eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
373-4

Roland Barthes über das "Ideogramm" als "anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt"

2014
Carol Jana Ribi
1 Im Anschluss an André Leroi-Gourhan formuliert Barthes, wie durch die vertikale Körperhaltung die Hand und der Gesichtsraum des Menschen frei werden und wie sich dadurch die manuelle Arbeit, das visuelle Gesichtsfeld und damit die Gebärden sowie die Sprache ausbilden (cf.Barthes 2006: 169 und Leroi-Gourhan 1984). Die Hand wird zu einer anthropologischen Grundbedingung für Sprache und Schrift, indem nicht der Laut, sondern die rhythmischen Bewegungen des Körpers als primäre Faktoren des ersten Graphismus festgelegt werden. Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” Carol Jana Ribi (Zürich) The following paper traces Roland Barthes’ use of the terms ideogram and ideographic in his Variations sur l’écriture and throughout his work: Ideograms reveal the gestural and iconic aspects of writing that are generally neglected in our alphabetic traditions. This ideographic conception of writing resonates strongly with Barthes’ quest for a novel theory of meaning in his later work. I will argue that Barthes’ theoretical discussion of Japanese haiku and bunraku in Empire of Signs establishes a number of elements crucial to such a renewal of semantic theory. The Empire of Signs focuses on the material and performative aspects of writing by way of a semantic abstinence, inspired by a (westernized) reading of Japanese Zen Buddhist traditions - Barthes establishes a connection with the traditions of Japanese art, but takes his analysis into a completely different direction. In particular, he describes haiku metaphorically as ‘anaphoric, yet meaningless gestures’, a description that, as will be shown, fits the ideograms just as well. 1 Einleitung “Schrift” wird bei Roland Barthes als “Rückgriff auf die Hand” gedacht und dies - wie der vorliegende Beitrag argumentieren wird - “umso mehr als sie die Gebärde nachzeichnet” in den “Ideogrammen” (Barthes 2006: 171). Es ist die haptische Dimension der Schrift (und nicht ihre phonetische Artikulation), die Barthes in Variations sur l’écriture (2006) - seiner 1973 verfassten, jedoch erst postum erschienen Schrift - interessiert. 1 ‘Schrift’ meint da nicht nur materielle Verschriftlichung des Gesagten oder Gedachten, sondern auch eine “physische, körperliche Geste der Schreibung”, deren Produkt die Skriptur ist (ebd.: 111f.). Das Ideogramm dient dabei als ‘Modell’ für die gestische Begründetheit der Schrift, denn es transkribiere eine “Geste, die ihrerseits Zeichen einer Handlung” sei (cf. ebd.: 69) und zerlege “andere Codes als die der artikulierten Sprache: Objekte, Gesten, Ideenkombinationen (im Falle der chinesischen Schrift) oder hervorragende Ereignisse (im Falle der Winter Counts der Dakota-Indianer)” (ebd.: 87; Hervorh. im Original). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Carol Jana Ribi 284 2 Barthes gebraucht die Begriffe ‘Ideogramm’ und ‘Piktogramm’ als systematisch gleichwertig, obwohl sie unterschiedlichen Schriftsystemen angehören. Relevant zeigt sich für ihn ihre semasiographische Eigenschaft sowie die Rückbindung an die Geste der Hand respektive den Körper. Im Hinblick auf moderne Beschreibungen von Schriftsystemen, wo ein anderer Sprachgebrauch gilt, sei exemplarisch auf Coulmas (2003) verwiesen. 3 Barthes geht es darum, die analytische Wortschrift von ihrer funktionalen Eigenschaft zu trennen, um ihre aisthetischen und performativen Dimensionen aufzuzeigen - seine Begriffsbildung des ‘Ideogramms’ und des ‘Ideographischen’ ist in diesem Sinne zu verstehen. Was die moderne chinesische Schrift angeht, so erkennt er ihre Lautgebundenheit an und verfällt demnach nicht dem von DeFrancis allgemein kritisierten Mythos der ‘ideographischen Schrift’ (cf. DeFrancis 2002: 19). 