eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2015
383-4

Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive

2015
Martin Siefkes
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive Wie Äußerungstabus, mentale Grenzziehungen und gesellschaftliche Exklusion zusammenhängen Martin Siefkes (Chemnitz) This contribution proposes a semiotic approach to discourse that is based on cultural semiotics. It combines Juri Lotman’s description of cultures as interacting semiospheres with Roland Posner’s semiotic reconstruction of three areas of culture: material culture which comprises artefacts and texts, mental culture which comprises codes and knowledge, and social culture which comprises sign users (individuals and institutions). On this basis, a four-level model of discourse is proposed. Discourses are sign practices that encompass patterns on three levels - textual, mental, and social patterns - corresponding to the three areas of culture, as well as causal and semiotic connections between these levels. A fourth level is included to delimitate discourses from each other, using constraints on topic, time, and place. The semiotic model of discourse allows us to reconstruct taboos and exclusions as semiotic phenomena that can occur in, or have consequences in, all three areas of culture. Importantly, discursive taboos can now be understood in their connection to mental schemata of delimitation and categorization, and to social processes such as inclusion or exclusion of individuals and groups. 1 Kulturen als Bereiche geteilter Zeichensysteme 1.1 Kultur als Semiosphäre(n) Juri Lotman, der berühmte Semiotiker aus Tartu, hat die Kultur als Semiosphäre beschrieben, als Welt der Zeichen. Auf Deutsch ist sein im russischen Original “Внутри мыслящих миров” (ungefähr “Innerhalb der denkenden Welten”) betiteltes Buch unter dem etwas unglücklichen Titel “Die Innenwelt des Denkens” (Lotman 2010) erschienen, was nach einer kognitiven oder psychologischen Kulturtheorie klingt. Tatsächlich ist Lotman jedoch bei der Begriffsbildung für seine “semiotische Theorie der Kultur” - so der Untertitel - zunächst vom Konzept der Biosphäre ausgegangen, womit jener Teil der Erde bezeichnet wird, in dem Leben vorkommt, und hat sich insbesondere an Vernadskys Konzept der Noosphäre orientiert, welches Geist und Denken als einen Teil der Biosphäre auffasst (vgl. Vernadsky 1998). Lotman stellt allerdings nicht wie Vernadsky das denkende Individuum, sondern vielmehr den Zeichengebrauch, der Individuen miteinander verbindet und zu gesellschaftlichen Wesen macht, in den Mittelpunkt seiner kultursemiotischen Überlegungen. Lotman erklärt zunächst den Bezug von Biosphäre und Noosphäre wie folgt: Such a continuum we, by analogy with the concept of “biosphere” introduced by V. I. Vernadsky, will call the “semiosphere”. We must, however, warn against any confusion between the term “noosphere” used by V. I. Vernadsky and the concept of “semiosphere” here introduced. The noosphere is a specific stage in the development of the biosphere, a stage connected with human rational activity. Vernadsky’s biosphere is a cosmic mechanism, which occupies a specific structural place in planetary unity. Situated on the surface of our planet and including within itself the totality of living things, the biosphere transforms the radiated energy of the sun into the chemical and physical, and is concerned with the transformation of the inert inanimate materials of our planet; the noosphere occurs when human rational activity acquires a dominant role in this process. (Lotman 2005: 206 f.) Lotman grenzt somit seine Vorstellung einer Semiosphäre explizit von Vernadskys Noosphäre ab. Dafür gibt es gute Gründe: Das Konzept der Noosphäre ermöglicht für sich genommen noch keine überzeugende Lösung für den Materie-Geist-Dualismus, jenes Problem der europäischen Philosophie der Neuzeit, die keine Verbindung zwischen der naturwissenschaftlich beschreibbaren Welt physikalischer Prozesse und dem Bereich des menschlichen Denkens, Verstehens und Kommunizierens herstellen konnte. Vernadsky beschreibt zwar die geistige Welt als emergenten Bestandteil der materiellen Welt, aber wie die gegenseitige Interaktion von Geist und Materie möglich ist, bleibt unklar. Auf der Grundlage eines semiotischen Verständnisses des menschlichen Denkens wird es dagegen erstmals möglich, Zusammenhänge zwischen Zuständen und Eigenschaften der materiellen Welt und mentalen Zuständen und Ereignissen genau zu erfassen. Die Rolle der Semiotik bei der Auflösung dieses jahrhundertealten philosophischen Problems ist bisher nicht ausreichend gewürdigt worden: Die Semiotik war es, die die Relation von Materie und Geist, von materieller Grundlage und immateriellem Gehalt unserer Kultur nach Jahrhunderten der Verwirrung fassbar und erklärbar machte. Nur durch differenzierte, analytisch genaue und empirisch überprüfbare Zeichentheorien können irreführende Dichotomien wie “Körper vs. Geist” oder “Materie vs. Ideen”, die das europäische Denken über Jahrhunderte bestimmten, überwunden werden. (Siefkes 2015: 34 f.) Lotmans Überlegungen zur Semiosphäre lassen erkennen, dass ihm die bloße Abgrenzung eines Bereichs des Denkens, wie ihn Vernadskys “Noosphäre” darstellt, nicht ausreicht. Er will vielmehr zeigen, wie dieser Bereich systematisch sowohl mit der physikalischen Welt als auch mit den Menschen, die als Lebewesen Teil dieser Welt sind, in Verbindung steht. In seinem Konzept der “Semiosphäre” ist diese Verbindung enthalten, da er die Semiosphäre als Bereich miteinander interagierender Kodes bzw. Zeichensysteme beschreibt. 1 Diese ermöglichen Objektbezug und Referenz mit Hilfe von Zeichen und setzen somit die Konzepte und Ideen, die unser Denken bestimmen, in Verbindung zur uns umgebenden Welt. Zugleich 1 Die Termini “Kode” und “Zeichensystem” werden in diesem Beitrag nicht weiter differenziert. Ich neige im Rahmen einer allgemeinen Kulturtheorie dazu, den Terminus “Zeichensystem” zu präferieren, da “Kode” teilweise recht eng definiert wurde (vgl. etwa Eco 1976: 36-37; Watt/ Watt 1997; vgl. zu den Schwierigkeiten des Begriffs auch Eco 1984: 164-165), was die Einbeziehung von nicht-symbolischen Zeichensystemen wie Bildern und Filmen schwierig macht. Allerdings ist die Verwendung von “Kode” in der Kultursemiotik durch wichtige Grundlagentexte (neben den genannten Werken von Eco etwa auch Posner 2003) etabliert, wo teils auch bereits eine weiter gefasste Verwendungsweise vorgeschlagen wird oder impliziert ist. 204 Martin Siefkes (Chemnitz) sind die Menschen als Zeichenbenutzer in beiden Welten verortet: Sie sind als Lebewesen Teil der Biosphäre und damit der materiellen Welt; zugleich gehören sie als Zeichenbenutzer zur Semiosphäre, die wiederum in Gemeinschaften von Menschen untergliedert werden kann, die Zeichensysteme teilen und diese zur Kommunikation verwenden. Als solche Gemeinschaften geteilter Zeichensysteme expliziert Lotman die menschlichen Kulturen. 1.2 Kulturelle Grenzen Für unsere Fragestellung ist wichtig, dass Lotman die Semiosphäre nicht bloß als Metapher versteht, etwa für den “Bereich des Zeichenhaften” innerhalb einer Ontologie. Vielmehr möchte er die Semiosphäre als abstrakten, aber nicht metaphorischen Raum verstanden wissen: If the noosphere represents the three-dimensional material space that covers a part of our planet, then the space of the semiosphere carries an abstract character. This, however, is by no means to suggest that the concept of space is used, here, in a metaphorical sense. We have in mind a specific sphere, possessing signs, which are assigned to the enclosed space. Only within such a space is it possible for communicative processes and the creation of new information to be realised. (Lotman 2005: 207) Das Zitat macht deutlich, dass Lotman unter Semiosphäre einen begrenzten abstrakten Raum versteht, der mit Zeichen gekennzeichnet wird. Es bleibt unklar, was man sich unter der räumlichen Dimension hier vorzustellen hat, und wie dieser Raum abgegrenzt ist. An anderer Stelle wird jedoch deutlich, dass Lotman sowohl den gesamten Raum alles Zeichenhaften als auch einen spezifischen Kulturraum, der sich über geteilte Zeichensysteme und mit ihrer Hilfe produzierte Texte definiert, als Semiosphären ansieht (vgl. etwa Lotman 2005: 205 [Abstract]). Dabei ist wichtig, dass Lotman (2010: 164) anders als die strukturalistische Schule und auch als Umberto Eco (1976: 48-50; vgl. auch Proni 1998: 2314-2316) betont, dass Zeichensysteme (Kodes) nur in der “grammatischen Selbstbeschreibung” klar voneinander getrennt erscheinen, tatsächlich aber ineinander übergehen. Roland Posner hat die von Lotman vorgeschlagene Gliederung und Abgrenzung von Kulturen aufgegriffen und präzisiert (2003: 36). Posner zufolge kann zudem unterschieden werden zwischen dem Außerkulturellen, das den Mitgliedern einer Gesellschaft völlig unbekannt ist, und dem Nichtkulturellen, das ihnen bekannt ist, aber als gegensätzlich zur eigenen Kultur empfunden wird. Eine Kultur im Sinne Lotmans definiert sich nach außen hin über die Abgrenzung zum Nichtkulturellen, das als