eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
383-4

Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos

2015
Daniel H. Rellstab
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos Der Fall Chlyklass Daniel H. Rellstab (Vaasa) Academics often emphasize hip-hop’s socio-political and transformative potential by referring to its origins in the ghettos of US-American megacities. At the same time, hip-hop is described as a culture of sampling where global cultural resources are locally adapted and used as means to perform new, transcultural and hybrid identities (Klein & Friedrich 2003). Although this might be correct with regard to ethnicity, race, and social class, it seems less so regarding gender and sexuality. Commercially successful hip-hop artists make their marks with sexist and homophobe lyrics, and also amateur hip-hoppers, male and female, celebrate and reproduce clichéd and traditionalist conceptions of femininity and masculinity in their rap battles (Deppermann & Riecke 2006, 158). Yet hip-hop is diverse, and recently, new gendered subjectivities and possibilities of identification even in more mainstream hip-hop have emerged. Analysing video clips from the Swiss German all male hip-hop crew Chlyklass by applying tools from multimodal social semiotics (van Leeuwen 2008), I demonstrate that these artists construct gendered subjectivities which question hegemonic masculinities and break taboos of hegemonic masculine hip-hop culture. 1 Männlichkeit im Hip-Hop und dessen De-konstruktion Hip-Hop, die popkulturelle Strömung aus Rap, Battle, Tagging und Bombing, ist facettenreich, komplex, in sich keineswegs einheitlich, sondern vielmehr widersprüchlich. Seit seiner Genese in den Ghettos US-amerikanischer Großstädte in den 1970er Jahre hat sich Hip-Hop global ausgebreitet und lokal in unterschiedliche Richtungen ausdifferenziert. Die Wahrnehmung des Hip-Hop in der Öffentlichkeit ist jedoch wenig positiv. Ein Kritikpunkt, der immer wieder vorgebracht wird, ist, dass Hip-Hop männlich geprägt sei: “It’s no secret that rap is a boys’ club.” (Bonnette 2015: 88) Zwar gab und gibt es auch erfolgreiche Rapperinnen, so etwa die US-Amerikanerinnen Lauryn Hill, Queen Latifah oder Nicki Minaj, die deutsche Sookee oder die Schweizerin Steff La Cheffe, doch Frauen sind im Hip-Hop, verglichen mit Männern, weit weniger erfolgreich, und diejenigen, die es sind, mussten sich ihren Platz hart erkämpfen (cf. Smith 2014). Die institutionelle Dominanz der Männer begleitet eine symbolische Vorherrschaft, die in der Öffentlichkeit laut kritisiert wird. So konstatiert Rose gegen Ende der 2000er Jahre: Although its overall fortunes have risen sharply, the most commercially promoted and successful hip-hop [. . .] has increasingly become a playground for caricatures of black gangstas, pimps, and hoes. Hyper-sexism has increased, and homophobia along with distorted, antisocial, selfdestructive, and violent portraits of black masculinity have become rap’s calling cards. (Rose 2008: 1-2) Rose verweist hier auf ein spezifisches Rap-Genre, den Gangsta-Rap. Gangsta-Rap entstand Mitte der 1980er Jahre an der Westküste der USA und wurde kommerziell äußerst erfolgreich. Er fasste in den 2000er Jahren auch in Deutschland und der Schweiz Fuß (cf. Dietrich & Seeliger 2014). 1 Gangsta-Rap zelebriert die “gangsta culture” und damit eine Welt, welche von Gewalt, Drogen und Bandenkriegen geprägt ist und von Männern dominiert wird, die sich in ihren “Präsentationen des Selbst” (Goffman 2003) keine Schwäche leisten können und ihre Männlichkeit ständig unter Beweis stellen müssen, wie etwa 50 Cent in Many Men (Wish Death): I put a hole in nigga for fucking with me, my back on the wall, now you gon’ see, better watch how you talk when you talk about me cause I’ll come and take your life away. (50 Cent 2003) In der Version des Schweizer Rappers L-Montana klingt dies dann so: Besser du seisch mir was ich will wüsse, oder ich druck dis Gsicht in e WC Schüssle. (L-Montana 2013 a) 2 Die in den Songs repräsentierte Gewalt richtet sich nicht nur gegen Gegner in imaginierten Bandenkriegen, sondern auch gegen Frauen. Frauen sind “bitches”, “whores” und “sluts”, die, wenn sie nicht parieren, mit Konsequenzen rechnen müssen. Das gilt selbst für die eigene Mutter, wie Eminem in seinem Song Kill You klar macht: Shut up, slut, you’re causing too much chaos, Just bend over and take it like a slut, okay, Ma? (Eminem 2000) Eine andere Zielgruppe, welche oft ins verbale Fadenkreuz der Gangsa-Rapper gerät, sind Homosexuelle. Homophobie ist im Gangsta-Rap auch heute noch omnipräsent. Auf seiner neusten LP rappt Eminem: I’ll still be able to break a motherfuckin’ table over the back of a couple of faggots and crack it in half. [. . .] Tell me what in the fuck are you thinking? Little gay looking boy so gay I can barely say it with a straight face looking boy. (Eminem 2013) Misogynie und Homophobie sind jedoch keineswegs nur im Gangsta-Rap verbreitet. Auch im Mainstream-Rap ist eine normative, strikte Geschlechterordnung weit verbreitet, und in dieser dominieren heterosexuelle Männer (cf. Deppermann & Riecke 2006: 158). Das heterosexuelle männliche Subjekt ist hier die “somatische Norm” (Berggren 2014: 234), und Schwule und Lesben sind im kommerziellen Hip-Hop immer noch nicht wirklich willkommen: “Commercial rap music [. . .] exudes homophobia.” (Oware 2014: 74) Auch der so genannten “Conscious Rap”, der gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit rappt, stellt die Vorherrschaft der Männer und die mit ihr zusammenhängende Sozialstruktur nur selten in Frage, und die Tatsache, dass Rassismus, Sexismus und Patriarchalismus eng 1 Cf. dazu etwa die Schweizer Rapper L-Montana oder S-Hot oder den deutschen Rapper FLer. 2 Besser du sagst mir was ich wissen will, sonst drück ich dein Gesicht in die WC-Schüssel. 260 Daniel H. Rellstab (Vaasa) miteinander verknüpft sein können, wird kaum thematisiert (cf. Rabaka 2011: 66). Das Gleiche gilt auch für den nicht von den großen Musikkonzernen vertriebenen Underground- Hip-Hop. Oware, der Songtexte US-amerikanischer Mainstream Rapper und solcher, die sich dem Untergrund zuordnen, vergleicht, zeigt, dass auch letztere in abfälliger Weise über Frauen rappen und Gewalt gegen Frauen verherrlichen (cf. Oware 2014: 73). Sein Fazit hinsichtlich Homophobie fällt aber anders aus. Zwar kenne auch der Underground-Rapper keine größere Beleidigung, als den Gegner als “schwul” zu bezeichnen, doch tauche diese in den von ihm analysierten Untergrund-Texten deutlich seltener auf als in den Songs erfolgreicher Rapper. Nicht alle Geschlechterentwürfe innerhalb des Hip-Hop werden von diesen Normen regiert, und schon lange existieren auch Strömungen, die dezidiert feministisch sind und die “gender-line” in mehrfacher Hinsicht überschreiten. So formierte sich anfangs der 2000er Jahre an der US-amerikanischen Westküste die schwule Hip-Hop-Crew Deep Dick Collective. Die queere Künstlerin Hanifah Walidah rappt seit mehr als 20 Jahren; Johnny Dangerous, der sich selbst als “top faggot emcee” bezeichnete, schrieb in den 2000er Jahren Songtexte, die so schlüpfrig sind, dass sie selbst ein “military-base working girl” zum Erröten bringen. 3 Queerer Rap blieb jedoch lange an den Rändern des Hip-Hop Universums und wurde in einschlägigen Hip-Hop Clubs nicht gespielt (cf. Clay 2012). Heute scheint ein Umbruch stattzufinden. So stellt sich die US-Rapperin Nicki Minaj gegen die herrschende Heteronormativität und inszeniert queeres Begehren in ihren Texten und auf der Bühne (cf. Smith 2014). Die Platten von Le1f, einem schwulen Rapper aus Harlem, werden in DIE ZEIT genauso besprochen wie diejenigen der queeren Person Mykki Blanko oder der deutschen Sookee, Quing of Berlin (cf. Groß & Winkler 2013). Doch auch eher dem Mainstream zuzuordnende, heterosexuelle männliche Rapper setzen sich zunehmend kritisch mit den vorherrschenden Gendervorstellungen auseinander. Um dies zu zeigen, werden im Folgenden zwei Musikvideos von Rappern des Berner Hip-Hop-Kollektivs Chlyklass auf ihre Genderkonstruktionen hin untersucht. Analytisch orientiere ich mich an der multimodal konzipierten Social Semiotics (cf. Jewitt 1997; Mayr 2015; Van Leeuwen 1996; Van Leeuwen 2008); die Konstruktionen werden aus männlichkeitstheoretischer und “Hip- Hop”-ästhetischer Perspektive interpretiert. Der Beitrag ist folgendermaßen strukturiert. Zuerst werden die männlichkeitstheoretischen Grundlagen sowie die dem Hip-Hop eigene Ästhetik des Samplings und die Ideologie der Gegenhegemonie diskutiert. Dann werden die analysierten Videoclips kontextualisiert und die zur Analyse verwendete semiotische Methode expliziert, bevor die beiden Videoclips analysiert und diskutiert werden. 2 Das Prinzip hegemonialer Männlichkeit und die Produktion von Tabus Die traditionelle institutionelle wie auch die symbolische Praxis des Hip-Hop funktionieren gemäß des generativen Prinzips hegemonialer Männlichkeit. Dieses Prinzip definiert Meuser im Anschluss an Connell (2006), Connell und Messerschmidt (2005) sowie Bourdieu (2005) als “doppeltes, die hetero- und die homosoziale Dimension umfassendes Hegemoniebestreben [sic! ]” (Meuser 2006: 166-167). Dieses Hegemoniestreben ist erstens darauf gerichtet, die Angehörigen des anderen Geschlechts zu dominieren. Zweitens zielt es auf 3 http: / / www.johnnydangerousworld.com/ #! press/ c14or [7. 7. 2016] Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 261 Hierarchiebildung innerhalb der Gruppe der Männer ab; alle Männlichkeitsbekundungen müssen von anderen Männern bestätigt und beglaubigt werden (cf. Bourdieu 2005: 94-95). Die beiden Dimensionen sind eng miteinander verknüpft, denn das erfolgreiche Dominieren der Frauen führt zum Aufstieg in der Hierarchieleiter innerhalb der Gruppe der Männer (cf. Meuser 2006: 167). Auch die Unterwerfung nicht-hegemonialer Männlichkeiten ermöglicht den Aufstieg in der Hierarchieleiter der Männlichkeit, und ganz zu unterst auf dieser Hierarchieleiter stehen schwule Männer, denen Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit Weiblichkeit assoziiert und damit hegemonialer Männlichkeit diametral entgegengesetzt sind. Subordinierte Positionen kommen jedoch auch anderen Männlichkeiten zu, wie dies eine Reihe von Schimpfwörtern zeigen, mit welchen “nicht richtige” Männer belegt werden. Dazu gehören der Nerd, der Weichling, das Muttersöhnchen, der Warmduscher, das Weichei, aber auch der Streber, um nur ein paar zu nennen (cf. Connell 2006: 78-79). Das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit manifestiert sich kontextuell und schafft lokal ausdifferenzierte Konfigurationen von Männlichkeiten und Organisationformen der Geschlechterarrangements. Gleichzeitig interagiert es mit einer Reihe weiterer Faktoren. Wichtig sind etwa ökonomische und ethnische Faktoren. In ökonomisch depravierten und aus ethnischen Gründen marginalisierten Gruppen werden teilweise kompensatorisch “protest masculinities” konstruiert, die zwar mit dem Anspruch hegemonialer Männlichkeit auftreten, denen aber etwa die ökonomischen Ressourcen oder die institutionelle Autorität fehlen, um de facto zur hegemonialen Männlichkeit zu werden; dazu gehören etwa machoide Männlichkeitskonstruktionen in spezifischen Arbeitermilieus und in aus ethnischen Gründen marginalisierten Gruppen (Connell & Messerschmidt 2005: 847- 848). 4 Selbst wenn diese “protest masculinities” in der Gesamtgesellschaft marginalisiert sind, können sie in ihren spezifischen sozialen Milieus dominant sein (cf. Meuser 2006: 167). Das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit produziert gleichzeitig auch Tabus, die als Instrumente eingesetzt werden, um die Hierarchie zu stützen. Geht man mit Douglas (1979; 2002) davon aus, dass das Tabu auch eine die gesellschaftliche Klassifikation stabilisierende Funktion hat, dann stellt eine Tabuverletzung auch eine Problematisierung des gesamten Klassifikationssystems, auf dessen Etablierung das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit ausgerichtet ist, in Frage. Als Männer Schwäche zu zeigen könnte man deshalb als Tabubruch bezeichnen, entspricht dies doch dem “Tabu der Feminisierung”, und aus hegemonial männlicher Perspektive muss das männliche Prinzip über das weibliche herrschen. Ein noch größerer Tabubruch stellt gemäß dieser Logik Homosexualität dar; diese gilt als “Sakrileg am Männlichen” (Bourdieu 2005: 203). Homosexualität scheint für den Hip-Hop ein spezifisches Skandalon darzustellen, was weniger erstaunlich wirkt, wenn in Betracht gezogen wird, dass die männlich dominierte Hip-Hop Kultur stark durch Homosozialität geprägt ist. Diese manifestiert sich auch in den Songtexten des US-amerikanischen (cf. Oware 2011), des schwedischen (cf. Berggren 2012) 4 Die von Bohnsack untersuchten Männlichkeitskonstruktionen deutsch-türkischer männlicher Jugendlicher der zweiten und dritten Generation sind solche Protestmännlichkeiten (cf. Meuser 2006: 165-167). In ihrem Bestreben, ihre “Ehre” und damit ihre “türkische” Identität zu bewahren, überwachen diese Männer u. A. ihre Schwestern und Freundinnen permanent und interpretieren den Umgang deutscher Männer mit ihren Frauen gleichzeitig als Laschheit (cf. Bohnsack 2001). 262 Daniel H. Rellstab (Vaasa) oder des Schweizer Hip-Hops: “alli auge uf mi grichtet, d’brüeder hinder mir, äs paar bitches näbe mir” - ‘alle Augen auf mich gerichtet, die Brüder hinter mir, ein paar Bitches neben mir’ (L-Montana 2013 b). Diese Homosozialität mischt sich, wie Beggren (2012) zeigt, manchmal, wohl nicht-intentional, mit gleichgeschlechtlichem Begehren. So beschreibt der schwedische Rapper Petter die Wirkung seines Songs folgendermaßen: “there’s just a few of us who can turn hip hop-dicks hard” (Petter 1999: Rulla med oss, zitiert in: Berggren 2012: 55). Dieses gleichgeschlechtliche Begehren gilt es aber immer wieder abzublocken, eine Vermischung von Homosozialität und Homosexualität kommt einem Tabubruch gleich. So verweisen die Rappenden schon fast litaneiartig darauf, nicht schwul zu sein, und bedienen sich des Adjektivs “schwul”, um andere zu beschimpfen. Damit re-konstruieren sie nicht nur Heteronormativität, sondern gleichzeitig auch ihre eigene Männlichkeit. 3 Hip-Hop: Ästhetik des Samplings, Ideologie der Gegenhegemonie Dass in weiten Bereichen des Hip-Hop ein hegemonial-männliches Prinzip vorherrscht, ist eigentlich erstaunlich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens zeichnet sich Hip-Hop durch Verfahren der Bricolage, des Recyclings, der Vermischungen aus. Dieses Verfahren macht den Rap zur Blaupause der Konstruktion transkultureller, hybrider Identitäten, wie etwa Scholz (2004: 63) feststellt. Diese Hybridität ließe sich auch auf die Konstruktion von Gender anwenden. Zweitens wird Hip-Hop oftmals als eine Kultur des Widerstands beschrieben (cf. Kimminich 2014), welche, wie insbesondere US-amerikanische Autoren und Autorinnen schreiben, die weiße Hegemonie herausfordern und in Frage stellen würde (cf. Oware 2014: 62). Schur identifiziert vier unterschiedliche, aber eng miteinander verwobene Facetten der Ästhetik der Bricolage des Hip-Hop: “(1) sampling, (2) layering, (3) rhythmic flow and asymmetry, and (4) parody or irony” (Schur 2011: 43). Im Sampling werden kurze Segmente unterschiedlicher Lieder, Filme oder anderer Quellen qua Produktion eines neuen Klangs miteinander verwoben, und so werden die Grenzen zwischen Prozessen des Konsumierens und des Produzierens verwischt (cf. Schur 2011: 46 ff.). Hip-Hop ist in einem ständigen Austausch mit vielfältigen Klang-, Bilder-, Text- und Warenwelten, welche die Erfahrungen des heutigen Menschen prägen. Der Hip-Hop-Ästhet, die Hip-Hop-Ästhetin greift auf Fragmente dieser Welten zurück und fügt sie zu neuen Texten zusammen, die gleichzeitig als ironische Kommentare dieser Elemente und der Welten, aus denen diese stammen, dienen (cf. Schur 2011: 47). In und durch Sampling und Layering entsteht im Hip-Hop ein ganz eigener Flow, ein eigener Rhythmus, der durch den spezifischen Einsatz des Basses etwa zusätzlich unterstrichen wird (cf. Schur 2011: 53-54). Die Ästhetik der Bricolage scheint nicht nur der Globalisierung des Hip-Hop Vorschub geleistet zu haben, sondern gleichzeitig auch ein Angebot zur Konstruktion von Identitäten zu bieten, welche für Menschen attraktiv ist, die sich zwischen den Kulturen verorten. Obwohl eng mit der afro-amerikanischen Kultur der USA, der Karibik und Großbritanniens verbunden, ist Hip-Hop heute ein weltweites popkulturelles Phänomen und in vielen Teilen der Welt und in allen Ländern Europas zugegen (cf. Androutsopoulos & Scholz 2003: 463). Hip-Hop wird in unterschiedlichsten kulturellen, sozialen und linguistischen Kontexten produktiv genutzt, was sich auch auf die spezifische Ästhetik zurückführen lässt, welche die Kombination und die Vermischung unterschiedlichsten Lautmaterials, unterschiedlicher Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 263 Sprachen und Stimmen nicht nur zulässt, sondern geradezu fordert (cf. Pennycook 2007: 92). So kann Hip-Hop zu einem Vehikel werden, welches der Rekonstruktion lokaler Identität dient (cf. Mitchell 2001: 1-2). Dies beobachtet Scholz unter anderem in Frankreich, wo Hip- Hop vor allem von Migranten der ersten und der zweiten Generation getragen wird und auch der Konstruktion einer “eigenen sozioethnischen Identität innerhalb Frankreichs” dient, einer Identität, welche Elemente der Familienkultur und der Mehrheitskultur auf der Folie des globalisierten Hip-Hop in einen “z. T. kritischen Dialog überführt” (Scholz 2004: 63). Die Charakterisierung des Hip-Hop als “site of cultural resistance”, als “site of contestation as well as social transformation” (Viola & Porfilio 2012: 3) geschieht im akademischen Diskurs oft unter Verweis auf seine Anfänge in der Bronx der 1970er Jahre. Dort waren die Arbeitslosigkeit groß und die Kriminalitätsrate hoch, und die Bevölkerung fühlte sich von der Polizei eher bedrängt denn beschützt. Für viele Jugendliche war Hip-Hop eine Möglichkeit, Frustration und Ärger, Ängsten und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen (cf. Oware 2014: 62). Die Charakterisierung des Hip-Hop als Praxis der Emanzipation geschieht auch unter Verweis auf die Traditionen, in welchen er sich verorten lässt, etwa das Black Power Movement oder die Black Panthers Party (cf. Cheney 2005; Rabaka 2011); Kimminich weist darauf hin, dass der Rap “Ausdrucks- und Protestformen afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen und Latino-Minderheiten” beerbte und unterstreicht, dass Hip- Hop von der Nation of Islam vereinnahmt, für die Entstehung der Zulu Nation entscheidend und zur Verbreitung der Ideen der von KRS-One etablierten Stop-the-Violence-Bewegung eingesetzt wurde (cf. Kimminich 2014: 177). Der globalisierte Hip-Hop erscheint so, um Bock, Meier und Süß (2007: 316) zu zitieren, als “globale Emanzipationspraxis”, mit welchem auf soziale Missstände aufmerksam gemacht wird, sei dies auf die Unterdrückung ethnischer Minderheiten oder auf die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen und deren Konsequenzen für diejenigen, die über keine Mittel verfügen (cf. Mitchell 2001: 10). 4 Daten und Methode Chlyklass, Berndeutsch für Kleinklasse 5 , entstand aus dem Zusammenschluss zweier Rapcrews, Wurzel 5 und PVP, den beiden Solokünstlern Greis und Baze und den DJs Link und Skoob gegen Ende der 1990er Jahre. PVP wurde 1994, Wurzel 5 drei Jahre später gegründet. Nicht unbescheiden behauptet Chlyklass, dass sie ein ganzes Jahrzehnt des Mundart-Raps in der Schweiz geprägt hätte. 6 Richtig ist, dass nicht nur das Kollektiv Chlyklass, sondern auch die Crews und die Solokünstler Baze und Greis für Schweizer Verhältnisse erfolgreich waren oder es immer noch sind. 7 Zumindest die Crew PVP und der Solokünstler Greis lassen sich dem so genannten “Conscious Rap” (Kimminich 2014) zuordnen. PVP veröffentlichte einen ihren ersten Songs auf einer CD, die im Kampf gegen die 5 Der Terminus Kleinklasse wird heute in offiziellen Dokumenten nicht mehr verwendet; er bezeichnete früher die heute so genannten “Klassen zur besonderen Förderung”, d. h. Klassen, die aus Schülerinnen und Schülern mit Lern- oder Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bestehen. Siehe dazu http: / / www.erz.be.ch/ erz/ de/ index/ kindergarten_volksschule/ kindergarten_volksschule/ integration_und_besonderemassnahmen/ besondere_kla ssen2.html [7. 7. 2016]. 6 Pressetext zu “Wieso immer mir? ”. Abrufbar unter http: / / www.chlyklass.ch/ #links [7. 7. 2016]. 7 Allerdings konnten die Mitglieder von Wurzel 5 nie von der Musik leben. Siehe dazu den Dokumentarfilm “Backstage mit Chlyklass”, http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016]. 264 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Verabschiedung eines neuen Polizeigesetzes in Bern aufgenommen worden war; dieser trug in Anlehnung an Che Guevara den Titel Hasta la victoria siempre (1997); Greis, der mit Baze das erfolgreichste Mitglied von Chlyklass ist, wird noch heute in der Presse als “Politrapper, Ökoaktivist, Revoluzzer, Cüplisozialist, Klugscheisser oder Schnittlauchgrüner” (Sigrist 2012) bezeichnet. Wurzel 5 dagegen haftete lange das Image der bösen Buben an, mit dem sie laut Eigenaussagen auch kokettierten. 8 Chlyklass rappt vor allem auf Berndeutsch, Greis rappt auch auf Französisch und experimentiert mit anderen Sprachen. Das erste analysierte Musikvideo gehört zum Song Wysse Golf (‘Weißer Golf ’) (Chlyklass 2015 a), der auf dem Chlyklass Album Wieso immer mir? (‘Warum immer wir’) (2015) erschienen ist. Dieses Album veröffentlichte die Crew nach einer 10-jährigen Pause. Darauf wird unter anderem das Älterwerden und die Tatsache, dass man sich als Rapper jenseits der Dreißig der Gefahr der Lächerlichkeit aussetzt (z. B. in Chlyklass 2015 b), thematisiert und gleichzeitig klargemacht, dass das Festhalten an alten Gewohnheiten und die Verweigerung, älter zu werden, problematisch sind (z. B. in Chlyklass 2015 c). Gedreht wurde das Video von PW Records, einer Firma, die Platten und Filme vor allem der Hip-Hop-Szene produziert. 9 Das zweite Video, Hünd (‘Hunde’) ist der Titel gebende Song aus Greis’ Album Hünd i parkierte Outos (‘Hunde in geparkten Autos’). Greis rappt hier mit den beiden deutlich jüngeren Rappern Migo und Juri; das Musikvideo wurde von Kackmusikk produziert, Regie führte Oliver Moser. Die Analyse fokussiert die Repräsentation sozialer Akteure und greift dazu einerseits auf van Leeuwens (1996) “Social Actors Network” zurück. Die Textanalyse wird mit der visuellen Analyse sozialer Akteure, wie sie von van Leeuwen und Kress (2006) als Social Semiotics entwickelt wurde, ergänzt. Kritisieren könnte man die Social Semiotics dafür, dass sie vor allem “Repräsentation” im Sinne von Kress (2010: 57) zu analysieren versucht, das heißt die von den Textproduzierenden intendierte Bedeutung, und dass sie dabei insbesondere an einer Inventarisierung der semiotischen Ressourcen interessiert scheint (cf. Roswell 2014). Und obwohl die Social Semiotics vorgibt, multimodal ausgerichtet zu sein, wurde der Ansatz als logozentrisch kritisiert, da alle Modi analog der Sprache analysiert werden (cf. Kokkola & Ketola 2015). Dieser Kritik wird insofern Rechnung getragen, als dass hier keineswegs die Intention der Produzenten analysiert werden soll, sondern das Sinnbildungspotential multimodaler Texte untersucht wird. Um dem Vorwurf des Logozentrismus zu begegnen, werden die Repräsentationen sozialer Akteure ebenfalls mit Hilfe einer genuin filmsemiotischen Methode analysiert (cf. Faulstich 2008; Korte 2004). Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass Musikvideoclips einer anderen Logik folgen als Filme. Die Musik steht hier im Zentrum und wird lange vor der Produktion der Musikvideos geschrieben. Sie bleibt das dominierende Element, und die visuellen Elemente und die anderen formalen Komponenten, so etwa spezifische Soundeffekte, werden dazu verwendet, um die Musik zu verstärken und nicht umgekehrt, wie dies in Filmen der Fall ist: Die Clips illustrieren einen Song (cf. Gow 1992). 8 Backstage mit Chlyklass, http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016]. 9 http: / / www.pw-records.com/ index.php [7. 7. 2016]. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 265 5 Wysse Golf: Parasitäre Männlichkeit Die erste Kameraeinstellung des Videos zeigt den titelgebenden weißen Golf auf einem sonst leeren Parkplatz in einem Industrieareal einer Stadt, die nur Eingeweihte als die Stadt Bern erkennen. Der Golf steht links im Bild. Graffitis schmücken die Güterwagons, die hinter dem Parkplatz sichtbar werden. Ein Mann in Trainingshose, Wollmütze und Sonnenbrille betritt von rechts das Bild und läuft zielstrebig auf den Golf zu (Bild 1). Bild 1 Das Gesicht des Mannes, der sich als der Sänger Baze entpuppen wird, wird erst nach einem Kamerawechsel im “Schuss-Gegenschuss”-Verfahren (Korte 2004: 40) erkennbar. In der neuen Einstellung wird gezeigt, wie er die Autotür öffnet. Es folgt ein Schnitt zurück auf die ursprüngliche Position. Der Mann setzt sich ins Auto. Im Moment, in dem er die Tür zuschlägt und wegfährt, setzt die Musik ein. Diese Eröffnungsszene re-konstruiert ein für den Hip-Hop typisches, urbanes Setting. Doch wird durch die Verwendung des weißen Golfs I Cabriolets, eines Autos, das von VW von 1979 bis 1992 produziert wurde, dieses Setting ironisiert. Der weiße Golf, der während seiner Produktionszeit für eine Mittelschicht durchaus als schick gegolten haben mag 10 , unterscheidet sich deutlich von den in Hip-Hop- Videos sonst oft ins Szene gesetzten Range Rovers (cf. Fler 2015), Hummers (50 Cents 2003 b), überdimensionierten Luxustrucks (Lil Wayne 2008), aufgemotzten Oldtimern (Dr. Dre 1999) oder Ferraris (Jakebeatz 2015). Nachdem die Musik eingesetzt hat und das Auto davongefahren ist, wird nach einem harten Schnitt in einer kurzen Einstellung (Bild 2) die - unvollständige - Chlyklass-Crew unter einer Autobahnbrücke präsentiert. Im Zentrum des Bilds steht der Fahrer des Autos und Leadrapper dieses Songs, Baze. Um ihn gruppieren sich weitere Mitglieder der Chlyklass-Crew. Diese präsentieren sich in typischer Hip-Hop-Manier: Sie tragen Baseball-Mützen, Jogging-Hosen, Trainerjacken, Turnschuhe. Ihre Haltung ist locker, entspannt. Die beiden Männer im Zentrum sowie die beiden am äußeren Rand der Gruppe tragen schwarze Sonnenbrillen. Die Gruppe erscheint 10 Siehe dazu https: / / www.volkswagen-classic.de/ magazin/ special/ modellgeschichte [7. 7. 2016]. 266 Daniel H. Rellstab (Vaasa) homogen, keiner sticht hervor. Die Crew wird durch Kameraperspektive und -bewegung sowie die Bildeinstellung in Szene gesetzt. Die Kamera schwenkt am Anfang vertikal von oben nach unten, bis die Crew in einer Halbtotalen sichtbar ist. Die Kameraperspektive ist untersichtig, das heißt, die Crew wird aus einer tieferen Perspektive als der Normalsicht gefilmt (Korte 2004: 42). Diese Kameraachse konstruiert einen spezifischen Interaktionsrahmen zwischen Betrachter und sozialen Akteuren im Film und rückt letztere zugleich in eine Position der Stärke (Van Leeuwen 2008: 140-141). Der Betrachter steht im Fokus der Männer; ihre direkten Blicke scheinen den Betrachter zur Interaktion aufzufordern. Doch muss der Betrachter zur Crew hochblicken und kann dabei die zentralen Figuren, diejenigen, die ihm am nächsten stehen, nur unvollständig erkennen, weil diese ihre Augen hinter schwarzen Sonnenbrillen verstecken. Noch bevor der Sprechgesang einsetzt, wird nach einem weiteren Schnitt auf den Schriftzug am weißen Golf Baze im Kreis einer weiteren Hip-Hop-Crew präsentiert, und zwar in einer ähnlichen mise-en-scene wie der ersten (Bild 3). Bild 3 Bild 2 Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 267 Baze und vier Mitglieder des Basler Hip-Hop-Kollektivs K. W. A. T. stehen um den weißen Golf, der in einer mit Graffitis besprühten Unterführung steht. Auch diese Akteure indizieren ihre Zugehörigkeit zu Hip-Hop durch Kleidung: Die Baseballmütze mit der Postleitzahl von Klein-Basel, den Pullover mit dem Schriftzug Kleinbasel, das Akronym KWAT auf der Baseballmütze. Die Kamera fokussiert Baze, hier wieder mit Mütze, aber mit Brille und in einer roten Chicago Bulls Jacke. Baze steht näher zur Kamera, die anderen etwas weiter weg. Eingeführt wird die Szene durch einen horizontalen Kameraschwenk nach rechts; die Kameraperspektive ist hier wieder untersichtig, der Betrachter steht auch hier wieder im Fokus des Blicks der Gruppe. Diese Gruppe steht aber insgesamt näher beim Betrachter, was den Effekt, dass sie in einer Position der Stärke sind, noch verstärkt. Auch die vierte mise-en-scene gleicht der vorherigen. Hier wird der Leadsänger mit Mitgliedern des Rap-Projekts Temple of Speed aus Zürich gezeigt. Auch hier stehen die Männer um den weißen Golf, auch hier wird der Blick nach oben durch eine Decke, diesmal eine Plattform, begrenzt (Bild 4). Bild 4 Baze steht jetzt näher noch zur Kamera als die anderen. Er trägt immer noch dieselbe Mütze, nun aber wieder Sonnenbrille und ein T-Shirt mit dem Schriftzug der britischen Death-Metal Band Napalm Death. Die anderen tragen wiederum Baseballmützen, Baseballjacken und Sonnenbrillen; alle sind dunkel angezogen. Die Kamera schwenkt hier zu Beginn der Einstellung wieder von oben nach unten, die Kameraperspektive ist wieder untersichtig, der Betrachter ist wieder um Blickpunkt aller Rapper. Doch anders als in den beiden vorherigen, relativ statischen Einstellungen bewegt sich hier Baze auf die Kamera zu und bleibt kurz bevor diese zu Ende ist, stehen. Was nun folgt, sind Schnitte zwischen diesen drei ähnlichen Einstellungen sowie, dazwischen montiert, Fahrten im Golf durch die Stadt. Die Fahrt sowie die Schnitte verleihen dem Musikvideos Dynamik. Die Männer bewegen sich, abgesehen von Baze, der rappt, relativ wenig. Sie stehen um den Golf herum, machen zuweilen die für Hip-Hopper typischen Handbewegungen (Bild 5), singen teilweise mit. Die ersten Einstellungen des Musikvideos wurde deswegen relativ ausführlich beschrieben, weil sie die Grundeinstellungen des Musikvideos sind und die sozialen Akteure des Clips 268 Daniel H. Rellstab (Vaasa) porträtieren. Dieser präsentiert diese Männer als typische Vertreter des Hip-Hop, die körperlich stark sind und sich als überlegen präsentieren. Frauen kommen im Video in keiner einzigen Einstellung vor. Die Akteure bewegen sich in einer durch Homosozialität geprägten, rein männlichen Welt. Der visuelle Texte folgt, so könnte man schließen, der Logik des Prinzips hegemonialer Männlichkeit. Doch schon der visuelle Text bricht mit diesem Prinzip, was sich anhand des in Szene gesetzten Golfs zeigt. Ironie blitzt auf, wenn die repräsentierten Akteure zeigen, dass sie ihre Rolle nicht ganz ernst nehmen und sich ihre Minen aufhellen oder sie Grimassen ziehen. Gleichzeitig sind weitere, kleine visuelle Indices vorhanden, welche die Orientierung der Repräsentierten an einer Logik des Stärkeren zumindest fraglich werden lassen. Baze trägt während des gesamten Videos eine Wollmütze des gemeinnützigen Vereins Surprise, welcher Integrationsprojekte für Menschen in sozialen Schwierigkeiten durchführt. Ein Mitglied der Basler Gruppe trägt eine Kufiya, die zwar rein modisches Accessoire, die aber auch Ausdruck einer politischen Gesinnung sein kann. Die Dekonstruktion des generativen Prinzips hegemonialer Männlichkeit wird im Zusammenspiel des visuellen und des linguistischen Modus des Videos entfaltet. Der Song besteht aus zwei Strophen und einem Refrain, der zweimal gesungen wird. Im Lied wird die ziemlich armselige Existenz des Protagonisten durch das Aufzählen der verschiedenen Gebrauchtwagen, die er besessen hat, in Szene gesetzt. Die Aufzählung beginnt mit dem Titel gebenden weißen Golf, dem ersten Auto überhaupt: “I ha agfange imne wysse golf, paar tuusig kilometer scho het d’hube groucht”, ‘ich fing in einem weißen Golf an, ein paar tausend Kilomenter, und schon rauchte die Haube’. (Chlyklass 2015 a) Auf den weißen Golf folgte ein grauer Opel Ascona, mit dem das Ich durch den halben Osten Europas fuhr, dann ein schwarzer Jeep von Toyota, der auch bald “den Geist aufgab”, anschließend ein weißer Fiat Uno, der in der Metallpresse landete. Am Ende besitzt das Ich einen billigen BMW, der den bevorstehenden TÜV nicht bestehen wird: “zieh mer a bmw für paar wenigi franke, bis jetzt louft er wie gschmiert, übermorn wird er prüeft, das wär’s de scho gsi, mit mim bmw”, ‘ziehe mir einen BMW für wenige Franken, bis jetzt läuft er wie geschmiert, übermorgen wird er geprüft, und das wäre es dann auch schon gewesen mit meinem BWM’ (Chlyklass 2015 a). Bild 5 Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 269 Der Protagonist wird durch die Aufzählung der Autos, die gleichsam als Attribute funktionieren, näher charakterisiert. Alle sind billig, auch der BMW, keines ist neu, keines ist zuverlässig. Andere Autos kann sich dieses Subjekt hier offensichtlich nicht leisten. Charakterisiert wird der Protagonist ebenfalls durch seinen Drogenkonsum. Marihuana hat er in der Tasche, die halluzinogenen Pilze, die er und seine Begleiter schluckten, können ihm nichts anhaben: “üs hei sie nid abezoge”, ‘uns haben sie nicht runtergezogen’ (Chlyklass 2015 a). Er scheint geübt im Umgang mit Drogen. Beziehungen zu anderen Menschen werden in den Liedstrophen nur spärlich thematisiert. Thematisiert wird die Beziehung zu seinen Jungs, die hinten im Jeep sitzen, das “Bierverdeck offen” (Chlyklass 2015 a). Genannt wird zwar auch der Vater, doch die Beziehung zum Vater dient nur der näheren Charakterisierung eines Autos. Genannt wird die Schwester, relevant ist indessen ausschließlich der Streit, den er mit ihr als Kind auf dem Rücksitz des Autos ausfocht. Deutlicher ausgestaltet ist die Beziehung zum schwarzen Jeep, der das Lieblingsauto zu sein scheint, und dem als nicht-humanes Objekt die Rolle eines sozialen Akteurs zukommt. Baze rapt: “4WD panzer us bläch rase düre töifschnee über wanderwäg ig u mi jeep”, ‘4WD Panzer aus Blech rasen durch Tiefschnee über Wanderwege, ich und mein Jeep’. Der Protagonist und der Jeep bilden ein Wir. Dieser Jeep ist Statussymbol, sein Motorengeräusch, dem eines Traktors gleich, lockt Menschen aus dem Dorf an. Der Jeep ist aber auch Liebesobjekt, denn als er kaputt geht, herrscht “Abschiedsschmerz” (Chlyklass 2015 a). Im Refrain wird die Erzählung der Liedstrophen in zwei Zeilen kondensiert und weitergeführt. Hier heißt es: I ha agfangä imne wysse golf, hüt fahr i schwarzes velo, Nüd isch blibä oni mini frou nume ne mansarde im breitsch, bro. (Chlyklass 2015) 11 Die erste Zeile des Refrains führt an den Anfang des Lieds zurück, “ich fing an in einem weißen Golf ”, und führt die erzählte Geschichte direkt zu ihrem Ende und zurück ins Jetzt: “heute fahre ich ein schwarzes Rad”. Heute besitzt der Protagonist nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen, sondern nur noch ein Fahrrad. In der zweiten Zeile wird der soziale Abstieg des Protagonisten weiter konkretisiert. Er wohnt nur noch in einer Mansarde. Hier wird auch der Grund für das Scheitern angeführt: “Nichts blieb ohne meine Frau.” Die zweite Zeile ist auch eine Mahnung an den Zuhörer, der im Stil des Hip-Hop als “Bro”, Kurzform von “Brother” angesprochen wird, zu verstehen. Allerdings scheint das Ich seiner Frau nicht wirklich nachzutrauern, denn der Refrain beschwört danach noch einmal die Beziehung zwischen Protagonisten und Jeep, und zwar gleich sechsmal: Ig u mi jeep ig u mi jeep ig u mi jeep samurai, Ig u mi jeep ig u mi jeep ig u mi jeep samurai. 12 (Chlyklass 2015) Die in der Zeile “nichts blieb ohne meine Frau” skizzierte Männlichkeit könnte man mit Halberstam (2012: 21) als “parasitical masculinity” bezeichnen. Halberstam selbst nennt diese Männlichkeit auch “‘angler’ masculinity” nach dem “angler-fish”, dem Seeteufel, und zwar aus folgendem Grund: 11 Ich habe in einem weißen Golf angefangen, jetzt fahre ich schwarzes Rad, nichts ist geblieben ohne meine Frau, nur eine Mansarde im Breitenrain. 12 Ich und mein Jeep ich und mein Jeep Samurai. 270 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Male angler fish are much smaller than the females; they can only survive by attaching to the larger female, fusing with her and mating with her. She then spawns eggs and baby fish . . . and her mate? He hangs on for dear life and feeds when she feeds. (Halberstam 2012: 21) Halberstam entwickelt dieses Konzept parasitischer Männlichkeit in ihrer Analyse sogenannter Mumblecore-Filme und Serien, die seit anfangs der 2010er Jahre produziert werden. In diesen werden schwache, männliche Protagonisten von erfolgreichen Frauen geliebt und letztlich geheiratet. Laut Halberstam bilden diese Filme zwar ein verändertes Geschlechterverhältnis ab, nach welchem Frauen erfolgreich sein und mehr verdienen können als Männer. Doch bleibt das Grundprinzip patriarchal, denn diese Filme zeigen Frauen immer noch als Wesen, welche, um jemand sein zu können, auf einen Mann an ihrer Seite angewiesen sind. Und dieser darf sehr wohl faul, untreu, nicht ambitioniert und unattraktiv sein. Denn, so die Logik des Films, für eine Frau ist es allemal besser, verheiratet zu sein: “Any guy who will marry you is marriage material” (Halberstam 2012: 22). In diesem Rapsong ist dies jedoch nicht so. Denn das Ich landet nicht im Hafen der Ehe, sondern allein in einer Mansarde. Der Song erzählt damit Mumblecore on Happy-End für den Mann. Interessanterweise erzählt der Rapsong die Geschichte des Abstiegs des männlichen Protagonisten nicht als Erzählung über jemanden 13 , sondern in der Ich-Form und damit als Hip-Hopper. Das rappende männliche Subjekt des Musikvideos und mit ihm die anderen Männer verkörpern in diesem Musikvideo das Prinzip hegemonialer Männlichkeit nur noch scheinbar, die Geschichte, die erzählt wird, zeugt davon, dass hinter dem inszenierten Habitus eine parasitäre Männlichkeit steckt, die ohne Frau nicht erfolgreich sein kann. 6 Hünd: Queere Gestalten Im zweiten hier besprochenen Video leistet schon der Songtext selbst eine Dekonstruktion hegemonialer Männlichkeit. Die Diskrepanz zwischen Text, Stimme und Bild schafft aber in diesem Musikvideo eine zusätzliche Dimension der Kritik, da hier ebenfalls Gendergrenzen verwischt und Heteronormativität de-konstruiert werden. Das Lied Hünd, ‘Hunde’, wird gemeinsam von Greis, Juri und Migo gesungen; jeder der drei Sänger singt eine Strophe, den Refrain, der dreimal wiederholt wird, rappen sie gemeinsam. In der ersten Strophe beschreibt Greis Handlungen und Innenleben eines egozentrischen, melancholischen Möchtegernschriftstellers, der über die Welt sinniert, der sich seiner Partnerin entzieht, nicht mit ihr kommuniziert und der auf die Bestätigung der Richtigkeit oder Wichtigkeit dieser Beziehung durch andere angewiesen scheint. Die Beschreibung dieses Mannes aus der Ich-Perspektive wird durch die Frage einer “Sie” in Gang gesetzt: “sie fragt um was geits im däm lied”, ‘worum geht es in diesem Lied? ’. Das rappende Ich weicht der Antwort mit der Begründung aus, es müsse die Zehennägel schneiden, bricht dann die Kommunikation ab und wendet sich dafür dem Zuhörer zu, dem es erzählt, dass es ein Buch über sich selbst und die Zeit, als es traurig war und einen Hund 13 Vgl. dazu aber den Song “Felä” (Chlyklass 2015 c) auf dem gleichen Album. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 271 kaufte und irgendwie hoffte, dass dieser weglaufe, schreibe. Mit der Partnerin will es über diesen Gefühlszustand aber nicht sprechen, lieber sitzt es abends rauchend auf dem Balkon und geht erst spät zur Frau ins Bett. Unsicherheit hinsichtlich der Wichtigkeit der Beziehung zu dieser Frau markiert das Ich in den letzten drei Zeilen der Strophe. Es muss sich der Zustimmung aller Menschen der Stadt versichern, dass das Bett seiner Frau der bessere Platz als die “Kuba Bar” sei (Greis 2015). Auch die dritte Strophe, gerappt von Migo, beschreibt einen Mann, einen Möchtegerngangster aus der Stadt Bern, der von sich selbst behauptet, das Unmögliche zu vollbringen: Er veranstalte illegale Elefantenkämpfe in Stadtkellern und lasse sich dabei von seiner Crew feiern: “mini keiler tobe” - ‘meine Keiler toben’; er bringe den Polizeidirektor um und fahre ihn, zerstückelt und in drei Taschen an ein bekanntes Ausflugsziel; er schüchtere andere mit einer abgesägten Schrottflinte und mit Drohanrufen ein. All das sei, so merkt der Rappende selbstironisch an, “haub politisch, haub chindisch”, ‘halb politisch, halb kindisch’ (Greis 2015). Das Ich der zweiten Strophe, von Juri gerappt, identifiziert sich mit unterschiedlichen Hunden, beschreibt die Welt aus Hundeperspektive und lässt den Zuhörer in unterschiedliche Hundeseelen blicken: “es isch e troum anä boum anä biislä” - ‘ein Traum ist es, an einen Baum zu pinkeln’. Es sei eine Dogge, die rotze und schniefe, ein Collie in einem Trolley, ein Mops in einem Jeep. Auch hier werden Geschlechterbeziehungen thematisiert, und zwar schon ganz zu Beginn: “I renne mit der frou wo mi zieht”, ‘ich renne mit der Frau die mich zieht’; die Hunde werden von Frauen geführt, sind im Besitz von Frauen (Greis 2015). So wartet der Schäferhund angstvoll im parkierten Auto, einem weißen Golf, auf die Rückkehr seiner Besitzerin: i binä wouf gfangä imnä wiisä gouf mini bsitzerin sött lang scho wieder inä cho wo isch si bloss blibä het sie mi verlah. 14 (Greis 2015) Als Hund ist man meistens nicht der Stärkere; “hündisch” zu sein gilt seit der Antike als negativ, “hündisch” sind in der griechischen Antike (Franco 2014), und auch im englischen Sprachraum heute, vor allem Frauen: “Bitch”. Der Hund ist aber, wie Garber schreibt, eine komplexe Chiffre mit widersprüchlichen Bedeutungen. Der Hund, der ideale Begleiter des Menschen, steht auch für eine komplexe Fantasie der Kommunikation, die gleichzeitig opak und transparent, stumm und beredt ist: “[t]he dog stands in for the very complexity of human desire.” Denn der Hund nimmt uns an, wie wir sind, und wir können ihn dominieren und von ihm Unterwerfung fordern (Garber 1996: 116-117). Nicht alle Hunde, die in der zweiten Strophe beschrieben werden, unterwerfen sich ohne Widerspruch. So rappt Juri: “i wott apportiere aber gott seit mir biiss”, ‘ich will apportieren, aber Gott sagt mir beiß zu’. Er sagt: “i fougä nid i motzä=n u schriiss"ich gehorche nicht, ich begehre auf und reiße (an der Leine)’ (Greis 2015). 14 Ich bin ein Schäferhund, gefangen in einem weißen Golf, meine Besitzerin sollte längst schon wieder rein kommen, wo ist sie bloß geblieben, hat sie mich verlassen? 272 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Doch dass die Frauen letztlich stärker sind, zeigt der Refrain, der nach jeder Strophe gesungen wird: si sägä foug u mir fougä si sägä mach u mir machä si sägä rou u mir rouä si sägä platz u mir platzä u mir platzä. 15 (Greis 2015) Die rappenden Subjekte präsentieren sich hier als unterwürfig und autoaggressiv. Sie gehorchen, wenn sie gehorchen sollen, sie tun, was ihnen befohlen wird, sie rollen, wenn sie sich rollen sollen, doch wenn sie Platz nehmen sollen, dann nehmen sie nicht Platz, sondern platzen. Der männliche Hegemon, so könnte man sagen, ist im Refrain vollständig verschwunden und hat dem unterwürfigen Mann Platz gemacht. Das Video wendet das Prinzip der Bricolage auf seine Genderkonstruktion an. Denn die drei männlichen Sänger werden von drei weiblichen Akteuren verkörpert (Bild 6). Bild 6 Jede dieser drei Frauen übernimmt eine Strophe, den Refrain singen sie gemeinsam. Diese drei Frauen werden in vier verschiedenen Settings gezeigt: Eine Szenerie ist ein Wohnzimmer, an dessen Wände große, moderne Bilder hängen, das mit Sofa, Sessel und einem Glastisch, auf dem Whiskeyflaschen, ein Comic und eine CD-Hülle mit Kokainlinien liegen, möbliert ist. In diesem Wohnzimmer tauchen auch zwei Hunde auf; beide sind weiß. Die anderen Schauplätze befinden sich alle in der Altstadt Berns: Es sind dies eine Ladenpassage, der Raum vor den Auslagen eines Teppichgeschäfts, die Arkaden der Stadt. Zwischen diese Aufnahmen werden Bilder, passend zum Text, in das Video montiert: eine kläglich aussehende Pflanze auf einem Balkon in der ersten Strophe, der zur CD erschienene Comics in der zweiten Strophe, eine Actionfigur in der dritten Strophe, vor dem Abspann Marker, die zum Taggen verwendet werden, eine flackernde Kerze, und immer wieder die Skulptur eines Hundes, auf die goldene Farbe tropft. 15 Sie sagen gehorch, und wir gehorchen; sie sagen mach, und wir machen; sie sagen roll, und wir rollen, sie sagen mach Platz, und wir platzen, und wir platzen. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 273 Das Video wirkt dynamisch. Es scheint mit einer Handkamera gefilmt worden zu sein. Die Einstellungen in den verschiedenen Settings sind immer ähnlich. In den Außenaufnahmen werden die Frauen in halbnahen bis nahen Einstellungen gezeigt, die Kamera zoomt jedoch oft auf die Frauen zu und wieder zurück. Die Kameraperspektive ist dabei meist leicht untersichtig (siehe Bild 6). Die Aufnahmen in den Innenräumen sind oft aus einer nahem Einstellung und ebenfalls aus untersichtiger Perspektive gefilmt (Bild 7). Bild 7 In den Innenräumen schwenkt die Kamera oftmals auf und ab, was zusätzliche Dynamik erzeugt. Dynamik erzeugen auch die vielen Schnitte (Faulstich 2008: 128-129): In dem Musikvideo, das ohne Vor- und Abspann 3 min 32 sec dauert, kommen insgesamt 121 Schnitte vor. Das Video flackert zudem synchron mit dem Bass der Musik. Die Frauen, die einzigen Akteure im Musikvideo, singen wie in Drag-Queen- oder Drag- King-Shows Playback zur Musik. Doch anders als in den Drag-Queen- oder Drag-King- Shows, wo Männer und Frauen darum bemüht sind, die Illusion zu erzeugen, Angehörige des anderen Geschlechts zu sein (cf. Daems 2014), wird hier keine Kongruenz zwischen dem Geschlecht der Stimme und dem Geschlecht, das von den Akteuren im Musikvideo verkörpert wird, angestrebt, im Gegenteil. Die Konstruktion ist vielmehr ambivalent. Einerseits werden die Frauen mit Requisiten ausgestattet, die sonst üblicherweise männlichen Akteuren zugeschrieben werden: Ein Akteurin trägt einen Schlagring, die Frauen sind umgeben von Drogen und Alkohol. Sie werden, ähnlich wie die Männer im Video Wysse Golf, durch die von der Kamera kreierten Achsenverhältnisse in eine Position der Stärke gerückt. Der Betrachter blickt zu den Frauen auf, und obwohl diese ihn ständig anblicken, schaffen auch sie eine Asymmetrie in der Interaktion dadurch, dass ihre Gesichter mit Sonnenbrille und einer geschminkten Maske verdecken. Doch sind die Frauen keineswegs androgyn. Ihre Weiblichkeit wird durch Kleidung, Make-Up und Schmuck vielmehr unterstrichen. Eine der drei Akteurinnen tritt gar als Rotkäppchen auf. Die Genderkonstruktionen, die durch die Diskrepanz zwischen Stimme und visuellem Eindruck geschaffen werden, sind vielmehr queer im eigentlichen Sinn, denn es scheint, als ob männliche Stimmen und männlicher Habitus in weibliche Körper gesetzt worden wären. Die Genderkonstruktionen werden noch komplexer, wenn das Zusammenspiel zwischen Liedtext, Stimmen und Körpern betrachtet wird. Denn das Musikvideo stellt nicht nur das Prinzip hegemonialer Männlichkeit in Frage, sondern auch die damit verbundene Hete- 274 Daniel H. Rellstab (Vaasa) ronormativität. Im Musikvideo singt in der ersten Strophe eine Frau mit der Stimme eines Mannes über die Beziehungen zu einer Frau und in der zweiten Strophe singt eine Frau mit männlicher Stimme über ihr Leben als Hund an der Seite einer Frau. Dass sich in der dritten Strophe eine queere Figur aus männlicher Stimme, männlichem Habitus und weiblichem Aussehen Respekt zu verschaffen sucht, wäre dann nicht mehr nur halb, sondern ganz politisch. 7 Schluss: Multimodaler Tabubruch Die Kultur des Hip-Hop war lange Zeit patriarchal und ist es zum Teil auch heute noch. Zwar konnte sich schon Ende der 1990er Jahre eine queere Hip-Hop-Subkultur etablieren, doch blieb diese am Rand des Hip-Hop-Universums, und ihre Stimmen wurden vom Mainstream nicht gehört. In den letzten Jahren konnten sich vereinzelt “queere” Künstler in der Hip-Hop- Kultur etablieren. Diese unterminieren in ihren Produktionen auch die hegemonial männliche Kultur des Hip-Hop. Das Prinzip hegemonialer Männlichkeit wird jedoch nicht nur an den Rändern des Hip-Hop herausgefordert, sondern zuweilen selbst von Hip-Hop- Künstlern, die sich im Mainstream erfolgreich behauptet haben, in Frage gestellt. Das ist unter anderem bei den Mitgliedern der Berner Hip-Hop-Crew Chlyklass der Fall. Konnten sie noch anfangs der 2000er Jahre rappen, dass sie lieber “Rüpple statt Schwüpple” seien (cf. Rellstab 2006), so de-konstruieren sie in ihren neuesten Musikproduktionen selbst die hegemoniale Männlichkeit des Hip-Hop. In dem Musikvideo Wysse Golf geschieht dies vor allem durch die Darstellung eines traditionellen männlichen Rappers als Vertreter eines parasitären Männlichkeitstypus. Im Song Hünd präsentiert sich das rappendes Subjekt nicht als parasitär, sondern als unterwürfig, ja als Hund, welcher seiner Meisterin gehorcht. Die Konstruktion hybrider Gestalten im Musikvideo, in welchem Frauen mit männlichem Habitus und männlicher Stimme singen, durchkreuzt darüber hinaus Gendereindeutigkeiten und löst Heteronormativität auf, weil letztlich nicht mehr klar ist, welchem Geschlecht die Figuren des Videos zugeordnet werden können und wie Begehren hier organisiert sein soll. Beide Videos brechen so Tabus der Hip-Hop-Kultur und liefern damit gegenhegemoniales Potenzial im Kampf gegen normative und patriarchale Gendervorstellungen. Diskografie 50 Cent 2003 a: “Many Men (Wish Death)”, auf: Get Rich or Die Tryin’. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=5D3crqpClPY [7. 7. 2016] 50 Cent 2003 b: “In da club”, auf: Get Rich or Die Tryin’. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www. youtube.com/ watch? v=5qm8PH4xAss [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 a: “Wysse Golf ”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www. chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 b: “Auti truurigi Männer”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 c: “Felä”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Dr. Dr feat Snoop Dog 1999: “Still Dre”, auf: 2001. Interscope. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=_CL6n0FJZpk [7. 7. 2016] Eminem 2000: “Kill You”, auf: The Marshall Mathers LP. Interscope Records. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 275 Eminem 2013: “Rap God”, auf: The Marshall Mathers LP 2. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=XbGs_qK2PQA [7. 7. 2016] Fler 2015: “Alles Fake”, auf: Keiner kommt klar mit mir. Maskulin. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube. com/ watch? v=IVdP69E6MOc [7. 7. 2016] Greis feat. Juri & Migo 2015: “Hünd”, auf: Hünd i parkierte Outos. Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www.greis.ch/ blog/ videos/ [7. 7. 2016] Jakebeatz 2015: “Ich gib nit uff ”, auf: 77th. PW Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=wQl3LEdVGVk [7. 7. 2016] L-Montana 2013 a: “Bad Boy”, auf: Bad Boy. Famestore. Videclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=D0gBRu3MKlE [7. 7. 2016] L-Montana 2013 b: “Club Mit de Gang”, auf: Bad Boy. Famestore. Lil’ Wayne 2008: “Lollipop”, auf: Tha Carter III. Young Money. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=2IH8tNQAzSs [7. 7. 2016] Bibliographie Androutsopoulos, Jannis K. & Arno Scholz 2003: “Spaghetti Funk: Appropriations of Hip-Hop Culture and Rap Music in Europe”, in: Popular Music & Society 26 (4): 463-479 Aulenbacher, Brigitte et al. (eds.) 2006: FrauenMännerGeschlechterforschung. 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