eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
373-4

Linkische Fotografie

2014
Ulrich Richtmeyer
Linkische Fotografie Roland Barthes über die Produktivität des Bildes in Kontexten der Reproduktion Ulrich Richtmeyer (Potsdam) This essay discusses and compares Roland Barthes’s concepts of drawing and photography as explained in his Twombly-articles and his short and prominent book about photography, La chambre claire. It starts with the observation that well-known ideas and terms are brought forward in a rather similar manner between the mentioned texts. However, the result is quite different: Barthes explains graphics as a productive picture, whereas he defines photography as a completely reproductive medium. In recourse to Barthes’s two articles on Twombly, the essay investigates the process of perceiving and re-producing a picture and seeks to find an answer to the question as to whether there might be a stronger analogy between graphics and photography. In a first step, Barthes’s considerations about the productivity of drawing processes will be discussed and compared with important positions in recent theory of drawing. In a second step, Barthes’s notion of productivity within the domain of drawing will be compared with similar considerations about the productivity of photography, such as it is outlined in La chambre claire. Finally, the essay argues that pictorial re-production is always productive, which is why graphic and photography have heuristic qualities in common. 1 Einleitung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Motiv der bildlichen Produktivität beim späten Barthes und zeichnet nach, wie es zwischen den beiden Twombly-Artikeln (“Cy Twombly oder Non multa sed multum”, “Weisheit der Kunst”) und der Hellen Kammer variiert wurde. Mit bildlicher Produktivität ist dabei nicht die instrumentale Bildproduktion gemeint - also Handlungen, die, bestimmten Darstellungsabsichten folgend, Materialien und Instrumente in Gebrauch nehmen, um mit ihnen Bilder zu erzeugen, obwohl auch in diesem Kontext die Produktivität des Bildes wirksam werden kann. Gemeint sind vielmehr Momente, Qualitäten, Vorkommnisse und Eigenschaften, die sich in solche bildgebenden Handlungen ungefragt und ungeplant einbringen und sie damit zu einem gelingenden Abschluss führen können. Aufgegriffen wird hierbei ein Gedanke, den Barthes zunächst in seiner Auseinandersetzung mit Cy Twombly geäußert hatte, wonach es dessen Zeichnungen gelingt, ihre eigene Reproduktion zu veranlassen - allerdings eine Reproduktion, die nicht etwa das grafische Ensemble, einen figurativen Gegenstand, eine bestimmte Narration oder die Materialität des Bildes betrifft, sondern vielmehr jene bildliche Produktivität, die in der Tätigkeit der Bildproduktion selbst wirksam werden kann. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrich Richtmeyer 362 Da die Twombly-Artikel zwischen Ende 1978 und Anfang 1979 und damit kurz vor der Abfassung der Hellen Kammer entstanden sind, ist es nicht verwunderlich, dass sich ihr begriffliches Repertoire bzw. ihre Motive (z.B.: Absicht, Prozess, Geste, Körper, Amateur und Tod sowie auch Produktion und Reproduktion) in Barthes’ letzter Monografie wiederholen. Es stellt sich aber die Frage, ob - und wenn ja: wie - dieser Themenkomplex einer produktiven Reproduktion von grafischen Bildern auch für die Fotografie gilt. Während in Barthes’ Twombly-Arbeiten also Einsichten in die bildliche Produktivität formuliert wurden, macht ihre Wiederholung in der Hellen Kammer zusätzlich noch auf den Unterschied zwischen Zeichnung und Fotografie aufmerksam. Weil sich Barthes den schöpferischen Gebrauch beider Bildmedien grundverschieden denkt, sind nun jedoch auch bildliche Produktivität und Reproduktion verschieden konzipiert. Diese Differenz zwischen grafischen und fotografischen Verfahren leuchtet ein; was ihr am Beispiel von Barthes nun aber auf irritierende Weise entgegensteht, ist die Tatsache, dass sich die Motive, die für die Produktivität des Zeichnens verantwortlich gemacht werden, ausgerechnet in der Analyse der Fotografie wiederholen. 2 Die produktive Struktur des Bildes Obwohl Bilder nicht notwendig produktiv sein müssen, hebt Barthes an ihnen grundsätzlich eine besondere Produktivität hervor. Es lohnt sich daher, zunächst zu schauen, unter welchen Umständen und wodurch Bilder laut Barthes produktiv werden. Produktivität des Bildes heißt hier, dass nicht die Gebrauchsweise oder die Darstellungsabsicht, das indexikalisch Dargestellte oder eine sprachförmige Bedeutung des Bildes relevant werden, sondern eine Sinnschicht oder Eigenschaft des Bildes, die all dies nicht ist und trotzdem auf wirkungsvolle und bildspezifische Weise Konsequenzen hat. Diese Präferenz für eine im Bild selbst fundierte Produktivität findet sich z.B. in den zahlreichen fototheoretischen Texten wie “Die Fotografie als Botschaft”, “Rhetorik des Bildes”, “Der dritte Sinn” oder Die Helle Kammer (cf. Barthes 1990 a, 1990 b, 1990 c sowie 1989); sie wird dort aber auf je verschiedene Weise entwickelt, so dass immer andere Facetten des Bildes - bzw. auch verschiedener Bildtypen - präferiert werden. Durchgehend hebt Barthes dabei jedoch einen besonderen, exklusiven und man kann sagen aisthetischen Modus der Bildrezeption hervor, um ihn von anderen - nennen wir sie zusammenfassend: kulturbasierten - Lektüren des Bildes zu trennen. Obwohl sich hierfür Texte aus mehreren Jahrzehnten anführen lassen, kehrt dabei regelmäßig eine bestimmte Darstellungsbzw. Argumentationsform wieder. Immer zählt Barthes ein differenzierendes Spektrum von bildlichen Rezeptionsformen auf, das mal zwei (Die Helle Kammer), mal drei (“Der dritte Sinn”), dann wieder drei (“Die Fotografie als Botschaft”) und mal fünf (“Rhetorik des Bildes”) Optionen aufweist und zumeist an letzter Stelle der Aufzählung eine exklusiv aisthetische Bildrezeption bevorzugt (analog zu meiner Aufzählung sind dies das punctum, der stumpfe Sinn, das fotografische Analogon und das fotografische Denotat). Die von Barthes hiervon unterschiedenen Umgangsweisen mit Bildern reproduzieren demnach bekannte Interessen, Funktionen oder Darstellungskonventionen. Sie werden meist als Spielarten einer ‘kulturellen’ Lektüre des Bildes ausgewiesen und gelten als intendiert, d.h.: sie folgen Darstellungsabsichten, die die Bildproduktion anleiten, während den exklusiv aisthetischen ‘Lesarten’ eine Abweichung zugestanden wird, die sich willkürlich oder zufällig einstellt, umso mehr deshalb, weil sie Akteuren wie Wilden, Kranken, Kindern, Dilettanten oder Amateuren zugeschrieben wird. Linkische Fotografie 363 1 “Diese Ungeschicklichkeit der Schrift (die allerdings unnachahmlich ist: versuchen sie, sie nachzumachen) […]” (Barthes 1990f.: 198). “Die unnachahmliche Kunst Twomblys liegt darin, daß er den Mittelmeereffekt anhand eines Materials (Kratzer, Schmierereien, Schlieren, kaum Farbe, keine akademische Form) durchgesetzt hat […]” (ebd.: 196). 2 Barthes spricht explizit vom “Zusätzlichen der Tat” (Barthes 1990 e: 168). In einem anderen Kontext interpretiere ich dieses Motiv in Richtmeyer 2014. 