Gegenteil dessen aufgefasst wird, was die Kultur sich selbst zuschreibt: “Der Raum innerhalb dieser Grenze wird als ‘unser eigener’, als ‘vertraut’, ‘kultiviert’, ‘sicher’, ‘harmonisch organisiert’ usw. erklärt. Ihm steht der Raum ‘der anderen’ gegenüber, der als ‘fremd’, ‘feindlich’, ‘gefährlich’ und ‘chaotisch’ gilt” (Lotman 2010: 174). Die von Lotman zum Beleg dieser These angeführten Beispiele (ebd. 174-176) zeigen jedoch, dass er mit der Verallgemeinerung dieser Auffassung auf alle Kulturen vermutlich voreilig war: Er zitiert verschiedene christliche Chronisten, die jeweils einen heidnischen Stamm in simpler und abwertender Weise charakterisieren und in Gegensatz zur eigenen Religion und Lebensweise bringen. Aus diesen sehr spezifischen Beispielen lässt sich sicherlich nicht schließen, dass jede Kultur sich im Gegensatz zum außerhalb der Kultur Liegenden definieren würde. Lotman gibt auch keine Argumentation dafür an, dass es sich Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 205 um einen universellen Mechanismus und somit um eine Eigenschaft aller menschlichen Kulturen handelt. Historisch beobachtbare Kulturen zeigen in sehr unterschiedlichem Maß die Tendenz, sich von anderen Kulturen abzugrenzen. Wichtig ist zudem, dass eine explizite Ablehnung, wie sie etwa im christlichen Europa während des Mittelalters gegenüber dem islamischen “Orient” üblich war, oft von bestimmten sozialen Gruppen, Diskursen und Kontexten ausging, etwa der Selbstreflexion politischer und religiöser Kräfte, die keineswegs mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmen muss. In den meisten Fällen schlossen solche ablehnenden Positionen die Übernahme bestimmter Artefakte, Texte und Zeichensysteme aus anderen Kulturen keineswegs aus. Heute haben sich zudem die Funktionsweise von Kulturen und die Rolle von Abgrenzungen durch die zunehmende Globalisierung grundlegend verändert; es kann von einer allmählichen weltweiten Hybridisierung der Kulturen ausgegangen werden. Während etwa um 1600 die Kulturräume Chinas, Japans, Europas und des subsaharischen Afrikas trotz punktueller Kulturkontakte in Bezug auf die ihnen angehörigen Menschen, Zeichensysteme sowie Artefakte und Texte klar unterscheidbar waren, kann dies heute nicht mehr generell angenommen werden. Andererseits gliedern sich klassisch durch Raum- und Zeitgrenzen definierte Kulturen intern immer weiter auf. Es entstehen Subkulturen, die sich als raumzeitlich kongruente Differenzierungen im Bereich der Lebensweisen, der Kleidung, Musik, Wohneinrichtungen und auch eines Teilvokabulars der Sprache (vom Slang einer Jugendkultur bis zum Soziolekt) beschreiben lassen. 2. Von der Kultur zum Diskurs Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Kulturen ausgehend von Lotman als Semiosphären (Räume geteilter Zeichensysteme) rekonstruiert werden können. Kenntnis und Gebrauch von Zeichensystemen bestimmen dabei zu einem gewissen Grad über In- oder Exklusion von Individuen und Gruppen in einer Kultur, wobei heute nicht mehr von homogenen Kulturräumen mit deckungsgleich verbreiteten Zeichensystemen (Sprache, Gebräuche, Architektur, Techniken, Kleidung, Küche usw.) ausgegangen werden kann. Vielversprechender ist die kultursemiotische Untersuchung einzelner Zeichensysteme in Bezug auf ihre Verbreitung und auf ihre Verwendungsweisen einschließlich von Tabus und Verboten, die bezüglich Kontext, Ausdruck und Inhalt des Zeichengebrauchs feststellbar sind. Um das bisher allgemein Formulierte genauer untersuchen zu können, wird in diesem Abschnitt zunächst das semiotische Kulturmodell von Roland Posner sowie das darauf aufbauende 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse (vgl. Siefkes 2013) vorgestellt. In Abschnitt 3 wird dann beispielhaft verdeutlicht, wie auf dieser Grundlage eine semiotische Explikation von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen erfolgen kann. 2.1 Materiale Kultur, Mentalität und Gesellschaft Roland Posner unterscheidet in seinem Aufsatz “Was ist Kultur? ” drei Bereiche von Kulturen (Posner 1992: 33, vgl. auch Posner 2003: 47 f; 2004: 65), die hier leicht verändert übernommen werden: 206 Martin Siefkes (Chemnitz) (1) Die materiale Kultur (Zivilisation) besteht aus den Artefakten einer Kultur, physikalisch messbaren Ergebnissen menschlichen Handelns. Semiotische Gegenstände in diesem Bereich sind die Texte. (2) Die mentale Kultur (Mentalität) besteht aus den Mentefakten einer Kultur, geteilten geistigen Erzeugnissen des menschlichen Denkens und Handelns. Semiotische Gegenstände in diesem Bereich sind die Kodes (= Zeichensysteme) sowie das in einer Gesellschaft geteilte Wissen. (3) Die soziale Kultur (Gesellschaft) besteht aus den Menschen einer Kultur, den von ihnen gebildeten Institutionen sowie den Verhältnissen und Beziehungen, in denen Individuen und Institutionen zueinander stehen. Semiotische Gegenstände in diesem Kulturbereich sind die Zeichenbenutzer (Individuen und Institutionen). Bei diesen Definitionen wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, der unter anderem die Gesellschaft mit einschließt. Allerdings wird “Kultur” in der Anthropologie häufig auch in einem engeren Sinn gebraucht, der nur den Bereich (2) umfasst (Posner 1992: 31 f.). Wenn einem der weite Kulturbegriff nicht behagt, kann man daher auch den Bereich (1) als “Zivilisation” (Posner 1992: 13), den Bereich (2) als “Kultur [im engeren Sinn]” oder als “Mentalität” und den Bereich (3) als “Gesellschaft” bezeichnen. 2.2 Diskurse als Muster zwischen den Kulturbereichen Um die Rolle von Tabus genauer untersuchen zu können, ist es zudem nötig, die Interaktion von sozialen Strukturen, Mentalitäten und Texten in ihren verschiedenen Aspekten erfassen und analysieren zu können. Andernorts wurde verdeutlicht, dass dies mit Hilfe einer semiotischen Modellierung möglich wird (siehe Siefkes 2013): Der von Foucault eingeführte Begriff des Diskurses beruht auf der Annahme, dass der Gebrauch von Sprache (und aus semiotischer Perspektive auch von anderen Zeichensystemen) mit den Denkweisen einer Kultur sowie den Strukturen der jeweiligen Gesellschaft in Zusammenhang steht. Diese Annahme ist tatsächlich der entscheidende Vorteil des Diskursbegriffs gegenüber rein auf Sprachbzw. Zeichenverwendung abzielenden pragmatischen Sprach- und Textbegriffen, bei denen die Zusammenhänge zu anderen Aspekten von Kulturen unberücksichtigt bleiben. Allerdings erscheint der Diskursbegriff im ursprünglichen Sinn von Foucault zunächst als wenig geeignet, um in semiotische Kulturtheorien einbezogen zu werden. Er lässt sich jedoch mit semiotischen Mitteln in einem semiotischen Kulturmodell explizieren. Dafür greifen wir auf die Hypothese zurück, dass Diskurse den Zusammenhang zwischen Texten, Mentalität und Gesellschaft herstellen (vgl. Siefkes 2013: 361 [These 5]). Die Darstellung in Abb. 1 stellt eine erste Annäherung an diese Hypothese dar, indem sie Diskurse als übergreifenden Bereich visualisiert, der sich aus Teilen der drei Kulturbereiche zusammensetzt. Abb. 1: Diskurse als Vereinigungsmenge aus Teilmengen der drei Kulturbereiche. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 207 Diese Darstellung ist jedoch insofern unzureichend, als sie nicht verdeutlicht, wie die (disjunkten) Kulturbereiche im Diskurs zusammenhängen. Es wird nicht erkennbar, wie das Verhältnis der jeweils beteiligten Aspekte aufzufassen ist. Die drei von Roland Posner postulierten Kulturbereiche sind disjunkt (dies ergibt sich aus ihren Definitionen, die keine Überschneidungen zulassen; vgl. auch Posner 1992: 12, 31). Die Vorstellung, Diskurse setzten sich aus drei disjunkten Teilmengen zusammen, ist wenig überzeugend, solange die Zusammenhänge zwischen den Kulturbereichen nicht geklärt werden. Als Lösung dieses Problems bietet es sich an, eine zusätzliche Abstraktionsebene in die Betrachtung einzubeziehen, um die Beziehungen der drei Kulturbereiche innerhalb eines Diskurses genauer explizieren zu können. Diskurse sollen dabei mit Hilfe von Mustern beschrieben werden, die in den verschiedenen Kulturbereichen feststellbar sind und die in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Der Begriff Muster bietet sich an, weil Muster als Abstraktionen von Strukturen aufgefasst werden können, die bei konkreten Gegenständen oder Sachverhalten feststellbar sind. Für ein Muster gilt es als wesentlich, dass es sich in konkreten Instanzen an die Eigenschaften des Gegenstands oder Sachverhalts, worin es sich manifestiert, anpasst (vgl. Alexander u. a. 1977). Wir verstehen somit unter einem “Muster” nicht einen spezifischen Sachverhalt, sondern eine Struktur, die von den konkreten Bedingungen abstrahiert ist und daher auch unter anderen Bedingungen und bei anderen Gegenständen und Sachverhalten wiederkehren kann. Wir gehen davon aus, dass es solche Muster in allen Bereichen der Kultur gibt, und die Abstraktionsebene der Muster dazu geeignet ist, eine Verbindung zwischen den drei verschiedenen Kulturbereichen herzustellen. Für die hier vorgestellte Diskurstheorie werden vier verschiedene Typen von Mustern angenommen: Muster im Bereich der Texte (also einem