. Sein ‘Verlust’ entzieht es zugleich aus dem Wirkungsbereich der Bibliothek mit ihren Geboten. Trotzdem: Der Tabubruch wird keineswegs nivelliert, sondern euphemistisch als Notwendigkeit geadelt. Man erinnert sich an Brods Worte über die Aktivitäten ergriffener Leser (s. o.), 25 wobei das Aussehen des Buches in diesem Fall sogar (noch) schöner wird, da nicht “mit dem Bleistift”, wie im Fall von Brod, sondern rigoros in Farbe gearbeitet wird. S ist in diesem Sinne ein Roman, der in postmoderner Manier alles das hervorhebt, was nur zu oft aus dem Fokus der auf den “eigentlichen Text” (s. o. Zitat der FAZ) gerichteten Lektüre gerät. Auch wird unter Beweis gestellt, was ein Buch - im Gegensatz zu den bisherigen digitalen Medien - alles kann: Ganz dezidiert ließen sich die Autoren von der Idee leiten, ein Buch zu schaffen, das nicht als digitale Version publiziert werden kann. Ihre Liebeserklärung an das geschriebene Wort ist somit gleichzeitig eine an das traditionelle Buchmedium und an seine materielle Ganzheit als Objekt. Der Tabubruch versehrt das Buch, aber ohne es - im Gegensatz zu den 25 Brod verliert im Essay auch ein Wort über Bibliotheksbücher: “Sind es Bücher der eigenen Bibliothek, so ist ja auch nichts einzuwenden. Aber oft genug kommt es vor, daß man aus einer öffentlichen Bibliothek [. . .] ein Werk ausleiht und mit einigem Ärger darin Randbemerkungen seines Vorgängers findet, die einen gar nicht interessieren [. . .]. Oft genug hat ein zweiter Leser seine Einwendung gegen die Notizen des ersten Lesers in wenig höflicher Form beigefügt [. . .]” (Brod 2014: 331). 292 Hiloko Kato (Zürich) beschnittenen Handschriften oder zu Smiths Mitmach-Buch - zu verstümmeln. Die Randbemerkungen lassen sich gleichfalls nicht ignorieren, sind von Beginn an Bestandteil der Gesamtheit von S. Das Tabu wird mithin Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens postmoderner Lektüre. 6 Und digital? Fazit Dem allgegenwärtigen Zwang zur Digitalisierung kann sich kein Buch entziehen. Keri Smiths Digitalisat wurde zwar kurzerhand und logischerweise umbenannt: Mach diese App fertig. Es ist jedoch ein schwacher Abklatsch im Vergleich zum Original, das die Zerstörbarkeit des Buchs tatsächlich vor Augen führt und durch die vielfältigen und respektlosen Arten regelrecht zu feiern weiß. Im App beschränken sich die Anweisungen auf das Bemalen der Seiten und das Aufnehmen von Fotos (z. B. “Fotografiere die Fusseln aus Deiner Hosentasche”). Die versehrenden Aktivitäten halten sich selbstredend in Grenzen (z. B. “Tipp auf diese Seite” statt wie im Original “Bohre mit einem Bleistift Löcher in diese Seite”), wodurch die fehlende Materialität als eigentlicher Brennstoff bei der schöpferischen Zerstörung besonders frappant zu Tage tritt. Auch von S, das gerade aus der Idee entsprang, ein nicht ins Digitale übertragbares Buch zu konzipieren, existiert erstaunlicherweise eine Version für Kindle. 26 Dorst und Abrams haben es sich aber nicht nehmen lassen, eine Anmerkung hinzuzufügen, die der Rezipient noch vor dem Schmutztitel zu lesen bekommt: PLEASE NOTE: A fundamental part of the experience for the characters in S. is that of holding, reading, and sharing a physical book. Their experience of reading books - of reading this book - is a tactile one, one where they jot notes in the margin and can begin to communicate, back and forth, upon the pages themselves. [. . .] The Kindle Fire version attempts to work with platform limitations to replicate the experience of the physical book. [. . .] But please know that the experience of looking at the digital reproduction of these items is decidedly different from that of reading and holding the physical book of S. [. . .] (Dorst/ Abrams 2013) Auch hier fokussiert sich die versteckte Kritik der Autoren auf die fehlende Materialität des “physical book”. Dorst und Abrams scheinen die Möglichkeit seiner Aneignung in der Kindle-Version sogar abzuschreiben, wenn sie den vielseitigen Umgang mit der Originalversion (“holding, reading, and sharing a physical book”) dem simplen Anschauen (“looking at”) gegenüberstellen. Abschwächend wirkt sich die Digitalisierung nicht zuletzt auf den Tabubruch an den Seitenrändern aus: Es ist eine Art Unmittelbarkeit, ein in-der-Hand- Halten der bekritzelten Seiten, ausgedrückt auch durch das mehrfach wiederholte “holding” in der Notiz der Autoren, wodurch das Tabu nachvollziehbar und erlebbar gemacht wird - eine Unmittelbarkeit, die in der digitalen Version fehlt. Um wenigstens die spezielle Materialität von S auf der visuellen Ebene vermitteln zu können, besteht seine digitale Reproduktion, anders als sonst üblich, aus einer gescannten Kopie des Werks. Damit wird aber das digitale Medium auf eine simple Wiedergabefunktion reduziert. Beinahe höhnisch muten gar die über und über mit Anmerkungen bedeckten 26 Der Name des Kindle-Modells als “Fire”, der die neue Möglichkeit zur Darstellung von Farben bewirbt, mutet vor dem Hintergrund der Bücherversehrung beinahe als schlechter Witz an. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 293 Seitenränder auf den Scans an: Denn mit Hilfe von Kommentierfunktion und der Möglichkeit alle Notizen separat aufzulisten wären doch e-Reader-Programme bestens für solche Tätigkeiten gerüstet und, was die bewältigbare Quantität angeht, sogar potenter. Diese Fähigkeit führt jedoch ebenso zu einer Abschwächung des Tabu, nicht zuletzt da auf diese Weise die scharfe Trennung zwischen Produktion und Rezeption, das Schreiben bzw. das Drucken und das Lesen sich visuell auflöst: Kommentiert wird im gleichen Schriftmodus wie der bereits bestehende Drucktext. Digitale Texte sind darauf angelegt, ihre absolute Beständigkeit und Fixiertheit zu verlieren. Das Gebot, Texte unversehrt und rein zu halten, wird damit nicht nur obsolet, sondern verliert gänzlich seinen Sinn. In beiden Fällen sind die Tabus des Versehrens und Bekritzelns bzw. ihre Umsetzung und Erlebbarmachung verunglückt. Dieses fehlende Bewusstsein für die Phänomene an den Seitenrändern gilt auch für die deutschsprachige Kindle-Version von Perecs Schreibvorgängen in Espèces d’espaces. Wenn Perec im Original “auf den Rand” schreibt (s. o.), geschieht das in der Kindle-Version stattdessen, abgesetzt und in kleinerer Schriftgröße, direkt unterhalb des vorherigen Fließtextes, linksbündig an den Rand, der als solches wohl noch existiert (Abb. 3). Perecs performative Nutzung und Erschaffung des Schreibraumes wird damit, wohl aus technischem Unvermögen, zu einer sinnlosen Aussage degradiert. Auch wenn sie es verstehen, das reale Buch in vielerlei Hinsicht nachzuahmen, macht diese Umsetzung deutlich, wie das mächtige digitale Medium an seine Grenzen stößt. Der codexikalische Seitenrand wird zu einer unbewohnbaren und unbedeutenden Zone, die auch durch den gerätetechnisch breiten Rand in gewisser Weise nivelliert wird. In der Digitalität wird auf diese Art den Seitenrändern wie auch den Tabubrüchen kaum die nötige Aufmerksamkeit zuteil. Wenn Apps oder Dateien durch einfache Klicks - immer als Ganzes Abb. 3: Der digitale Rand als unbewohnbare Zone: Perecs Träume von Räumen für Kindle 294 Hiloko Kato (Zürich) - gelöscht bzw. vernichtet werden, so betrifft die Versehrung immer deren Ganzheit. Damit ist in der Praxis mit digitalen Texten die Negation der Ränder, wie sie bereits bei realen Büchern beobachtbar ist, eine absolute. Die Schärfung des Bewusstseins für Seitenränder ist in vielerlei Hinsicht von Gewinn. Nicht nur kommen erhellende, in der Alltagspraxis verschüttete diachrone Zusammenhänge zu Tage, es lassen sich daraus auch Erkenntnisse für das (Nicht-)Funktionieren von Texten und deren Umsetzung in die Digitalität ziehen. Denn dabei geht es um viel mehr als um den simplen Transfer des Inhalts bzw. der Schrift, es spielen nicht-sprachliche, mediale Faktoren eine wichtige Rolle. Tabubrüche an den Seitenrändern produzieren Reibungen, die dem Verschwinden des Mediums hinter der Schrift und dem Sinn entgegenwirken. Ob verschandelt, versehrt oder bekritzelt wird das Bewusstsein für einmal rigoros an die Ränder gelenkt. Die Reaktionen auf die Tabubrüche - tabuisieren, sanktionieren oder zelebrieren - sind je nach historischem Kontext unterschiedlich und wandeln sich mit der Zeit. Die große Aufmerksamkeit, die den aktuellen Umsetzungen von Tabubrüchen in ihrer spielerischen oder kunstvollen Art zu Teil wird, beweist, dass immer noch ein unverstellter Zugang - sozusagen von den Rändern her - zu der eigentümlichen Qualität des Buchs möglich ist. Bibliographie Benstock, Shari 1983: “At the Margin of Discourse: Footnotes in the Fictional Text”, in: PMLA 98, Nr. 2 (1983): 204- 225 Blades, William 1888: The Enemies of Books, London: Trübner Blanck, Horst 1992: Das Buch in der Antike, München: Beck Brod, Max 2014: Über die Schönheit hässlicher Bilder. 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