4 Roland Barthes stützt sich in seiner Interpretation der chinesischen Schrift (cf. Barthes 2006: 31f.) u.a. auf das Werk des französischen Sinologen und Soziologen Marcel Granet (1934): La pensée chinoise, das heute als überholt gilt. Der Hinweis auf Granet ist in L’Empire des signes nachzulesen (cf. Barthes 1981: 20). 5 Jacques Derrida entwickelt seine Schriftkritik bekanntermaßen in der Grammatologie (= Derrida 1994). 6 Zur unterschiedlichen Behandlung des Schriftbegriffes bei Barthes und Derrida siehe den Beitrag von Katia Schwerzmann in diesem Band. 7 Ottmar Ette weist in Roland Barthes: Eine intellektuelle Biographie darauf hin, dass die “Kryptographie” bei Barthes in Anlehnung an Jean-Paul Sartre eine Art “zweites Gedächtnis” meine, “das auf rätselhafte Weise unter Das ‘Ideogramm’ und ‘Piktogramm’ stellt für Barthes einen Gegenpol zur szientistischen Auffassung des kommunikativen Wesens von Schrift dar. 2 Es wird vom Alphabet abgegrenzt (cf. ebd.: 51) und an den Bereich des Graphischen und damit an die Hand und das Auge gebunden (cf. ebd.: 101). So lässt sich am ‘Ideogramm’ die körperbezogene Geste der Schrift, die Materialität der Schreibung und die aisthetische Dimension der Skriptur nachvollziehen (cf. ebd.: 113). Gleich zu Beginn macht Barthes darauf aufmerksam, dass die “analytische Schrift (Wortschrift), wie man sie in den (sumerischen, ägyptischen, chinesischen) Ideogrammen findet” (ebd.: 29; Hervorh. im Original), nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern einst auch einen symbolisch-rituellen Wert besaß. Als historisches Beispiel dient ihm die chinesische Schrift, die “zunächst ästhetisch und / oder rituell (im Dienste der Wendung an die Götter) und anschließend funktional (im Dienste der Kommunikation, Aufzeichnung)” (ebd.: 31; Hervorh. im Original) gebraucht wurde. 3 Diese Feststellung, die auf Barthes’ Lektüre anthropologischer Texte fußt, bedeutet nun nicht, dass Barthes sich mit den symbolisch-rituellen Eigenschaften der alten Schriften befassen würde, 4 sie dient ihm in erster Linie dazu, sich gegen die Begünstigung der Sprache vor der Schrift zu wenden. Wie Jacques Derrida 5 nennt er die Auffassung, dass die Schrift der Sprache nachgestellt sei, eine “alphabetische Illusion” (ebd.: 51; Hervorh. im Original), denn sie funktionalisiere die Schrift und stelle sie in eine sukzessiv-lineare Entwicklung, die vom Piktogramm und Ideogramm bis zur Lautschrift reiche, und werte damit das Ideogramm ab (cf. ebd.: 29f.). So ließe sich zunächst annehmen, dass Barthes das Ideogramm respektive die ‘ideographische Schrift’ als Beispiel für seine Kritik der ethno- und logozentrischen Sprachauffassung verwende und damit das Ideogramm dem dekonstruktivistischen Schriftbegriff annähere. Der Hinweis auf die dunkle Seite der (ideographischen) Schrift - dass sie der Verheimlichung und der Ermächtigung diente (cf. ebd.: 23ff.) - deutet jedoch an, dass sich der Schriftbegriff bei Barthes in eine andere Richtung als bei Derrida entwickelt. 6 Nicht die von jeglichen Kontexten befreite und ‘entzentrierte’ Schrift, sondern ihre vielschichtige, nicht einzuholende und sich verschiebende Bedeutung sowie die Grenze der Entzifferbarkeit zeige, wie in der ‘Unlesbarkeit’ die eigentliche Mission der Schrift bestehe, nämlich “graphische Dunkelheit” und “Kryptographie” zu sein (ebd.: 23). 