Unterbereich der materialen Kultur), der mentalen Kultur und der sozialen Kultur werden als Textmuster, Mentale Muster und Soziale Muster bezeichnet. Ein Textmuster könnte etwa in der Betonung oder Meidung eines bestimmten Themas bestehen, ein mentales Muster in der Wahrnehmung und Einordnung von Ereignissen als mehr oder weniger wichtig, und ein soziales Muster in der Adressierung eines Mediums (etwa einer Zeitung) an bestimmte soziale Gruppen. Es ist offensichtlich, dass solche Muster manchmal miteinander zusammenhängen: Wird etwa einem bestimmten Thema in einem Medium besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet, so kann dies daran liegen, dass sich das Medium an bestimmte soziale Gruppen richtet, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer alltäglichen Lebenswelt dazu tendieren, bestimmte Themen für wichtig und andere für unwichtig zu halten. Solche Zusammenhänge sind wiederum mit einem gewissen Abstraktionsgrad beschreibbar, da sie für verschiedene Themen, Medien und soziale Gruppen auftreten, und können daher als Muster aufgefasst werden. Es wird daher eine weitere Kategorie von Mustern eingeführt, nämlich Diskursmuster, die in einem bestimmten Zusammenhang zwischen Mustern mehrerer Kulturbereiche bestehen. Diskursmuster: Ein Diskursmuster beschreibt Kausal- und Zeichenprozesse, die die Verbindung zwischen Textmustern (und damit dem Bereich der materialen Kultur oder Zivilisation), mentalen Mustern (und damit der mentalen Kultur oder Mentalität) und/ oder sozialen Mustern (und damit der sozialen Kultur oder Gesellschaft) herstellen. Diskursmuster können somit als “Muster zweiter Ordnung” betrachtet werden, die Muster in den drei Kulturbereichen in Zusammenhang bringen. 208 Martin Siefkes (Chemnitz) Abb. 2 gibt einen Überblick über die drei Kulturbereiche (die für sie zuständigen Wissenschaften werden jeweils in Kapitälchen angegeben) und ihre Zusammenhänge, die in Diskursmustern beschrieben werden können. Abb. 2: Diskursmuster bestehen aus Mustern in den drei Kulturbereichen, die durch Kausal- und Anzeichenprozesse verbunden sind. Die Pfeile bezeichnen die Zusammenhänge zwischen den Bereichen. Prinzipiell lassen sich Muster in allen drei Bereichen als Anzeichen für Muster in anderen Bereichen interpretieren. In der Diskursanalyse erfolgt die Interpretation jedoch ausgehend von Texten, daher sind nur die entsprechenden beiden Pfeile eingezeichnet. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 209 2.3 Das 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse Im Folgenden wird ein Mehrebenen-Modell des Diskurses, das den Fokus auf die Kausalverhältnisse und Zeichenprozesse zwischen den verschiedenen Ebenen legt, vorgestellt (vgl. ausführlicher Siefkes 2013). In der Literatur gibt es bereits eine Reihe von Ansätzen, Diskurse auf mehreren Ebenen zu beschreiben; genannt seien DIMEAN (Diskurslinguistische Mehr- Ebenen-Analyse; vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008 a: 23-45) sowie die Konzeption von Constanze Spieß (2008). Offensichtlich teilen viele gegenwärtige Diskurstheoretiker die Intuition, dass Diskurse nicht auf einer Ebene allein beschreibbar sind, ohne sie unzulässig zu reduzieren und damit den analytischen Mehrwert gegenüber bereits etablierten Begriffen und Untersuchungsmethoden zu verlieren. Wer sich heute auf den schwierigen Begriff ‘Diskurs’ mit seinen noch immer vorhandenen theoretischen Unsicherheiten einlässt - so könnte man vermuten -, tut dies häufig gerade mit der Absicht, damit Brücken zwischen verschiedenen Bereichen und den für sie zuständigen Disziplinen zu schlagen. Nun ist es keineswegs etwas Neues, dass Zeichenpraktiken mit materialen, mentalen und sozialen Bedingungen zusammenhängen; entsprechende Überlegungen können vielmehr (zunächst ausschließlich bezogen auf die Sprache) bis in die Anfänge der kulturbezogenen Reflexion etwa bei Herder oder Hegel zurückverfolgt werden. Das spezifische Versprechen der Diskurstheorie liegt jedoch darin, eine systematische Beschreibung solcher Bezüge zu ermöglichen. Denn so oft auch betont wurde, dass unser Sprechen durch die uns umgebende Zivilisation, Mentalität und Gesellschaft bestimmt ist, so selten traute man sich, konkrete Prinzipien dafür anzugeben, welche Bedingungen zu welchen Äußerungen führen. Indem Diskursanalysen zeigen wollen, dass bestimmte Zeichenpraktiken auf bestimmte Gegebenheiten verweisen, stellen sie zugleich den Anspruch auf, dass Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen bestehen und systematisch beschrieben werden können. Bereits in ihrer Fragestellung ist die Diskursanalyse daher grundlegend interdisziplinär. Die Diskursanalyse erweitert damit auch die traditionelle Frage der Pragmatik nach der Kontextabhängigkeit von Äußerungsbedeutungen zu der weit umfassenderen Überlegung, welchen Beitrag materiale, mentale und soziale Rahmenbedingungen zu tatsächlichen Zeichenpraktiken geleistet haben. Dabei ist sie jedoch realistisch und strebt nur partielle Erklärungen an, schließlich besteht kein deterministischer Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Denkweisen und Zeichengebrauch. So wird jeder konkrete Diskurs durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst, die in unterschiedlicher Weise zusammenwirken können; daher sind keine deterministischen Kausalrelationen (“die Bedingungen x führen zu Texten mit den Eigenschaften y” oder “Texte mit den Eigenschaften y werden durch die Bedingungen x erzeugt”) zu erwarten. Überdies besteht individueller Spielraum im Zeichengebrauch: Persönlichkeit, Erfahrungen und Willen der Zeichenbenutzer können unter denselben Bedingungen zu unterschiedlichen Zeichenhandlungen führen. Daher sind alle in einem Diskurs festgestellten Bezüge zwischen den Ebenen, ebenso wie allgemeine Aussagen über das Verhältnis der Ebenen zueinander, immer mit der Unsicherheit behaftet, dass möglicherweise nicht alle relevanten Faktoren einbezogen wurden. Im Folgenden werden die vier Ebenen des Modells genauer dargestellt und dabei zugleich die in einer Diskursanalyse stattfindenden Prozesse erläutert. 210 Martin Siefkes (Chemnitz) 2.3.1 Ebene 1: Themen, räumliche und zeitliche Eingrenzungen Diese Ebene dient im Modell dazu, einen Diskurs durch Angabe von thematischen, zeitlichen und räumlichen Bedingungen abzugrenzen. Alle innerhalb der Zeit- und Ortsgrenzen vollzogenen Zeichenhandlungen mit Bezug zu dem entsprechenden Thema bilden die Menge der diskurskonstituierenden Zeichenhandlungen; alle dabei erzeugten Texte bilden die Menge der diskurskonstituierenden Texte. Es ist dabei zu beachten, dass Texte zwar unmittelbar das Ergebnis produktiver Zeichenhandlungen sind, aber auch durch rezeptive Zeichenhandlungen beeinflusst werden. So kann man etwa aus den diskurskonstituierenden Texten häufig auch erkennen, welchen Produzentengruppen durch die Rezipienten mehr oder weniger Aufmerksamkeit gewidmet und wie ernst ihre Beiträge genommen wurden. In manchen Diskurstheorien wird keine gegenseitige Abgrenzung von Diskursen gefordert. Tatsächlich ergibt sich dies nicht notwendig aus der bislang skizzierten Auffassung von Diskursen als Mustern in den drei Bereichen einer Kultur, sondern wird als weitere Ebene hinzugefügt. Im Prinzip könnten Diskurse ohne Angabe von Grenzen untersucht werden. Es gibt aber sowohl empirische als auch theoretische Gründe für die Einführung dieser Ebene. In empirischer Perspektive zeigt sich, dass beim Sprechen über Diskurse in wissenschaftlichen oder alltäglichen Kontexten fast immer ein (unterschiedlich weit gefasster) Themenbereich benannt wird: etwa der “Diskurs zur Rasterfahndung” oder der “Drogendiskurs”. Ebenso wird in Aussagen über Diskurse oft eine Abgrenzung nach Ort und Zeit vorgenommen, die entweder explizit benannt oder implizit vorausgesetzt werden (wobei sie aus der Beschreibung zeitlicher Entwicklungen und örtlicher Differenzierungen oder an den genannten Beispielen erschlossen werden können). Außerhalb wissenschaftlicher Kontexte werden diese Grenzen jedoch meist nicht scharf gezogen: Es wird vielleicht vom “Universitätsreform-Diskurs der letzten Jahrzehnte” gesprochen und die gewählten Beispiele lassen erkennen, dass eine implizite Eingrenzung auf Deutschland und Frankreich vorgenommen wurde. Räumliche Abgrenzungen ergeben sich häufig auch über den Kontext des Texts (etwa das “Deutschland”-Ressort einer Tageszeitung), oder das übergeordnete Thema (etwa wenn ein Text in einer “Europa”- Kolumne erscheint). Es ist nicht immer offensichtlich, wie sich das Thema einer diskurskonstituierenden Textmenge zu ihrem Inhalt verhält, wobei unter dem Inhalt eines Diskurses der vollständige semantische Gehalt der diskurskonstituierenden Texte verstanden werden soll. Das Thema eines Diskurses wird stets eine wichtige Rolle im Inhalt der ihn konstituierenden Texte spielen, aber der Inhalt der Texte muss sich nicht auf das Diskursthema beschränken. Bei einem einzelnen Text ist das Thema als jener Aspekt definierbar, auf den die Darstellung und/ oder Argumentation hauptsächlich fokussieren. Bei Diskursen ist das Diskursthema nicht immer auch Thema jedes einzelnen Texts, der zum Diskurs gehört. Im Regelfall ist der Inhalt eines Diskurses damit heterogener als derjenige eines Einzeltexts und beinhaltet einen größeren Anteil an Aussagen, die sich nicht unmittelbar auf das Diskursthema beziehen. Auch wenn man den betrachteten Inhalt eines Diskurses auf jene Aussagen innerhalb der diskurskonstituierenden Texte einschränkt, die sich direkt auf das Diskursthema beziehen, ist immer noch mit einer größeren inhaltlichen Variation zu rechnen als bei einem einzelnen Text: In einem Diskurs werden mehr Aspekte eines Themas diskutiert und die darüber getroffenen Aussagen sind deutlich heterogener als bei einem durchschnittlichen Einzeltext. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 211 In einer semiotischen Diskurstheorie, die Zeichenpraktiken in unterschiedlichen Kodes einbezieht, ist die Annahme eines Diskursthemas nicht offensichtlich: Bei manchen Kodes ist es im Vergleich zur Sprache schwerer herauszufinden, worin das Diskursthema besteht. Betrachtet man allerdings Zeichenpraktiken im Bereich der Bilder, des Films oder der Architektur, dann kann man auch hier durchaus von thematischen Festlegungen ausgehen: Beispielsweise kann man die Darstellung von Vampiren in Bildern und Filmen als visuellen Vampir-Diskurs betrachten, den Ausdruck von Repräsentation in der Architektur als architektonischen Repräsentations-Diskurs, oder die Verhandlung von Angst in Kinesik (Mimik, Gestik und Körperhaltung) als kinesischen Angst-Diskurs. Alle diese Zeichenpraktiken hängen mit materialen, mentalen und gesellschaftlichen Bedingungen zusammen und bilden daher Diskurse. Die Beispiele zeigen, dass es auch außerhalb der Sprache sinnvoll ist, eine thematische Einteilung von Diskursen anzunehmen, die die Komplexität und Vielfalt der Zeichenhandlungen in inhaltlich bestimmbare (und meist auch durch interne Bezugnahmen verbundene) Bereiche untergliedern. 2.3.2 Ebene 2: Texte Ein Diskurs besteht aus einer Menge von Zeichenhandlungen, deren Ergebnisse Texte (Artefakte mit kodierter Bedeutung) sind. In unserem Modell der Diskursanalyse gehen wir davon aus, dass die eine Zeichenpraktik konstituierenden Zeichenhandlungen nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern nur ihre Ergebnisse, also eine Menge von Texten. Diese bilden in der Praxis den Ausgangspunkt von Diskursanalysen, wobei allerdings ergänzend ihre zeitliche Abfolge, ihre Funktion, ihr thematischer Zusammenhang sowie Informationen über ihre Produzenten und Adressaten und die Umstände ihrer Erzeugung und Rezeption herangezogen werden, also all jene Aspekte, die eine Zeichenpraktik kennzeichnen. Viele Diskurstheorien und alltagssprachliche Verwendungsweisen des Begriffs gehen daher davon aus, dass Diskurse sich auf der Ebene der Texte befinden: “Im Anschluss an Foucault wird in einer sprachwissenschaftlichen Perspektivierung unter Diskurs eine Ansammlung von Texten verstanden, die einer gemeinsamen Wissensformation angehören [. . .]. Diskurse sind in linguistischer Perspektivierung [. . .] in erster Linie konstituiert durch die serielle Streuung von Texten, die durch den Forscher zu einem Textkorpus selegiert werden” (Spieß 2008: 246). Insbesondere in quantitativen korpusanalytischen Ansätzen wird oft vorausgesetzt, dass eine auf angemessene Weise eingegrenzte Menge von Texten mit einem Diskurs gleichgesetzt werden kann. In diesem Fall würde es ausreichen, die zu einem Diskurs gehörenden Texte zu kennen, um alles Wesentliche über den Diskurs zu wissen. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass eine Diskursanalyse dann gar nicht nötig wäre; eine Zusammenfassung der Texte, eventuell verbunden mit einer Textanalyse, würde genügen, um den Diskurs vollständig zu erfassen. Der philosophischen Tradition des Diskursbegriffs würde eine solche Auffassung sicherlich nicht gerecht: Die Überlegungen, die Jacques Lacan, Jean-François Lyotard, Michel Foucault oder Jürgen Habermas angestellt haben, haben bei allen Differenzen gemeinsam, dass ihnen Diskurse als lohnender Ausgangspunkt kulturgeschichtlicher und gesellschaftspolitischer Reflexion gelten. Aber auch aus linguistischer Sicht hätte eine solche Diskursauffassung einen geringen Erkenntniswert; schließlich hat die seit den 1960er Jahren 212 Martin Siefkes (Chemnitz) etablierte Textlinguistik ein umfassendes Repertoire textanalytischer Verfahren vorzuweisen, und auch für die Untersuchung der Verbindungen zwischen Texten stehen Verfahren bereit (von der Untersuchung direkter und indirekter Zitate und thematischer Bezugnahmen bis hin zu Stilvergleichen). Aufgrund dieser Überlegungen halten wir fest: (a) Eine Menge von produktiven und rezeptiven Zeichenhandlungen (die anhand ihres Ergebnisses, einer Menge von Texten, untersucht werden kann) bildet den Kernbereich eines Diskurses, in dem dieser sich sinnlich wahrnehmbar niederschlägt (dazu gehören natürlich auch nicht permanente Texte wie mündliche Äußerungen, diese sind ebenfalls physikalisch messbare Ereignisse, die von uns akustisch wahrgenommen werden). (b) Diskurse sind jedoch Zeichenpraktiken (vgl. die Definition in Abschnitt 3) und können nicht auf eine (beliebig zusammengestellte) Menge von Zeichenhandlungen reduziert werden. Erst in den Bezügen zur mentalen Kultur (Mentalität) und zur sozialen Kultur (Gesellschaft) bilden Zeichenhandlungen/ Texte einen Diskurs, denn genau diese Bezüge unterscheiden eine Zeichenpraktik von einer beliebigen Menge von Zeichenhandlungen. (c) Dabei sind nicht alle Aspekte der auf Ebene 2 gefundenen Texte gleichermaßen relevant (beispielsweise wird eine Stilinterpretation typischerweise nicht Teil einer Diskursanalyse sein); vielmehr sind nur solche Textmuster diskursiv relevant, die auf Aspekte der Zeichenpraktiken, also des realen Zeichengebrauchs durch bestimmte Personen unter bestimmten Bedingungen, zurückgehen und daher in einer Verbindung mit mentalen und sozialen Verhältnissen stehen. 2 Daraus ergibt sich auch, dass Diskursanalysen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Beschreibung von Diskursen werden. Anders als beispielsweise die Stilinterpretation (vgl. Siefkes 2011: 20-23, 2012: 91-93), die ein nicht notwendiger Bestandteil der Wahrnehmung eines Stils ist, 3 kann ein Diskurs ohne eine Diskursanalyse, die zunächst Muster auf Ebene 2 isoliert und davon ausgehend nach relevanten Mustern auf den Ebenen 3 und 4 sucht, nicht angemessen beschrieben werden. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Zeichenhandlungen auch auf jene Muster innerhalb der materialen Kultur bezogen werden können, die keine Textmuster sind, also auf Muster im Bereich der Zivilisation (= der Artefakte), die sich außerhalb des Teilbereichs der Texte befinden. Verändern sich etwa die technischen Medien (Artefakte, mit denen Zeichen produziert oder empfangen werden), so verändert dies häufig auch die Zeichenhandlungen, die mit ihrer Hilfe ausgeführt werden, und die dabei produzierten Texte. Dies geht aber in der Regel mit gesellschaftlichen Veränderungen einher und kann daher meist auch über Bezüge zur Ebene 4 erfasst werden. Aus Gründen der Einfachheit wird im vorliegenden Modell auf eine explizite Berücksichtigung des Bezugs von Zeichenhandlungen auf materiale Muster außerhalb des Bereichs der Texte verzichtet (= kodierten Artefakte). 2 Dass Diskursanalysen von Mustern in Texten ausgehen, verdeutlicht Bubenhofer (2009), indem er die Methodik korpuslinguistischer Diskursanalysen ausgehend von “Sprachgebrauchsmustern” erklärt. 3 Das Wahrnehmen eines Stils kann sich auch auf die Feststellung stilistischer Merkmale ohne weitere Interpretation beschränken (Siefkes 2012: 234). Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 213 2.3.3 Ebene 3: Kodes und Wissen Diskurse werden durch die Bedingungen bestimmt, unter denen sie von den Diskursteilnehmern vollzogen werden. Dazu gehören nicht nur äußerlich erkennbare Eigenschaften und Strukturen der Gesellschaft, in der sie sich abspielen (Ebene 4). So zeigen Vergleiche von Gesellschaften, die in den diskursrelevanten Eigenschaften ähnlich sind, dass mentale Bedingungen einen erheblichen Einfluss auf Diskurse haben, etwa auf ihre Inhalte und Argumentationen, auf ihren Verlauf und auch darauf, ob es zu einem bestimmten Thema überhaupt einen Diskurs gibt. Betrachtet man etwa die diskursive Verhandlung von Migration oder Homosexualität in verschiedenen Ländern, dann wird deutlich, dass manche Unterschiede weder durch unterschiedliche Auswirkungen dieser Phänomene noch durch Unterschiede in der Sozialstruktur, den Machtverhältnissen, den Medienstrukturen oder anderen Faktoren, die diese Diskurse beeinflussen könnten, erklärbar sind. Dies spricht dafür, eine eigene Ebene in unser Diskursmodell aufzunehmen, die den Bereich umfasst, den wir vortheoretisch als “Denkweisen”, “Annahmen”, “Voreinstellungen”, “Ideen”, “Hintergrundwissen” usw. charakterisieren. Die Ebene 3 umfasst den von Roland Posner definierten Bereich der “mentalen Kultur” (Posner 1992: 31 f; Posner 2003: 53), mit einer leicht abgewandelten Definition. Dieser Bereich umfasst die “Mentefakte”, eine Parallelbildung zu “Artefakt”, die jene