eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2015
383-4

Grenze und Tabu

2015
Ellen Fricke
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Daniel H. Rellstab
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Grenze und Tabu Zur Einführung in diesen Band Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Wichtige zeitgenössische Ansätze zur semiotischen Analyse von Kultur lassen relevante Teilbereiche als ein komplexes System von Diskursen und Diskurstypen erscheinen, in dem bestimmte Grenzziehungen beachtet werden müssen, wenn die Verständigung zwischen einzelnen Personen und Personengruppen gelingen soll. Das Entstehen und Brechen von Tabus als spezifische Grenzziehungstechnik, durch die z. B. Status und Gruppenzugehörigkeit nicht nur markiert, sondern oft erst konstituiert wird, steht im Zentrum dieses Bandes. Tabu ist eines der wenigen polynesischen Wörter, die Eingang in den Wortschatz vieler Sprachen gefunden haben. Verantwortlich dafür sind James Cook und seine Mannschaft, die das polynesische Wort in ihren Tagebucheinträgen verwenden, um Gebräuche und Sitten der Tongaer zu beschreiben. Cook schreibt über Speisen, welche die Menschen nicht essen dürfen, sie seien “tabu”, und er fügt sogleich einen metasprachlichen Kommentar an, welcher die Bedeutung des Wortes erläutert: “which word of a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden” (Cook 1821: 348). Sein Schiffsarzt, William Anderson, schreibt, tabu sei eine allgemeine Bezeichnung für all das, was man nicht berühren dürfe, “unless the transgressor will risque some very severe punishment as appears from the great apprehension they have of approaching any thing prohibited by it” (Cook 1967: 948). Cook und Anderson verwenden das Wort Tabu, sie übersetzen es aber nicht; offenbar fand sich im Englischen dafür keine Entsprechung. Doch übte das Wort eine starke Faszination auf die Leserschaft der Tagebucheinträge Cooks aus, denn es fand schnell Verbreitung in vielen Sprachen Europas (cf. Gutjahr 2008: 30). Heute finden wir es nicht nur im Deutschen und im Französischen (tabou) oder im Italienischen (tabù), sondern auch etwa im Russischen (табу) oder im Finnischen (tabu). Allerdings dürfte schon das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts unter Tabu etwas ganz anderes verstanden haben als die Menschen in Polynesien; und heute verstehen wir es noch einmal anders als die Menschen im 19. Jahrhundert. Als kleinster gemeinsamer Nenner des Tabubegriffs könnte gelten, Tabus als “Meidungsgebote” zu bezeichnen, die das Verhalten in Gemeinschaften regeln und durch psycho-soziale Grenzziehungen Identität stiften (cf. Gutjahr 2008: 19). Tabus sind darüber hinaus, wie auch schon Douglas (1979) erwähnt, effektive ‘Herrschaftsmittel’, mit denen soziale und politische Kontrolle ausgeübt werden kann (cf. Schröder 2008: 53). Tabus gibt es in allen Gemeinschaften, und es gibt Tabus, die in der einen oder anderen Form universell sind. Objekttabus tabuieren Gegenstände, Personen und Institutionen, oftmals auch entlang der Gendergrenze: Strenggläubige muslimische und jüdische Männer können fremden Frauen den Handschlag verweigern; Objekttabus sind also durch “negative Konventionen des Handelns” (Handlungstabus) verknüpft, die regeln, was man tun und lassen soll. Auch in diesem Bereich spielt die Regulierung des Verhältnisses von Gender und Sexualität eine wichtige Rolle. Kommunikationstabus regeln das Schweigen über Themen oder die Art und Weise, wie man über diese Themen doch sprechen darf (Müller & Gelbrich 2013: 159-160). Nicht nur Sexualität kann tabu sein, auch für uns harmlose Themen wie Politik oder Familie können tabu sein, Themen also, über die man nicht sprechen darf. Sprachtabus regeln die Unterlassung der Verwendung von Bezeichnungen für bestimmte Dinge und Sachverhalte (Schröder 2008: 58). Bildtabus ziehen Grenzen zwischen dem, was zeigbar ist und was nicht (Bouchara 2009: 114). Absolute Tabus gibt es nicht, denn Tabus variieren nicht nur kulturell, sondern auch historisch. Die Abbildung Toter in den Fernsehnachrichten ist für westliche moderne Gesellschaften unproblematisch; die Darstellung Toter ist in einigen Stämmen der Aborigines tabu (siehe dazu auch Krajewski, in diesem Band). Ein Relief der Église de Sainte Radegonde zeigt eine weibliche Figur, die ihre Vulva präsentiert; eine solche Darstellung wäre heute in einer Kirche nicht mehr möglich (Allen & Burridge 2008: 9-11). Dass Tabus nicht einmal in einer Gesellschaft allgemein Gültigkeit haben, gilt gerade in spätmodernen, komplex ausdifferenzierten Gesellschaften, in welchen Werte und Normen kontigent geworden, Tabus aber nicht verschwunden, sondern “hochgradig gruppen- und situationsspezifisch” (Schröder 2008: 63) geworden sind. Was in einer Gruppe getan werden kann, ohne dass Sanktionen gewärtigt werden müssen, ist in einer anderen unmöglich; was in einer Situation sagbar ist, kann in einer anderen vollkommen unsagbar werden oder muss mit Hilfe spezifischer kommunikativer Umgehungsstrategien besprochen werden. Tabuverletzungen sind auch hier zum Teil ritualisiert, wie im Karneval, Tabubrüche in spezifischen kommunikativen Situationen möglich und angebracht, ja gar institutionalisiert, so etwa in der Arzt-Patienten-Kommunikation oder im wissenschaftlichen Diskurs, wo Themen besprochen werden müssen und dürfen, die in anderen Kontexten tabu sind (Schröder 2008: 61-62). Tabu ist Thema der Ethnologie und der Anthropologie, der Sprach-, Kommunikations- und Medienwissenschaft; Tabu ist in spezifischer Weise aber auch ein Thema der Semiotik, die sich mit Zeichenprozessen in verschiedenen Kontexten auseinandersetzt. In der Sektion “Diskurs und Grenzziehung/ Diskurs an der Grenze: Das Erzeugen und Brechen von Tabus” haben wir uns daher im Rahmen der internationalen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2014 in Tübingen das Ziel gesetzt, aus semiotischer Perspektive die Funktionsweise, das Entstehen und Brechen von Tabus zu analysieren. Im Zentrum standen Fragen danach, ob und inwieweit sich Tabus als spezifische Form der Grenzziehung verstehen lassen und in welcher Relation sie zu anderen Formen von Grenzziehungen stehen. Es wurde diskutiert, woran man man Tabus erkennt, wie diese kommuniziert bzw. nicht kommuniziert werden, wie Grenzziehungen, Tabus und Tabubrüche medial realisiert werden und welche kulturspezifischen Unterschiede es gibt. Es wurde untersucht, welche sprachlichen Mittel und Zeichenpraktiken im Falle einer Tabuverletzung dem Scheitern oder dem Abbruch der Kommunikation entgegenzusteuern vermögen oder welche ein erwünschtes Scheitern erst bewirken. Eine Auswahl aus den Beiträgen zu dieser Sektion sind in dem hier vorgelegten Band versammelt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Tabus auch in modernen Gesellschaften eine wichtige Rolle spielen und dass in spätmodernen Gesellschaften Begegnungen über kulturelle Grenzen hinweg und damit Tabubrüche geradezu Alltag geworden sind, zeigt 182 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab SABINE KRAJEWSKI in