7 Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 285 den neuen Bedeutungen fortlebe” und in Zusammenhang mit Ferdinand de Saussures’ “Wörtern unter Wörtern” gebracht werden könne (Ette 1998: 72). Barthes stellt sich selbst in Über mich selbst (1975) als Kryptograph dar, der Wörter unter den Wörtern anruft, ihre Bedeutung immer wieder verschiebt und damit die Unabschließbarkeit des semiotischen Prozesses betont: “er [der Semiologe; CJR] ruft Begriffe an und wiederholt sie unter einem Namen; er bedient sich dieses Namens wie eines Emblems (und praktiziert so eine Art philosophische Ideographie), und dieses Emblem entbindet ihn davon, das System vertiefen zu müssen, dessen Signifikant es ist (ein Signifikant, der ihm einfach nur ein Zeichen gibt)” (Barthes 2010 b: 85). 8 Wie Barthes in einer seiner späteren Vorlesungen am Collège de France ausführt, bedeutet ‘Beschreiben’ das “Ent-flechten” und “Auszupfen” von Nuancen; die Arbeit der Semiologie ist somit “das Hören und Sehen” von Nuancen (Barthes 2005: 40). In der ‘Be-Schreibung’ geht es also nicht mehr um die Transposition der Codes und ihrer Systeme - was am Anfang in den Mythologies der Ausgangspunkt war (cf. Barthes 2013 a) -, vielmehr sind das ‘Gleiten’ und die ‘zergliedernde Geste’ die semiologischen Leitbegriffe der späteren Texte Barthes’. 9 In den Variations sur l’écriture wird auch auf das Alphabet von Erté sowie auf die figurativen Buchstaben des Barock verwiesen (cf. Barthes 2006: 83). Die ‘Grenze der Entzifferbarkeit’ wird an der in zahlreiche “Graphik-Register” differenzierten “Keilschrift-Ideographie” exemplifiziert (ebd.: 23). So sind es auch die alten Schriftformen oder die Pseudoschriften in Kunstwerken (u.a. von Cy Twombly), die Barthes faszinieren. Denn bei ‘Kryptographien’ lässt sich die phonetische Zuordnung zu den Begriffen nicht herstellen, weil das Wissen über die (rituelle) Praxis und Verwendungsweise fehlt. Das, was dabei dennoch ins Auge sticht, ist der ‘Duktus’ der grafischen Gestalt (cf. ebd.: 153) sowie die Bildlichkeit. So übernimmt in Piktogrammen der Dakota das Bild die Erzählfunktion und “alles ist gleichzeitig Zeichnung und Satz-Phrase” (ebd.: 93). In den Piktogrammen treffen zwei Syntagmen aufeinander: das lineare Syntagma der Erzählung und das ausstrahlende Syntagma des Bildes (cf. ebd.: 95). Auf der grafischen Ebene verbinden sich die beiden Zeichensysteme des Ikonischen und des Diskursiven. Indem Barthes zwischen kommunikativ-funktionalen und rituell-ästhetischen Eigenschaften von Schriften unterscheidet, beginnt er, eine material-ästhetische Seite der Schrift ins Auge zu fassen. Entlang der Beschreibung der Schreibwerkzeuge nimmt er in Variations sur l’écriture eine ‘Umschrift der Schriftgeschichte’ vor und zeigt auf, wie nicht nur die kommunikativ-funktionale, sondern auch die technologische sowie aisthetische Seite der Schrift für sie prägend ist. Indem Barthes die Schrift ‘material-historisch’ denkt, sieht er sie der “Mutation der Wertesysteme” (ebd.: 49) sowie der technischen Errungenschaften ausgesetzt. So ist nachvollziehbar, dass er eine Schrift des ‘Stichels’ und eine des ‘Pinsels’ unterscheidet (cf. ebd.: 159). Die ‘Pinselschrift’ ist die ideographische Schrift: “eine Schrift der Be- Schreibung, der gesenkten Hand, der verhaltenen, ruhigen Zeichnung” (cf. ebd.: 159). 8 Sie unterscheidet sich von der ‘Ein-Schreibung’ der ‘Stichelschrift’, die im Gegensatz dazu “durchdringt”, ein “Geheimnis lüften will” und auf Singularität besteht (ebd.: 159). Damit wird die kulturelle Verschiedenheit zweier Schriften angedeutet. Die “Be-schreibung” entspricht dabei einer Idealität, die den Signifikanten öffnet und dazu bringt, sich zu “entfalten”, “wiederzukehren” und der “Pluralität den Weg zu bahnen” (ebd.: 159). Es geht um die Differenz zwischen einem vorschreibenden Buchstaben und dem emblematischen “barocken Buchstaben”, der sich in seiner Figürlichkeit und kunstvollen Darstellung präsentiert (Barthes 2013 e: 122). 