menschlichen Hervorbringungen bezeichnet, die primär mental repräsentiert werden und typischerweise nicht als das Ergebnis einzelner Handlungen angesehen werden können, sondern sich durch Konventionalisierungsprozesse (vgl. Lewis 1969) in einer Kultur herausbilden. “Die mentale Kultur einer Gesellschaft besteht aus Mentefakten (d. h. Systemen von Ideen und Werten) und den Konventionen, die ihre Verwendung und Darstellung bestimmen.” (Posner 1992: 13) “Doch wie lassen sich Mentefakte semiotisch charakterisieren? Diese Frage ist in unserem theoretischen Rahmen leicht zu beantworten. Ein Mentefakt kann in einer Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn diese über ein Substrat verfügt, das eine Mitteilbarkeit gewährleistet, d. h. wenn es einen Signifikanten gibt, dessen Signifikat das Mentefakt ist. Außerdem treten Paare von Signifikanten und Signifikaten immer nur im Systemzusammenhang auf. Da Systeme von Signifikant-Signifikat-Paaren als Kodes bezeichnet werden, führt diese Überlegung zu dem Resultat, daß sich jede mentale Kultur als Menge von Kodes auffassen läßt.” (ebd.: 32) Aus dieser Überlegung ergibt sich, dass jedes Mentefakt ein Kode oder Teil eines Kodes ist. Die Argumentation beruht dabei allerdings auf der Voraussetzung, dass die entsprechenden Mentefakte “in einer Gesellschaft [. . .] eine Rolle spielen”, also konventionalisiert sind. Individuelle Vorstellungen und persönliche Gedanken, die nicht zumindest mit einem Teil der Menschen einer Gesellschaft geteilt werden, sind damit in der mentalen Kultur nicht enthalten. Zusätzlich zu den Kodes wollen wir aber auch das konventionalisierte, also kulturell geteilte Wissen in die mentale Kultur einbeziehen. Sprachlich formulierte Aussagen und Argumentationen, Diagramme, Grafiken, Visualisierungen von Sachverhalten usw. werden zum Wissen gezählt; es wird in der Regel in Kodes ausgedrückt und gespeichert. In nichtkodierten Zeichen ist das zwar auch möglich, aber da deren Zeicheninhalt kontextabhängig ist, ist eine stabile Weitergabe und dauerhafte Speicherung dann kaum möglich. Relevante Mentefakte können auf verschiedene Weise auf die Diskursteilnehmer wirken: Sie können unmittelbar für das Diskursthema relevant werden, etwa wenn Vorstellungen 214 Martin Siefkes (Chemnitz) über bestimmte Länder den Migrationsdiskurs bestimmen, aber sie können sich auch in grundlegender Weise auswirken, etwa wenn in einer Kultur eine Tradition der Toleranz besteht und den Umgang mit Migration beeinflusst, indem sie einen pauschalen Ausschluss einer gesellschaftlichen Gruppe geradezu undenkbar werden lässt, oder eine umgekehrte Tradition solche Ausschlüsse (etwa gegen politisch andersdenkende Gruppen) bereits etabliert hat und sie daher auch bei Migranten naheliegend erscheinen. Die Muster auf dieser Ebene können auf verschiedene Weise beschrieben werden. In den letzten Jahrzehnten hat die kognitive Semantik umfangreiche Darstellungsmittel bereitgestellt, die geeignet zur Beschreibung mentaler Muster sind. Strukturalistische Analysen ermöglichen es, semantische Oppositionen zu finden, Kategorien mittels semantischer Merkmale voneinander abzugrenzen und damit Bezüge innerhalb von Begriffssystemen und anderen Kodes zu klären. Auch das Konzept der Tiefensemantik von Paul Ricœur (1972) kann fruchtbar gemacht werden. Häufig wird in Diskursanalysen auch einfach auf natürlichsprachliche Beschreibungen von mentalen Mustern zurückgegriffen. 2.3.4 Ebene 4: Individuen und Institutionen Jeder Diskurs findet in einer Gesellschaft statt, die aus Individuen, aus sozialen Gruppen (durch bestimmte Eigenschaften abgrenzbaren Mengen von Individuen) und aus Institutionen, sowie aus Relationen zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen besteht. 4 Als Institution gilt in semiotischer Perspektive jede Gruppe von Zeichenbenutzern, die regelmäßig durch Zeichenprozesse miteinander verbunden sind, sofern sie auch nach außen als Zeichenbenutzer auftreten kann (Posner 2003: 49). Dazu gehören Behörden, Universitäten und Unternehmen, die einen Briefkopf besitzen und bei denen einzelne Mitglieder im Namen der Institution kommunizieren, aber auch Vereine, Clubs, Theater und Bands, die Logos und Webseiten besitzen, und sogar Jugendgruppen und Gangs, die Symbole haben und bei denen einzelne für die Gruppe sprechen können. Die Ebene 4 entspricht damit dem von Roland Posner definierten Bereich der “sozialen Kultur” (Posner 1992: 16-18; Posner 2003: 49 f.). Zu den Relationen zwischen sozialen Gruppen und Institutionen gehören soziale Verhaltens- und Interaktionsmuster, etablierte Wirtschafts- und Kommunikationsstrukturen, Gruppen- und Netzwerkbildung, ökonomische Unterschiede, Machtverhältnisse, soziale Stratifizierung (Klassenbildung), Ein- und Ausschlüsse in bestimmten Kontexten und vieles mehr. Wichtig ist für unsere Zwecke, dass diese Relationen ihre Spuren im Zeichengebrauch der Individuen und Institutionen hinterlassen. Wir wollen alle spezifischen Ausprägungen von Relationen zwischen Individuen oder Institutionen einer Gesellschaft als soziale Muster bezeichnen. Ein soziales Muster liegt also beispielsweise vor, wenn eine Gesellschaft in mehrere Klassen (Schichten) getrennt ist, die sich durch unterschiedliche soziale und ökonomische Teilhabe unterscheiden; wenn Institutionen oder Gruppen unterschiedliche wirtschaftliche Interessen haben oder unterschiedlich arm bzw. reich sind; wenn unterschiedliche Medien von unterschiedlichen 4 Relationen zwischen Individuen werden gewöhnlich nicht als gesellschaftlich angesehen; so ist beispielsweise die Freundschaft zwischen zwei Menschen eine private Angelegenheit, die jedoch dann gesellschaftlich relevant wird, wenn die beiden Menschen unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 215 sozialen Gruppen kontrolliert werden; wenn in einer Auseinandersetzung zwischen zwei sozialen Gruppen die eine den Ton angibt, während über die andere nur gesprochen wird; wenn Individuen oder Gruppen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position von einem Problem unterschiedlich stark betroffen sind; wenn Gruppen größeren Zugang zu oder größeren Nutzen von einer Technologie haben; wenn sich Institutionen oder Gruppen in ihren Verhaltens- und Interaktionsmustern erkennbar unterscheiden; wenn Institutionen oder Gruppen einen unterschiedlichen Umgang mit einer bestimmten anderen Institution oder Gruppe oder mit der natürlichen Umwelt pflegen; usw. Alle diese Muster können auf verschiedene Weise Diskurse beeinflussen, etwa indem sie zu Untersträngen, Abgrenzungen und Gegensätzen innerhalb des Diskurses führen, indem sie unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zum Diskurs erzeugen, indem gesellschaftliche Interessengegensätze zu gegensätzlichen Diskurspositionen führen, indem der Grad der wirtschaftlichen Verbindung zwischen Institutionen sich in diskursiver Nähe oder Ferne ausdrückt, indem Interessen bestimmter Diskursteilnehmer den anderen bekannt sind oder verborgen bleiben, indem Macht- oder Reichtumsunterschiede unterschiedliche Haltungen zu den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen bedingen, indem mangelnde gesellschaftliche Teilhabe an bestimmten Tätigkeitsfeldern (etwa Politik, Kunst oder Wissenschaft) sich in diskursiver Gleichgültigkeit gegenüber diesen Feldern auswirkt, usw. Dabei ist jeweils auch die umgekehrte Beeinflussung möglich, da Zeichenpraktiken eine wirklichkeitskonstituierende Funktion besitzen: Entsprechende Muster in Diskursen wirken auf die Gesellschaft zurück, indem sie dort entsprechende Muster schaffen, verfestigen und/ oder verschleiern. In Diskursanalysen können unterschiedliche Verfahren angewandt werden, um Zusammenhänge zwischen sozialen Mustern und Textmustern zu analysieren. An wissenschaftliche Diskursanalysen ist der Anspruch zu stellen, dass die zugrunde gelegten soziologischen Theorien und Hypothesen über die Auswirkung sozialer Unterschiede in bestimmten Textmustern offengelegt und reflektiert werden. 