3 Die produktive Struktur der Zeichnung Es war auch dieses Themenfeld, in dem Roland Barthes vom “Linkischen der Hand” gesprochen hatte, das ihm als ein Qualitätsmerkmal von Twomblys Zeichnungen ins Auge fiel und zugleich deren Unnachahmbarkeit 1 auszudrücken schien: Man hat gesagt: TW [Cy Twombly; U.R.], das ist wie mit der linken Hand gezeichnet, gezogen. […] Der ‘Linkische’ (oder der ‘Linkshänder’) ist eine Art Blinder: Er sieht die Richtung, die Tragweite seiner Gesten nicht gut; einzig und allein seine Hand führt ihn, das Begehren seiner Hand, nicht deren instrumentale Eignung […]. (Barthes 1990 e: 170f.) Mit dem Ausdruck des Linkischen wird nicht etwa eine mehr oder weniger fiktive Linksvon einer Rechtshändigkeit zu trennen versucht, sondern vielmehr ein allgemeiner Kontrollverlust betont, der gewöhnlich dem Linkischen der Linkshänder nachgesagt wird, und zwar ganz unabhängig von der Frage, welche Präzision die motorische Beherrschung ihrer Handbewegungen tatsächlich aufweist. Der Ausdruck kann demnach als körperseitenneutral gelten. Er betont, dass jenseits der instrumentalen Verfügung über das entstehende Bild immer auch etwas Unerwartetes, Unvertrautes, Anderes, Nicht-Beabsichtigtes sichtbar werden kann. Die Produktivität des Bildes ist insofern etwas “Zusätzliches” 2 , eine Abweichung von üblichen Darstellungsabsichten oder Lektürekonventionen, eine Bildwirkung, die sich meist plötzlich und unvermutet einstellt. Zudem tritt der Ausdruck des Linkischen bei Barthes als ein Motiv im Verhältnis der Vorzur Nachzeichnung auf: Er benennt eine besondere Qualität der Vorzeichnung, die das Verhältnis von zeichnerischer Produktion und Reproduktion bestimmt, indem sie ein Nachzeichnen sowohl anregt als auch scheitern lässt. Zur Anregung heißt es etwa: “Die Einfachheit Twomblys […] ruft, lockt den Betrachter: Er will das Bild erreichen, nicht, um es ästhetisch zu konsumieren, sondern um es seinerseits zu produzieren (zu ‘re-produzieren’) […].” (Barthes 1990f.: 200) Als wesentliche Qualität einer produktiven Bildwirkung beschreibt Barthes im Twombly-Kontext also die Figur der Reproduktion bildlicher Produktivität. Es sind demnach also besonders die unkontrollierten, linkisch entstandenen Bilder, die eine Reproduktion ihrer Hervorbringung provozieren. So veranlasst die Produktivität des Bildes nicht einfach nur eine sprachliche oder schriftliche Wiederholung des Gesehenen, sondern eine Bildproduktion, die mit Farben auf dem Papier agiert. Aber auch als Bildproduktion wiederholt sie nicht einfach nur das bildlich Dargestellte, sondern vielmehr den Akt der Hervorbringung des Bildes, der Barthes als eine ähnlich objektlose Re-Produktion gilt: Das fünfte Subjekt ist das der Produktion: das Lust hat, das Bild zu re-produzieren. Etwa heute morgen, 31. Dezember 1978, es ist noch Nacht, es regnet, alles ist still, als ich mich an meinen Schreibtisch setze. Ich betrachte Hérodiade (1960) und habe wirklich nichts dazu zu sagen, außer der gleichen Platitüde: daß es mir gefällt. Aber plötzlich taucht etwas neues auf, ein Wunsch: der Wunsch, das gleiche zu machen: zu einem anderen Tisch zu gehen (nicht mehr dem Schreibtisch), Farben zu nehmen und zu malen, Striche zu ziehen. Im Grunde lautet die Frage der Malerei: “Haben Sie Lust, einen Twombly zu machen? ” (Barthes 1990f.: 201; Hervorh. im Original) Ulrich Richtmeyer 364 3 Konsequent hat Derrida dorthin den Sehsinn des Zeichnens verlegt. Cf. Derrida 1997: 11. 4 “Die gezeichnete Linie existiert in gewisser Weise immer in der Gegenwart, in der Zeit ihrer eigenen Entfaltung” (Bryson 2009: 28). Was zeichnet diese malerische Produktion aus? Auf welche Eigenschaften des Bildes reagiert diese Lust? Im Kommentar zu seinen eigenen Versuchen, Cy Twombly nachzuzeichnen, steigert Barthes die Metaphorik des Kontrollverlustes, indem er nicht nur vor- und nachzeichnende Hände in Beziehung setzt, sondern diese vielmehr schon mit der Grobmotorik von Füßen assoziiert: “Ich ahme nicht direkt TW nach (wozu auch? ), ich ahme das tracing nach, das ich, wenn nicht unbewußt, so zumindest phantasierend, aus meiner Lektüre folgere; ich kopiere nicht das Produkt, sondern die Produktion. Ich trete sozusagen in die Fußstapfen der Hand.” (Barthes 1990 e: 178; Hervorh. im Original) Das Nachzeichnen kopiert nicht, es versucht nicht das Motiv eines Vorbildes wiederzugeben, sondern vielmehr die linkische Aktivität seiner bildlichen Hervorbringung. Es imitiert die Unbeherrschbarkeit des Vorgangs und betont die Unmöglichkeit einer ‘authentischen’ Nachzeichnung. Man könnte Barthes hier also folgendermaßen zusammenfassen: Ist die linkische Qualität eines Bildes der Anlass seiner Reproduktion, so handelt es sich um einen Versuch, bildliche Produktivität selbst zu initiieren, sich auf sie einzulassen, sie freizusetzen. 4 Freiheitsgrade des Zeichnens Barthes’ Reproduktion des Bildes funktioniert demnach im Kern ähnlich wie die grafische Produktion Twomblys. Denn auch der Künstler will “einen Effekt erzeugen, und will es gleichzeitig nicht; die Effekte, die er erzeugt, hat er nicht unbedingt gewollt; es sind zurückgewandte, umgestülpte, entwichene Effekte, die auf ihn zurückfallen” (Barthes 1990 e: 168). Damit werden künstlerische Bildwirkungen angesprochen, die im bildproduktiven Prozess unvorhergesehen auftreten, auch wenn ihre Entstehungsbedingungen bekannt sind: An der Spitze seines Fingers, seines Auges, etwas entstehen sehen, das zugleich erwartet ist (von dem Stift, den ich halte, weiß ich, daß er blau ist) und unerwartet (da ich auch nicht weiß, welches Blau herauskommen wird, und wüßte ich es, so wäre ich immer noch überrascht, da die Farbe, wie das Ereignis, jedesmal schlagartig neu ist: Eben diese Schlagartigkeit macht die Farbe aus, wie sie auch den Genuß ausmacht). (Ebd.: 173f.; Hervorh. im Original) So beherrscht der Bildkünstler eigentlich nicht die entstehenden Werke; seine Virtuosität besteht vielmehr darin, dass er den Prozess der Hervorbringung anerkennt, indem er dessen Freiheiten akzeptiert und sich auf sie einlässt. Was sind dies nun für Freiheiten? Gehören sie zur klassischen Kulturtechnik des Zeichnens? Offenbar beruhen sie darauf, dass das Zeichnen räumlich und zeitlich isoliert ist, handelt es sich doch um ein Geschehen, das an der “Spitze des Fingers” 3 stattfindet, sich damit räumlich der Totalität des Bildträgers entzieht und zudem eine bestimmte ‘Gegenwärtigkeit’ 4 aufweist. So zumindest die Beobachtungen, die sich in Norman Brysons Aufsatz “A Walk for a Walk’s Sake” finden lassen und die die Medienspezifik der Zeichnung sehr treffend begründen: Sie beruht zunächst auf einer “Unbeschriebenheit des Papiers und einer Hand, die sich anschickt, ihre erste Spur auf der Oberfläche zu ziehen” (Bryson 2009: 28). Weil aber das weiße Blatt oder der unbezeichnete Untergrund immer “perzeptiv vorhanden, Linkische Fotografie 365 5 Cf. zur Benennung der “Urszene des Zeichnens im Zeitalter des Papiers” als die “weiße Szene” (Pichler/ Ubl 2007: 237). doch konzeptuell abwesend” (ebd.: 29) 5 ist, ergeben sich aus dieser ‘Reserve’ verschiedene bildlogische Konsequenzen. Während die Malerei ihren Malgrund vollständig bedeckt, kann sich die Zeichnung mit der Doppeldeutigkeit der ‘Reserve’ auch der Totalität des Formats entziehen, d.h. die einzelne zeichnerische Operation muss sich nicht in den Gesamtplan eines Formats fügen und ihre Linien oder Figuren an den vier Rändern eines Bildträgers ausrichten: Stattdessen kann die Linie in dem Moment, in dem sie gezogen wird, ihre Art und Gestalt allein in Bezug auf den lokalen Bereich