ihrem Beitrag, dass Menschen, die zwischen Tradition und Moderne lebten, auch unterschiedliche Tabu-Vorstellungen miteinander vermitteln müssten und sich so in einem ständigen interkulturellen Diskurs befänden. In ihrer Analyse qualitativer Interviews mit Migrantinnen und Migranten aus Tonga und aus Fidji sowie mit Aborigines wird deutlich, dass und wie diese die traditionellen Tabu-Vorstellungen, die oftmals ihren spirituellen Aspekt schon eingebüßt haben, in Australien mit westlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen versuchen und wie sie im interkulturellen Raum zwischen Tradition und Spätmoderne damit in der Alltagspraxis umgehen. MARTIN SIEFKES kombiniert in seinem theoretischen Beitrag Juri Lotmans Beschreibung von Kulturen als Semiosphären und Roland Posners semiotische Unterscheidung materialer, mentaler und sozialer Bereiche der Kultur und entwickelt daraus ein Vier-Ebenen-Modell des Diskurses, das ermöglicht, Diskursanalyse als einen Analyseprozess zu betreiben, in dem in einer bestimmten Textmenge spezifische Textmuster sichtbar gemacht werden, die sich als Indices mentaler und/ oder sozialer Muster interpretieren lassen. Siefkes argumentiert, dass sich dieser Beschreibungsapparat auch verwenden lasse, um Fälle von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen zu untersuchen, wenn Lotmans Vorstellung der Semiosphären mit Posner als konzentrisches System interpretiert werde. Denn dann könnten, so der Verfasser, Ausgrenzungen spezifischer Zeichensysteme und ihrer Benutzer als Prozesse der Verdrängung aus einem inneren Bereich der Kultur in einen äußeren oder als Fernhalten aus einem inneren Kreis interpretiert werden. Die Ausgrenzung auf der sozialen Ebene zeitige, auch Konsequenzen auf der mentalen Ebene der Kultur. Exklusion und Tabu drückten sich jedoch auch im Bereich der materialen Kultur aus, etwa in Rede- und Handlungstabus. Tabus lassen sich damit in Siefkes Modell als Diskursmuster rekonstruieren, die einen sozialen, einen mentalen und einen materialen Aspekt aufweisen, die in Relation zueinander stehen. ULRIKE LYNN stellt den Körper ins Zentrum ihrer Überlegungen und diskutiert ausgehend von emblematischen Berührungsgesten, die sie im Anschluss an Ekman & Friesen (1969) definiert als durch intentionalen Gebrauch ausgezeichnet, kulturspezifisch und stark konventionalisiert, ob und inwiefern sich Berührungstabus ebenfalls klar beschreiben und abgrenzen lassen. Sie argumentiert, dass es schwierig sei, eine Taxonomie der Berührungstabus aufzustellen, da nicht jedes Berührverhalten intendiert und kodifiziert sei, sich damit also nicht-intentionales Berührverhalten nur bedingt von intentionalem, konventionalisiertem Berührverhalten unterscheiden lasse und Berührverhalten zudem auch kontextabhängig sei. Was in der einen Situation angebracht sei, sei es in einer anderen möglicherweise gerade nicht. Lynn kommt zum Schluss, dass man genauer zwischen Berührungstabus und Nicht-Berührungstabus unterscheiden solle - eine Überlegung, die etwa in aktuellen Debatten über die Verweigerung des Handschlags zur Begrüßung (z. B. von muslimischen Schülern gegenüber ihrer Lehrerin) an Bedeutung gewinnt. WILLIAM LEAP analysiert in seinem Beitrag, wie Frauen aus einem Township in Kapstadt Ende der 1990er Jahre über Demütigungen und Belästigungen sprechen, die ihnen widerfahren, weil sie lesbisch sind. Dazu untersucht er im Detail die räumliche Syntax (nach de Certeaus 1984) zweier kurzer Kneipentouren-Erzählungen, also die Beschreibung der Bewegung, das