2.4 Überblick über das Modell Jeder Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass sich auf jeder der vier Ebenen bestimmte Strukturen feststellen lassen, die ihn kennzeichnen. Dies heißt allerdings nicht, dass alle vier Ebenen gleichermaßen konstitutiv für einen Diskurs sind. Bei Diskursen handelt es sich um Praktiken des Zeichengebrauchs: Im engeren Sinn befindet sich jeder Diskurs somit auf Ebene 2. Allerdings sprechen wir bei Zeichengebrauch gewöhnlich nur dann von Diskursen, wenn die Muster auf der Ebene 2 mit Mustern auf den Ebenen 3 und 4 in Verbindung stehen; in der Regel erfolgt zudem auch eine Abgrenzung auf Ebene 1. Die Tatsache, dass Diskurse überhaupt durch Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen charakterisiert werden können, lässt sich aus der Auffassung von Diskursen als Zeichenpraktiken erklären, die in Abschnitt 3 eingeführt wurde. Zeichenpraktiken hängen (wie alle Praktiken) thematisch, räumlich und zeitlich miteinander zusammen; daraus ergibt sich auch, dass sie in einer bestimmten Gesellschaft und kulturellen Umgebung stattfinden, die durch bestimmte soziale Strukturen und Denkweisen gekennzeichnet ist. Abb. 3 stellt das semiotische 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse dar. Die Darstellung basiert weitgehend auf Abb. 2. Die Diskursmuster eines Diskurses (gestrichelt umgrenzt) bestehen in allen feststellbaren Zusammenhängen zwischen Mustern auf den Ebenen 2 bis 4, die innerhalb eines auf Ebene 1 eingegrenzten Diskurses zu finden sind. Jede Diskursanalyse 216 Martin Siefkes (Chemnitz) untersucht einen solchen Bereich. Allerdings werden die in einer konkreten Diskursanalyse gefundenen Muster zusätzlich durch die gewählte Methode (z. B. quantitative vs. qualitative Analyse) eingeschränkt, da jede Methode nur bestimmte Mustertypen findet. Abb. 3: Semiotisches 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse. Jede Diskursanalyse beruht auf der Suche nach Diskursmustern innerhalb einer bestimmten auf Ebene 1 eingegrenzten Textmenge (einem Diskurs im engeren Sinn). Ein Diskursmuster besteht aus Kausalverhältnissen, die es ermöglichen, bestimmte Textmuster als Anzeichen für bestimmte mentale oder soziale Muster zu interpretieren. Diskursmuster sind regelhafte Zusammenhänge zwischen Textmustern, mentalen und sozialen Mustern. In einem konkreten Diskurs können gar keine, wenige oder viele Diskursmuster vorliegen. Da es viele Einflussfaktoren gibt, führt ein bestimmtes mentales oder soziales Muster nicht notwendigerweise zu einem bestimmten Textmuster, und in umgekehrter Richtung sind keine eindeutigen Schlüsse möglich. Ausgehend von einem Textmuster muss daher immer zunächst postuliert werden, dass ein bestimmtes Diskursmuster im untersuchten Diskurs wirksam geworden ist, bevor auf Aspekte der Mentalität und Gesellschaft geschlossen werden kann. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 217 Jede Diskursanalyse kann daher als eine Menge von Abduktionen beschrieben werden. Die Abduktion wurde von Charles S. Peirce als drittes logisches Schlussverfahren zusätzlich zur Deduktion und Induktion eingeführt (Peirce 1931-1958, 5.171; vgl. auch Pape 1998: 2034); er betrachtete sie als das einzige kenntniserweiternde Schlussverfahren. Bei der Abduktion wird aufgrund einer beobachtbaren Einzeltatsache eine Regel angenommen, zu der die Einzeltatsache einen Fall darstellt. Bei einer Abduktion werden somit zwei Annahmen getroffen: Es wird (a) eine Hypothese aufgestellt, die eine Regel postuliert, und es wird (b) ein konkreter Sachverhalt als Fall der postulierten Regel eingestuft. Aufgrund dieser Überlegungen können wir nun eine weitere Definition einführen: Diskursanalyse: Eine Diskursanalyse ist ein Interpretationsprozess, bei dem innerhalb einer (meist thematisch sowie nach Ort und Zeit eingegrenzten) Textmenge nach Textmustern gesucht und diese als Anzeichen für mentale und/ oder soziale Muster interpretiert werden. Diskursanalysen beruhen auf Hypothesen über das Vorliegen bestimmter Zusammenhänge zwischen den Ebenen, die als “Diskursmuster” bezeichnet werden können, in dem untersuchten Diskurs. Diskursanalysen kommen in Form wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch in Medienberichten oder in alltäglichen Gesprächen vor. 3. Grenzen und Tabus aus kultursemiotischer Perspektive Mit dem vorgestellten Beschreibungsapparat lassen sich nun verschiedene Fälle von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen untersuchen. 3.1 Diskriminierung und Ausgrenzung Beginnen wir mit dem Fall der Ausgrenzung oder Exklusion (vgl. Bude 2004; einen Überblick gibt Bude/ Willisch 2006). In diesem Fall wird eine Gruppe nicht als Teil einer Kultur akzeptiert. Von Ausgrenzung waren traditionell oft religiöse Minderheiten (etwa die Juden in Europa) betroffen, heute sind Migranten, ökonomisch Benachteiligte, Menschen mit bestimmten sexuellen Präferenzen und manchmal auch Alte und Kranke von Ausgrenzung betroffen (vgl. Beck-Gernsheim 2004). Dabei sind unterschiedliche Grade der Ausgrenzung möglich, von der Geringschätzung einer Gruppe, die nicht als “vollwertiger” Bestandteil einer Kultur gilt, aber zweifellos irgendwie dazu gehört (etwa Prostituierte oder Sozialhilfeempfänger) bis hin zur vollständigen Ausgrenzung, wie sie etwa Juden über lange Zeiträume der europäischen Geschichte widerfuhr, in denen sie weitgehend rechtlos waren. Heute wird häufig von Migranten gefordert, dass sie sich in eine Kultur integrieren sollen. Dies kann so weit gehen, dass de facto das Verschwinden der Migranten als erkennbarer Gruppe innerhalb einer Kultur gefordert wird; in diesem Fall handelt es sich um vollständige Ausgrenzung. Was wird hier jedoch ausgegrenzt? Auf den ersten Blick ist die Antwort: “Menschen”. Doch tatsächlich ist die Lage komplizierter. So wie Migranten meist akzeptiert werden, wenn sie sich vollständig integrieren, wurden auch Juden in der europäischen Geschichte oft nicht 218 Martin Siefkes (Chemnitz) mehr verfolgt, sobald sie zum Christentum konvertierten. Dies deutet darauf hin, dass Ausgrenzung primär in der Mentalität oder mentalen Kultur stattfindet, und von dort aus auf andere Kulturbereiche ausstrahlt: Es sind die Zeichensysteme (Sprache, Religion, Verhaltensweisen, Wertesysteme, Bildung, bis hin zu kinesischem Verhalten wie Gesten- und Körperhaltungsrepertoires), die nicht als Teil einer Kultur akzeptiert werden und deren Träger daher ausgegrenzt werden. Die Ausgrenzung von Zeichensystemen überträgt sich auf die Ebene der Zeichenbenutzer, also die soziale Kultur. Der in Abschnitt 1 besprochene kultursemiotische Ansatz von Juri Lotman (2010: 174- 190) ist von Roland Posner (1992: 36) als ein “konzentrische[s] System semiotischer Sphären” expliziert worden. Dabei lassen sich (von Innen nach Außen) die Zonen des kulturell Zentralen, des kulturell Peripheren, des Nichtkulturellen und des Außerkulturellen unterscheiden. Ausgrenzung kann nun rekonstruiert werden als der Prozess, in dem Zeichensysteme und/ oder ihre Benutzer entweder aus einem inneren Bereich in einen äußeren gedrängt werden, oder aus einem inneren Bereich aktiv herausgehalten werden, in den sie aufgrund anderer Prozesse sonst hineinkommen würden. Ein solcher Mechanismus findet beispielsweise statt, indem bestimmte Aspekte einer Kultur als peripher markiert werden. Kriminalität, Prostitution oder auch Polizeigewalt sind zweifellos Aspekte unserer Kultur, aber es gibt Mechanismen, die sie immer wieder als peripher markieren und dafür sorgen, dass sie in der Selbstwahrnehmung unserer Kultur zwar vorkommen, aber eher als “Schönheitsfehler” angesehen werden. Dabei sind Prostitution und Polizeigewalt sicherlich sehr unterschiedliche Phänomene, beide haben jedoch gemeinsam, dass unsere Gesellschaft nicht wissen möchte, inwieweit diese Aspekte konstitutiv für ihre Organisationsweise sind. Anders liegt der Fall etwa bei den Ausbildungslosen. In den letzten Jahrzehnten ging die Anzahl derer, die weder Ausbildung noch Studium abschließen, stark zurück, zugleich steigt jedoch unter den Ausbildungslosen die Arbeitslosigkeit dramatisch an, und fast 50 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben heute keine Berufsausbildung (vgl. Solga 2006: 121). Selbst wenn sie eine Beschäftigung finden, findet sich fast ein Viertel der Ausbildungslosen in unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen wieder (Schreyer 2000: 2). Für diese Entwicklungen werden in der Regel ökonomische Gründe angegeben, insbesondere die Ablösung des sogenannten Fordismus durch den Postfordismus (Hirsch/ Roth 1986), die durch weitgehende Automatisierung einfacher Tätigkeiten und eine Erhöhung des durchschnittlich geforderten Qualifikationsniveaus gekennzeichnet ist. Falls dies zutrifft, liegt die Ursache der Ausgrenzung hier nicht im Bereich der mentalen Kultur, also der Denkweisen und Vorstellungen, sondern setzt sich in der Gesellschaft aufgrund ökonomischer Entwicklungen durch. Mentale Modelle und Kodierungen passen sich dann allerdings diesen Entwicklungen an und bilden ein Leistungsdenken aus, das Fähigkeiten und Erfolg primär an äußerlichen Faktoren wie dem Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums misst und die soziale Ausgrenzung der Ausbildungslosen daher rechtfertigt. Während die Situation der Ausbildungslosen sich in letzter Zeit verschärft hat, sind Arbeitslose schon seit Jahrhunderten dem Verdacht ausgesetzt, selbst an ihrem Schicksal schuld zu sein. Dagegen erklärte Karl Marx das Auftreten eines gewissen Anteils an Arbeitslosen aus der Notwendigkeit einer “industriellen Reservearmee” (Marx, MEW 23: 664), die es den Unternehmen ermöglicht, flexibel auf Veränderungen des Markts zu reagieren; sind ausreichend Arbeitsplätze vorhanden, steigen zudem die Löhne und damit der Anreiz für Rationalisierung und Automatisierung der Produktion. Die strukturelle Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 219 Bedingtheit der Arbeitslosigkeit zeigt sich auch empirisch darin, dass Vollbeschäftigung kaum einmal für längere Zeit erreicht wurde. Die Tatsache, dass unser Wirtschaftssystem seiner Funktionsweise nach nicht allen die Lebensgrundlagen sichern kann, wird jedoch übertüncht durch die in vielen Schattierungen anzutreffende Interpretation von Arbeitslosen