bestimmen, dem sie unmittelbar angehört: einer ‘Vignette’, die als einzelne Zelle der Zeichnung existiert, von ihrer Umgebung abgesondert, abgeriegelt durch die neutralisierende Wirkung des schützenden Kokons der Reserve. (Ebd.: 29f.) Daher erfolgt das Zeichnen immer lokal, es entzieht sich der Totalität einer Bildkomposition. So führt in der Zeichnung die Doppeldeutigkeit des Zeichenträgers (‘perzeptiv vorhanden, doch konzeptuell abwesend’) zu einer Befreiung der zeichnenden Hand: In der Zeichnung befreit die Reserve den Stift von dieser komplizierten Berechnung der Totalität und reduziert seinen Entscheidungsspielraum auf einen Bereich, der auf einmal erfasst werden kann, einen lokal begrenzten Bereich, der dort liegt, wo sich die Hand jetzt befindet, in praesentia. (Ebd.: 30; Hervorh. im Original) Damit wäre der von Barthes beschriebene Freiheitsgrad des Zeichnens, wonach an der ‘Spitze des Fingers’ etwas entsteht, das unerwartet ist, medienspezifisch rekonstruiert. Das ‘Begehren der Hand’ führt die Gesten des linkischen Zeichners, nicht ihre instrumentale Eignung. Die Freiheit besteht zudem darin, dass wir es beim Zeichnen mit zurückweichenden Effekten zu tun haben, d.h. mit einem Souveränitätsverlust des Zeichnenden sowie Impulsen, die von der Tätigkeit selbst ausgehen. Auch diesen Aspekt betont Norman Bryson unter exemplarischem Hinweis auf Alexander Cozens Werk A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape. Es belegt, dass das Zeichnen von äußeren Anstößen und nicht von inneren Vorgängen veranlasst wird. Der die Zeichnung Ausführende gesteht ein, dass der Prozess die Richtung weist und der Geist folgt: zuerst der materielle Signifikant, Spuren am Papier; dann, danach, das Signifikat, die dargestellte Szene, der nominelle Referent. (Bryson 2009: 33) In den kommentierenden Worten Brysons findet das Zeichnen als eine “Verflechtung von außen und innen, eine ständige Kreuzung von innen (das Denken, die Sinneseindrücke, die Sensibilität des Künstlers) und außen (Papier, Pigment, Stift)” (ebd.: 35) statt. Damit wird jedoch das Vehikel des Zeichnens, die Linie, selbst zur treibenden Kraft. In aller Schärfe heißt es: “Die gezogene Linie bedingt oder formt die im Beobachtungsfeld ausgewählten Punkte; sie lenkt die Beobachtung in eine bestimmte Richtung oder auf einen bestimmten Weg” (ebd.). Das Zeichnen wird damit zu einer heuristischen Praxis, aber nicht weil es entsprechenden Wünschen unterliegt, sondern weil seine Ausführung Potenziale nutzt, die dem Zeichnen selbst entstammen: Die äußere Markierung am Papier wirkt steuernd auf den weiteren Verlauf des Schaffensprozesses zurück, in dem sie zunächst selbst hervorgebracht wurde. Insofern sie die Entscheidung des Künstlers über die nächste zu ziehende Linie leitet, bildet die Markierung eine Rückkopplungsschleife vom Papier nach innen. (Ebd.) Ulrich Richtmeyer 366 6 In Bezug auf Wittgensteins zeichnerische Beispiele zum Begriff des Regelfolgens habe ich dies untersucht in Richtmeyer 2012. 7 Yve-Alain Bois’ Studie zur Axonometrie (Ders. 1981) beschreibt exemplarisch eine zeichnerische Konvention, die um 1920 manifestartig vertreten wurde und die in der Lage ist, den klassischen Antagonismus zwischen Zentralperspektive und Parallelprojektion aufzuheben: Sie erschafft anschauliche Einzelzeichnungen, in denen Körper maßstäblich und unverzerrt dargestellt sind. Die Entwicklung der Axonometrie geht, wie Bois zeigt, auf diverse zufällige, singuläre, oft unbemerkt bleibende Variationen zwischen beiden Paradigmen zurück, so dass die neue Regel also nach Jahrhunderten ihrer zeichnerischen Erprobung irgendwann einmal formuliert werden konnte: “Die Geschichte der Axonometrie […] verlief in der Tat nicht linear; sie vollzog sich in mehreren unterschiedlichen Linien, auf denen es zu sporadischen Auftritten kam, die aber allesamt wieder in Vergessenheit gerieten” (Bois 1981: 46). Solche Auftritte waren unthematisierte Variationen der beiden leitenden Paradigmen ab ca. 1500. Im 18. Jh. kamen über Kriegskunst und technisches Zeichnen zwei weitere Impulse hinzu, die aus der Axonometrie Ende des 19. Jh. eine eigene Konvention werden ließen, der in der De Stijl- Bewegung 1923 dann ein avantgardistischer Status eingeräumt wurde. Immer ging das Zeichnen der Regel voraus und hat innerhalb eines games ein play stattfinden lassen. Bryson rekonstruiert damit einen notorischen Konflikt, der zwischen der Zeichnung als einem artistisch verantwortetem Werk und der offenen Prozessualität des Zeichnens besteht. Unabhängig von den vorgegebenen Motiven, Figuren, Darstellungsabsichten und -regeln etc. ist das Zeichnen ein bildproduktiver Prozess, der sich auf dynamische Weise immer auch selbst koordiniert, d.h. noch in der Reproduktion unvermeidlich produktiv wird. 5 Play und Game Für die Unterscheidung von Produkt und Produktion, auf der laut Barthes “das gesamte Werk von TW beruht” (Barthes 1990 e: 179), wird entsprechend auf eine terminologische Unterscheidung des Psychoanalytikers Donald W. Winnicott verwiesen. Er habe gezeigt, so Barthes, “daß es falsch war, das Spiel des Kindes auf eine bloße spielerische Betätigung zu reduzieren; zu diesem Zweck hat er an den Gegensatz zwischen game (dem streng geregelten Spiel) und play (dem sich frei entfaltenden Spiel) erinnert. TW steht natürlich auf der Seite des play, nicht auf der des game” (ebd.; Hervorh. im Original). Bezieht man diese Differenz auf die Praxis des Zeichnens, tritt folgender Aspekt in den Blick: Zeichnen ist - im Gegensatz zum Kritzeln oder Skizzieren - in seinen drei kulturgeschichtlich etablierten Domänen Wissenschaft, Technik und Kunst jeweils als ein regelhaftes Geschehen ausgewiesen, dessen Spiel insofern immer schon game ist. Aber - und das wäre für das Verständnis des Zeichnens ebenfalls zu betonten - durch seine Ausführung kommt es nachweislich zu einer Regelvariation, wie deutlich an der Entstehung und Tradierung klassischer zeichnerischer Regelsysteme zu beobachten ist. 6 Insofern ist Zeichnen in performativer Hinsicht ein play. Zeichengeschichtlich lässt sich dies etwa durch Hinweise auf Yve-Alain Bois 7 , Hubert Damisch oder Robin Evans (2011) belegen, die jeweils an historisch prominenten Konventionen des Zeichnens die produktive Regelvariation betont haben. Die Produktivität, die Barthes von den Bildwerken Twomblys ausgehen sieht, knüpft hieran an, indem sie selbst ein sich frei entfaltendes Spiel betreibt und in diesem Sinne die Rolle des Künstlers einnimmt: “Das Reale ist für das Kind - und für den Künstler - der Prozeß der Handhabung, nicht das produzierte Objekt” (Barthes 1990 e: 179). Entsprechend müsste hier als adäquate Illustration nicht der von Barthes nachgezeichnete Twombly gezeigt werden, sondern die Produktionssituation, wie sie Barthes selbst in seiner Autobiografie Linkische Fotografie 367 8 “Die Frage über den Ursprung der Malerei ist ungeklärt und gehört nicht in den Plan meines Werkes. Die Ägypter behaupten, sie sei bei ihnen 6000 Jahre, ehe sie nach Griechenland kam, erfunden worden - offensichtlich eine eitle Feststellung; die Griechen aber lassen sie teils zu Sikyon, teils bei den Korinthern ihren Anfang nehmen, alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen; deshalb sei die erste Malerei so beschaffen gewesen, die nächste habe nur je eine Farbe verwendet […].” (Plinius 1997: VI, 17) 9 Hubert Damisch hat darauf hingewiesen, dass das Nachziehen der Kontur des Schattens nicht schon als ein souveränes Erzeugen von Linien verstanden werden kann, sondern vielmehr als eine tastende, immer wieder neu ansetzende Handlung: “In seinem intrikat geflochtenen Traité du trait weist Damisch darauf hin, dass der Ursprung der westlichen Zeichnung zwar als das zögernde Nachziehen eines Schattenrisses vorgestellt wurde (Butades-Mythos); der in der betreffenden Ursprungserzählung vorkommende Strich (trait), eine tastende, wiederholt ansetzende Geste, werde in der westlichen Tradition jedoch regelmäßig durch souverän gezogene Linien verdrängt (ligne), in denen die Vielzahl der Striche eine Vereinheitlichung erfährt.” (Bach/ Pichler 2009: 20) 10 Siehe hierzu auch: “Es liesse sich leicht darlegen, dass das Zeichnen immer ein Abweichen bedeutet. Es gibt Plausibilitäten, aber keine definitive Identität zwischen der zeichnerischen Darstellung und ihrem Gehalt.” (Boehm 2009: 51; Hervorh. im Original) präsentiert hat (cf. Ette 1998). Der spielerische Prozess bestimmt die Produktion: “Das Wirkliche, an das uns die Strichführung von TW ständig erinnert, ist die Produktion: Zug um Zug sprengt TW das Museum” (Barthes 1990 e: 179). Die Re-Produktion der Grafiken kann zwar die Qualität des Vorbildes nicht erreichen, sie ist aber ähnlich produktiv - und sei es nur im gegebenen Impuls, etwas nachzuzeichnen (wie überhaupt das Nachzeichnen dem Zeichnen als treibender Impuls voranzugehen scheint). Dies ist eigentlich nicht Barthes’ Erfindung, sondern lässt sich durch die Geschichte des Zeichnens zurückverfolgen, bis hin zu Plinius d.Ä., dessen Butades-Mythos (cf. Plinius 1997: XLIII, 151) als eine klassische Urszene des Zeichnens gilt. In ihm beginnt das Zeichnen als eine Fixierung und Erinnerung, mit der die Tochter des Töpfers Butades den Schattenriss des scheidenden Geliebten an der Wand festhält. Solch ein Nachzeichnen eines menschlichen Schattenrisses durch eine einfache Strichgrafik - ein Vorgehen, das laut Plinius von Ägyptern und Griechen gleichermaßen als der Ursprung der Malerei reklamiert wird 8 - folgt repräsentationalen Darstellungsabsichten und zeichnet sich durch indexikalische Qualitäten und Erwartungen aus. Gleichwohl entwickelt und variiert sich das Zeichnen mit jeder Zeichnung weiter, 9 schon um die latente Verunsicherung zu kompensieren, die der Zwang zum authentischen Abbild oder die Verpflichtung auf eine bestimmte Darstellungskonvention mit sich bringen. Mit anderen Worten: Barthes hat mit seiner Hervorhebung der Produktivität zeichnerischer Reproduktionen keine besonders ausgefallene These aufgestellt, sondern einen Vorgang beschrieben und exemplifiziert, den man in die allgemeine Mediengeschichte des Zeichnens einordnen muss. 10 Die personalisierende Anmerkung, dass Twombly mit seinen grafischen Arbeiten die Produktivität der zeichnerischen Reproduktion bereits reflexiv vorweggenommen hat, so dass ihre Sichtbarwerdung in der Grafik wiederum einen Aufforderungscharakter erhält, selbst nachzuzeichnen, lässt sich dann für grafische Bilder verallgemeinern. Aber gelten diese Betrachtungen zur Produktion, Reproduktion und der sie verbindenden Produktivität des Bildes auch für Fotografien? Kurz nach den Twombly-Artikeln beginnt Barthes die Arbeit an der Hellen Kammer, wobei zahlreiche ihrer Motive nun im Kontext der Fotografie wiederkehren. Ulrich Richtmeyer 368 11 Dazu schrieb bereits Sontag: “Die Spur des Magischen jedoch bleibt: sie wird zum Beispiel sichtbar in unserem Zögern, das Foto eines geliebten Menschen - besonders eines solchen, der tot oder weit weg ist - wegzuwerfen.” (Sontag 2004: 153) 6 Die reproduktive Struktur der Fotografie Roland Barthes hatte den Mythos einer notwendig welthaltigen Fotografie in der Hellen Kammer noch einmal bestätigt und gegen alle aufgeklärten Relativierungen fotografischer Authentizität behauptet. Sein Ansatz war, dass selbst diejenigen unter uns, die genauestens zu wissen glauben, dass ein fotografisches Bild die Wirklichkeit nicht unverfälscht wiedergeben kann, im Umgang mit dem Bild eines nahen Verwandten eben doch und unvermeidlich von einer beglaubigenden Beziehung des Bildes zur Welt ausgehen werden. Etwas sträubt sich in uns, das Foto einer vertrauten Person einfach als technisch vermitteltes und damit notgedrungen artifizielles Konstrukt einer Physiognomie anzuschauen, die so, wie sie uns begegnet, keiner historischen Wirklichkeit entspricht. Alle Hinweise auf Relativierungen über Perspektive, Beleuchtung, Bewegungssequenz, Brechung des Objekts durch das geschliffene Glas usw. können uns nicht von dem Gedanken abbringen, das Bild habe das Wesen der vertrauten Person in irgendeiner Weise aufgesogen, sie gleichsam konserviert und bürge damit für seine historische Existenz. 11 Nun hatte Barthes seine frühe These vom fotografischen Analogon in der Hellen Kammer als eine wissentliche Medienvergessenheit inszeniert und damit ihren kontroversen Status durchaus eingeräumt. Der Grundannahme seiner Argumentation können wahrscheinlich jedoch alle Lager zustimmen: Im Unterschied etwa zur Malerei lässt sich “in der P HOTOGRA - PHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist” (Barthes 1989: 86; Hervorh. im Original). Eines ist nämlich laut Barthes gewiss: Es muss vor dem Objektiv ein Objekt gegeben haben, dessen reflektiertes Licht im Foto zu sehen ist und wodurch das historische Ereignis in der Welt konserviert wird: “‘Photographischen Referenten’ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe” (ebd.: 86; Hervorh. im Original). Diese Verbindung von Realität und Vergangenheit mache das “Wesen, den Sinngehalt (noema) der P HOTOGRAPHIE ” (ebd.; Hervorh. im Original) aus. Die Fotografie ist demnach ein reproduktives Medium insbesondere auch dort, wo wir es mit jenem exklusiv aisthetischen Rezeptionsmodus zu tun haben, der sich punctum nennt, denn erst hier wird ja gegenüber dem konventionell deutenden Alltagsgebrauch das noema der Fotografie erfahrbar. Drei Jahre nach Veröffentlichung der Hellen Kammer hatte Vilém Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie (1999 [1983]) auf die Provokation ihrer Thesen reagiert und dazu Gedanken zum technischen Bild und besonders dem der Fotografie weiterentwickelt, die sich bereits im medienhistorischen Stufenmodell der “kodifizierten Welt” (cf. Flusser 2008 [1978]) fanden. Als direkte Antwort auf Barthes’ Minimalthese, es müsse immer ein lichtreflektierendes Objekt draußen in der Welt als Ursache jedes einzelnen Fotos angenommen werden, kontert Flusser mit Ironie, indem er den dokumentarischen Vergangenheitsbezug der Fotografie nicht auf der Seite weltgeschichtlicher Ereignisse annimmt, sondern als bloßes Apparatgedächtnis ausbuchstabiert: Wer im Album eines Knipsers blättert, erkennt darin nicht etwa festgehaltene Erlebnisse, Erkenntnisse oder Werte eines Menschen, sondern automatisch verwirklichte Apparatmöglich- Linkische Fotografie 369 12 In einem Interview sagt Flusser 1988: “Roland Barthes, which to me is very important, and I started from his thought although I consider it totally wrong.” (Flusser 2010: 38) keiten. Eine derart dokumentierte Italienreise speichert die Orte und Zeiten, an denen der Knipser zum Druck auf den Auslöser verleitet wurde, und zeigt, wo der Apparat überall war und was er dort getan hat. (Flusser 1999: 53) Es ist diese Apparatfixierung, die Flussers Standpunkt auszeichnet und die die Vorstellung einer fotografischen Abbildlichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Vielmehr haben wir es bei technischen Bildern mit Abstraktionen dritten Grades zu tun, die keine Gegenstände in der Welt mehr abbilden und sich auch nicht auf sie beziehen, sondern die Bilder von Begriffen sind, die bereits die Programme der Apparate strukturieren. Kurzum: Der Apparat reproduziert sich selbst und er zwingt auch die Nutzer in Feedback-Schleifen. Auch Flusser nimmt also eine wesentlich reproduktive Struktur der Fotografie an, legt sie inhaltlich aber anders aus, nämlich nicht mehr als Emanation einer vergangenen Wirklichkeit, sondern als ein Feedback automatisierter Programmfunktionen. In einer weiteren Hinsicht ist Flussers - offensichtlich durch die Lektüre der Hellen Kammer inspiriertes - Nachdenken 12 über die Fotografie für unser Thema interessant. Zwar findet sich bereits in “Die kodifizierte Welt” (1978) die These einer medienkulturgeschichtlichen Evolution, die traditionelle grafische von gegenwärtig technischen Bildern trennt - allerdings noch ohne letztere ausschließlich fotografisch zu bestimmen. Das ändert sich erst in Flussers Für eine Philosophie der Fotografie von 1983, wo technische Bilder paradigmatisch als Fotos bestimmt werden. So wird die bei Barthes offene und ungeklärte Beziehung zwischen Grafik und Fotografie bei Flusser in eine strikte Differenz überführt. Er entgeht damit dem Dilemma, in das uns Barthes versetzt, wenn er bildliche Produktivität für beide ähnlich beschreibt, aber doch konträr bewertet. Zusammenfassend kann man sagen: Reproduktivität gibt es in der Fotografie gleich doppelt - erstens als eine kulturell-apparative Redundanz, die von Barthes und Flusser gleichermaßen vertreten wird, und zweitens als ein indexikalischer Wirklichkeitsbezug des Bildes. Wo und wie sind in der Fotografie aber Momente der Produktivität möglich? 7 Die Produktivität der Fotografie Im Gegensatz zum grafischen steht der fotografische Bildproduzent grundsätzlich in Frage. Viele Eigenschaften, die nach Barthes die Freiheit und Produktivität der Zeichnung ausmachen, kehren in der Fotografie zwar wieder, nun allerdings unter anderem Vorzeichen: Die Überlegung, dass Bilder dazu führen können, den Moment ihrer Produktion zu reproduzieren (und nicht unbedingt ihre Bildmotive), verwandelt sich in der Hellen Kammer in die These einer bedenklich redundanten Kooperation zwischen Fotografen und Rezipienten. Ihre Beteiligung an der Entstehung des Bildes sieht Barthes mit größter Skepsis, weil dabei immer nur die bekannten Interessen dominieren, die sich im Begriff des studium vereinen lassen: es bringt die “einförmige Photographie” (Barthes 1989: 50; Hervorh. im Original) hervor. Dieses Motiv wird Flusser in sein erstes Fotobuch aufnehmen und mit dem Begriff des Knipsers markieren, der ebenfalls redundante Fotografien erzeugt, auch wenn das studium sich nun nicht mehr im Spektrum des ikonografisch Bekannten, sondern innerhalb der omnipräsenten Apparatprogramme wiederfindet, die einen Begriff der schöpferischen Subjektivität Ulrich Richtmeyer 370 13 Für Flusser besteht der anspruchsvolle, nicht der alltägliche Umgang mit der Fotografie, der sich in Barthes’ studium findet, umgekehrt darin, genauestens die beiden konkurrierenden Absichten der Fotografie zu differenzieren: die des Fotografen und die des Programms. Experimentelle Fotokünstler, denen dies gelingt, beherrschen hier partiell den Apparat und auch das bildproduktive Geschehen. ausschließen (cf. Flusser 1999). Das Ergebnis bleibt jedoch bei Flusser und Barthes gleich: Solche Fotos unterbrechen keine Lektüre (cf. Barthes 1989: 51), erzwingen keinen Wechsel des Tisches, wie dies bei den Grafiken Twomblys geschah - oder in den Worten Flussers, der hier keinen Begriff ästhetischer Wirkungen hat: sie sind nicht informativ. Sie führen auch nicht zur Reproduktion ihrer Produktivität, sondern allenfalls zur Reproduktion ihrer Motive, Absichten und Darstellungsinteressen (bei Flusser: ihrer Apparatprogramme). Neben dem studium gibt es in der Fotografie aber auch das punctum, das wirkungsvolle Detail, das “nicht mit Absicht ins Spiel kommt” (Barthes 1989: 57), 13 also eine ähnliche Produktivität des Bildes meint, wie sie in den Twombly-Grafiken beschrieben wurde. Grundsätzlich ist die Fotografie daher auch bei Barthes produktiv, weil sich exklusive ästhetische Effekte nun theoretisch und heuristisch auswirken. Denn wenn die Auswahl und Darstellung von Fotos mit dem Zweck der Unterteilung ihrer Rezeptionsweisen in studium und punctum unternommen wird, stützt sich Barthes hilfreich auf Bilder, “die mir nahegingen (und die ich in methodischen Schritten zur P HOTOGRAPHIE an sich gemacht hatte)” (ebd.: 127). Sein Versuch einer Universalisierung des Wesens der Fotografie entzieht sich also der redundanten Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion der Bilder, die Gegenstand ihres studiums ist, und konzentriert sich vielmehr auf ihre exklusiv erfahrbaren und nicht intendierten Effekte: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (ebd.: 60). (In gleicher Weise entzog sich Flusser den üblichen Feedback-Schleifen, wenn er mit dem Hinweis auf experimentelle Fotokünstler den Typus eines exklusiven Produzenten konzipierte.) Die Auswahl der zu besprechenden Fotos ist also idiosynkratisch motiviert und folgt wesentlich echten Gefallenszuständen, keinem “durchschnittlichen Affekt” (ebd.: 35) - zumindest in dieser Hinsicht sind Fotos produktiv. Fotografien können die Reproduktion ihrer eigenen Hervorbringung veranlassen. Das geschieht laut Barthes und im Einklang mit Flusser ständig und lässt sich unter dem Motiv der Redundanz fassen, die zwischen Flussers Knipsern und der einförmigen Fotografie besteht. Zudem kann bei Barthes auch die Produktivität des Fotos Folgen haben, die dann aber im Modus des punctum nicht selbst zu einer Bildproduktion führen, wie sie Barthes an den Twombly-Grafiken noch beschrieben hatte. Ist es aber, analog zu den vorhergehenden Twombly-Artikeln, auch möglich, dass solch ein wirkungsvolles fotografisches Bild die Reproduktion seiner eigenen Hervorbringung veranlassen kann? Was hindert Barthes daran, das Linkische auf die Fotografie zu übertragen? 8 Der fotografische Prozess Anders als die Zeichnung führt das wirkungsvolle Foto nicht zu dem Wunsch, es zu reproduzieren (also in seiner Produktivität) zu wiederholen, weil Barthes für die Fotografie einen konträren Produktionsprozess annimmt. Genaugenommen gibt es keinen Prozess. Die fotografische “Emanation des Referenten” (Barthes 1989: 90) ist allenfalls eine chemische Reaktion, d.h. ein Vorgang, der wesentlich ohne menschliches Zutun verläuft und eben deshalb auch nicht als Bildproduktion reproduziert werden kann: Linkische Fotografie 371 14 Auch diese Minimalbedingung fotografischer Indexikalität findet sich ähnlich bereits bei Kracauer: “Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der Großmutter jener Aspekt.” (Kracauer 1977: 32) Es heißt oft, die Maler hätten die P HOTOGRAPHIE erfunden (indem sie den Ausschnitt, die Zentralperspektive Albertis und die Optik der camera obscura auf sie übertrugen). Ich hingegen sage: nein, es waren die Chemiker. Denn der Sinngehalt des “Es-ist-so-gewesen” ist erst von dem Tage an möglich geworden, da eine wissenschaftliche Gegebenheit, die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten. Die P HOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin […]. (Ebd.; Hervorh. im Original) Mit der Abgrenzung der Fotografie von der Malerei und ihrer zeichnerischen Perspektivkonstruktion setzt Barthes eine Differenz, die auch ihre produktiven und reproduktiven Verfahrensweisen trennt. Fotografieren ist demnach ein chemischer Prozess (in gleicher Weise hatte Flusser drei Jahre später argumentiert, allerdings mit der Betonung der Chemie als einer Wissenschaft, womit sich Fotografie auf Begriffe gründet. Darauf basiert dann auch bei ihm die scharfe Trennung zwischen dem gezeichneten und dem fotografischen Bild). Die für die Analogfotografie so wichtige Arbeit an einem Abzug in Dunkelkammer und Labor interessiert Barthes so wenig wie Flusser. Stattdessen verbindet Barthes mit der Auffassung einer vollständig indexikalisch bestimmten Fotografie auch eine Simplifizierung seiner Herstellung, wonach sich das vom fotografierten Gegenstand reflektierte Licht auf direktem Wege mit dem späteren Abzug verbindet, sodass “der einstige Gegenstand durch seine unmittelbare Ausstrahlung (seine Leuchtdichte) die Oberfläche tatsächlich berührt hat, auf die nun wiederum mein Blick fällt” (ebd.: 91) - eine Konstruktion, die auch für die Analogfotografie genaugenommen nicht mehr gilt. Denn: “die Gewißheit, daß der photographierte Körper mich mit seinen eigenen Strahlen erreicht” (ebd.: 92), ist schon mit dem zwischengeschalteten Negativ aufgehoben. Gleichwohl vertritt Barthes damit eine letzte Position der Authentizität der Fotografie, wohl wissend, dass er auf verlorenem Posten kämpft. Für ihn ist die indexikalische Vermittlung von Licht - unabhängig von der Tatsache, dass es reflektiert, fixiert, negiert, als Maske durchleuchtet, projiziert und wieder fixiert wird - Beweis einer Historizität (während in Flussers radikaler Gegenlektüre der Hellen Kammer mit der Fotografie das Zeitalter geschichtlichen Denkens endet und die Nachgeschichte beginnt). Zwar lässt sich Barthes’ entschieden vertretenem Realismus, der ja mit der schon sehr früh aufgestellten These vom fotografischen “Analogon” (Barthes 1990 a: 13) bzw. dem “adamischen Urzustand des Bildes” (Barthes 1990 b: 37) übereinstimmt, auch eine überzeugende Differenzierung abgewinnen, wenn es heißt, der fotografische Referent sei “eine notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe” (Barthes 1989: 86; Hervor. im Original). 14 Es wundert nur die Ausschließlichkeit, mit der Barthes den Prozess des Fotografierens dann zum bloßen Automatismus erklärt. Es gibt in der Fotografie demnach keine Kunst, sondern nur Magie, weil sie eine bloße “Emanation des vergangenen Wirklichen” (ebd.: 99; Hervorh. im Original) ist. (Für Flusser ist die Fotografie ebenfalls die ‘Emanation des vergangenen Wirklichen’, allerdings wertet er sie als vergangene und nunmehr ins technische Bild transformierte Schrift- und Begriffsgeschichte.) Barthes stellt sich die fotografische Produktion, also die Hervorbringung bzw. Anfertigung eines Fotos, nicht als einen Prozess vor, obgleich es aber genau dieses Prozesshafte ist, zu Ulrich Richtmeyer 372 15 Cf. zu diesem Aspekt ausführlich den Beitrag von Markus Rautzenberg in diesem Themenheft. 16 Lässt man diesen Übergang bei Benjamins Kunstwerkaufsatz beginnen, dann trennt Grafik und Fotografie eher der Wechsel von der Hand zum Auge: “Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen.” (Benjamin 1966 a: 10f.) Der Aspekt der technischen Reproduktion ist dabei weniger wichtig, denn im Holzschnitt wird die Grafik beispielsweise ebenfalls technisch reproduziert, aber weiterhin durch die Hand verantwortet (cf. ebd.). Die Hand des Fotografen ist auf den Fingerdruck am Auslöser reduziert (natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die handwerkliche Arbeit in der Dunkelkammer ignoriert wird), der wiederum als Reflexhandlung des Auges (Benjamin) oder gleich als Funktion des Apparats (Flusser) gilt. dessen Reproduktion Twomblys Grafiken einladen. Idealerweise geht es nur um einen Aufnahmemoment, während alle vorsätzlichen, geplanten Aufnahmeprozesse ihm als vollständig beherrschbar erscheinen. Deutlich wird dies selbst dort, wo über lange Zeiträume hinweg eine bestimmte fotografische Überraschung gesucht wird, wie zum Beispiel im Falle Edgertons, über den es ironisch heißt: “Seit einem halben Jahrhundert photographiert Harold D. Edgerton das Fallen eines Milchtropfens, zuletzt in einer Millionstel Sekunde” (ebd.: 42). Die gute, sprich: punktuierte Fotografie ist hingegen wie ein Haiku, bei dem auch alles bereits da ist: “Darin ähnelt die P HOTOGRAPHIE dem H AIKU , denn auch die Niederschrift eines Haiku läßt sich nicht entwickeln: alles ist bereits da […]” (ebd.: 59). 15 Wie entsteht also das wirkungsvolle Foto, wie kommt das punctum ins Bild? Es bezeugt den Aufnahmevorgang bzw. die Situation: “Das ‘Zweite Gesicht’ des P HOTOGRAPHEN beruht nicht darauf, daß er ‘sieht’, sondern daß er sich an einem bestimmten Ort befindet” (ebd.: 57). Auch solch eine Blindheit korreliert grundsätzlich noch mit Twomblys Arbeitsweise: Der ‘Linkische’ ist eine Art Blinder: Er sieht die Richtung, die Tragweite seiner Gesten nicht, hieß es über ihn. Barthes glaubt, dass dies für den Fotografen nicht gilt, weil er ganz klaren Absichten zu folgen scheint: “Ich stelle mir vor (das ist alles, was ich tun kann, da ich kein Photograph bin), daß die wesentliche Handlung des operator darin besteht, etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse), und daß diese Handlung dann vollkommen ist, wenn sie ohne Wissen des photographierten Subjekts ausgeführt wird” (ebd.: 41; Hervorh. im Original). Diese Vorstellung verschafft nicht nur dem fotografierten Subjekt eine höhere Wahrhaftigkeit (im Sinne unverstellter Indexikalität), sondern simplifiziert im Gegenzug auch die fotografische Bildproduktion. 9 Die stillgestellte Geste Barthes’ Feststellung, dass das Bild beim Zeichnen an der Spitze des Fingers entsteht und damit über Freiheiten verfügt, die aus der räumlichen und zeitlichen Isolation hervorgehen, wiederholt sich für die Fotografie allenfalls in Flussers Polemik, wonach das Tasten der Fingerspitzen am Apparat die redundanten bildlichen Resultate auslöst (vgl. Flusser 1999 b: 28ff.). Das Punktuelle dieser bilderzeugenden Geste gilt nun - auch etymologisch plausibilisiert - als Ausweis der Digitalität und integriert den auslösenden Fingerdruck als Grundfunktion apparativer Programme. 16 Zwar konstatiert Barthes auch für die Fotografie eine Unnachahmlichkeit, wie sie für Twomblys Grafiken gilt; sie wird aber anders an den menschlichen Körper gebunden. Bei Twomblys Grafiken greift der Künstler selbst in die Bildproduktion ein: “Der Strich von TW ist unnachahmlich (versuchen sie ihn nachzumachen […]). Nun ist das Unnachahmliche Linkische Fotografie 373 17 In seinem Essay “Die Geste der Fotografie” weicht Flusser vom späteren Konzept einer rein programmatischen Verursachung der Fotografie ab und erklärt den Produktionsprozess performativ, weil die Bewegung des Fotografen und die Widerstände und Sprünge auf der Suche nach einem geeigneten Standort für das Bild konstitutiv werden (cf. Flusser 1994: 100ff.). 