Management von Sicherheit und Bedrohung. Indem er aus intersektionalitätstheoretischer Perspektive die Verwendung von Deiktika zur Konstitution einer Dichotomie zwischen “wir” und “ihr” im Sinne der Gay Studies interpretiert, veranschaulicht er, wie unterschiedlich sich diese beiden Frauen selbst positionieren. Während die eine Informantin sich an die in ihrer Gemeinschaft bestehenden Tabus halte und Sexualität nicht Grenze und Tabu 183 anspreche, also ein Englisch spreche, das sich als “Township English” bezeichnen lasse, gebrauche die andere eine Art Kapstadt-Stadtzentrum-Englisch, in dem sie das Tabu missachte, über Sexualität zu sprechen, was sie auf den ersten Blick als transgressiv wirken lasse. Leap weist aber auch darauf hin, dass die Sprecherin mit diesem Tabubruch im Sinne einer “semiotic of instance” versuche, ihrer homosexuellen Identität öffentlich Anerkennung zu verleihen. DANIEL RELLSTAB widmet sich den Tabus und Tabubrüchen im Hip-Hop, der innerhalb des akademischen Diskurses oft als Strömung dargestellt werde, die sich gegen bestehende soziale Ungerechtigkeiten wende, was freilich übersehe, dass Hip-Hop im Hinblick auf Gender und Sexualität oftmals misogyn und homophob sei. Er präsentiere nämlich eine ganz spezifische Männlichkeit als Norm, die ihrerseits mit spezifischen Tabus behaftet sei: Männer dürften keine Schwäche zeigen, die Gendergrenzen müssten klar markiert sein. In seiner multimodalen Analyse zweier Videoclips der Schweizer Hip-Hop-Crew Chlyklass und deren Interpretation aus männlichkeitstheoretischer Perspektive zeigt Rellstab, dass hier Männlichkeiten konstruiert werden, die keineswegs dem Stereotyp des hypermaskulinen Rappers entsprechen. Damit würden bestehende Tabus multimodal gebrochen und im Hinblick auf Gender und Sexualität gegenhegemoniale Potentiale freigesetzt. HILOKO KATO widmet sich einem Thema, das in der Semiotik bislang kaum Beachtung fand, nämlich der “Unart” (Brod 2014), die Seitenränder von Büchern zu bekritzeln. Ihr Interesse gilt dabei den dort zu findenden Tabubrüchen. Im Anschluss an Michael Camille (1994) diskutiert sie zunächst das “Verschandeln” von Texträndern in gotischen Handschriften, etwa jene zuweilen recht derben Zeichnungen, die einen subversiven Kommentar des eigentlichen Textes darstellen. Sie thematisiert auch die bis ins 19. Jahrhundert hinein gängige Praxis von Buchrestauratoren, Bücher zu ‘beschneiden’, um sie auf die von Sammlern gewünschte einheitliche Größe zu bringen. Diese Praxis wurde als ‘Verstümmelung’ des Buchkörpers kritisiert und mit einem Handlungstabu belegt, das auch heute noch gilt. In der Übertretung eines solchen Tabus liegt z. B. der Reiz eines Buches wie das von Keri Smith, das unter dem Titel Mach dieses Buch fertig (2013) seine Leserschaft ausdrücklich dazu ermuntert, es zu bekritzeln oder Kleiderfusseln hineinzukleben. Kato diskutiert auch den Roman von Doug Dorst und J. J. Abrams, S - Ship of Theseus (2013), der eine eigenwillige Mehrstimmigkeit des Textes inszeniert, indem er die Randnotizen zweier ‘Leser’ zum konstitutiven Bestandteil des Romans macht. Dadurch werde er zu einer Liebeserklärung an das gedruckte Buch, das im Zeitalter digitaler Medien zu verschwinden drohe. Mit der Digitalisierung gehe nicht nur dessen materielle Fixiertheit und verlässliche Gültigkeit verloren, sondern auch das haptische Erlebnis des Lesens und der Respekt vor dem Aufwand seiner Herstellung und Lektüre, aus dem das Gebot erwachse, es ‘rein’ zu halten. STEFAN MEIER plädiert in seinem medienwissenschaftlichen