eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
373-4

Wahrnehmung als (Preis-)Gabe

2014
1 Der Ausdruck ‘Text’ meint hier jeglichen dekodierbaren Gegenstand, sei es eine Buchseite, eine Körpergeste, eine bestimmte Art von Kleidung, einen gutturalen Gesang, usw. Wahrnehmung als (Preis-)Gabe Das Bild und die Ethik des Blicks bei Roland Barthes David Magnus (Basel/ Berlin) The aim of this paper is to show that the reading of what Barthes called the punctum in a photograph is intrinsically related to both the material aspect of the signs and the role of the body in perception and that the answer demanded by the ‘stab’ caused by the punctum constitutes the ethic dimension of the gaze at the photographic portrait. In order to reveal the perceptual relevance of sign texture and of the body in Barthes’ semiological analyses three interconnected verbs (writing, reading and looking) are scrutinized. A common characteristic to these forms of producing sense is revealed as a result of this examination: All three verbs represent types of medial performance in which the body is ‘seized’ by its surrounding world but approaches it at the same time, impregnating it with signification. Still the punctum is an exception, since it can not be approached, it rather ‘perforates’ the gaze. The wounded body is forced to react to the injury, it is called on to expose itself. This exposition provoked by the very perception of the punctum can be understood as a gift of the body. The ethical dimension of the gaze does not lie in any specific kind of answer to the photographic portrait, but in the need for an answer at all. 1 Einführung Roland Barthes’ Werk kann als ein Kompendium von ‘Welt-Lektüren’ betrachtet werden. Die größte Aufmerksamkeit seiner Analysen gilt dabei einer problematischen Seite der Zeichen, nämlich der je spezifischen Form ihrer materiellen Präsenz und der damit verbundenen Frage nach der Möglichkeit ‘rein aisthetischer’ Erscheinungen von Sinn. Barthes’ Überlegungen zu den medialen Bedingungen des Schreibens, des Lesens und des Blickens sind daher stets von einem prinzipiellen Interesse für die Sinnlichkeit des Zeichens durchtränkt, für die Textur des Signifikanten, die dem ihm jeweils zugewiesenen Signifikat vorausgeht. Womit man es allererst zu tun hat, ist also eine wahrnehmbare Anordnung, deren Sinn sich nicht unmittelbar ergründen lässt, deren materielle Widerstände sich teilweise gegen eine Signifikation sperren. Die Sperrigkeit solcher Prozesse der Signifikation beruht in einer ‘epidermischen Anhäufung’ von Sinn, in einem sinnlich nicht zu bewältigenden semantischen Überschuss der Zeichen, welcher in der Wahrnehmung ihrer Außenseite seinen Ausgang nimmt. Der Zugang zu dieser ‘Haut’ kann nach Barthes nur durch die Einbeziehung des Leibes in jenen Prozess erfolgen. Dieser fungiert als Zentrum medialer Aktivität und ermöglicht, den jeweils gelesenen Text 1 mit Sinn zu füllen. Die Lektüre impliziert eine Bewegung vom Leib hin zur Textur. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen David Magnus 320 2 Gegen diese Auffassung von Schrift wenden sich neben Barthes auch Jacques Derrida und zahlreiche Ansätze der zeitgenössischen Schrifttheorie (cf. Derrida 1967: 24f. und Derrida 1983: 25 sowie Koch/ Krämer 1997: 10ff. und Krämer 2005: 24ff.). Beim Schreiben, Lesen und Blicken handelt es sich also um besondere Formen des ‘medialen Agierens’. Von seinem ausgeprägten Interesse für den Aspekt der Signifikanz getrieben, wendet sich Barthes in seiner ‘Spätsemiologie’ dem Medium der Fotografie zu und stößt dabei auf eine wahrnehmungstheoretische Konstellation, bei der das Problem der Signifikation verschärft auftritt. Jenseits der allgemeinen Aufmerksamkeit, die er den meisten Bildern schenkt, entdeckt er in manchen fotografischen Porträts ein Detail, das seinen Blick ‘besticht’. Das vage Durchblättern (studium) wird von der ereignishaften Erscheinung des punctum unterbrochen. Letzteres kann, im Gegensatz zum studium, nicht aktiv angegangen werden. Vielmehr stellt es den Leib vor den Zwang, eine Antwort auf den Stich zu geben, impliziert also eine Gabe des eigenen Leibes, ein ‘mediales Reagieren’. Dieser Zwang zur Reaktion bildet den ethischen Zug des Blicks vor dem fotografischem Bild (vgl. hierzu unten Abschnitt 4). Um diesen Aspekt der Wahrnehmung anhand von Barthes’ Reflexionen über Fotografie theoretisch konturieren zu können, sollen zunächst die Voraussetzungen und Konsequenzen des ‘medialen Agierens’ beim Schreiben, Lesen und Blicken untersucht werden, wobei der Beziehung zwischen der Leiblichkeit des Subjekts und der Materialität der Zeichen ein besonderer Stellenwert innerhalb der Argumentation zukommen wird. Eine nähere Beschäftigung mit den zwei Elementen, welche die Lektüre des fotografischen Porträts bestimmen, wird schließlich eine Differenzierung zwischen medialer Aktion und medialer Reaktion ermöglichen. Letztere impliziert eine unausweichliche Antwort, die für die Herausarbeitung des ethischen Aspekts der Wahrnehmung des punctum fruchtbar gemacht werden soll. 2 Mediales Agieren 2.1 Schreiben Folgt man einer Grundüberzeugung Barthes’, so gibt es in der Sprache “nie etwas Wildes”, vielmehr “ist alles codiert” (Barthes 1978: 381). Die Schrift gilt dabei lange Zeit als die materiell fixierte Realisierung dieses Codes. 2 Doch Barthes wendet sich gegen die Wissenschaften, die in der Schrift “nur die (verspätete) Folge der Rede” (Barthes 2006 a: 27) sehen, betrachtet beide Medien in ihrer irreduziblen Differenz und weist darauf hin, dass “Herkunft und Zukunft des Buchstabens […] unabhängig vom Phonem [sind]” (Barthes 1970 a: 106). Die Schrift als Aufzeichnung mündlicher Rede und somit als reines Kommunikationsmedium aufzufassen, bildet für Barthes “ein[en] Übelstand unseres Ethnozentrismus, im Banne dessen wir der Schrift praktische Funktionen […] zuschreiben und die Symbolik verpönen, die das geschriebene Zeichen beflügelt” (Barthes 2006 a: S. 31f.). Diese für gewöhnlich abgeblendete Symbolik entzieht sich einem referentiellen Code, der als normative Kraft dem ‘wahren Sinn’ eines Satzes seinen syntaktischen Rückhalt zu geben scheint. In diesem Entzug lässt sich die ‘Mimik des totalisierenden Sinns’ aufdecken und die Gewichtung der unterschiedlichen Ebenen der semiosis neu ordnen: Der Kausalität von syntaktischer Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 321 3 Barthes scheint klare Vorstellungen zu haben, wie eine solche Souveränität erreicht werden könnte; die Strategie würde darin bestehen, “den Signifikanten näher[zu]bringen, ihn zum Riesen [zu] machen, zu einem Monster an Präsenz, das Signifikat bis zur Unmerklichkeit [zu] verringern […]” (Barthes 1973 a: 232). 4 In dieser Hinsicht versucht Barthes mit dem linguistischen Begriff der Diathese zu zeigen, wie das schreibende Subjekt beim Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird (cf. Barthes 1970 b: 25f.). Struktur und Bedeutung geht die Beziehung von Zeichen und Materialität voran. Jedes Zeichen impliziert aisthetische Präsenz, appelliert somit an die Sinne und ist daher kein Produkt “der Kommunikation, sondern der Signifikanz” (Barthes 1970 a: 106). In diesem Zusammenhang plädiert Barthes für eine Freiheit des Signifikanten, für seine Souveränität (cf. Barthes 2006 a: 79). 3 Die Schrift ist dabei fundamental mit dem Leib verbunden, ihm hat sie ihre Unabhängigkeit zu verdanken, denn die Schriftzeichen müssen sich als Signifikanten erst konstituieren und dies kann nur durch einen “Rückgriff auf die Hand” gelingen, weshalb diese “immer auf Seiten der Gebärde” (Barthes 2006 a: 171) stehen. Barthes’ Aufmerksamkeit gilt also dem handwerklichen Aspekt von Schrift, der Leiblichkeit des Schriftzugs als seiner körperlichen Eingravierung. Als bevorzugter Untersuchungsgegenstand rücken bei ihm daher unterschiedliche Formen der Handschrift ins Zentrum, welche die sinnliche Komponente des Mediums mit besonderer Virulenz zum Ausdruck bringen (cf. Barthes 1970, 1973 b und 1979). Der Buchstabe behält in der Schreibgeste stets seine zwei Gesichter: Einerseits fungiert er als “bleierne[s] Korsett”, das “die äußerste Zensur” bedeutet; andererseits markiert er jedoch “den Ausgangspunkt für eine Bilderwelt” und zieht damit “die äußerste Lust” (Barthes 1970 a: 105) nach sich. Wie können nun beide Gesichter im selben Medium koexistieren? In welcher Beziehung stehen beide zueinander? Diesen Fragen nachzugehen, setzt ein Umdenken in der Betrachtung von Schreiben als einem intransitiven Verb und von der Figur des schreibenden Subjekts als dem Urheber des Schriftzugs voraus: Was und ‘wer’ wird geschrieben? 4 Barthes’ Reflexionen über den leiblichen Aspekt von Schrift gehen mit einer Kritik der auctoritas scriptoris einher, welche die Vorgängigkeit und Sonderstellung des Verfassers als Schöpfer des Textes gegenüber der passiven Rolle des Lesers in Frage stellt. Der Schriftzug wird also nicht von einem vor dem Schreibakt existierenden Subjekt vollzogen, dieses konstituiert sich vielmehr während des Schreibens selbst. Es gibt folglich kein Sein vor dem Text, sondern “jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben” (Barthes 1968: 60; Hervorh. im Original). Die Sinnlichkeit des Zeichens, seine materielle ‘Präsenz’, impliziert zugleich ein materielles ‘Präsens’, in dem sich die Schreibgeste vollzieht. Im Präsens des Schreibaktes erfolgt die aisthetische Präsentation des Zeichens, wobei es beim Schreiben gilt, “alles zu entwirren, aber nichts zu entziffern”, denn “das Schreiben setzt fortwährend Sinn, aber nur, um ihn zu verflüchtigen” (Barthes 1968: 62; Hervorh. im Original). Die hier beschriebene Sinnverschiebung geht auf die von Barthes eingeführte Figur des ‘modernen Schreibers’ zurück (cf. Barthes 1968: 60), der in seiner Tätigkeit stets “kontratheologisch” vorgeht, handelt es sich beim Schreiben schließlich um “die Weigerung, den Sinn festzulegen, gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen, der Vernunft, der Wissenschaft und des Gesetzes” (Barthes 1968: 60). Mit der Unmöglichkeit einer endgültigen Bestimmung von Sinn geht eine Destabilisierung des klassischen Schreibsubjektes einher oder, mit anderen Worten, seine grundlegende ‘Identitätskrise’. Gewiss kommt der Zeichensetzung des ‘Schrift-Stellers’ eine entscheidende Rolle in der Semiose zu. Doch die Zeichenanordnungen täuschen die Einheitlichkeit der Botschaft - überhaupt die Existenz ‘einer’ Botschaft - nur vor. Barthes denunziert hiermit das “Autori- David Magnus 322 5 Nach Barthes kann sich nichts der Zuweisung von Sinn entziehen: “[D]ie Teller, von denen wir essen, besitzen gleichfalls immer einen Sinn, und wenn sie keinen haben oder dies zumindest vortäuschen, ja dann haben sie letztendlich den Sinn, keinerlei Sinn zu haben. Folglich entkommt kein Objekt dem Sinn” (Barthes 1967: 190). tätsmotiv”, nach dem es herauszufinden gilt, “was der Autor sagen wollte, und mitnichten, was der Leser versteht” (Barthes 1970 c: 30; Hervorh. im Original). Der Text stellt bei der Lektüre einen Ort des Dialogs dar, der nicht erst dann stattfindet, wenn die Organe eines Urhebers auskultiert werden, sondern indem man an der materiellen Realisierung der Zeichen - am Schriftbild - die eigene Zugangsweise, den eigenen Leib zu ergründen versucht. Im Kontext dieser Erkundung wird der Leser also mit seinen Bedürfnissen, mit seinem ‘semiotischen Trieb’ und schließlich mit seiner Sprache konfrontiert, denn “der Diskurs spricht für die Interessen des Lesers”, woran man erkennt, “daß das Schreiben nicht die Kommunikation einer message ist, die vom Autor ihren Ausgang nähme und zum Leser ginge; sie ist eigentümlich eben gerade die Stimme des Lesens: im Text spricht allein der Leser” (Barthes 1987: 152; Hervorh. im Original). An der widerständigen Natur des Geschriebenen, an der Materialität des Textes arbeitet sich also letztlich der Rezipient - genauer gesagt: der Leser-Schreiber - ab. Wenn die Schrift, wie Barthes es formuliert, “ein feiner Haarriss” ist, wenn es beim Schreiben darum geht, “eine plane Materie zu zerteilen, zu durchfurchen, zu unterbrechen” (Barthes 2006 a: 99; Hervorh. im Original), dann muss der Text vom Leser geschrieben werden. 2.2 Lesen In der Figur des Leser-Schreibers treffen zwei mediale Pole zusammen, für deren Annäherung die gesamte Semiologie Barthes’ steht, denn “der ‘Text’ verlangt, daß man versucht, die Distanz zwischen Schreiben und Lesen aufzuheben (oder zumindest zu verringern)” (Barthes 1971: 70). Trotz dieses symbiotischen Verhältnisses von Schreiben und Lesen nimmt letzteres bei Barthes eine besondere Stellung ein. Der Mensch befindet sich in einem fortwährenden Lektüreprozess, bei dem allen ihm begegnenden Gegenständen und Verhaltensweisen ein Sinn ‘aufgetragen’ wird 5 : “Der moderne Mensch, der Stadtmensch, liest ununterbrochen” (Barthes 1964 a: 165). Dabei kommt physiologischen Aspekten des Lesens eine besondere Bedeutung zu, etwa im Falle der Lesegeschwindigkeit, da sich die Anordnung der Zeichen oft “wie ein blockiertes Metronom” verhält; “lockern Sie das Korsett, explodiert der Sinn” (Barthes 2003: 18). Die von Barthes immer wieder hervorgehobene Rolle des Körpers im Leseakt deutet jedoch nicht auf einen leiblichen Monismus hin. Jede Lektüre wird in einem eingegrenzten Feld vollzogen, sie unterliegt einem Gesetz, dem sich der Leser unterzuordnen hat. Doch beide, das Feld der Lektüre und seine Gesetze, bleiben von der jeweils eigentümlichen Annäherung an den Text, die sich der ‘Gewalt des Autors’ entzieht, nicht unberührt. Sie werden stets neu definiert: Die denkbar subjektivste Lektüre ist immer nur ein von bestimmten Regeln aus betriebenes Spiel. Woher kommen diese Regeln? Bestimmt nicht vom Autor […]. Lesen heißt, auf den Appell der Zeichen des Textes und aller Sprachen, die sich durch ihn hindurchziehen und gleichsam die schillernde Tiefe der Sätze ergeben, unseren Körper (man weiß seit der Psychoanalyse, daß dieser Körper unser Gedächtnis und unser Bewußtsein weit übersteigt) arbeiten zu lassen. (Barthes 1970 c: 31) Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 323 6 Sarah Kofman beschreibt eine ähnliche Erfahrung in ihren Derrida-Lektüren: “[J]ede Lektüre ist Noch-einmal- Schreiben, Supplementarität, Sollizitation des gelesenen Textes. Wer sich zurückhält, etwas von sich selbst einzubringen, wer sich weigert, den Text zu befruchten, zu beackern, der liest nicht” (Kofman 2000: 60). 7 Bei Barthes wird der Begriff Relevanz noch sehr allgemein verwendet. Dieser wird bei Sperber und Wilson im Rahmen ihrer Relevanztheorie präziser konturiert (cf. Sperber/ Wilson 1986). Jede Lektüre impliziert eine Neubestimmung des Rahmens, in dem sie selbst vollzogen wird. Diese Neubestimmung kann nur durch die Einbeziehung des Leibes geschehen, der sich dem Spiel des Lesens hingibt (man muss ihn lediglich ‘arbeiten lassen’). Diesem Spiel bleibt nur derjenige Leser fern, der “den Text nicht hervorbringen, nicht auf ihm spielen, ihn nicht zerlegen, ihn nicht loswerden kann” (Barthes 1971: 71; Hervorh. im Original). 6 Doch wo fängt dieses Spiel an? Wie kommt es zur Bildung der Spielregel? Wie kann eine Lektüre überhaupt gestaltet werden, wenn sie “nichts als ein Aufblitzen von Ideen, Ängsten, Wünschen, Lustempfindungen und Unterdrückungen” (Barthes 1976: 33) darstellt? Barthes’ Suche nach einem dem Spiel des Lesens zugrunde liegenden Prinzip setzt bei dem Begriff der Relevanz an. Der aus der Linguistik stammende Terminus bezeichnet eine gewählte Perspektive, aus der man das gesamte Feld der Sprache betrachtet. 7 Würde man sich im Falle des Lesens auf eine Relevanz einigen können, so wäre eine Analyse der anagnosis (gr.: Lektüre) - eine “Anagnosologie” (Barthes 1976: 34) - möglich. Die Lektüre bietet jedoch keinen fruchtbaren Boden für eine solche Theoriebildung. Sie ist vielmehr ein äußerst labiles Unternehmen: “Lesenkönnen läßt sich in seinem Anfangsstadium bemessen und verifizieren, wird aber sehr rasch bodenlos, regellos, stufenlos und endlos” (Barthes 1976: 35; Hervorh. im Original). Worin liegt diese Unbeständigkeit, welche einer Stabilisierung der Lektüre beharrlich entgegenarbeitet? Barthes meint diesen Grund - wenn auch nur andeutungsweise - identifizieren zu können: Die Schwierigkeit einer Anagnosologie liegt im Begehren, das jeder Lektüre inhärent ist und “sich nicht benennen, ja (im Gegensatz zum ‘Anspruch’) nicht einmal aussagen [läßt]” (Barthes 1976: 38). Aufgrund ihrer in diesem sinnlichen Verlangen beruhenden Instabilität lässt sich der Ort, in dem sich die anagnosis vollzieht, nicht näher bestimmen. Zwar erfolgt eine Lektüre immer innerhalb einer Struktur, die sie nicht entbehren kann und die sie daher nie übersteigt, doch durch die leibliche Implikation des Lesers werden diese Strukturen gleichzeitig erschüttert: “Die Lektüre wäre die Geste des Körpers (denn man liest selbstverständlich mit dem Körper), der im selben Zug seine Ordnung setzt und pervertiert […]” (Barthes 1976: 36). Die Setzung jeglicher Strukturen zieht also gleichzeitig ihre eigene Perversion nach sich. Mit der potentiellen Wahl einer Relevanz würde notwendigerweise ihre “Ir-Relevanz” beziehungsweise ihre “Im-Pertinenz” (Barthes 1976: 35; Hervorh. im Original) einhergehen. Die Unmöglichkeit einer abschließenden Lektüre bezeichnet Barthes als das “‘Paradox’ des Lesers” (Barthes 1976c: 42). Dieses besteht darin, dass bei der Lektüre generell Zeichen jeglicher Art decodiert werden, durch die Anhäufung von Decodierungen bei einer potentiell unendlichen Lektüre sich der Sinn jedoch nicht mehr “einrasten” (Barthes 1976: 42) lässt. So gerät der Leser “in eine dialektische Umkehrung, letztlich decodiert er nicht mehr, sondern überkodiert; er entziffert nicht, er produziert, er häuft Sprachen übereinander, er läßt sie endlos und unermüdlich durch sich hindurchwandern: Er ist die Durchwanderung” (Barthes 1976: 42; Hervorh. im Original). David Magnus 324 Das von Barthes beschriebene ‘leibliche Lesen’ beruht nicht - zumindest nicht prinzipiell - auf der Wiedererkennung syntaktischer Relationen. Die Zerlegung einer Zeichenanordnung und die Analyse ihrer möglichen semantischen Bezüge bilden nur das Anfangsstadium des Lesens. Diesem kontrollierten Stadium einmal entwachsen, wird das Decodierungsvermögen des Lesers durch die Sedimentierung vergangener Lektüren ausgereizt. Die von Barthes suggerierte semantische Überlagerung deutet auf die aktive Beteiligung des Lesers an der Produktion von Sinn hin. Er wird zwar von der Zeichenumwelt in seiner passiven Rolle ergriffen, geht aber gleichzeitig mit seinem ‘informierten Leib’ aktiv auf sie zu, er lädt sie mit Sinn auf, nachdem die Codes durch ihn ‘hindurchgewandert’ sind. Der Leib bildet dabei das Zentrum dieser ‘Durchquerung’. Die aktive Rolle des Lesers und sein nicht näher bestimmbares Begehren nach dem Text lassen - so Barthes - wenig Hoffnung auf eine Anagnosologie, d.i. für eine “‘Wissenschaft’” oder “‘Semiologie’ des Lesens”: Jegliche strukturale Analyse der Lektüre würde an ihrer Unabschließbarkeit scheitern, denn “das Lesen wäre im Grunde eine ständige Blutung, mit der die […] Struktur zusammenbräche, sich öffnete, ausliefe, sich damit mit jedem logischen System deckte, das letzten Endes unabschließbar ist” (Barthes 1976: 42; Hervorh. im Original). Das Scheitern einer Anagnosologie ist demnach nicht mit einer Zerstörung des Codes verbunden, sondern mit der Schwierigkeit einer Analyse des Begehrens, mit der Unmöglichkeit einer theoretischen Konsolidierung dieses erotischen Elementes der Lektüre. Nach Barthes “kann ein Code nicht zerstört, sondern nur ‘gespielt’ werden” (Barthes 1968: 59). Doch dieser ludische Zwang wirft erneut die Frage auf: Was sperrt sich gegen die Aufstellung von Regeln für dieses Spiel? Die Schwierigkeit einer Wissenschaft des Lesens scheint in der “Panik der Struktur” (Barthes 1976: 43) zu beruhen. Diese Panik rührt aus der Unbeständigkeit des Codes, worunter Barthes nicht die Entwicklung einer Abbildungsvorschrift versteht, welche eindeutige Korrelate auf der Bedeutungsebene aufweist. Was für ihn den Sinn einer jeden Lektüre ausmacht, ist nicht die stabile Entzifferung der Zeichen, sondern ihre ‘semantische Migration’: Lesen ist in der Tat eine Spracharbeit. Lesen, das heißt Sinne finden, und Sinne finden, das heißt sie benennen. Aber diese benannten Sinne werden zu anderen Namen herangeführt, die Namen rufen sich, versammeln sich, und ihre Ansammlung will aufs neue benannt werden: so geht der Text vorbei: eine Benennung im Werden, eine unermüdliche Annäherung, eine metonymische Arbeit. (Barthes 1987: 16) Das Lesen als das Spiel der Bezeichnungen stellt nicht nur eine ‘Kontratheologie’ dar, sondern auch eine ‘Kontrateleologie’. Dass es sich bei der Suche von Sinn stets nur um eine Annäherung handelt, beruht auf der Unmöglichkeit, ein Ziel festzusetzen: Wie sollte denn der Endpunkt einer Lektüre vorausgesagt werden, wenn sich der Weg dahin erst während des Leseaktes entfalten kann? Wie könnte der ‘anvisierte Sinn’ semantisch umzingelt werden, ohne dass er gleich der nächsten Transnomination unterzogen wird? Die Bedeutungen - und mit ihnen die je spezifische Arbeit der Sinne - migrieren mit jeder Lektüre und so erklärt sich die Eventualität der Unlesbarkeit: “Das Unlesbare ist nichts anderes als das Verlorengegangene: schreiben, verlieren, erneut schreiben” (Barthes 1973 a: 232). Barthes’ Reflexionen über die konstitutive Rolle des Körpers und den flüchtigen Charakter des Sinns bei der Lektüre machen deutlich, dass der Leseakt “ohne die Bürgschaft des Vaters” (Barthes 1971: 69) vollzogen wird. Sie dienen einer Bestimmung des Ortes, von dem aus die Sinngebung erfolgt: dem menschlichen Leib. Beim Lesen geht es nicht um die Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 325 Enthüllung einer vor dem Text existierenden Struktur, die den Leser mit einem ihm vorausgehenden und fremden Sein konfrontiert, sondern um “die Lektüre des Subjekts, das ich bin, das ich zu sein glaube” (Barthes 1976: 33). Das Lesen-Schreiben impliziert also zugleich eine Arbeit am Körper - an der Gestalt - der Zeichen und am eigenen Leib. Diese Tätigkeit wird trotz des ludischen Umgangs mit dem Wahrgenommenen stets innerhalb einer Struktur verrichtet, die bei jeder Lektüre neu definiert wird. In diesem provisorisch eingegrenzten Feld können die Zeichen decodiert werden. Unter den medialen Handlungen, denen sich Barthes in seinen semiologischen Analysen widmet, gibt es jedoch eine, deren Eigendynamik sich einer Decodierung verschließt: der Blick. Auf diese unbeständige, ja unberechenbare Praxis sowie eine mit ihr eng verbundene mediale Form - nämlich das fotografische Porträt - soll im Anschluss näher eingegangen werden. 2.3 Blicken In einem Eintrag vom 19. März 1979 seiner Chronik erinnert sich Barthes an einer Begegnung mit einem alten Freund: - ‘Sie werden gar nicht älter.’ - ‘Sie auch nicht.’ - ‘Weil wir immer noch denselben Blick haben.’ (Barthes 2003: 60) Für Barthes kann der Blick nicht älter werden, eher veralten diejenigen, die eines Blicks entbehren. Doch wie konstituiert sich der Blick? Wie kann man ihn ‘behalten’ oder ‘verlieren’? Welche rätselhafte Struktur haftet dieser Handlungsform an? In einer Passage eines lange Zeit unveröffentlicht gebliebenen Textes versucht Barthes die ‘undurchsichtige’ Eigenart dieser Wahrnehmungsform zu erläutern: Ein Zeichen ist, was sich wiederholt. Ohne Wiederholung kein Zeichen, da man es nicht wiedererkennen könnte und das Zeichen auf dem Wiedererkennen beruht. Nun, bemerkt Stendhal, kann der Blick alles ausdrücken, läßt sich aber nicht im Wortlaut wiederholen. Der Blick ist somit kein Zeichen, aber bedeutungstragend. Welches Geheimnis steckt dahinter? Der Blick gehört jenem Bereich der Bedeutung an, dessen Einheit nicht das (diskontinuierliche) Zeichen ist, sondern die Signifikanz […]. In der Signifikanz gibt es zweifelsohne irgendeinen gesicherten semantischen Kern, andernfalls könnte der Blick nichts besagen: Ein Blick kann nicht buchstäblich neutral sein, es sei denn, um die Neutralität zu bedeuten; und ist er ‘vage’, so ist das Vage natürlich sehr hintergründig; aber dieser Kern besitzt eine Aura, ein sich endlos dehnendes Feld, in das der Sinn ausstrahlt, ohne seinen Eindruck (seine Eindrücklichkeit) zu verlieren. […] Das ‘Geheimnis’ des Blicks, die innere Regung, aus der er besteht, ist natürlich in jener Zone des Ausstrahlens angesiedelt. Somit stehen wir vor einem Objekt (einer Entität), dessen Wesen auf seiner Maßlosigkeit beruht. (Barthes 1977: 315; Hervorh. im Original) Der Blick scheint, anders als das wiederholbare Zeichen, einer grundlegenden Ereignishaftigkeit zu entspringen. Doch selbst in dieser eigentümlichen, nicht reproduzierbaren Präsenz, wird mit dem Blick stets etwas bedeutet. Der Blick bezieht Position und drückt etwas aus. Der aus dieser ‘Stellungnahme’ hervorgehende Sinn kann jedoch nicht aus zerlegbaren Elementen zusammengestellt werden - er gehört schließlich dem Bereich des Analogen an -, und auch dessen Wirkungsfeld ist nicht näher bestimmbar. Die Rätselhaftigkeit des Blicks beruht somit in einer der Signifikanz innewohnenden Unschärfe, in einem auf die Rauheit des Materiellen zurückzuführenden semantischen Überschuss. Die sinnlichen Quellen des Blicks sind dabei vielfältig, weil er synästhetisch agiert. Blicken impliziert immer “ein Zusammenspiel der (physiologischen) Sinne”, die sich mit David Magnus 326 8 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Barthes 1970 d und greifen in gewisser Weise auf die Argumentation über studium und punctum im nächsten Abschnitt voraus. 9 Beide Formen des Sinns analysiert Barthes anhand von Fotogrammen Sergei M. Eisensteins. In seinen Bildern überwiegt die konstruierte Symbolik, die darauf hindeutet, “daß die ‘Kunst’ S. M. Eisensteins nicht polysemisch ist. Er wählt den Sinn aus, setzt ihn durch und bewältigt ihn […]; der Eisensteinsche Sinn rafft die Mehrdeutigkeit hinweg” (Barthes 1970 d: 51). ihren Eindrücken wechselseitig bedingen: “Alle Sinne können folglich ‘schauen’, umgekehrt kann der Blick fühlen, hören, tasten usw.” (Barthes 1977: 316). Nach Barthes macht sich die Wissenschaft den Blick auf drei unterschiedliche Weisen, die miteinander verknüpft werden können, zu eigen: Sie versucht über den Blick an Information zu gelangen, Blicke in Beziehung zu setzen (Blickaustausch) und einen bestimmten Gegenstand oder ein spezifisches Phänomen in Besitz zu nehmen, wobei der Blickende selber ergreift, aber auch ergriffen wird. Aber selbst wenn dem Blick diese drei Funktionen zugeschrieben werden - die optische, die sprachliche und die haptische - kann er nicht stabilisiert werden und bleibt daher “ein unstetes Zeichen” mit einer eigentümlichen Dynamik, die sich dadurch auszeichnet, dass der Blick “von seiner eigenen Kraft gesprengt [wird]” (Barthes 1977: 315; Hervorh. im Original). Diese sprengende Kraft übersteigt die Ebene der Kommunikation, deren Analyse eine Semiotik der Botschaft erfordert, und die Ebene des Symbolischen - sowohl die referentielle als auch die diegetische Symbolik -, die in einer Art Neosemantik untersucht werden können. Die Eigendynamik des Blicks scheint sich vielmehr dort zu entfalten, wo der ‘dritte Sinn’ am Werk ist, in jenem Bereich also, der nicht benannt oder begründet werden kann. 8 Zu unterscheiden wären hier die Ebenen der Kommunikation und der Bedeutung von der Ebene der Signifikanz. Diese Unterscheidung betrifft wiederum zwei Formen, in denen Sinn auftritt: Einerseits kann der Sinn intentional sein, so dass eine gebündelte, von einem identifizierbaren Autor ausgehende Botschaft auf mich zugeht und dadurch die klassische Sender-Empfänger- Struktur beibehalten wird. Das ist der “entgegenkommende Sinn” (Barthes 1970 d: 50; Hervorh. im Original). Andererseits kann der Sinn “zugleich hartnäckig und flüchtig, glatt und entwichen” (Barthes 1970 d: 50) sein und damit auch schwer zu erfassen. Dieser wird nicht von einem Autor ‘gesetzt’, er wirkt wie ein Zusatz, ist “‘überzählig’” (Barthes 1970 d: 50) und entgleitet jeglicher Signifikation. Barthes bezeichnet ihn deswegen als den “stumpfen Sinn” (Barthes 1970 d: 50; Hervorh. im Original). Der entgegenkommende Sinn ist damit obvius, weil er ungeschützt vom Gewebe des Signifikanten zur Hand liegt und eine vorgefertigte Bedeutung trägt. 9 Der stumpfe Sinn hingegen ist obtusus, da er in seiner abgerundeten Erscheinung die vorbereitete Botschaft abschwächt. Er verleiht ihr “eine Art kaum greifbare Rundheit”, die jede Lektüre “abgleiten” lässt und damit eine “endlose Öffnung des Sinnfeldes” (Barthes 1970 d: 50) bewirkt. Diese Öffnung bereitet den Boden für sinnliche Zugänge, für die Einbindung von Gemütsbewegungen, für ein empfindsames Herantasten an das Objekt. Daher deutet Barthes an, “daß der stumpfe Sinn eine gewisse Emotion mit sich bringt” (Barthes 1970 d: 56; Hervorh. im Original), in ihm “steckt ein Erotismus” (Barthes 1970 d: 58). Der stumpfe Sinn lässt sich verorten, aber nicht bezeichnen und pflegt somit eine ambivalente Beziehung zum Zeichen. Er fungiert als Gegensatz zu den zwei klassischen Interpretationsebenen der Kommunikation und der Bedeutung und agiert dabei jenseits der Sprache, er geht “über die Kultur, das Wissen und die Information hinaus” (Barthes 1970 d: 50); er bewegt sich im ‘Milieu der Signifikanz’ und befindet sich damit stets an der Grenze des Sinns: Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 327 10 Die ‘Freiheit der Konnotation’, d.i. die Möglichkeit der Hinzufügung eines zweiten Sinns, liegt immer auf Seiten des Herstellers: “Die Konnotation, das heißt die Einbringung eines zusätzlichen Sinns in die eigentliche fotografische Botschaft, wird auf den verschiedenen Ebenen der Produktion der Fotografie herausgearbeitet (Auswahl, technische Bearbeitung, Bildausschnitt, Umbruch): Sie ist im Grund eine Kodierung des fotogra- [D]er stumpfe Sinn ist ein Signifikant ohne Signifikat; daher die Schwierigkeit, ihn zu benennen. […] Wenn man den stumpfen Sinn nicht beschreiben kann, so deshalb, weil er im Gegensatz zum entgegenkommenden Sinn nichts nachbildet: Wie soll man beschreiben, was nichts darstellt? […] [D]er stumpfe Sinn [liegt] außerhalb der (gegliederten) Sprache […]. (Barthes 1970 d: 60) Wie eingangs angedeutet, haftet der Sprache nach Barthes nichts Wildes an. Ein Sinn, der eines Signifikats entbehrt, kann demnach weder dem Bereich der Kommunikation noch dem der Bedeutung zugeordnet werden. Doch wenn die Materialität des Zeichens auf nicht Benennbares verweist, wie kann dann ihr Wirkungsfeld umgrenzt werden? Barthes deutet darauf hin, dass der stumpfe Sinn “zwar keineswegs überall […], doch irgendwo [existiert]” (Barthes 1970 d: 59; Hervorh. im Original). Dieses ‘irgendwo’, das den Einflussbereich des Blicks und des ‘dritten Sinns’ markiert, lässt sich theoretisch nicht beschreiben, bildet aber den “Übergang von der Sprache zur Signifikanz” (Barthes 1970 d: 63). In seinem gesamten Œuvre, und mit besonderem Impetus in seinem Spätwerk, begibt sich Barthes in solche Gefilde, in denen er die Möglichkeit der Arbeit an den Übergängen zwischen Sprache und Signifikanz vermutet. So wird die Fotografie zu einem seiner bevorzugten Untersuchungsfelder für die Erforschung dieser ungeklärten Beziehung. In der ‘Realität’ des fotografisch Abgebildeten wird die Interdependenz von Materialität und Bedeutung, zwischen Sinnlichkeit und Sinn nochmals und mit allem Nachdruck problematisiert. 3 Mediales Reagieren: Das fotografische Porträt zwischen studium und punctum Eine der größten Hürden einer semiotischen Analyse des fotografischen Bildes liegt in der Bestimmung des Inhalts seiner Botschaft. Zwar wird gewöhnlicherweise die ‘Wirklichkeit’ als Referenzebene vorausgesetzt, doch gerade dieser Umstand stellt ein besonderes Hindernis für ihre Auslegung dar, nämlich das Fehlen eines Hindernisses, d.i. die vermeintliche semantische Transparenz des fotografischen Mediums: Die Darstellung einer Person, einer Sache oder einer Landschaft in der Fotografie basiert auf ‘reiner Denotation’, lässt also keine Konnotation zu. Es scheint, als wäre es nicht notwendig, einen Code zwischen dem abgelichteten Objekt und seinem Bild einzufügen. Das Bild gleicht nicht dem Objekt - zumindest nicht materiell -, ist aber “das perfekte Analogon davon” (Barthes 1961: 13, Herv. im Original). Damit ist nach Barthes das semiotische Alleinstellungsmerkmal der Fotografie identifiziert: Das fotografische Bild “ist eine Botschaft ohne Code” (Barthes 1961: 13; Hervorh. im Original). Diese lapidare Aussage bezieht sich auf den Bildinhalt, jedoch nicht auf dessen Erstellung und Rezeption. Auf diesen beiden Ebenen lassen sich sehr wohl Konnotationsfaktoren feststellen, die vor allem auf die Produktionsbedingungen des jeweiligen Bildes zurückzuführen sind. Barthes nimmt hier speziell die Pressefotografie ins Visier, die, je nach Publikationskontext, bestimmte ästhetische und ideologische Kriterien zu erfüllen hat. Diese Kriterien, die ihre Manufaktur definieren, können einer Decodierung unterzogen werden, sie sind selbst jedoch nicht Teil der fotografischen Struktur. 10 David Magnus 328 fischen Analogons […]; man muß daran erinnern, daß diese Verfahren nichts mit Bedeutungseinheiten zu tun haben […]: Sie gehören nicht zur fotografischen Struktur” (Barthes 1961: 16). 11 Ding und Medium fallen beim fotografischen Porträt zusammen: “Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ‘Chimären’ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist” (Barthes 2012: 86; Hervorh. im Original). 12 Aus diesem Interesse rührt auch eine der Leitfragen seiner Untersuchung: “Was weiß mein Körper von der PHOTOGRAPHIE? ” (Barthes 2012: 17). In der Spaltung der zwei angeführten Ebenen besteht der paradoxe Charakter der Fotografie: Einerseits fungiert sie als Träger einer Botschaft ohne Code, als “mechanisches Analogon des Wirklichen” (Barthes 1961: 14), oder wie es an einer anderen Stelle bei Barthes heißt: “Das Bild ist […] die Sache selbst” (Barthes 1984: 64; Hervorh. im Original). 11 Andererseits wird bei der Herstellung einer Fotografie das mechanische Analogon durch bestimmte Konstruktionsprinzipien codiert; jedes Foto zeigt auch in gewisser Hinsicht seine eigene “‘Schreibweise’” (Barthes 1961: 15). Zwei Kräfte scheinen nun an der Entstehung und Rezeption des fotografischen Bildes mitzuwirken: Die ‘Objektivität’ des Abgebildeten - es entstammt schließlich der ‘Wirklichkeit’ - und das factum dieser Momentaufnahme. Barthes fragt sich noch 1961: “Wie kann nun die Fotografie zugleich ‘objektiv’ und ‘besetzt’ sein, natürlich und kulturell? ” und schiebt die Antwort auf unbestimmte Zeit auf: “Diese Frage wird man vielleicht eines Tages beantworten können, wenn man erfaßt, wie die denotierte und die konnotierte Botschaft ineinandergreifen” (Barthes 1961: 15). Knapp zwei Jahrzehnte später sitzt Barthes an seinem Schreibtisch und blättert in Zeitschriften. Er entscheidet sich, das mögliche Interesse, das einige Fotos in ihm wecken, näher zu untersuchen. Bei der Betrachtung fotografischer Porträts unterscheidet Barthes drei Perspektiven, aus denen man sich mit dem Medium beschäftigen kann: Man kann ein Foto selbst schießen, sich fotografieren lassen und das daraus resultierende Ergebnis wahrnehmen. Anders formuliert: Man kann als “operator” (Photograph), als “eidolon” (Referent) und als “spectator” (Barthes 1961: 17; Hervorh. im Original) an diesem medialen Prozess teilnehmen. Letztere ist die Perspektive, die Barthes für seine Analyse einnimmt. Er wird damit “selbst das Maß des photographischen ‘Wissens’” (Barthes 1961: 17) und versucht als solches, ausgehend von persönlichen Empfindungen, ein Prinzip aufzustellen, das der Fotografie als Medium allgemein zugrunde liegen sollte. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Bilder in ihm ein leibliches Interesse wecken. 12 Als spectator regen ihn die Gemütsbewegungen an, die ein Foto auslösen kann. Das Betrachten der Bilder ähnelt dem Blick “in eine Wunde: ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke” (Barthes 1961: 30). Obwohl Barthes den emotionalen Aspekt seiner Herangehensweise betont, wirft die Beschäftigung mit den Bildern disparate Ergebnisse auf. Bei zahllosen Fotos macht er keinen Halt: Sie üben keinerlei Anziehungskraft auf ihn aus, er schaut sich diese nur kurz an, wird von ihnen nicht berührt, er fühlt sich teilnahmslos. Diese Apathie gegenüber belanglosen Fotos weckt in ihm kein Interesse, sondern im Gegenteil eine gewisse Aversion. Doch von einigen fühlt er sich ergriffen, “so als rührten sie an eine verschwiegene Mitte - einen erotischen Punkt oder eine alte Wunde” (Barthes 2012: 25). Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 329 13 Zu den folgenden Ausführungen cf. Barthes 2012: 33ff. 14 Es sei darauf hingewiesen, dass Barthes über andere Bedeutungen vom lateinischen studium, die dem zweiten Element nahe stehen, schweigt. Sein Hinweis auf eine Beteiligung ‘ohne besondere Heftigkeit’ deckt sich nicht mit einigen der möglichen Bedeutungen des Terminus’, wie etwa ‘eifrige Teilnahme’, ‘Lust’ oder ‘Begierde’. Der Grund einer solchen Unterlassung bei Barthes mag im Versuch einer schärferen Differenzierung zwischen beiden Elementen liegen. Für jede dieser beiden Wirkungsweisen des Fotos kann ein Element identifiziert werden. 13 Das erste entstammt dem angesammelten Wissen, dem Bereich der Vorkenntnisse, die eine ungezwungene Perzeption ermöglichen. Diese Perzeption ist insofern ungezwungen, als im Bild nur die konventionellen Inhalte bemerkt werden, welche einen ‘glatten’ Zugang zu der darin präsentierten visuellen Information gewähren. Zwar können diese Fotografien eine gewisse Anziehungskraft ausüben, sie können den spectator in gewisser Weise (be)rühren, doch unterliegen sie zwangsläufig einem allgemeinen kulturellen Interesse, “einem durchschnittlichen Affekt” (Barthes 2012: 35; Hervorh. im Original), bei dem das ‘geschulte Auge’ mitwirkt. Auf Französisch findet Barthes keine Bezeichnung für dieses Element; mit dem lateinischen Wort studium kommt er jedoch einer Definition seiner Verhaltensweise gegenüber zahlreichen Fotografien näher: Unter den verschiedenen Bedeutungen des studium sind für Barthes’ Argumentation die der Hingabe an eine Sache und die der Vorliebe (auch für jemanden) von besonderer Relevanz sowie die der Teilnahme, “doch ohne besondere Heftigkeit” (Barthes 2012: 35). 14 Das erste Element dient also einer stabilen Lektüre des fotografischen Porträts. Das zweite Element hingegen “durchbricht (oder skandiert) das studium” (Barthes 2012: 35; Hervorh. im Original) und impliziert die entgegengesetzte Bewegung: Nicht das Subjekt strebt nach einem Einblick in das Objekt, letzteres wird nicht mit - kulturell informiertem - Wissen umhüllt, “sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren” (Barthes 2012: 35). Das Wort punctum bezeichnet diese “Verletzung”, diesen “Stich” (Barthes 2012: 35f.), verweist auf jene kleine Aufspaltung, die jegliche stabile Lektüre zersetzt. Das punctum entzieht sich einer methodologischen Herangehensweise, da es einem “Wurf der Würfel” gleicht und damit den zufälligen Aspekt einer Fotografie bildet, der “mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)” (Barthes 2012: 36; Hervorh. im Original). Das studium rührt aus einer grundsätzlichen, kulturell bedingten Neugier für unsere Umwelt (nicht nur für fotografische Porträts). Barthes ordnet dieses Element dem Bereich “der unbekümmerten Wünsche, des ziellosen Interesses, der inkonsequenten Neigung” (Barthes 2012: 36) zu. Das studium kann sich über eine längere Zeitspanne erstrecken, es unterliegt einem je nach Subjekt spezifischen Streben nach Information oder einer allgemeinen Absicht. Man kann es methodisch begründen und dieser Methode entsprechend den Inhalt ‘filtern’ oder zerlegen. Die betrachteten Fotos können dabei schockierend sein, und doch verletzen sie beim studium nicht, sie rufen sogar eine gewisse Gleichgültigkeit hervor. Das punctum hingegen kann nicht angestrebt werden. Man kann sich auch nicht darauf einstellen, sondern lediglich reagieren: Der Blick wird von ihm befallen. Daher kann keine Methode dafür aufgestellt werden, es entzieht sich jeglicher technischen Vereinnahmung. Das punctum wird also nicht ‘aufgesucht’ oder ‘hofiert’; es kann nicht thematisiert oder theoretisch eingegrenzt werden, sondern blitzt unerwartet auf: Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig. Durch das Merkmal von etwas ist die Photographie nicht mehr irgendeine. Dieses David Magnus 330 15 Barthes betont: “Um das punctum wahrzunehmen, wäre mir daher keine Analyse dienlich” (Barthes 2012: 52; Hervorh. im Original). 16 Für die in diesem abschließenden Kapitel entwickelten Gedanken sind, neben den zitierten Primärquellen, die Studien von Busch 2004, Därmann 2005 und 2011, Mersch 2002 a und 2002 b sowie allgemein Därmann 2010 von besonderer Relevanz. Etwas hat ‘geklingelt’, hat eine kleine Erschütterung in mir ausgelöst, ein satori, eine zeitweilige Leere (es ist unerheblich, ob der Referent lächerlich ist). Seltsam: die tugendhafte Geste, mit der man sich der ‘vernünftigen’ Photos bemächtigt (auf die man ein einfaches studium verwendet), ist eine faule Geste (blättern, rasch und flüchtig ansehen, trödeln und sich beeilen); die Lektüre des punctum (des getroffenen Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung. (Barthes 2012: 59; Hervorh. im Original) Die Lektüre des punctum verlangt, anders als die Arbeit des Leser-Schreibers am Text, eine Reaktion auf den unvermuteten Stich und nicht die aktive Suche nach möglichen Bedeutungen des wahrgenommenen Details. Die erforderte Reaktion kann durch keine methodische Zerlegung des Bildes geleistet werden. 15 Darüber hinaus, und trotz seiner blitzartigen Wirkung, besitzt das punctum “eine expansive Kraft” (Barthes 2012: 55), da das aus dem Foto hervorstechende Detail eine Resonanz auf das gesamte Bild haben kann: Das punctum wird zwar identifiziert, übt jedoch einen metonymischen Einfluss auf andere Aspekte des Porträts aus, etwa auf abgebildete Einzelheiten, die auf eine bestimme Epoche oder einen geographischen Kontext schließen lassen. All diese Details erkenne ich - so Barthes - “mit jeder Faser meines Leibs” (Barthes 2012: 55). Die Lektüre des punctum impliziert, wie bereits erwähnt, eine Verpflichtung, sie erfordert eine Stellungnahme, die sich nicht auf ein ästhetisches oder gar moralisches Urteil reduzieren lässt - “das punctum kann auch schlecht erzogen sein” (Barthes 2012: 53; Hervorh. im Original). Sie setzt vielmehr die Bereitstellung des eigenen Körpers, eine Gabe des eigenen Leibes voraus. Barthes formuliert diesen Aspekt der Wahrnehmung von fotografischen Bildern an einer zentralen Stelle von Die helle Kammer: “Beispiele für das punctum anzuführen bedeutet daher in gewisser Weise, sich preiszugeben” (Barthes 2012: 53; Hervorh. im Original). Welche Konsequenzen hat diese (Preis-)Gabe für die Betrachtung von Fotografien? Wie wirkt sich die (Preis-)Gabe auf die Beziehung von Materialität und Sinn aus? Beruht diese Relation nicht letztendlich auf einer Ethik des Blicks? Diesen Fragen soll abschließend nachgegangen werden, um Barthes’ Überlegungen zur Signifikanz des Zeichens für die Herausarbeitung des ethischen Aspekts der Wahrnehmung des Bildlichen fruchtbar machen zu können. 4 Wahrnehmung als (Preis-)Gabe und die Ethik des Blicks 16 Wie in den vorigen Abschnitten bereits gezeigt, sind die medialen Tätigkeiten des Schreibens, Lesens und Blickens von einer Implikation des Leibes durchtränkt, mit Hilfe derer die Arbeit an der materiellen Beschaffenheit des Signifikanten verrichtet wird. Das leibliche Engagement wird in der Geste des Schriftzugs, im Präsens des Schreibakts gefordert. Auch bei der Lektüre muss der Köper “auf den Appell der Zeichen” (Barthes 1970 c: 31) reagieren, wobei die Zerlegung einer Zeichenanordnung und die Analyse ihrer möglichen semantischen Bezüge nur das kontrollierte Stadium des Lesens darstellen und der Leib das Zentrum jeglicher Codierung bildet: Die Lektüre als “Benennung im Werden” (Barthes 1987: 16) zieht Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 331 17 In dieser Hinsicht bemerkt Barthes unmissverständlich: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (Barthes 2012: 60; Hervorh. im Original). sich durch den Leib hindurch und in dieser Durchwanderung werden jegliche Strukturen des Lesens pervertiert. Nicht zuletzt beruht die Rätselhaftigkeit des Blicks in jenem Zusammenspiel physiologischer Sinne, das der fortwährenden Neubestimmung jener Strukturen auf der Ebene des Signifikanten zugrunde liegt. Schreiben und Lesen stehen dabei für zwei eng miteinander verwobene Wahrnehmungsformen, die der Signifikation dienen. Beim Blicken hingegen wird kein Signifikat erzeugt, ein semantisches Problem, das in der Bildlichkeit - d.i. in den materiellen Nuancen - des fotografischen Porträts scharfe Konturen annimmt und das hier mit dem punctum in Verbindung gebracht werden soll, denn “dank dessen, was im Bild nichts als Bild […] ist, kommen wir ohne Worte aus” (Barthes 1970 d: 60), wobei mit diesem Verzicht eine Reihe wahrnehmungstheoretischer Herausforderungen einhergeht, die aus den besonderen aisthetischen Eigenschaften analoger Zeichen herrührt. Im Bild, das “in gewisser Weiße eine Grenze des Sinns ist” (Barthes 1964 b: 28; Hervorh. im Original), kann das Spiel mit dem Code nur als studium betrieben werden. Beim punctum fehlt hingegen jede Codierung 17 und diese Konstellation stellt den Leib vor eine andere Form des Bezugs zum Wahrgenommenen als die des ludischen Umgangs mit Signifikanten. Die aisthetische Dimension des Zeichens erreicht im punctum die äußerste Grenze des Sinns. Eine Konsequenz dieser Ausreizung der Bedeutungsebene ist der von Barthes angeführte Zwang der (Preis-)Gabe: Beim punctum kann der Leib nicht von sich selbst aus agieren, nicht den ersten Schritt hin zum ‘Detail’ machen. Er kann sich aber auch nicht zurückziehen, die Wahrnehmung des punctum erfordert vielmehr eine ‘Enthüllung des Selbst’. Dabei ist weniger relevant, wie diese (Preis-)Gabe im Detail erfolgt, sondern dass überhaupt seitens des Wahrnehmenden etwas preisgegeben werden muss und dass dies wiederum aufgrund einer Gabe des Bildes geschieht. Wenn beim Schreiben und Lesen mittels einer Arbeit am Text das Wahrgenommene mit Sinn imprägniert wird, so funktioniert diese Ökonomie der Sinne beim punctum nicht. Die vom punctum erforderte (Preis-)Gabe ist nicht einseitig, sondern impliziert, wie jedes Geben, eine Wechselwirkung (cf. Simmel 1992: 663, Anm. 1). Zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem entwickelt sich im Augenblick der Perzeption ein festes Band, das jedoch nicht in einer symmetrischen Beziehung besteht, denn “die exzessive Gabe des fotografischen Bildes” (Därmann 2011: 75) kann nicht im Sinne einer - mehr oder minder egalitären - perzeptiven Gegengabe konterkariert werden. Die von Barthes thematisierte (Preis-)Gabe entzieht sich daher einer strengen Ökonomie der Sinne, es handelt sich um eine ‘ziellose’ Antwort auf den Stich, um eine nicht näher zu bezeichnende Stellungnahme, um eine grundsätzliche Anerkennung des punctum, um seine Wahr-Nehmung. Die aus dem fotografischen Bild als punctum hervorstechende Gabe und die (Preis-)Gabe des Wahrnehmenden stellen keine konkreten Gegenstände oder Formen des Gebens dar, sondern - um eine Formulierung Jacques Derridas zu bemühen - “die Bedingung für ein präsent Gegebenes im allgemeinen, eine Gabe also, die das Element des Gegebenen überhaupt gibt” (Derrida 1993: 76). Was das punctum und die von ihm geforderte Stellungnahme geben, ist also das Moment der Wahrnehmung überhaupt, die im Falle des Bildes - anders als beim Text - weniger eine Arbeit am ‘Objekt’ als eine Arbeit am Selbst voraussetzt. David Magnus 332 18 Busch verweist in diesem Zusammenhang auf die “stiftende Funktion” und die “ethische Implikation der Kunst” (Busch 2004: 25f.). 19 Dieser performative Zug wird von Dieter Mersch beim Ereignis der Setzung von Sinn stets hervorgehoben: “Nicht was dabei im einzelnen zum Vorschein gelangt, ist relevant, sondern daß geschieht” (Mersch 2002 a: 290; Hervorh. im Original). Cf. auch Mersch 2002 b: 373ff. Mit dem von Barthes stets betonten Aspekt der Sinnlichkeit der Zeichen geht eine ‘Krisis der Signifikation’ einher, die von der Ereignishaftigkeit des fotografischen punctum verschärft wird, denn sein Stich bringt den Blick, jenes ‘unstete Zeichen’, ins Wanken. Die instabile Lage des Wahrnehmenden vor dieser Verletzung zieht eine Ethik des Blicks nach sich, die in jener Unausweichlichkeit der geforderten Antwort beruht. 18 Diese versagt sich bei fehlender Codierung - des Blicks, des punctum - jeglicher Normierung. Wie die von diesem Wahrnehmungsprozess ausgelöste Arbeit am Selbst genau vonstatten geht, kann nicht näher bestimmt werden, handelt es sich beim punctum doch um ein Ereignis, das eine ebenso unvorhersehbare Stellungnahme zur Folge hat. Die Ethik des Blicks, welche dieser Stellungnahme anhaftet, wird nicht von moralischen Prämissen determiniert - es gibt keine (bessere) Wahl vor dem punctum -, sondern von der Existenz einer Aufforderung überhaupt. 19 Das signifikatorische Hindernis rührt letztlich aus der Unmöglichkeit einer Benennung jenes Überschusses des punctum, der nur durch eine besondere Liebe registriert werden kann: Da es dem liebenden Subjekt nicht gelingt, die Besonderheit seines Verlangens nach dem geliebten Wesen zu benennen, greift er zu dem etwas dummen Wort: anbetungswürdig! […] Mit einer sonderbaren Logik nimmt der Liebende den Anderen als Ganzes wahr […] und zugleich scheint ihm dieses Ganze einen Rest zu enthalten, den er nicht aussprechen kann. […] Wenn aber anbetungswürdig alles sagt, so sagt es zugleich doch auch, was dem ‘Alles’ fehlt; es will jenen Aspekt des Anderen bezeichnen, dem mein Verlangen speziell gilt, aber dieser Aspekt ist nicht zu bezeichnen […]. (Barthes 1984: 37f.; Hervorh. im Original) Das Verlangen des Subjekts wird vom Stich des punctum in eine (Preis-)Gabe umgemünzt. Die Liebe stellt die Bedingung der Möglichkeit für die Wahrnehmung jenes Details dar, sie liegt jener (Preis-)Gabe zugrunde. Die Gabe des fotografischen Bildes tritt dabei stets als Herausforderung blitzartig auf (kann man der Gabe des Bildes je gewachsen werden? ). Der hier skizzierte Grundzug einer Ethik des Blicks würde den Aufruf implizieren, immer zur Stelle zu sein, im Hier und Jetzt der Reaktion auf den Stich, um angesichts der sinnlichen Präsenz des Details im Bild mit der Präsenz des eigenen Leibes, mit einer Zuneigung zu antworten. Sowohl beim punctum als auch bei der Liebe geht es schließlich zugleich um die Aufforderung zu einer Stellungnahme und um ein Versprechen, um Aktualität und Verschiebung von Sinn, “denn es gibt keine Wahrheit, die nicht an den Augenblick gebunden wäre” (Barthes 2005: 44). Das punctum der Fotografie wird im Augenblick der Verletzung zu demjenigen Element, das den Wahrnehmenden zum Liebesbekenntnis - im Sinne der Interessenbekundung, der Responsivität - zwingt. An den Grenzen des Sinns wird daher nur das wahrgenommenen, was anbetungswürdig ist. 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