9 Die japanische Schreibwarenhandlung ist in L’empire des signes - einem Ende der 1960er-Jahre verfassten und 1970 erschienen ‘Reisebericht’ über Japan - der Ort, an dem “die Hand mit dem Instrument und dem Material des Schriftzuges” zusammentrifft, nämlich da, wo die “ideographische Schrift” und ihre Instrumente über eine “nicht rückgängig zu machende fragile Schrift”, die eng an die Malerei gebunden ist, (metaphorisch) ‘Handel Carol Jana Ribi 286 10 Zur Definition des Begriffes ‘Ikonotext’ in Bezug auf Barthes‘ Texte cf. Ette 1998: 102ff. Abb. 1: Yokoi Yayû (1702-1783): Die Pilzjagd (Kinoko-gari), Japan, Edo-Zeit, Mitte 18. Jahrhundert, Tusche auf Papier, 31,1 x 49,1 cm, Zürich: Museum Rietberg. Reproduktion: Zürcher Hochschule der Künste, Archiv ZHdK führen’ (Barthes 1981: 116f.). Das Ideogramm, gekoppelt an seine Schreibmittel wie Papier, Pinsel und Faltbuch, verweist demnach nicht nur auf das technisch-kulturelle Wissen, sondern auch auf die (aus)führende Hand und ihre malerisch-ästhetischen Gesten. 2 “Die anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt“ Im als Ikono-Text 10 angelegten L’empire des signes findet sich eine Reproduktion der japanischen Tuschzeichnung Kinoko-Gari von Yoko Yayû, einem japanischen Samurai des 18. Jahrhunderts (Abb. 1). Yokoi Yayû war ein gebildeter yûhai, ein in vielerlei Künsten dilettierender Dichter, ohne Schüler eines berühmten Meisters zu sein (cf. May 2006: 11). Heute ist er als “Verfasser der leicht humorvollen haikai-Prosa (haibun) und als virtuoser Zeichner und Maler im Geist des Haiku (haiga)” bekannt (ebd.: 12; Hervorh. im Original). Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 287 11 Die Ausstellung fand unter dem Titel “Japanische Tuschmalerei: Naga und Haiga aus der Sammlung Heinz Brasch” vom 8. Juli bis 12. August 1962 im Kunstgewerbemuseum Zürich statt. Begleitend kam ein Werkkatalog unter gleichem Titel heraus. 12 Die Übersetzung aus dem Japanischen im Katalog lautet: “Beim Pilzesammeln / Wirkt habsüchtig selbst der Blick, / Der nach unten geht.” (Altherr 1962: 10) Roland Barthes vermerkte in einer Notiz zur Reproduktion, die im Anhang zu L’empire des signes enthalten ist: Quand ils cherchent des champignons, les Japonais prennent avec eux une tige de fougère ou, comme sur cette peinture, un brin de paille sur lequel ils enfilent des champignons. Peinture haïga, toujours liée au haïku, poème bref en trois vers: Il se fait cupide aussi, le regard baissé sur les champignons. (Barthes 1980: 148) Wie Barthes zur Übersetzung und Erläuterung des Haiku kam, ist nicht nachgewiesen. Klar ist jedoch, dass der erste Satz seiner Erläuterung, die den japanischen Kontext der Champignonsuche erhellt, nicht von Barthes selbst stammt. Dem Wortlaut nach zu schließen, entspricht die hier angeführte französische Textstelle einem Bild-Kommentar im Werkkatalog des Privatsammlers Heinz Brasch, in dessen Besitz sich das Original der Tuschzeichung in den 1960er-Jahren befand. Die Bestände der Sammlung wurden 1962 im Rahmen einer Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich gezeigt. 11 Der Werkkatalog wurde vom Kunstgewerbemuseum zur Ausstellung herausgegeben. Heute ist die Zeichnung in der Sammlung des Museums Rietberg Zürich zu finden (Louis 1998: 187). Weiter ist interessant, dass die Übersetzung des Haiku von derjenigen im Katalog abweicht. 12 Dies könnte darauf hinweisen, dass Barthes sich die Kalligraphie übersetzen ließ oder die drei kurzen Zeilen nach der Transkription im Werkkatalog selbst entschlüsselte. Der japanische Text des Haiku lautet in der Transkription: Ue o minu Me nimo yoku ari Kinoko-gari (Altherr 1962: 10) Ohne auf die sprachliche Qualität von Barthes’ Übersetzung (siehe oben) eingehen zu können, zeigt der oberflächliche Vergleich der Wortgestalt, wie im Japanischen mit phonetischem Gleichklang von Worten mit unterschiedlicher Bedeutung gearbeitet und wie ein strenger Rhythmus - kurze Zeile, lange Zeile und kurze Zeile - verwendet werden, was typische Merkmale für die Haiku-Dichtung bis heute sind. Die Sprache, die eine Szene, ein Gefühl und eine Blickrichtung zum Ausdruck bringt, wirkt sehr schlicht, beinahe lakonisch. Der Sinn hingegen scheint vielschichtig und komplex zu sein, und bedürfte eines Japanologen, um entschlüsselt zu werden. Barthes’ Auslegungen des Haiku folgen auch gänzlich einer anderen Richtung und würden kaum einen Kenner der japanischen Dichtung zufriedenstellen. Das Haiku dient Barthes als Folie für seine Utopie der ‘entsemantisierten Schrift’ und wird in “Le troisième sens” - einem zeitgleich zu L’empire des signes erschienenen Text in Cahiers du cinéma - als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” beschrieben Carol Jana Ribi 288 13 Als ‘anaphorisch’ bezeichnet man allgemein einen Ausdruck, der sich auf etwas rückbezieht oder auf etwas zurück zeigt. Dabei kann es sich um eine Wortwiederholung handeln, die als rhetorisches Stilmittel eingesetzt wird (Anapher), oder um deiktische Ausdrücke in der Alltagssprache (z.B. Pronomen oder Adverbien). 14 Die lateinische Eigenschaft obtusus - ‘stumpf’ - gewinnt Barthes aus der etymologischen Ableitung des Gegenstücks zu obvius, das den ‘scharfen’, ‘entgegenkommenden’ und symbolischen, informellen Sinn bezeichnet (Barthes 2013 d: 50). 15 In “Rhétorique de l’image” arbeitet Barthes das ‘rein Bildliche’ als ‘Rest’ heraus, der entsteht, wenn man vom Signifikanten und Signifikaten jegliche kommunikative Bedeutung abzieht (cf. Barthes 2013 c). Es bleiben einerseits die Materie und anderseits eine Virtualität des Sinns, die als Rest ein Oszillieren zwischen Materie und Virtualität produzieren. Der ‘stumpfe Sinn’ wird bei Barthes als ‘Signifikant ohne Signifikat’ beschrieben, gleicht somit in der Systematik dem Rest und stellt - so meine These - einen neuen Versuch dar, diesen Rest theoretisch zu erfassen. 16 Interessant ist zu erwähnen, dass Barthes bereits in seinen Ausführungen zu Bertolt Brechts Theater in den 1950er-Jahren Details und Nuancen von Gesten, Kleidern und Gegenständen beschreibt. Anhand Roger Pics’ Fotografien zur Aufführung von Mutter Courage, die Barthes 1957 zum ersten Mal als Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris gesehen hatte, führt er minuziös in die räumliche Beschaffenheit der Aufführung ein. Die Fotografien stellen für ihn dabei “Atome der Aufführung” und ein “imaginäres Museum von Mutter Courage” dar (Barthes 2001: 230); sie “belichten” und machen “sichtbar und erkennbar”, was im Raum der leeren Bühne an sparsam eingesetzten Gegenständen angeordnet war. Indem Barthes die Bilder von innen her beschreibt, entsteht eine zum flachen, zweidimensionalen Medium der Fotografie paradoxe Bewegung der Beschreibung von räumlichen Gegenständen - das sogenannte “Reich des Tuches” mit den Materialien armer Leute: derbe (Barthes 2013 b: 61). 13 In Barthes’ Erweiterung der Anapher durch den Zusatz “ohne bezeichnenden Inhalt” wird das rhetorische Stilmittel umgedeutet zu einer leeren Geste, die keiner sprachlichen oder kulturellen Bedeutung mehr zugeordnet werden soll. Sie gleicht nun mehr einer “Betonung”, “Falte” oder “Maske”. 