Beitrag dafür, die permanente elektronische Überwachung des Privatbereichs als eine Form des Tabubruchs zu interpretieren. Dazu analysiert er fiktionale und nicht-fiktionale Diskurse, in denen die Medienüberwachung problematisiert wird. Er untersucht, wie die Praxis der Überwachung semiotisch-performativ dargestellt wird und inwiefern sich die Verletzung des Privatbereichs zeichentheoretisch fassen lässt. Neben der verbalen Diskursivierung von Überwachung als Tabubruch diskutiert Meier auch prototypische Beispiele für die Überwachungstätigkeit und die Verletzung der Privatsphäre, etwa die aus dem Film “Matrix” bekannten grünen Reihen aus Nullen und Einsen oder grob gepixelte Screenshot von Überwachungskameras. Überwachungstechnologien werden in den sogenannten Spy-Serien wie 24 und Homeland in 184 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Szene gesetzt; sie sind konstitutiv für Formate des ‘Reality-TV’ wie Big Brother, die den Tabubruch natürlich immer schon einkalkulieren. Meier findet in den von ihm analysierten Diskursen eine Schwächung der Überwachungstabus und zieht daraus den Schluss, dass man entweder die Überwachung als Normalität akzeptieren oder sich aus der Medialität überhaupt zurückziehen müsse, was freilich mit medialer Isolation bezahlt werde. URSZULA TOPCZEWSKA vergleicht Medientexte aus Deutschland und Polen über jugendliche Delinquenz. Ihrer Analyse zufolge dienen die Äußerungen über jugendliche Straftäter den Sprechern zugleich zur Konstruktion eines spezifischen Images ihrer selbst: Der polnische Politiker, der jugendliche Straftäter begnadigt, präsentiert sich als Wohltäter, der den durch widrige Umstände straffällig Gewordenen eine zweite Chance gibt; ein anderer, der bei Jugendgewalt hart durchgreift, als Vertreter einer Recht-und-Ordnung-Politik; eine Populärpsychologin, die nicht die Jugendlichen verantwortlich macht, sondern das Milieu, in welchem sie aufwuchsen, präsentiert sich als Expertin für gesellschaftliche Ursachen jugendlicher Delinquenz. Deren Darstellung und die Argumentation, wie man mit ihr umgehen solle, aktualisierten immer auch stereotype Vorstellungen, was Topczewska auch anhand der Analyse von Einträgen in Internetforen von Online-Zeitungen zu zeigen sucht. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass sich sowohl in deutschen wie auch in polnischen Äußerungen zum Thema grob zwei Untertypen finden ließen: ein Entlastungsdiskurs, in dem die Ursache für Jugendkriminalität im sozialen Umfeld lokalisiert werde, und ein Gerechtigkeitsdiskurs, der die Schuld bei den Jugendlichen selbst suche. In beiden Fällen werben die Autoren jeweils um die Zustimmung der Leser. ANTONIETTA FORTUNATO schließlich beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der anhaltenden Debatte über die europäische Finanzkrise. Für Politiker in Italien und Deutschland sei sie im Grunde ein Tabuthema, aber sie würden von Journalisten genötigt, in ihren Pressekonferenzen darüber zu reden. Am Beispiel einer deutsch-italienischen Pressekonferenz vom Juli 2012 und 100 Online-Artikeln zum Thema im Juni und Juli desselben Jahres vermag Fortunato die verbalen Umgehungsstrategien aufzuzeigen, derer sich Angela Merkel und ihre italienischen Gesprächspartner bedienen, um das Thema zu vermeiden. Dazu gehöre die gezielte Verwendung euphemisierender Metaphern, die Kaschierung der Krise durch positiv besetzte Begriffe, die wortreiche Flucht ins semantisch Unbestimmte. Journalistinnen und Journalisten kommen indes ihrer Pflicht nach und konfrontieren die Regierenden mit unangenehmen Wahrheiten. Mit ihren Fragen versuchen sie mehr oder weniger erfolgreich, die Tabuisierung des Themas aufzubrechen und die politisch Verantwortlichen zur Stellungnahme zu zwingen. ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH schließt den Band ab mit einem Beitrag zum Thema “Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers”, in dem er im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskrise die sog. ‘Burka-Debatte’ des Sommers 2016 zum Anlass nimmt, Rituale und Tabus religiöser Gemeinschaften in einer säkularen Gesellschaft zu reflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen für die Konzeption von Lehrmaterial für die sprachliche Integration der Flüchtlinge vornehmlich aus dem islamischen Raum. Ausgehend von kultursoziologischen Bestimmungen rituellen Handelns bietet der Beitrag eine begriffssystematische Einordnung des Tabus und verbindet die kritische Diskussion stereotyper Vorannahmen interkulturelle Kommunikation exemplarisch mit einem Blick auf die in den Medien mehrerer europäischer Länder geführte Debatte über Formen und Funktionen der (Voll-) Verschleierung als politisches Zeichen religiösen Bekenntnisses. Grenze und Tabu 185 Mit diesen Beiträgen repräsentiert der hier vorgelegte Band eine Pluralität von theoretisch, historisch und empirisch motivierten Perspektiven auf ein aktuelles Forschungsfeld der Semiotik: Grenzziehung und Tabu. Wir verstehen, wie Grenzziehungen semiotisch funktionieren, wir lernen, wie Tabus unterlaufen und gebrochen werden und welche Zeichenarsenale dabei zum Einsatz kommen. Bibliographie Allan, Keith & Kate Burridge 2008: Forbidden Words. Taboo and the Censoring of Language, Cambridge: Cambridge University Press Benthien, Claudia & Ortrud Gutjahr (eds.) 2008: Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Fink Bouchara, Abdelaziz 2009: “Missverständnisse und Tabus als Beispiel für interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Arabern”, in: Lebende Sprachen 54.3 (2009): 113-121 Brod, Max 2014: Über die Schönheit hässlicher Bilder. Essays zu Kunst und Ästhetik, Göttingen: Wallstein Camille, Michael 1992: Image on the Edge: The Margins of Medieval Art, London: Reaktion Books Cook, James 1821: The Three Voyages of Captain James Cook Round the World, vol. V: Being the First of the Third Voyage, London: Longman, Hurst, Rees, Orme, and Brown Cook, James 1967: The Journals of Captain James Cook on His Voyages of Discovery: The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776-1780. Pt. 1-2, Cambridge: The Hakluyt Society De Certeau, Michel 1984: The Practice of Everyday Life, Berkeley: University of California Press Dorst, Doug & J. J. [Jeffrey Jacob] Abrams 2013: S - Ship of Theseus, New York: Mulholland Books; dt. 2015: S - Das Schiff des Theseus, übers. v. Tobias Schnettler & Bert Schröder, Köln: Kiepenheuer & Witsch Ekman, Paul & Wallace Friesen 1969: “The Repertoire of Nonverbal Behavior. Catagories, Origin, Usage and Coding”, in: Semiotica 1 (1969): 49-98 Gutjahr, Ortrud 2008: “Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung”, in: Benthien und Gutjahr (eds.) 2008: 19-50 Müller, Stefan & Katja Gelbrich 2013: Interkulturelle Kommunikation, München: Franz Vahlen Schröder, Hartmut 2008: “Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkultureller Kontaktsituation”, in: Benthien & Gutjahr (eds.) 2008: 51-70 Smith, Keri 2013: Mach dieses Buch fertig, München: Antje Kunstmann 186 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab