eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
373-4

Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben

2014
Markus Rautzenberg
Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben Das Haiku als ‘Sprachfotografie’ bei Roland Barthes und Andrej Tarkowskij Markus Rautzenberg (Berlin) In two seminal efforts the Russian film-director Andrej Tarkwoskij (in: Sculpting in Time) and the French philosopher Roland Barthes (in: The Preparation of the Novel) independently try to come to terms with iconicity (Bildlichkeit). While Tarkowskij argues from the perspective of a filmmaker who tries to understand what an image/ picture is, Barthes asks himself and his audience at the Collège de France how aesthetic presence can be transformed into language, and thus how it is possible to write a novel. From those seemingly different starting points both thinkers eventually arrive at the ‘small form’ of the Japanese Haiku as a kind of hybrid between iconicity and language. The following paper argues that they both discover what will be tentatively called a ‘language-photograph’, a photograph ‘made of language’ and vice versa: a use of language that works like photography. In an attempt to develop a theory of the novel Roland Barthes discovers a theory of photography (his groundbreaking book on the subject - Camera Lucida - was written immediately after the lecture series in question), and it will be argued that along the way Barthes as well as Tarkowskij are hinting at a theory of transmedial iconicity. “Mit diesem Wenigen an Sprache vermag das Haiku zu leisten, was Sprache nicht leisten kann: die Sache selbst zu evozieren.” (Barthes 2008: 79) 1 Zeitdruck. Andrej Tarkowskijs Theorie des fotografischen Bildes Andrej Tarkowskij zeigt sich in Die versiegelte Zeit (Tarkowskij 2012) als ein Filmtheoretiker, dessen Poetik und Ontologie des filmischen Mediums vor allem vom Fotografischen bestimmt ist. Im Gegensatz zu Sergej Eisenstein (1988, 2006), dessen Filmtheorie vorwiegend eine Montagetheorie ist, bei der es um die Übergänge, Ränder und Juxtapositionen der Einstellungen geht, ist für Tarkowskij die Einstellung selbst der entscheidende Faktor: “Das Filmbild entsteht nun aber während der Dreharbeiten und existiert innerhalb einer Einstellung” (Tarkowskij 2012: 169). Seine Theorie des Films konzentriert sich daher ebenso wie seine filmische Arbeit vor allem auf den Zeitraum zwischen zwei Schnitten, auf die Einstellungen selbst, nicht auf die Skandierung der Bilder durch die Montage. Der Faktor Zeit wird damit in seiner Bedeutung im Vergleich zur Theorie der Montage bei Eisenstein anders gewichtet. Für Tarkowskij ist der spezifische Rhythmus eines Films “nicht etwa eine metrische K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Rautzenberg 350 1 Zum Bild als ‘Zeitcontainer’ siehe vor allem Aby Warburgs Theorie des Bildes als ‘Energiekonserve’. Cf. hierzu ausführlich Rautzenberg 2014. Abfolge von Filmstücken. Der Rhythmus konstituiert sich vielmehr aus dem Zeitdruck innerhalb der Einstellung.” (Ebd.: 176) Die Montage gilt dem Regisseur nicht als ein Spezifikum des filmischen Mediums, denn sie “existiert offenbar in jeder Kunst” (ebd.); gemeint ist, dass “Auswahl und Neuanordnung” (ebd.) für jede Formgenese in der Kunst notwendig ist. Die Montage im Film zeige demgegenüber keine “neue Qualität”, sondern bringe “lediglich das zum Vorschein, was bereits zuvor in den jetzt zusammengefügten Einstellungen angelegt war” (ebd.). Für Tarkowskij besteht die Aufgabe des Regisseurs somit darin, “einen eigenen individuellen Zeitstrom zu schaffen, in der Einstellung mein eigenes Zeitempfinden wiederzugeben, das von träge verträumten bis zu sich aufbäumenden, überschnellen Bewegungsrhythmen reichen kann” (ebd.: 179). Man denkt bei diesen Zeilen unwillkürlich an jene langen Einstellungen in den Filmen Tarkowskijs, die sich exzessiv mit Zerdehnung und Kontraktion von Zeit beschäftigen, in denen die Kamera in den Bewegungen schwelgt, die der Wind in eine Graslandschaft (Der Spiegel, Sowjetunion 1975) zeichnet oder eine Wasserströmung in ein Flussbett oder eine Pfütze (Stalker, Sowjetunion 1979; Solaris, Sowjetunion 1972): Man denke dabei nur an die verschiedenen möglichen Formen zeitlichen Spannungsdrucks. Symbolisch gesprochen, an die Unterschiede von Bach, Fluß, Strom, Wasserfall und Ozean. Deren Koordinierung erbringt ein einmaliges rhythmisches Gemälde, eine vom Zeitempfinden ihres Autors ins Leben gerufene organische Innovation. (Tarkowskij 2012: 180) Die Länge der Einstellung selbst steht dabei nicht so sehr im Mittelpunkt wie der ‘zeitliche Spannungsdruck’ innerhalb der Kadrierung: “Den filmischen Rhythmus bestimmt nicht die Länge der montierten Einstellungen, sondern der Spannungsbogen der in ihnen ablaufenden Zeit” (ebd.: 172). Aus diesem Spannungsbogen resultiert der ‘Zeitdruck’ der Einstellung, dessen Signum es ist, über den Rand der Bildbegrenzung hinauszustreben, eine Welt außerhalb des Rahmens des Filmbildes in das Bild hinein holen zu können. Wenn es daher in der Versiegelten Zeit heißt, dass das “Unendliche” etwas sei, das “der Bildstruktur immanent” ist (ebd.: 159), so ist damit nicht nur auf jene religiös-spirituelle Ebene verwiesen, die in den Filmen und Selbstzeugnissen Tarkowskijs stets auch eine Rolle spielt. Eingedenk der theoretischen Aussagen über das Filmbild als eines Zeitcontainers 1 , geht es bei Tarkowskij um einen Bildbegriff, der durch die Insistenz auf die Integrität des Einstellung nicht nur auf die fotografische Provenienz des Filmbildes verweist, sondern darüber hinaus die ‘Macht’ dieser Bilder jenseits des Visuellen verortet: Wie spürt man aber die Zeit einer Einstellung? Das Gespür stellt sich ein, wenn hinter dem sichtbaren Ereignis eine bestimmte bedeutsame Wahrheit fühlbar wird. Dann, wenn man klar und deutlich erkennt, daß sich das, was man in dieser Einstellung sieht, nicht in dem hier visuell Dargestellten erschöpft, sondern etwas sich jenseits dieser Einstellung unendlich Ausbreitendes andeutet, auf das Leben hinweist. (Ebd.: 173) An dieser Stelle kann leicht der Eindruck entstehen, Tarkowskijs Ausführungen würden in eine Art Bildesoterik münden, da Begriffe wie “Wahrheit” und “Leben” im genannten Zusammenhang nicht dazu angetan sind, den beschriebenen Sachverhalt zu präzisieren. Es geht Tarkowskij jedoch dezidiert nicht um eine über das Bildliche hinausgehende Semantik. Die Ebene des Signifikanten fällt vielmehr mit der Signifikatsebene zusammen. Der “Zeitdruck”, Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 351 die Innovationskraft des “zeitlichen Spannungsdrucks” als solche ist Kern des künstlerischen Ausdrucks im Bild. Ihre ‘Bedeutung’ ist mit ihrer Ausdrucksperformanz koextensiv. Es geht nicht darum, Ideen oder übergeordnete Konzepte zum Ausdruck zu bringen: “Das Spiel mit Begriffen kann letztlich nicht das Ziel irgendeiner Kunst sein, und ihr Wesen liegt auch keinesfalls in willkürlicher Begriffsverknüpfung” (ebd.: 169). Das “Unendliche” meint vielmehr das Zum-Ausdruck-Kommen eines visuell nicht Dargestellten, eines Möglichkeitsraums, der das aktuell Sichtbare wie einen Rahmen aus Potentialitäten umgibt. Das scheinbar Paradoxe bei Tarkowskij liegt daher in der Annahme einer Art ‘non-visuellen’ Bildlichkeit, die in der Lage zu sein scheint, das im Bild gerade Ausgelassene, nur Angedeutete, in Anwesenheit zu bringen, ohne dass dabei etwas direkt dargestellt wird. Angesprochen ist hier eine der Konnotation ähnliche Form der Anwesenheit, die jedoch nicht im Modus der Sprache oder dem sprachanaloger Zeichensysteme, sondern in der Wahrnehmung statthat. In den Logischen Untersuchungen Edmund Husserls heißt es an einer zentralen Stelle, in der es um das Phänomen der Appräsentation als der Mitgegenwärtigkeit des in der Wahrnehmung aktuell nicht Realisierten geht, von eben diesen Appräsentationen, dass sie als “im Kerngehalt der Wahrnehmung verbildlicht” gedacht werden müssen (Husserl 2009 [= Hua XIX/ 2]: 589). Wie bei Husserl geht es der Filmtheorie Tarkowskijs darum, jene Aspekte der Dingwelt, die der aktuellen Wahrnehmung abgewandt sind, als in das Bild integriert zu denken. Wichtig ist, dass mit der Abwesenheit des Appräsentierten keine Leerstelle bezeichnet ist, vielmehr geht es um das Register einer Mit-Gegenwärtigkeit im Bild, deren ‘Anwesenheit’ jedoch abseits räumlicher Präsenz konzipiert werden muss. Appräsentation entspricht im Bereich der Wahrnehmung dem, was im Reich der Zeichen als Konnotation bekannt ist: Der umgebende Raum, der die Möglichkeit anderer Aspekte stets offenhält und somit für das aktuelle Wahrgenommene als ‘Rahmen’ fungiert, vor dessen Hintergrund Wahrnehmung (bzw. Bedeutung) überhaupt erst möglich ist. Der im Bild erzeugte “Zeitdruck” verweist auf die Fotografie, indem der Akzent von der Montage auf das Bild selbst verlegt wird und dort auf etwas Nichtsichtbares, Undargestelltes in der Darstellung, etwas, dass die Sichtbarkeit durchpulst, ohne selbst sichtbar zu sein, hindeutet: auf einen non-visuellen Grund des Bildlichen, der mit einer Form von Anwesenheit assoziiert wird, die als Kategorie offenbar nicht räumlich, sondern zeitlich konzipiert werden muss. Aus diesem Grund ist das Entscheidende des Bildes für Tarkowskij nicht eigentlich dem Register des Sichtbaren zugehörig. Sein Bildbegriff ist somit transmedial: Das Bildliche ist nicht auf das Bildartefakt (Film, Foto oder Tafelbild) beschränkt und aus diesem Grund zeigt sich Bildlichkeit in Die versiegelte Zeit exemplarisch nicht in Film oder Fotografie, sondern in der Sprache, genauer: einer Form der sprachlichen Miniatur, die höchste imaginäre Verdichtung mit größtmöglicher semantischer Unbestimmtheit verbindet - dem Haiku. An ihr [der japanischen Dichtung, M.R.] begeistert mich der radikale Verzicht auch auf die versteckteste Andeutung ihres eigentlichen Bildsinnes, der wie bei einer Scharade erst allmählich dechiffriert werden muß. Das Haiku ‘züchtet’ seine Bilder auf eine Weise, daß sie nichts außer sich selbst und dann doch wieder so viel bedeuten, daß man ihren letzten Sinn unmöglich erfassen kann. Das heißt, daß das Bild seiner Bestimmung um so mehr gerecht wird, je weniger es sich in irgendeine begriffliche, spekulative Formel pressen läßt. Der Leser eines Haiku muss sich in ihm verlieren, wie in der Natur, sich in es hineinfallen lassen, sich in dessen Tiefen wie im Kosmos verlieren, wo es auch weder oben noch unten gibt. (Tarkowskij 2012: 154) Markus Rautzenberg 352 2 Tarkowskij zitiert hier das wahrscheinlich berühmteste Haiku Bashôs (Tarkowskij 2012: 154). 3 Cf. zum Beispiel: Boehm 2001, Belting 2001, Heßler/ Mersch 2009. 4 Vor allem sind hier zu nennen: “Die Fotografie als Botschaft” (Barthes 1961), “Rhetorik des Bildes” (Barthes 1964), “Der dritte Sinn” (Barthes 1970) sowie Die helle Kammer (Barthes 1985). 5 So auch zuletzt Helmut Lethen in Der Schatten des Fotografen (Lethen 2014: 95ff.). Es fällt auf, wie leicht sich hier “Haiku” durch “Fotografie” ersetzen ließe, ohne der Beschreibung etwas von ihrer deskriptiven Genauigkeit zu nehmen. Was Tarkowskij am Haiku fasziniert, ist eine durch Sprache erzeugte Bildlichkeit, ein kurzes hic et nunc, das in seiner geradezu provozierenden Knappheit an einen Schnappschuss, eine Momentaufnahme erinnert. Es scheint hier keine semantische oder hermeneutische Tiefendimension zu geben, alles liegt offen zutage und scheint trotzdem hermetisch verschlossen, transparent und opak zugleich zu sein. Ein Haiku wie Der alte Weiher! Es stürzt ein Frosch sich hinein - rauschendes Wasser 2 evoziert ein Bild im Moment des Lesens - nichts weiter. “Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung auszugeben” (ebd.: 155), ist für Tarkowskij gleichzeitig Definition des Haiku und Definition des fotografischen Bildes im Film. Das Haiku dient dabei als Katalysator für eine Theorie des Bildlichen, indem es als eine Art ‘Sprachfotografie’ entworfen wird, als ein Gebilde auf der Schwelle zwischen Sprach- und Bildartefakt. Dieser Schwellencharakter des Haiku ist auch deswegen von Interesse, weil er innerhalb aktueller Theoriediskussionen jenen Tendenzen entgegenwirkt, die Sprache und Bild als zwei kategorial unterschiedliche Weltzugänge postulieren. 3 So verstanden könnte eine Theorie des Haiku als ein Baustein einer Theorie des Bildlichen jenseits von iconic und linguistic turn dienen. 2 Die intensive Stummheit der Bilder. Haiku und Fotografie bei Roland Barthes 2.1 Mehr als Trauerarbeit: Fotografietheorie in Die helle Kammer Roland Barthes’ Schriften zur Fotografie 4 gelten als Grundlagentexte der Fotografietheorie und sind als solche neben Susan Sontags und Walter Benjamins Beiträgen aus keinem Seminar und keiner Einführung zu diesem Themenfeld wegzudenken. Insbesondere Die helle Kammer nimmt hier eine Sonderstellung ein, gilt dieses schmale Buch doch nicht nur als Durchbruch in der Fotografietheorie, sondern auch als theoretisches Vermächtnis des Semiologen und Philosophen, der im Jahr der Veröffentlichung durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam. In der Rezeption dieses Textes gibt es allerdings ein Ungleichgewicht, denn der vermeintlich biografische Anlass des Buches überschattet zuweilen die theoretischen Errungenschaften der Studie. Stets wird betont, dass Die helle Kammer aus einem bestimmten Ereignis im Leben Roland Barthes’ erwachsen sei, nämlich dem Tod der Mutter 5 , und es fehlt daher so gut wie nie die Erwähnung der Tatsache, dass jenes eine Foto (der Mutter), um das die Argumentationen des Textes sich dreht, im Buch selbst nicht reproduziert sei. So sehr Die helle Kammer ein persönliches Buch ist, das auf die Biographie Roland Barthes’ verweist, so falsch wäre es, diesen Text als eine Art Bekenntnisschrift des Autors zu missdeuten und damit in seiner theoretischen Valenz abzuwerten, denn Die helle Kammer markiert einen Wendepunkt im Werk Roland Barthes’. Durch ihre neuralgische Position in Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 353 6 Barthes umschreibt den Begriff der Signifikanz folgendermaßen: “Drittens ist das, worauf da und dort gehört wird (hauptsächlich im Feld der Kunst, deren Funktion oft utopisch ist), nicht das Auftreten eines Signifikats, das Objekt eines Wiedererkennens oder einer Entzifferung, sondern die Streuung schlechthin, das Spiegeln der Signifikanten, die ständig um ein Zuhören wetteifern, das ständig neue hervorbringt, ohne den Sinn jemals zum Stillstand zu bringen: Dieses Phänomen des Spiegelns nennt man Signifikanz (es unterscheidet sich von der Bedeutung).” (Barthes 1976: 263) Das “Spiegeln der Signifikanten” beschreibt ein Schillern der Signifikanten in ihrer Materialität, die Sinnlichkeit der medialen Oberflächen innerhalb der Semiose. dessen Denken erscheint Die helle Kammer - bedingt durch den Unfalltod des Autors - leicht als eine Abkehr von den zeichentheoretischen Positionen Barthes’ anstatt als das, was dieses Buch eigentlich ist: eine konsequente Auslotung und Weiterentwicklung der Zeichentheorie bis an den Rand ihrer Möglichkeiten. Tatsächlich ist Die helle Kammer zunächst die Bühne, auf der ein Ungenügen am strukturalistischen Denkstil artikuliert wird, ohne dabei jedoch das Interesse an der Signifikanz, der Praxis der Semiose, preiszugeben. 6 Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Abschnitt die berühmten Analysen des studium und des punctum enthält und der zweite das bisher erreichte wieder revidiert, um über diese Begrifflichkeit hinaus jenes Noema des fotografischen Bildes zu erfassen, das sich einer Bedeutungszuteilung und semiotischen Einordnung strikt zu widersetzen scheint: das ‘Es-ist-so-gewesen’ und das ‘Das ist es! ’ der sinnlichen Evidenz. Während das punctum als ein Detail innerhalb der Fotografie beschrieben wird, dessen Signum es sei, den Betrachter zu ‘stechen’, unmittelbar zu affizieren, geht es Barthes im zweiten Teil der hellen Kammer um jenen Kern des Fotografischen, den er als das Noema dieses Medium zu erkennen glaubt - dessen Verhältnis zur Zeit: Zu der Zeit (am Anfang des Buches: das liegt schon wieder weit zurück), als ich mich nach meiner Vorliebe für bestimmte Photos fragte, hatte ich geglaubt ein Feld des kulturellen Interesses (das studium) von jener unerwarteten Textur unterscheiden zu können, die mitunter dieses Feld durchkreuzte und die ich das punctum nannte. Nun weiß ich, daß es noch ein anderes punctum (ein anderes ‘Stigma’) gibt als das des ‘Details’. Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die Zeit, ist die erschütternde Emphase des Noemas (‘Esist-so-gewesen’), seine reine Abbildung. (Barthes 1985: 105) Wie Tarkowskij stößt auch Barthes am Grund der Bilder auf das Problem der Zeit, auf die Art und Weise, wie Zeitlichkeit in Bildlichkeit verkapselt ist und erstere durch letztere unmittelbar erfahrbar wird. Es ist bekannt, dass diese ‘Entdeckung’ der Zeitlichkeit sich der Begegnung mit Fotografien der Mutter Roland Barthes’ verdankt - oder zumindest auf diese Weise in Die helle Kammer inszeniert wird. Die große affektive Qualität dieser Studie verdankt sich vor allem jenen eindringlichen Passagen, welche die Konfrontation des Autors mit diesen Bildern schildern. Jedoch ist es ebenso wichtig daran zu erinnern, dass diese Entdeckungen nicht aus dem Nichts kommen, sondern einer theoretischen Suchbewegung entsprechen, die Barthes’ Arbeit seit Beginn geprägt hat. Dieses spezifische punctum der Zeitlichkeit, das den zweiten Teil des Fotografie-Buchs dominiert, kommt daher nicht von ungefähr. Die Thesen und Entdeckungen der Hellen Kammer stehen in engem Zusammenhang mit Barthes’ Überlegungen zum Übergang von Sprache und Bildlichkeit, wie sie unmittelbar vor Abfassung der Hellen Kammer in den Vorlesungen am Collège de France entwickelt wurden, die in französischer Sprache erst 2003 ediert und 2008 unter dem Namen Die Vorbereitung des Romans und Das Neutrum auf Deutsch erschienen sind. Wie Tarkowskij stößt Barthes hier im Grenzland zwischen Sprache und Bild auf das Haiku, dessen Analyse eben diese Grenze als Scheindifferenz entlarvt. Zugleich sind in Auseinander- Markus Rautzenberg 354 7 Laut editorischer Notiz (cf. Barthes 2008: 127, Fußnote) ist Die helle Kammer direkt im Anschluss an die Vorlesungen, vom 15.04. bis zum 03.06.1979 niedergeschrieben worden. 8 Barthes geht mit diesem Plan innerhalb der Vorlesung sehr offensiv um, und die Lust am Zögern, das Ausschöpfen des Genusses an der reinen Möglichkeit des Schreibens ist dabei ein typischer Wesenszug des Barthes’schen Denkens: “Werde ich wirklich einen Roman schreiben? Ich sage dazu nur: Ich will so tun als ob ich mich anschickte, einen zu schreiben Ich will mich in diesem Als ob einrichten: Diese Vorlesung hätte den Titel tragen können ‘Als ob’.” (Barthes 2008: 57) Es handelt sich um das nie realisierte Romanprojekt “Vita Nova”; cf. hierzu das Vorwort von Nathalie Léger (ebd.: 17-30). 9 Der Zusammenhang mit dem für die ästhetische Moderne zentralen Aspekt der ‘Plötzlichkeit’ ist unübersehbar (cf. Bohrer 1981). setzungen mit dieser klassischen dreizeiligen Versform alle wichtigen Bausteine der Theorie des Fotografie, wie sie in Die helle Kammer ausgeführt werden, bereits präsent. Mehr noch: Die helle Kammer ist in ihrem theoretische Kerngehalt direkt aus den Vorlesungen zur Vorbereitung des Romans erwachsen. 7 2.2 “Ein Schreiben (eine Philosophie) des Augenblicks” In der Vorbereitung des Romans (2008) geht es um die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Schreibens - ein Thema, dass Roland Barthes Zeit seines Lebens beschäftigt hat. Die Vorlesungen gewinnen allerdings vor dem Hintergrund, dass er zu dieser Zeit selbst vorhatte einen Roman zu schreiben, 8 eine besondere Dringlichkeit, die in den Aufzeichnungen der Vorlesungen jederzeit zu spüren ist. Das zentrale poetologische Problem, das sich Barthes in diesem Zusammenhang stellt, lautet: “Kann man aus der G EGENWART eine E RZÄHLUNG (einen R OMAN ) machen? ” (Barthes 2008: 53) Um sich dieser Frage zu nähern, nimmt sich Barthes vor, zwei scheinbar extreme Pole literarischer Anverwandlung von Gegenwart exemplarisch zu untersuchen. Zum einen das Proust’sche Modell der mémoire involontaire, das aus scheinbar winzigen Wahrnehmungsdetails Welten aus Sprache schöpft; zum anderen jene Form, die für den Japan-Kenner Barthes der Inbegriff der knappen “Aufzeichnung”, die Essenz der kurzen “Notiz” zu sein scheint: das Haiku (ebd.: 56). Der Kontrast von Haiku und Recherche scheint maximal, aber Barthes’ Korrelation dieser so verschieden scheinenden Ansätze besteht darin, aufzuzeigen, dass diese beiden Prinzipien verwandt sind, indem sie sich im Gang der Argumentation als zwei Seiten derselben Medaille erweisen: Das ‘Prinzip Proust’ führt Sprache durch Detaildichte an den Rand der Wahrnehmung; das Haiku erreicht Ähnliches, indem es umgekehrt durch Unbestimmtheit ‘die Sache selbst evoziert’. Der Frage, auf welche Weise das Haiku dieses Kunststück vollbringt, widmet Barthes die erste Hälfte seiner Vorlesung zur Vorbereitung des Romans vom 02.12.1978 bis zum 10.03.1979. Das direkte publizistische Resultat der in dieser Zeit angestellten Überlegungen zur Vergegenwärtigungsmacht der Sprache ist die Fotografietheorie der Hellen Kammer. Schon in den ersten Ausführungen der Vorbereitung des Romans zeigt sich das Thema der Bildlichkeit als zentral für das Formproblem des Haiku. Für Barthes ist das Haiku in Anlehnung an eine Passage bei Paul Valéry zunächst “die Verbindung einer (nicht begrifflichen, momenthaften) Wahrheit und einer Form” (Barthes 2008: 64; Hervorh. im Original). Diese im Fall des Haiku sehr strenge Form aus drei kurzen Zeilen beschreibt Barthes als “Rahmung” (ebd.) und verweist so bereits an dieser frühen Stelle auf Prinzipien des Bildlichen; auch der Hinweis auf den spezifisch fotografischen Zeitmodus des Momenthaften ist hier schon gegeben. 9 Zudem spielt die ‘Schriftbildlichkeit’ des Haiku bei dessen Rezeption eine wesentliche Rolle, da es sich beim Lesen dieser knappen Form um die Erfahrung der “kleinen Form Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 355 10 Zum Begriff der Evokation und dem magischen Denkstil, der die Funktionalität des Begriffs im Zusammenhang mit Bildlichkeit gewährleistet, cf. Rautzenberg 2013. 11 Zitiert nach Barthes 2008: 78. par excellence” handle, d.h. um eine “Erfahrungstatsache bei der Lektüre” (ebd.: 66). Die kleine Form ermöglicht somit die Erfassung des Haiku als eines Hier und Jetzt, das somit ähnlich wie ein Bild funktioniert, sozusagen ‘mit einem Mal’ aufgenommen werden kann. Aus diesem Grund spielen Layout und Satz bei der Präsentation auch eine so große Rolle: “Die Seite muß luftig gesetzt sein, um das Haiku zu ernten” (ebd.) - eine Formulierung, die an das “Züchten der Bilder” bei Tarkowskij erinnert. Und: “Die Luftigkeit der graphischen Erscheinung gehört zum Wesen des Haiku” (ebd.: S. 67; Hervorh. im Original). Gerade aufgrund seiner Unbestimmtheit scheint das Haiku Raum zu brauchen. Wozu dieser Raum? Offenbar damit Konnotationen und Appräsentationen Platz haben, um sich ausdehnen und zusammenziehen sowie Umwege und eigene Wege gehen zu können und so Systolen und Diastolen ästhetischen Erlebens zu ermöglichen. Die im eigentlichen Sinne magische Operation des Haiku besteht nach Barthes in der Evokation eines “indirekten Objekts”, eines Objekts, das in den Zeilen des Haiku gerade nicht dargestellt wird, sondern aus den Zwischenräumen, der “Luftigkeit” der Form “emporsteigt” (ebd.: 79). Das Haiku ist somit eine direkte magische Operation, ein Hervorrufen (lat. evocare 10 ) des im ‘Kerngehalt der Wahrnehmung Verbildlichten’. Im Bett liegend Sehe ich die Wolken ziehen Sommerzimmer (Yaha) 11 Barthes’ semiologische Analyse dieses Haiku verdeutlicht die magische Operation der Evokation, die, jenseits jedes kruden Okkultismus, die Medialität dieses “Zaubers des Haiku” (ebd.: 71) in den Mittelpunkt stellt. Für Barthes bildet bereits die affektiv-assoziative Stärke der Denotation von Sommer den Ausgangspunkt dieses Dreizeilers: “Wenn man Sommer sagt, sieht man ihn bereits, ist man bereits im Sommer” (ebd.: 78; Hervorh. im Original). Für den Semiologen ist die “Prägnanz” (ebd.) des Wortes Sommer, seine Eindrücklichkeit, bereits in der Lage, eine bestimmte Wahrnehmungsdisposition zu schaffen, die den Hintergrund für alles weitere bildet. Das ‘Eingesperrt-Sein’ des Sommers im Zimmer führt dann zur einer Intensivierung der atmosphärischen Wahrnehmungsanmutung: Der in dem Zimmer gefangene Sommer ist intensiver: er ist darin gefangen als abwesender insofern er draußen ist. Am stärksten ist der Sommer im Inneren, dort, von wo er verdrängt wurde: Er triumphiert draußen und übt von dort Druck aus seine Intensität: I NTENSITÄT des I NDIREKTEN ; was besagt, daß der Umweg der eigentliche Weg der Mitteilung, der Erscheinung des Wesens ist. (Ebd.) ‘Druck ausüben’: einmal mehr begegnet hier eine quasi psychophysische Metaphorik, um die Dynamik innerhalb eines bildlichen Rahmens zu exemplifizieren. Die Nähe zu Tarkowskijs Begriff des Zeitdrucks ist deutlich, ohne den Vergleich überstrapazieren zu müssen. Dass die “Erscheinung des Wesens”, der “eigentliche Weg der Mitteilung” auf Umwegen geschieht, ist Teil einer ersten wichtigen Bestimmung der hier analysierten Verfahrensweise: Sie ist nicht über Beschreibungen zu erreichen, das Haiku ist konstitutiv un-deskriptiv, d.h. nicht nur einfach nicht-deskriptiv, sondern in seiner Form gegenüber der Deskription als literarischem Prinzip inkompatibel: Markus Rautzenberg 356 In alledem liegt keine Beschreibung des Sommers: es ist ein pures surrectum: das, was evoziert wird, aufsteigt, emporsteigt (surgere), ja sogar aktiv: was sich erhebt, surrector Die Zartheit des Haiku sollte uns nicht täuschen: In der Form strenger Geschlossenheit bildet es den Ausgangspunkt eines unendlichen Sprechens, in dem sich der Sommer entfalten kann auf dem Wege eines Umwegs, der - anders als der Satz - strukturell nicht irgendwo enden muss […]. (Ebd.: 79; Hervorh. im Original) Das “Unendliche” Tarkowskijs findet sich auch hier wieder: Kein transzendentes Jenseits, sondern ein Nicht-Enden-Müssen, eine genuine Offenheit ohne Beliebigkeit, denn die strenge Geschlossenheit der Form ist Bedingung der Möglichkeit der auch hier bereits implizierten, transmedialen, d.h. nicht auf bestimmte Medien beschränkten, Bildlichkeit. Der Vergleich zu Proust akzentuiert den fotografischen Aspekt des Haiku umso genauer, je mehr dieser in seiner momenthaften Zeitlichkeit bestimmt wird, die Barthes auch in räumliche Metaphern zu transformieren vermag: […] der Unterschied [zur mémoire involontaire, M.R.] besteht jedoch darin, daß das Haiku einem kleinen satori nahekommt; das satori erschafft eine Anspannung (daher die äußerste Knappheit der Form) Proust; das satori (die M ADELEINE ) bewirkt eine Ausdehnung - die ganze Suche nach der verlorenen Zeit ist der Madeleine entsprossen, so wie die japanische Blüte im Wasser aufgeht: Entwicklung, Einschübe, unendliche Entfaltung. Nur ist im Haiku die Blüte eben noch nicht aufgeblüht; das Haiku ist die japanische Blüte ohne Wasser, sie bleibt Knospe. (Ebd.: 85f.; Hervorh. im Original) Der Zustand des satori im Sinne einer blitzartigen Erleuchtung ist für Barthes seit dessen Japan-Buch (Barthes 1981) eine Leitmetapher zur Beschreibung ästhetischen Erlebens. Wichtig ist hier, dass sowohl die mémoire involontaire als auch das Haiku gleichermaßen als satori beschrieben werden. Beides sind verschiedene Modi desselben Phänomens. Anspannung als Moment des Plötzlichen, Schockhaften in der Zeit ist der räumlichen Ausdehnung der narrativen Entfaltung zwar gegenübergestellt, jedoch sind beide Modi nur verschiedene Zustände derselben ‘Pflanze’: Knospe und Blüte. Im Zustand der Anspannung ist im Haiku der Möglichkeitsraum als Möglichkeitsraum innerhalb einer bestimmten Zeitlichkeitserfahrung ‘verbildlicht’, in der Recherche hingegen narrativ ‘entfaltet’ (Raummetapher). Diese Konzeption, die etwa mit der Gegenüberstellung Lessings vom Bild als Raum- und der Poesie als Zeitkunst nicht mehr leicht in Einklang zu bringen ist, verkompliziert das Verhältnis von Sprache und Bildlichkeit nachhaltig. Das Verfahren des Haiku unterscheidet sich von der Erinnerungsarbeit der Suche nach der verlorenen Zeit also vor allem dadurch, dass hier die Zeit “sofort, auf der Stelle, zu finden (und nicht wiederzufinden)” ist (ebd.: 98; Hervorh. im Original): Die Z EIT wird sofort eingeholt = Gleichzeitigkeit der (schriftlichen) Aufzeichnung und ihres sinnlichen Anreizes: unmittelbarer Genuß des Sinnlichen und des Schreibens, eines das andere genießend vermöge der Form des Haiku (wir können übersetzen: vermöge des Satzes) Also ein Schreiben (eine Philosophie) des Augenblicks. (Ebd.; Hervorh. im Original) Schreiben zeigt sich als eine Form des Fotografierens und umgekehrt (graphein). Die Plötzlichkeit des Haiku führt Barthes im Verlauf der Vorlesung immer näher zur Fotografie als implizitem Movens der Analyse. Immer insistierender werden die fotografischen Metaphern, etwa wenn vom Verfahren des Haiku als von einem logischen “flash” die Rede ist (ebd.: 97; Hervorh. im Original) oder die Verfertigung von Haikus als eine Art “‘volkstümliches’ Ereignis, als ein ‘Nationalsport’” auch soziologisch in die Nähe der Fotografie gerückt wird (ebd. 73). Zentral bleibt jedoch stets der Zeitmodus, der in der Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 357 12 Vgl. im Gegensatz dazu die Beschreibung von literarischen Wahrnehmungsanmutungen bei George Steiner: “Es gibt Passagen bei Winckelmann, in Kenneth Clarks Untersuchungen über Aktdarstellung, in denen Worte zum sorgfältigen Dienst an der Berührung gepresst werden, in denen die Sprache zu einer nur um einen Schritt entfernten Entsprechung zu den taktilen Ebenen, Kurven, der gerundeten Wärme oder intendierten Kälte des Marmornen und des Metallischen gemacht wird. Die besten Leser von Texten, von Architekturkompositionen (sie sind selten) können die Genesis ihres eigenen Sehvermögens vermitteln; sie können nahe bringen, wie sich in Ihnen selbst die relevante Strukturierung und Verknüpfung zu begrifflicher Form gestaltet und dementsprechend auch in der Rezeption des Beobachters. Die das Werk animierenden und die am Wahrnehmungsakt beteiligten Nervensysteme verschränken sich miteinander.” (Steiner 1990: 246) Natürlich stehen die ‘Luftigkeit’ und Leichtigkeit des Haiku solchen Vorstellungen von ‘Erpressung zum Dienst an der Berührung’ entgegen und könnten damit auf ein fundamentales Missverständnis in der Argumentation Steiners hindeuten. fortschreitenden Beschreibung Barthes’ immer mehr jene begriffliche Gestalt annimmt, die in Die helle Kammer dann als punctum ausmodelliert wird: “Das Haiku ist das was tilt macht, eine Art kurzes, einmaliges und kristallklares Läuten, das sagt: Gerade hat mich etwas berührt” (ebd.: 98; Hervorh. im Original). Dieses “tilt” nennt Barthes den “Das-ist-es! -Effekt” (ebd.: 99), somit das “Noema” der Fotografie in Die helle Kammer vorwegnehmend. In dem Moment, in dem aus dem “tilt”, dem “klaren Läuten” ein “klick” wird, ist die Nähe zur Fotografie dann kaum noch als Analogie zu bezeichnen. Hier wird das Haiku vollends zur Sprachfotografie: “Ein gutes Haiku macht klick (tilt), bringt eine Erleuchtung löst etwas aus, zu dem es nur einen Kommentar gibt: ‘Das ist es! ’” (Ebd.: 138) ‘Klick’, das ist das Auslösegeräusch der Kamera, welches den Moment des fotografischen Akts, die Belichtung selbst, anzeigt, den Augenblick noch vor jeder Sinnzuschreibung, das factum brutum der fotografischen ‘Aufzeichnung’. Das ist der Moment, in dem sich Haiku und Fotografie jenseits aller medienontologischen Zuordnungen treffen: ‘Da, das’ Das ist alles, was ich zu sagen vermochte Vor den Blumen des Berges Yoshino (Teishitsu, Coyaud) Sagen, daß man nicht sagen kann: Danach strebt das ganze Haiku - zum ‘das da’. Letztlich gibt es nichts auszusagen als die schwindelerregende Grenze der Sprache, das deiktische Neutrum (‘das’) Sprache als Repression, Dogmatismus des Sinns: Wir wollen um jeden Preis einen Sinn […]. (Ebd.: 140) Gegen diesen ‘Willen zum Sinn’ steht das ‘Klick’ des Augenblicks, das für Barthes “offenkundig antihermeneutisch” (ebd.: 138) ist, das “momentane Gepacktwerden des Subjekts (Schreibers oder Lesers) von der Sache selbst”, aus dem sich “kein Sinn, keine Symbolik erschließen läßt” (ebd.: 139; Hervorh. im Original). Barthes bringt in seinen Vorlesungen zur Vorbereitung des Romans die Fotografie dann auch an einer Stelle direkt ins Spiel, welche retrospektiv als Kurzfassung oder Skizze der Kernideen der Hellen Kammer zu erkennen ist (ebd.: 126ff.). Sowohl philologisch als auch theoretisch sind hier vor allem die Differenzen zum Haiku interessant. Barthes erklärt, dass diejenige Kunstform, die es ihm erlaube, das Haiku zu verstehen, die Fotografie sei (vgl. ebd.: 127), jedoch seien beide Formen natürlich nicht identisch: “Meine Arbeitshypothese lautet, daß das Haiku den Eindruck vermittelt (nicht die Gewißheit: Urdoxa, Noema der Photographie), daß das, was es sagt, stattgefunden hat, unbedingt” (ebd.: 130; Hervorh. im Original). Das Haiku führt durch seine sprachliche wie schriftbildliche Prägnanz - seine Eindrücklichkeit - die Sprache an den Rand eines Wahrnehmungseindrucks, 12 ohne allerdings jene Markus Rautzenberg 358 Evidenzqualität zu erreichen, die von Barthes als ein Definitionskriterium der Fotografie postuliert wird. Jedoch “bleibt die Nähe zwischen Fotografie und Haiku sehr groß” (ebd.: 131), weil es sich hier wie dort um Zeichen “ohne Sinn” handle (ebd.). ‘Ohne Sinn’ bedeutet hier wie im oben angeführten Tarkowskij-Zitat, “daß sie nichts außer sich selbst und dann doch wieder so viel bedeuten, daß man ihren letzten Sinn unmöglich erfassen kann” (Tarkowskij 2012: 154). Den Unterschied zur Fotografie sieht Barthes in dem Umstand, dass letztere “genötigt [ist], alles zu sagen”, während das Haiku zugleich “abstrakt” und “lebhaft” wirke (Barthes 2008: 131). Beide seien jedoch reine Autoritäten, die sich vor nichts autorisieren müssen als dem Es ist so gewesen Vielleicht rührt diese Macht von der kleinen Form; Hypothese: Die Photographie ist als kleine Form zu betrachten ( Film: rhetorisch ausladende Form, reizt zu Ellipsen, Litotes). (Ebd.: 132; Hervorh. im Original) Die Analogie ist wichtig: Haiku ist auf die Fotografie wie die mémoire involontaire auf den Film bezogen. Film und Fotografie basieren auf dem fotografischen Medium als Bedingung ihrer Möglichkeit; der Unterschied besteht im jeweiligen Umgang mit Zeit. Der Film entfaltet, was im Foto bereits angelegt ist, dort aber latent bleiben muss: “Das B ILD ist sozusagen intensiv stumm” (ebd.: 111). Das bedeutet nicht, dass der Film die ‘Realisierung’ oder ‘Einlösung’ des Versprechens des Fotografie ist. Die ‘intensive Stummheit’ wird durch den Film nicht ‘zum Reden’ gebracht, sie bleibt als konstitutives Moment des Bildlichen stets erhalten und zeigt sich in dem jeweils spezifischen Zeitdruck der Bilder auch innerhalb der filmischen Einstellung. 3 Ausblick: Transmediale Bildlichkeit Die ‘kleine Form’ des Haiku dient sowohl Andrej Tarkowskij als auch Roland Barthes als Schlüssel zum Verständnis von Bildlichkeit, weil das Haiku die vermeintlich festen Grenzen zwischen Bild und Sprache zur Disposition stellt. In der Absicht, die Anverwandlung von Gegenwart in Sprache und Bild zu erkunden, stößt der Semiologie ebenso wie der Filmemacher auf die transmediale Verfasstheit des Bildlichen, das nicht auf Einzelmedien beschränkt ist, sondern ‘in vielen Medien seine Zelte aufschlagen kann’. Bilder selber sind von Hause aus intermedial. Sie wandern zwischen den historischen Bildmedien weiter, die für sie erfunden werden. Die Bilder sind Nomaden der Medien. Sie schlagen in jedem neuen Medium, das in der Geschichte der Bilder eingerichtet wurde, ihre Zelte auf, bevor sie in das nächste Medium weiterziehen. Es wäre ein Irrtum, die Bilder mit diesen Medien zu verwechseln. (Belting 2001: 214) Die theoretischen Überlegungen, die Barthes und Tarkowskij anlässlich des Haikus anstellen, weisen über den Befund Hans Beltings hinaus nicht nur auf eine Intersondern auf eine Transmedialität des Bildlichen. Aby Warburgs Theorem der Bildwanderung, auf das sich Beltings Nomaden-Metaphorik hier bezieht, müsste erweitert und um die Möglichkeit einer ‘Wanderung’ über Mediengrenzen hinaus ergänzt werden. Bildlichkeit ist, so scheinen die Analysen des Haiku nahezulegen, nicht an klassische Bildmedien gebunden. Das Haiku ist ein Sprachgebilde, das wie eine Fotografie aufgebaut ist und umgekehrt. Was sind dann aber Kriterien von Bildlichkeit, wenn sie nicht mehr exklusiv im Register des Sichtbaren verortet werden können? Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 359 13 Der Begriff soll an dieser Stelle nur tentativ und nicht streng terminologisch gebraucht werden, denn eine Korrelation des hier Dargelegten mit der Geschichte der ‘Psychophysik’ von Fechner bis Freud würde eine genaue Untersuchung erfordern, die hier nicht mehr geleistet werden kann. a) Bildlichkeit hat, anders als Lessing es postulierte, konstitutiv mit Zeit zu tun. Der Faktor Zeit ist es, der die Phänomenologie des Fotografischen sowohl bei Tarkowskij als auch bei Barthes beherrscht. Beide Autoren beschreiben die Intensität des Bildlichen in Termini einer Art ikonischen ‘Psychophysik’ 13 , die mit Druck arbeitet. Anspannung und Entlastung, Druck und Dichte, Stau und Abfuhr zeigen sich hier als Konstituenten des ‘Lebens’ der Bilder. Auch das Moment der ‘Plötzlichkeit’ (satori, flash, klick) wäre hier zu verorten und über die geistesgeschichtliche Tradition hinaus, die Karl-Heinz Bohrer anhand der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aufgezeigt hat, mit den zur gleichen Zeit stattfindenden Medienumbrüchen, vor allem natürlich mit der Erfindung der Fotografie, in Verbindung zu bringen. b) Das Entscheidende des Bildlichen ist non-visuell. Beide Autoren kommen auf jeweils verschiedenen Wegen zu der Einsicht, dass die mediale Dynamik des Bildlichen maßgeblich durch das geprägt wird, was nicht zur Darstellung kommt, nicht zu Darstellung kommen kann. Sowohl Konnotation als auch Appräsentation verweisen auf die konstitutive Macht des Möglichkeitsraumes, der das aktuell Dargestellte als Rahmung umgibt und somit überhaupt erst zum Bild macht. Rahmungen sind jedoch flexibel: es kann die Kadrierung in Film und Fotografie sein, aber auch der Zwischenraum auf der Buchseite, die ‘Luftigkeit’, die das Haiku braucht, um seine ‘Bilder zu züchten’, ebenso wie die Strenge einer literarischen Form. Nicht-Dargestellt-Sein heißt aber nicht abwesend zu sein, im Sinne einer Leerstelle, die beliebig zur Disposition stünde. Die Semiose von Haiku und Fotografie beruht auf der skizzierten ‘Psychophysik’ des Bildlichen, die Konnotationen und Appräsentationen anzieht und abstößt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass am Beispiel von Barthes und Tarkowskij in besonderer Weise deutlich wird, wie fruchtbar es ist, Bild und Sprache nicht dichotomisch gegenüberzustellen, sondern an ihren medialen Rändern im Moment der ‘Ausfransung’ zu beobachten. Ein transmedialer Bildbegriff, wie er in den Ansätzen Tarkowskijs und Barthes’ zur Sprache kommt, wäre dabei nur ein - wenn auch sicher wichtiger - Aspekt einer möglichen diesbezüglichen Umorientierung in Semiotik, Ästhetik und Medientheorie. Bibliographie Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1961: “Die Fotografie als Botschaft”, in: Barthes 1990: 11-27 Barthes, Roland 1964: “Rhetorik des Bildes”, in: Barthes 1990: 28-46 Barthes, Roland 1970: “Der dritte Sinn”, in: Barthes 1990: 47-66 Barthes, Roland 1976: “Zuhören”, in: Barthes 1990: 249-264 Barthes, Roland 2008: Vorbereitung des Romans, Frankfurt am Main: Suhrkamp Belting, Hans 2001: Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Markus Rautzenberg 360 Boehm, Gottfried 3 2001 (ed.): Was ist ein Bild? München: Fink Bohrer, Karl-Heinz 1981: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main: Suhrkamp Eisenstein, Sergej M. 1988: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, Leipzig: Reclam Eisenstein, Sergej M. 2006: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Heßler, Martina und Dieter Mersch (eds.) 2009: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: Transcript Husserl, Edmund 2009: Logische Untersuchungen, Hamburg: Meiner (= Husserliana XVIII, hg. von Elmar Holenstein, Den Haag 1975 und Husserliana XIX/ 2, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984) Lethen, Helmut 2014: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin: Rowohlt Rautzenberg, Markus 2013: “Evokation. Zur non-visuellen Macht der Bilder - Eine Forschungsskizze”, in: Julian Hanich und Hans Jürgen Wulff (eds.) 2013: Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, Paderborn: Fink: 49-69 Rautzenberg, Markus 2014: “Transformatio Energetica”, in: Fabian Goppelsröder und Martin Beck (eds.) 2014: Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Berlin/ Zürich: Diaphanes: 109-129 Steiner, George 1990: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? , München/ Wien: Carl Hanser Verlag Tarkowskij, Andrej 2012: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Berlin/ Köln: Alexander Verlag