18 Dieser Gedanke wird bei Flusser aus dem existenziell biografischen Kontext heraus gelöst und in eine anthropologische und mediengeschichtliche These verwandelt. Der Fotoapparat wurde demnach entwickelt, um der Menschheit zu helfen, Informationen - nach Flusser: Unwahrscheinliches - hervorzubringen. Weil er aber als Apparat wiederum programmatisch funktioniert, muss er letztlich Wahrscheinliches produzieren, sich also in die unmenschliche Tendenz der Entropie einreihen, die im “Wärmetod” (Flusser 1999 a: 70) resultiert. letztlich der Körper” (Barthes 1990 e: 177). Eine ähnliche Produktivität des Körpers wird jedoch für die Fotografie ausgeschlossen, die den Körper nur als fotografiertes Objekt kennt: “das Unnachahmliche der Photographie” besteht darin, heißt es, “daß jemand den Referenten leibhaftig oder gar in persona gesehen hat” (Barthes 1989: 89; Hervorh. im Original). Dieser Jemand ist der Fotograf, der schon bei Benjamin und erst Recht bei Flusser als bloßer ‘Knipser’ gilt (cf. Benjamin 1966 b: 60). Die bildgebende Leistung steht dabei nicht ihm, sondern dem apparativen Automatismus zu. In einem kurzen Text mit dem Titel “Diderot, Brecht, Eisenstein” hat Barthes das Abbild als ein Bild beschrieben, das sich durch einen Ausschnitt kennzeichnen lässt: “Die Abbildung wird nicht unmittelbar durch die Nachahmung definiert […]. Das Organon der Abbildung […] wird auf einem doppelten Fundament ruhen, auf der Souveränität des Ausschnitts und auf der Einheit des Subjekts, das den Ausschnitt vornimmt” (Barthes 1990 d: 94). Selbst wenn man die fotografische Bildfläche also vollständig einem Realismus unterwirft, stünde zumindest diese Entscheidung - so könnte man meinen - dem Fotografen zu. Und sie kann linkisch getroffen werden - mit der ganzen Offenheit von Gesten, wie sie auch Flusser für die Geste des Fotografierens beschrieben hatte. 17 Dass diese fotografischen Gesten dann nicht mehr an die Virtuosität einer Hand gebunden sind, sondern an die unvorhersehbaren Bewegungsabläufe eines blickenden und apparativ sekundierten Körpers, stellt dabei keinen Einwand dar. Die ‘Geste’ des Bildermachens, die in der Zeichnung das ‘Zusätzliche der Tat’ hervorbringt, gibt es bei Barthes aber nicht mehr für die Fotografie: denn nicht nur Körper, auch Gesten treten nur noch als fotografierte Objekte auf, ohne aber in die Handlungen des fotografischen Bildermachens selbst einzugreifen. Während es zu Twombly heißt, er bezeuge, “daß das Wesen der Schrift weder in einer Form noch in einer Verwendung liegt, sondern bloß in einer Geste, die sie hervorbringt” (Barthes 1990 e: 166), tritt die Geste in der Hellen Kammer nur noch als ein zum idealen Zeitpunkt fotografiertes, d.h. stillgestelltes Objekt auf, welches damit aber nicht der Produktion des Bildes selbst angehört. Es gibt für die Fotografie demnach keine hervorbringende Geste. Auch die wesentliche Steigerung der These vom fotografischen Analogon, die in der Hellen Kammer die Fotografie dann als eine Verbindung von Leben und Tod konzipiert, findet sich ähnlich bereits als eine Qualität von Twomblys Grafiken - etwa wenn es heißt, sie seien “weder Eros noch Thanatos, sondern Leben-Tod in einem einzigen Gedanken, in einer einzigen Geste” (ebd.: 173), eben weil die Zeichnung “in einer unnachahmlichen Spur die Inschrift und die Auslöschung verbindet” (ebd.). Auch diese Doppelfigur findet sich im fotografischen Bild wieder, das nach Barthes “den T OD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will” (Barthes 1989: 103). 18 Zu dieser dialektischen Figur schrieb schon Kracauer: “Daß sie [die Kamera; U.R.] die Welt frißt, ist ein Zeichen der Todesfurcht. Die Erinnerung Ulrich Richtmeyer 374 Abb. 2: Entnommen aus: Archiv des Verfassers Abb. 1: Entnommen aus: Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1980), übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 27 Linkische Fotografie 375 an den Tod, der in jedem Gedächtnisbild mitgedacht ist, möchten die Photographien durch ihre Häufung verbannen” (Kracauer 1977: 35; Hervorh. im Original). Für das, worauf es im exklusiven Foto ankommt, nämlich das punctum, gibt es keine produzierende Geste und damit offenbar auch keine Reproduktion: es lässt sich “nur in Form von Beharrlichkeit […] wiederholen” (Barthes 1989: 59; Hervorh. von mir, U.R.). So hält es Barthes auch für “nicht weiter erstaunlich, daß sich das punctum zuweilen, trotz all seiner Deutlichkeit, erst im Nachhinein offenbart, wenn ich das Photo nicht mehr vor Augen habe” (ebd.: 62). Dieses Wiederholen gilt also nicht als bildliche Reproduktion, sondern als das Nachwirken einer “gewissen Latenz” (ebd.), als ein Erinnern mit geschlossenen Augen (cf. ebd.: 62ff.). Aber selbst wenn Fotos, die ein punctum aufweisen, mitunter lange nachwirken, so spricht das eigentlich nicht grundsätzlich gegen die bildliche Wiederholung ihrer Produktivität. Als Beispiel möchte ich hierfür die folgenden beiden Abbildungen anführen. Abbildung 1 zeigt Alfred Stieglitz’ “The Terminal” (1892), nebenbei auch die erste Abbildung in der Hellen Kammer, wobei Barthes hier kein punctum als Detail identifiziert. Abbildung 2 zeigt eine Analogfotografie, die ich vor Jahren auf einem Ausflug machte und für die ich kein anderes Motiv hatte, als den Film zu füllen. Ich hielt das gedankenlos angefertigte Bild immer für misslungen, allerdings noch nicht einmal in dem anspruchsvollen Sinne, der darin besteht, vorsätzlich ein schlechtes Foto zu machen. Eines Tages stellte ich die mögliche Assoziation zu Stieglitz’ Bild fest und legte den Abzug auf die entsprechende Seite eines Fotobuches, das ich von ihm besitze. Es gilt mir seither als produktiver Beleg einer bildlichen Nachwirkung, wobei die Beziehung der Bilder weiterhin diskutabel ist. Der Pferdewagen trägt die Nummer “1 E”, die von mir aufgenommene Straßenbahn die Nummer “11 E”; Stieglitz’ Wagen fährt nach “Harlem”, meine Bahn nach “Wahren”; im Hintergrund gibt es jeweils eine Fassade und rechts vom Fahrzeug bestimmte Serviceutensilien, denn in beiden Fällen handelt es sich um die Endstation eines Schienenfahrzeugs. Bei Stieglitz beeindruckt mich vor allem aber die geometrisch klare und in besonderer Weise elliptische Kontur der beiden Schienenstränge im Vordergrund. Ich habe es nie nachkonstruiert, aber ich glaube, mein Bild zeigt exakt die gleiche Krümmung der Schienen. Hat Barthes nicht fotografiert, weil er glaubte, in der Fotografie gäbe es nichts Linkisches? Gäbe es jedoch eine linkische Fotografie, so müsste sie sich auch mit jener Figur der Reproduktion bildlicher Produktivität verbinden lassen, die Barthes an den Twombly-Grafiken beschrieb. 10 Linkische Amateure? Immerhin favorisiert Barthes auch das Dilettantische in der fotografischen Produktion, weil ihm hier die Figur des Amateurs wichtig ist: “Gewöhnlich wird der Amateur als unausgereifter Künstler definiert: als jemand, der zur Meisterschaft in seiner Profession nicht aufsteigen kann - oder will. Auf dem Felde der photographischen Praxis dagegen überflügelt der Amateur den Professionellen: er kommt dem Noema der P HOTOGRAPHIE am nächsten.” (Barthes 1989: 109) Barthes’ exklusives Verständnis des Amateurs ist auch gegen dessen professionelle Entwertung gerichtet. So knüpft er in der Hellen Kammer an Bourdieus frühe Studien zur Soziologie der Fotografie an (die in ihrem theoretischen Teil wesentlich in dessen Hauptwerk Die feinen Unterschiede eingehen werden). Der Hinweis auf Bourdieu findet sich in der Literaturliste der Hellen Kammer, allerdings handelt es sich um den einzigen der hier Ulrich Richtmeyer 376 19 “Fotoamateurklubs sind Orte der Berauschung an apparatischen Strukturkomplexitäten, Orte von Trips, nachindustrielle Opiumhöhlen” (Flusser 1999: 53). Flusser erwartet also weder vom Amateur noch vom Knipser die informativen Fotos, sondern von ambitionierten Künstler-Philosophen. 20 Auch das Thema der Vergrößerung wurde schon von Kracauer vorweggenommen: “So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickte, erkennte [sic] den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido.” (Kracauer 1977: 21; Hervorh. im Original) angeführten Texte, dem am Seitenrand dann keine eigene Nennung gewährt wird. Eine passende Textstelle findet sich hier: […] doch eine lästige Stimme (die Stimme der Wissenschaft) sagte mir dann in strengem Ton: “Kehr zur P HOTOGRAPHIE zurück. Was du hier siehst und was dich leiden macht, fällt unter die Kategorie ‘Amateurphotographie’, die ein Soziologenteam behandelt hat: es belegt nichts anderes als das soziale Protokoll einer Integration, das den Zweck hat, die Institution der Familie zu stabilisieren, und so weiter.” (Ebd.: 15) Von solch einer soziologischen Bestimmung des Amateurs nimmt Barthes also Abstand und wertet dessen Status umgekehrt sogar auf, indem er ihn in die Reihe gesellschaftlicher Randgänger versetzt (der Wilde, der Verrückte, das Kind) - also dorthin, wo er auch Twombly und sich selbst als einen ‘unausgereiften Künstler’ verortet: “ich bin ein Wilder, ein Kind - oder ein Verrückter; ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben” (ebd.: 60). Das für die Helle Kammer zentrale Foto der Mutter aus dem Wintergarten wird so einem Amateurfotograf zugeschrieben: Da schließlich weder Nadar noch Avedon meine Mutter photographiert haben, verdankt dieses Bild sein Überleben allein dem glücklichen Zufall einer Aufnahme, die ein Provinzphotograph, ein gleichgültiger - im übrigen längst verstorbener - Vermittler gemacht hat, der nicht wußte, daß das, was er da festhielt, die Wahrheit war - für mich die Wahrheit” (ebd.: 121). Nichts von dem wissen, was in der fotografischen Aufnahme bedeutend sein wird, ist aber wiederum eine Bedingung, die mit dem Linkischen in Twomblys Grafiken korreliert. Der Kern der Produktivität des grafischen Bildes bestand ja in einem bildgebenden Handeln, das nicht mehr voll beherrscht oder kontrolliert werden kann. Ein Bild, das diesen Vorgang zeigt, lädt demnach ein, ihn selbst zu praktizieren. Aber ist das nicht auch mit dem fotografischen Bild möglich? Nun, für Roland Barthes deshalb nicht, weil er für die Fotografie kein (künstlerisch) handelndes Subjekt zulässt, nur einen idiosynkratischen Rezipienten. Barthes’ Begriff des Amateurs konzipiert eine sehr exklusive Rolle, weil er - anders als die fotografischen Amateure, denen Bourdieu eine Form der kulturellen Spezialisierung nachzuweisen versuchte oder die sich bei Flusser an “apparatischen Strukturkomplexitäten” (Flusser 1999: 93) berauschen 19 - nicht mehr in der Dimension des studiums agiert. Er bewirkt zwar die Entstehung des punctum, sein Tun gilt aber nicht als ein bildproduktives Handeln, weshalb es scheinbar auch nicht zur eigenen Reproduktion anregt. Genaugenommen führte aber auch die Fotografie aus dem Wintergarten zu einer bildlichen Re-Produktion, weil Barthes nach eigener Auskunft ein Labor mit einer Ausschnittvergrößerung beauftragt hatte. 20 Auch hier stellt er sich vor, dass die Arbeit am Bild einen rein konservatorischen Charakter hat: sie ‘reinigt’ die analoge Oberfläche. Doch das enttäuschende Ergebnis, dass das gesuchte Gesicht der Mutter nicht deutlicher wiedergegeben werden kann Linkische Fotografie 377 21 Linkische Fotografie findet sich z.B. zahlreich in den Sammlungen, die Peter Pillar aus Tageszeitungen und verschiedenen Archiven zusammengestellt hat. Besonders sehenswert sind etwa die Bildfolgen Regionales Leuchten, Fotografenauto oder ungeklärte Fälle (allesamt abrufbar in der Rubrik “Zeitung” auf http: / / www.peterpiller.de/ ). - “was ich vergrößere, ist nur das Korn des Papiers: ich löse das Bild auf, und zurück bleibt allein sein Stoff” (Barthes 1989: 111) -, läuft nach Barthes’ Position darauf hinaus, dass die Wahrheit der Fotografie geradezu verspielt wurde. Allerdings kehrt an der beschriebenen fotografischen Reproduktion das wieder, was als die Produktivität Twomblys beschrieben wurde: “weil das Papier zum Objekt des Begehrens geworden ist, kann die Zeichnung, von jeder technischen, expressiven oder ästhetischen Funktion losgesprochen, wieder auftauchen”, und zwar “befreit von Gründen, die seit Jahrhunderten die graphische Reproduktion eines erkennbaren Objekts zu berechtigen schienen” (Barthes 1990 e: 176f.; Hervorh. im Original). Um dieses großzügige Angebot auch der Fotografie zugestehen zu können, hätte Barthes mindestens drei Motive der Twombly-Texte korrektiv auf die Fotografie beziehen müssen: erstens wäre ihre stark indexikalische Interpretation zu revidieren; zweitens wäre der Prozess der Bildproduktion als ein offener und nicht gänzlich beherrschter zu verstehen; drittens wäre schließlich der Status des Gestischen einzubeziehen, der sich auf die Bewegungen der Körper und Gegenstände, Instrumente und Apparate und nicht nur auf instrumentalisierte Hände oder funktionalisierte Fingerspitzen bezieht. Erst dann erhielte die Fotografie die gleichen produktiven Freiheiten, die Barthes in der Analyse der künstlerischen Grafik konstatiert hatte und die sich unter einem rezeptionslogischen Fokus schon im Begriff des punctum konzentrieren. Das Ergebnis wäre eine linkische Fotografie, ‘befreit von den Gründen, die seit etwa zwei Jahrhunderten die fotografische Reproduktion eines erkennbaren Objekts zu berechtigen scheinen’. Fotografische Beispiele hierfür gibt es zuhauf, dokumentiert etwa in den Sammlungen Peter Pillars, theoretisch reflektiert in einer Vielzahl von Studien (cf. exemplarisch Geimer 2010) oder selbst in der Figur jenes unbekannten Amateurs, den Barthes in der Hellen Kammer erwähnt und damit letztlich als Exponenten einer linkischen Fotografie würdigt, die selbst auszuführen er sich allerdings nicht durchringen kann. Linkische Fotografie kann sich jedoch in der redundanten Welt der Knipser allerorts und ständig ereignen - nicht unbedingt künstlerisch verantwortet (das war sie im Falle Twomblys auch nicht), sondern vielmehr bewirkt durch die Produktivität des Bildes. Sie kann neben den Darstellungsintentionen, nach denen ein Bild hergestellt wird, als ein souverän agierendes Prinzip sichtbar werden und in Form fotografischer Attraktion (punctum) zu seiner eigenen Wiederholung einladen. Statt des Nachzeichnens ein Nachknipsen also, das nicht den abgebildeten Figuren gilt oder den stereotypisierten Posen, sondern der Produktivität ihres bildlichen Erscheinens. 21 Bibliographie Bach, Friedrich Teja & Wolfram Pichler 2009: “Ouvertüre”, in: Dies. (eds.) 2009: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München: Fink: 9-23 Barthes, Roland 1990 a: “Die Fotografie als Botschaft” (1961), in: Ders. 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. 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