3 “Der stumpfe Sinn” - ein neuer Signifikant In “Le troisième sens” tritt Barthes gegen einen ‘offensichtlichen Sinn’ (‘le sens obvie’) an, um ihm einen ‘stumpfen Sinn’ (‘le sens obtus’) entgegenzustellen. 14 Es ist die Fortsetzung einer Suche nach einem semiologischen Terminus, das ‘rein Bildliche’ zu beschreiben. 15 Am Beispiel der Filmstills - oder auch “Fotogramme”, wie sie Barthes nennt - aus Eisensteins Potemkin und Iwan der Schreckliche führt Barthes in einen sogenannten neuen ‘Signifikanten ohne Signifikat’ ein, der im ‘buchstäblichen Widerspruch’ zu gängigen symbolisch-informellen Bedeutungen steht. So führt er an einer Stelle diesen neuen Signifikanten ein: Der stumpfe Sinn hängt also mit der Verkleidung zusammen. Man betrachte den Spitzbart Iwans […]: Er sieht unecht aus und hält dennoch an der ‘Glaubwürdigkeit’ seines Referenten (der historischen Figur des Zaren) fest: Ein Schauspieler, der sich zweimal verkleidet (einmal als Schauspieler einer Geschichte, einmal als Schauspieler der Dramaturgie), ohne daß eine Verkleidung die andere aufhöbe; eine Schichtung von Sinn […]; das Gegenteil sagen, ohne auf das Widersprochene zu verzichten: Brecht hätte diese (zweigliedrige) dramatische Dialektik gemocht. (Barthes 2013 d: 54) Die Ausdrucksebene wird von der Inhaltsebene der Kleidung, der Masken und Gegenstände getrennt. Damit spaltet Barthes die dramaturgische Ebene von der dargestellten Geschichte ab. Dem Brecht’schen Verfremdungseffekt ähnlich wird die diegetische Ebene durch verzerrte und auffällige Materialität der Ausstattung unterwandert und durchbrochen (cf. Barthes 2013 d: 62). 16 So entwickelt Barthes entlang der Beschreibung dieser auffälligen Details den Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 289 Stoffe, Filz, Matten, Stricke, Säcke, Wäsche und Holz (ebd.: 236). Die materiellen Dinge sind Zitate oder Gesten, die den “Zusammenhang, den Vorgang der Verstrickung” unterbrechen, “um zu verblüffen und zu verfremden” (ebd.: 243). Die Gegenstände entziehen sich der attributiven Symbolebene, indem sie den durch die Armut und die Zeit bedingten “Verschleiß” betonen (ebd.: 238), der mit der theatralen Handlung verwoben ist. Der sense obtus scheint in der Beschreibung der Effekte und Wirkungen der Theaterausstattung bereits vorweggenommen. 17 “Der dritte Sinn, den man theoretisch situieren, aber nicht beschreiben kann, erscheint somit als Übergang von der Sprache zur Signifikanz” (Barthes 2013 d: 63; Hervorh. im Original). ‘Signifikanz’ ist im Sinne der ‘Signifianz’, dem ‘radikal offenen Bedeutungsprozess’, der eng mit der ‘jouissance’ als ‘unabschließbarem sinnlichen Erleben’ verbunden ist, zu verstehen (cf. Barthes 2010 a: 470). sogenannten ‘dritten und stumpfen Sinn’, der negativ bestimmt wird als weder semiotisches, noch symbolisches Zeichen (cf. ebd.: 60) und als der Objekt- und Metasprache entgegengesetzt. Er besitzt keine strukturale Eigenschaft und ist dennoch im Bild zu sehen; er ist nicht als ‘Rest’ oder ‘Überschuss’ einzuholen, erscheint selbständig als Drittes, steht der Bedeutungsebene entgegen, ‘durchfurcht’ und ‘unterbricht’ sie wie ein japanisches Haiku den herkömmlichen Sinn. Ohne ihn lässt sich problemlos kommunizieren (cf. ebd.: 58) und über ihn kann man sich “beiläufig oder ‘auf dem Rücken’ der gegliederten Sprache” verständigen “dank dessen, was im Bild nichts als Bild (und im Grunde sehr wenig) ist” (ebd.: 60). Das wenige Positive, was sich über den ‘stumpfen Sinn’ sagen lässt, ist, dass er einer “Betonung”, einem “Akzent” oder einer “Falte” gleicht, die auf dem “schweren Tuch der Informationen und Bedeutungen” erscheint (ebd.: 61). Seine auditive