als “Versagern”, die nicht den geforderten Standards entsprechen. Diese Mechanismen sind vermutlich deshalb so wirkmächtig, weil die grundlegende Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus viel schwerer in Frage zu stellen ist, als einigen Menschen die Schuld an offensichtlichen Missständen zuzuweisen. Leider ist es einfacher, einige Menschen als zu langsam abzustempeln, als anzuerkennen, dass wir alle um unsere Lebensgrundlagen eine “Reise nach Jerusalem” spielen, bei der nicht genug Stühle für alle da sind. Soziale Exklusion und Marginalisierung kann mit Tabus in Verhalten und Äußerungen in Zusammenhang stehen. So gibt es Hinweise, dass die Marginalisierung den in manchen Migrantenkulturen beobachtbaren partiellen Rückzug auf konventionelle patriarchale Denkstrukturen und chauvinistische Männlichkeitsbilder fördert. Diese Denk- und Verhaltensweisen werden zwar von einigen Migranten unter Berufung auf Traditionen und Werte der Herkunftsländer vertreten, können aber auch als Abwehr der Opferrolle in einer Situation der sozialen Ausgrenzung verstanden werden (vgl. Neuber 2009): Werden Menschen regelmäßig angefeindet und zum Opfer von Vorurteilen und Intoleranz, kann das Eingeständnis von Schwäche zum Tabu und das Wort “Opfer” zum Schimpfwort unter ihnen werden. Ernest W. B. Hess-Lüttich hat dies am Beispiel des Films Lola und Bilidikid (1999, Regie: Kutluğ Ataman) nachgewiesen, wo das Tabu der Homosexualität dazu führt, dass ein schwuler Mann seinen Partner als “seine Frau” bezeichnet (Hess-Lüttich 2013: 365). Noch stärker als die Sexualität mit Männern an und für sich ist die vermeintlich passive Rolle des Sich-Penetrieren-Lassens mit einem absoluten Tabu belegt (ebd.: 368). So orientiert sich der Stricher Bilidikid nicht nur in seinem Künstlernamen (“Billy the Kid”) an altmodischen Machofiguren, sondern posiert selbst in einer Schwulenbar mit einer an James Dean orientierten Körperhaltung (ebd.: 362). Wie das letzte Beispiel gezeigt hat, drücken sich Exklusion und Selbstdefinition einer Kultur nicht nur in der Sprache aus. So hat Silke Betscher (2013 a; 2013 b) aufgezeigt, wie der beginnende Kalte Kriegs-Diskurs in ost- und westdeutschen Nachkriegsmagazinen seinen Niederschlag in Bildern der USA und der Sowjetunion fand, die bildlich Gegensätze konstruierten. Teilweise wurden dabei die Gegensätze multimodal hergestellt, indem das nun als Feind betrachtete Land mit sehr ähnlichen Bildern wie zuvor illustriert wird, die jedoch durch negative Bilduntertitel neu interpretiert werden (Betscher 2013 b: 298). Für den Bereich der Körperhaltungen hat Doris Schöps (2013 a; 2013 b) vergleichbare Muster für den DEFA-Film nachgewiesen: Schöps konstruiert eine Skala der Inklusion für die filmischen Rollen in der staatlich kontrollierten Filmproduktion der DDR, die vom “Held” und “Systemvertreter” über den “Neutralen” und den “Außenseiter” bis hin zum “Feind” reicht (Schöps 2013 b: 331-333), und weist statistisch nach, dass die zentraleren Rollen teilweise mit anderen Körperhaltungen gekennzeichnet werden als die peripheren Rollen. Die bisherigen Beispiele sollten zeigen, dass Ausgrenzung sowohl von der Ebene der sozialen als auch der mentalen Kultur ausgehen kann, sich dann jedoch auf die jeweils andere Ebene auswirkt, indem auf dieser entsprechende Strukturen geschaffen werden: Gelten bestimmte Kodes als unerwünscht, wie etwa eine marginalisierte Religion (Judentum) oder die Verhaltens- und Lebensweisen von Einwanderern, so kommt es oft zu sozialen 220 Martin Siefkes (Chemnitz) Ausgrenzungen, etwa der Verdrängung in bestimmte Stadtteile (“Ghettos”) oder dem Ausschluss, de jure oder de facto, von prestigeträchtigen Ämtern und Berufen. Umgekehrt führt die faktische Überflüssigkeit der Ausbildungs- und Arbeitslosen im Kapitalismus zu abwertenden Vorstellungen und Stereotypen, die ihre wirtschaftliche Diskriminierung ideologisch untermauern und plausibilisieren. Allerdings handelt es sich um eine Vereinfachung, wenn die Exklusion bzw. Abwertung einer Gruppe nur auf die eine oder andere Ebene zurückgeführt wird, denn tatsächlich greifen in den meisten Fällen Effekte auf verschiedenen Ebenen ineinander. Gleich ob sie primär durch Strukturen der sozialen oder der mentalen Kultur bedingt sind, drücken sich Exklusionen auch im Bereich der materialen Kultur aus: Dies ist der Bereich der Artefakte und der Texte, die mit den zur Verfügung stehenden Kodes erzeugt werden. Texte drücken die in Kulturen vorherrschenden Denkmuster aus, die wiederum auf den gesellschaftlichen Strukturen und Vorstellungen basieren. Daher finden sich Ausgrenzungen auf verschiedene Weise in den Texten (im weiten Sinn, also einschließlich aller Äußerungen und Zeichenvorkommnisse) einer Kultur wieder. Diskursanalysen machen es sich zum Ziel, von den in Texten feststellbaren Mustern auf mentale Muster und soziale Bedingungen zu schließen, die diese verursacht haben könnten (Siefkes 2013: 377). 3.2 Rede- und Handlungstabus Der Ausdruck “Tabu” stammt ursprünglich von den polynesischen Tonga-Inseln, wo “tapu” für heilige, aber auch für verbotene und zu meidende Orte und Verhaltensweisen verwendet wird. Er wurde Ende des 18. Jahrhunderts von dem berühmten Weltreisenden James Cook und dessen Reisebegleiter Georg Forster nach Europa gebracht. Bei “Tabu” und “Tabuisierung” ist zu beachten, dass darunter verschiedene Phänomene gefasst werden: Die Unterscheidung beispielsweise zwischen Sprachtabus (man verwendet bestimmte Worte nicht bzw. spricht über bestimmte Themen nur in bestimmter Weise), Kommunikationstabus (man vermeidet ein Thema überhaupt), Handlungstabus etc. sowie die Untersuchung ihrer Wechselbeziehungen [. . .] öffnen unter anderem erst den Blick für die enorme Kontextsensibilität von Tabus. Der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Handlung, einem bestimmten Wort oder Objekt und der Tabu-Erfahrung oder Tabuverletzung erscheint dann als ein nicht ein für allemal programmierter. (Rothe/ Schröder 2005: 9) Die drei in diesem Zitat benannten Arten von Tabus lassen sich den verschiedenen Kulturbereichen des Posner’schen Modells zuordnen (vgl. Abschnitt 2.1). Sprach- und Kommunikationstabus betreffen den Bereich der Texte (semiotischen Artefakte), also einen Unterbereich innerhalb der materialen Kultur. Die von Rothe/ Schröder so bezeichneten Sprachtabus bestehen in der Tabuisierung bestimmter Worte und Ausdrücke, man denke etwa an Lexeme für Körperliches (insbesondere sexuelle Handlungen sowie Fäkalien und Körperausscheidungen; vgl. Panasiuk/ Schröder 2005), die als Themen nicht grundsätzlich tabu sind, aber traditionell mit indirekten, euphemistischen oder fachsprachlichen Ausdrucksweisen besprochen werden sollen. Solche Tabus gelten allerdings nur in bestimmten sozialen Kontexten oder sind - etwa im Fall von Schimpfwörtern - zwar allgemein gültig, werden aber in manchen Kontexten und Soziolekten so regelmäßig gebrochen, dass von einer ritualisierten Tabuverletzung gesprochen werden kann (vgl. Bothe/ Schröter 2002). Dies gilt etwa für Teile der Jugendsprache (vgl. Neuland 2003) oder für Witze (vgl. Dimova 2009). Die Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 221 Dialektik zwischen der Festigung von Tabus und ihrer systematischen Verletzung, die in bestimmten Kontexten von bestimmten sozialen Gruppen vollzogen wird, ist ein wesentlicher Aspekt der sozialen Funktionalität von Tabus; Christel Balle spricht in diesem Zusammenhang von “Ventilsitten” (Balle 1990: 46-47, 62-63). Die im Zitat von Rothe/ Schröder erwähnten “Kommunikationstabus” sind semiotisch als Tabuisierung bestimmter Inhalte und Themen rekonstruierbar, hierher gehört etwa die systematische Polizeigewalt, die lange Zeit in Deutschland als praktisch undenkbar galt, so dass jede Eskalation einer Demonstration ohne genauere Nachprüfung den Demonstranten zugeschrieben wurde. Diese beiden Kategorien lassen sich als “semiotische Tabus” zusammenfassen, die sich auf die Verwendung von Zeichen und Zeichensystemen beziehen und die bestimmte Ausdrücke oder bestimmte Inhalte der Verwendung entziehen, wobei diese Einschränkungen allgemein gültig oder auf bestimmte Soziolekte und Kontexte beschränkt sein können. Als dritte im obenstehenden Zitat genannte Kategorie gehören die “Handlungstabus” nicht zum primär semiotischen Bereich der Zeichen und Zeichensysteme, die die mentale Kultur bilden. Während Handlungen selbst nicht primär semiotisch sind (sondern nur der Unterbereich der Zeichenhandlungen), können Handlungstabus als semiotische Kodierungen rekonstruiert werden, die bestimmte Handlungen durch juristische und/ oder ethische Prinzipien verbieten oder sie schlicht aus dem Bereich der Verhaltens- und Handlungsschemata ausschließen (vgl. Siefkes 2012: 136-143), so dass sie gewissermaßen undenkbar und damit auch undurchführbar sind. Tabus treten also im Spannungsfeld zwischen dem Gebrauch von Zeichensystemen (einschließlich der Sprache) und Verhaltensweisen auf (vgl. hierzu auch die Beiträge in Hess-Lüttich u. a. 2013). Aus diskursanalytischer Perspektive können die ersten beiden Formen von Tabus als Leerstellen auf der textuellen Ebene erkannt werden. Wenn etwa über bestimmte Aspekte von Ereignissen nicht gesprochen wird, dann kann dies mit inhaltsbezogenen Tabus zusammenhängen. Ein aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Polizeigewalt ist im Zusammenhang mit dem Flüchtling Oury Jalloh festzustellen, der am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, während er an sein Bett gefesselt war. Es folgte ein Prozess, der ein umfangreiches Medienecho hervorrief. Dabei wurde allerdings weder in der Berichterstattung noch vor Gericht die Möglichkeit, dass der Brand von Polizisten gezielt gelegt oder bewusst ignoriert sein könnte, ernsthaft erwogen - sei es auch nur, um diese These abzustreiten. Stattdessen wurde in Medien und beim Prozess nur die Frage verhandelt, ob die Aufsichtsbeamten, die den Feueralarm mehrfach ignorierten, der unterlassenen Hilfeleistung schuldig sind, was voraussetzt, dass der gefesselte Jalloh ein Feuerzeug aus der Tasche ziehen und seine Matratze selbst angezündet haben müsste. Zwar gibt es durchaus Berichte darüber, dass Beweise verschwanden und Polizisten sich gegenseitig deckten - die Möglichkeit eines Mords wird jedoch kaum einmal ausgesprochen und wird damit zu einer merkwürdigen Leerstelle, um die die umfangreiche Berichterstattung über den Fall kreist, während sie nach einer überzeugenden Erklärung sucht, die ohne diese Undenkbarkeit auskommt. Ein Indiz für diese Leerstelle ist beispielsweise die Bezeichnung der Ereignisse als “rätselhaft” (Rietzschel 2015), die darauf hinweist, dass die nicht tabuisierten Versionen der Geschichte auch für die Berichtenden keinen Sinn machen. 5 5 Dies gilt für die große Mehrheit der Medienberichte; die Flüchtlingsorganisation The Voice spricht dagegen explizit von einem Mordfall (The Voice 2015), worüber auch die sich als linksradikal verstehende Zeitung Jungle 222 Martin Siefkes (Chemnitz) Auf Grundlage des hier vorgestellten Mehrebenen-Diskursmodells können wir solche Tabus als Diskursmuster rekonstruieren. Wir gehen dabei somit davon aus, dass es Muster auf verschiedenen Ebenen einer Kultur gibt, die miteinander zusammenhängen, und suchen daher nach Mustern in der sozialen und mentalen Kultur, die die Textmuster bedingen und/ oder durch diese wiederum bedingt sein könnten. Im Fall der Polizeigewalt ist es etwa naheliegend, die spezifische gesellschaftliche Rolle der Polizei in modernen Nationalstaaten zu berücksichtigen, deren offizielle Funktion in der Sicherung der Ordnung und Ausübung des exekutiven Gewaltmonopols besteht. Da die Polizei gerade dazu da ist, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, gibt es bis heute ein weitgehendes Tabu, der Polizei schwere Verbrechen oder systematisches Fehlverhalten anzulasten, sondern es werden regelmäßig nur “Fehler” oder maximal ein “Versagen” für möglich gehalten. Möglicherweise würde allein die Erwägung entsprechender Optionen die Gefahr beinhalten, die tragende Funktion der Polizei in unserer Gesellschaft fragwürdig erscheinen zu lassen, was wiederum zu einer Destabilisierung des gesamten staatlichen und wirtschaftlichen Systems führen könnte. Somit stehen hinter den Denkmustern die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf der Ebene der mentalen Kultur keine Denkmuster zulassen, die den Grundannahmen der gesellschaftlichen Ordnung widersprechen könnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Diskursanalyse im Fall von Tabus von den Leerstellen im Diskurs ausgehen wird, wobei es oft der schwierigste Teil der Analyse ist, diese überhaupt zu finden. Schließlich formen Diskurse, an denen wir teilhaben, unsere Wahrnehmung nachhaltig. Dennoch ist es möglich, Tabus als Leerstellen im Diskurs auszumachen, wobei eine Reihe von Analysetechniken wie etwa Vergleiche zwischen verschiedenen Situationen oder Gruppierungen von Menschen helfen können. Vergleicht man zum Beispiel den Umgang mit verschiedenen weltweit auftretenden Konflikten, kann man rasch feststellen, dass es wichtige und weniger wichtige Kriege gibt. Edward S. Herman und Noam Chomsky (Herman/ Chomsky 2002: 37-86 [Kap. 2]) haben herausgearbeitet, dass es in der Berichterstattung über Massaker und Kriegsverbrechen mehr oder weniger wichtige Opfer gibt, und dies durch quantitative Vergleiche der Anzahl, des Umfangs und der Darstellungsprinzipien von Zeitungsberichten über die jeweiligen Ereignisse nachgewiesen. 4. Ausblick In diesem Artikel wurde gezeigt, wie Kultursemiotik und Diskurstheorie miteinander verbunden werden können. Kulturen sind aus semiotischer Perspektive in drei Bereiche unterteilbar; auf dieser Grundlage können Diskurse als Muster oder Strukturen in den verschiedenen Kulturbereichen beschrieben werden, die durch Zeichensowie Kausalprozesse miteinander verbunden sind. Innerhalb des Bereichs der Texte (im allgemeinen Sinn von semiotischen Artefakten) finden wir Äußerungstabus, die bestimmte Ausdrücke oder - aus diskursanalytischer Perspektive meist interessanter - bestimmte Inhalte bzw. Themen betreffen. Es kann nun World berichtet (Steinitz 2008). Dies sind jedoch marginalisierte Gruppierungen, deren Aussagen von den anderen Medien nicht aufgenommen werden, so dass es plausibel ist, hier von einem Tabubruch mit begrenzter Reichweite zu sprechen, der nicht zu einer Diskursänderung führt. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 223 nach den Mustern in der mentalen Kultur gefragt werden, die diese in Texten feststellbaren Muster verursachen, wobei die Textmuster die mentalen Muster umgekehrt auch aufrechterhalten, weitergeben und verstärken. So können Grenzziehungen und Tabus bereits in Zeichensystemen und den in ihnen enthaltenen Konzeptualisierungen und Strukturierungen der Wirklichkeit enthalten sein. Dies wiederum steht oft in Verbindung mit gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa den Privilegien bestimmter Gruppen gegenüber anderen oder der Notwendigkeit, Institutionen oder Personen in bestimmter Weise zu konzeptualisieren, was sie mit bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen in Verbindung bringt oder inkompatibel macht. Ähnlich wie Grenzziehungen diskursanalytisch als Unterscheidungen rekonstruiert werden können, die in den drei Bereichen der Kultur wirksam werden, sind Tabus als Leerstellen in Texten, als Denkblockaden gegenüber Ereignissen und Themen und/ oder als vollständiger Ausschluss von Menschen rekonstruierbar, wobei sich wiederum Korrespondenzen zwischen den drei Kulturbereichen finden lassen. Dabei darf allerdings nicht mit simplen Entsprechungen zwischen den drei Ebenen von Diskursen, die jeweils Mustern in den drei verschiedenen Kulturbereichen entsprechen (vgl. Abb. 3), gerechnet werden: Tatsächlich gestalten sich die Korrespondenzen, die zwischen der materialen, mentalen und sozialen Kultur feststellbar sind, immer wieder anders. Postulierte Diskursmuster, im Sinne von Zusammenhängen zwischen Mustern in mehreren Bereichen der Kultur, sind als Hypothesen zu betrachten, die durch weitere Diskursanalysen und anderweitige Untersuchungen zu überprüfen sind. Dabei können vermutete Muster auf anderen Ebenen - etwa postulierte Denkmuster oder soziale Strukturen, die man als Auslöser für gefundene Textmuster im Verdacht hat - separat nachgewiesen werden. In einem zweiten Schritt wird dann überprüft, ob sich eine Korrelation zwischen dem Auftreten der Muster auf verschiedenen Ebenen finden lassen, etwa zwischen einem Textmuster und einer bestimmten sozialen Struktur, die möglicherweise etwas damit zu tun hat. Um ein Beispiel zu nennen: Wird festgestellt, dass negative Charakterisierungen einer religiösen Minderheit in öffentlichen Debatten abnehmen, und in denselben Zeitraum einerseits ein sozialer Aufstieg der Minderheit erfolgte, andererseits aber auch eine Kampagne gegen entsprechende Vorurteile in den Schulen stattgefunden hat, so hat man ein Muster in der sozialen Kultur (sozialer Aufstieg) und eines in der mentalen Kultur (Abbau von Vorurteilen) gefunden, die relevant sein könnten. Um zu entscheiden, ob eines oder auch beide von ihnen das Textmuster verursachen, kann man etwa die zeitliche Kongruenz der Muster prüfen oder einen Vergleich mit Entwicklungen für andere Gruppen (oder für dieselbe Gruppe zu anderen Zeiten oder in anderen Regionen) vornehmen. Auf diese Weise kann die semiotische Diskursanalyse dazu dienen, empirische Forschung im Bereich der materiellen Kultur (etwa Korpusanalysen), im Bereich der mentalen Kultur (etwa psycholinguistische Studien) und im Bereich der sozialen Kultur (etwa soziologische Untersuchungen) auf theoretischer Grundlage miteinander in Zusammenhang zu bringen. 224 Martin Siefkes (Chemnitz) Bibliographie Alexander, Christopher, Sara Ishikawa & Murray Silverstein 1977: A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York: Oxford University Press. Beck-Gernsheim, Elisabeth 2004: Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Betscher, Silke 2013 a: Von großen Brüdern und falschen Freunden. Visuelle Kalte-Kriegs-Diskurse in ost- und westdeutschen Nachkriegsillustrierten 1945-49, Essen: Klartext. 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