Dimension wird im Zusammenhang mit Eisensteins filmtheoretischen Überlegungen zur audiovisuellen Montage des Films hervorgehoben, das Hören enthält die Metapher, “die dem ‘Textuellen’ am besten entspricht: Orchestrierung (ein Wort von S.M.E.), Kontrapunkt, Stereophonie” (ebd.: 48). Auch sein Vergleich mit Ferdinand de Saussures’ Anagrammen spiegelt die auditive Dimension des ‘dritten Sinns’: Wenn er [der stumpfe Sinn; CJR] für mich offensichtlich ist, so vielleicht noch (vorläufig) aufgrund der gleichen ‘Verblendung’, die allein den unglücklichen Saussure zwang, aus dem archaischen Vers eine rätselhafte, ursprungslose und beschwörende Stimme herauszuhören, die des Anagramms. (Barthes 2013 d: 59f.; Hervorh. im Original) Was hier ironisch klingt, ist durchaus ernst zu nehmen: Die ‘Verblendung’, die angeblich Saussure ‘zwang’, eine ‘Stimme’ bei den ‘Wörtern unter Wörtern’ festzustellen, lässt sich als ‘Verfremdungseffekt’ oder ein ‘Moment des Staunens’ lesen, der das ‘Lesen’ und ‘Rezipieren’ zu einem Sehen und ‘Hören von Mehrdeutigkeit’ - ganz im Sinne Michail Bachtins Mehrstimmigkeit von Texten - macht (cf. ebd.: 48). So ist die ‘Verfremdung’ - wie sie Barthes in den Gegenständen in Brechts Theater oder Eisensteins Filmstills sieht - sowohl eine Verschiebung der Wirkungen, die in eine Mehrdeutigkeit der Lektüre im Sinne der Signifianz 17 führt, als auch ein paradoxales Entgleiten von Sinn zugunsten des Hervortretens von Materialität. In den Werken beider Avantgarde-Künstler - Brecht und Eisenstein - wurden diese Effekte intensiv genutzt. Damit oszilliert der ‘stumpfe Sinn’ als Terminus zwischen der Beschreibung von material-performativen und perzeptiv-ästhetischen Momenten in der Kunst. Carol Jana Ribi 290 18 Dieter Mersch arbeitet die aisthetische Dimension von Barthes’ theoretischen Bemühungen heraus und deutet die Begriffe des “stumpfen Sinns” und des “punctum” als Barthes’ Versuche, das “Ereignis als Setzung” und ein “Sichzeigen” zu erfassen (Mersch 2002: 194ff.). Wobei durchaus ein Unterschied in der Konzeption der beiden Begriffe bei Barthes besteht: Das ‘punctum’ ist im Gegensatz zum ‘stumpfen Sinn’ an die Subjektivität und Körperlichkeit des Betrachters gebunden und gehört bereits der Semiologie der “signifiance” und “jouissance” an, die Barthes in den 1970er-Jahren entwickelt (Ette 1998: 461). Mit anderen Worten: Das ‘punctum’ nimmt die Begriffsbildung des ‘stumpfen Sinns’ auf und verschiebt sie in eine neue Richtung (ebd.: 462). 19 Die entsprechende Stelle in “Le troisième sens” lautet: “Schließlich kann der stumpfe Sinn als eine Betonung angesehen werden, als die eigentliche Form eines Auftauchens, einer Falte (ja sogar einer Knitterfalte), die sich auf dem schweren Tuch der Informationen und Bedeutungen abzeichnet. Ließe er sich beschreiben (ein begrifflicher Widerspruch), so hätte er das Wesen des japanischen Haiku: einer anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt, einer Schramme quer durch den Sinn (die Lust auf Sinn)” (Barthes 2013 d: 61; Hervorh. im Original). 4 “Ein Augenblick, der buchstäblich unfassbar ist” Die ‘Kunst des Haiku’, wie sie Barthes versteht, ist anti-deskriptiv und wendet sich gegen die Beschreibung von Eindrücken (cf. Barthes 1981: 105). Barthes’ Lektüre folgt der Vorstellung zen-buddhistischer Erleuchtungspraxis, die eine “Verhinderung des Sinns” anvisiert (ebd.: 100). Die Faszination der Sinnleere oder der angehaltenen Sprache führt Barthes dazu, die klassische japanische Dichtung im Geist des Zen auszulegen. Das Haiku besitzt eine ästhetisch vielfältige literarische Tradition, die nicht nur auf spirituell-philosophische Zusammenhänge zurückgeführt werden kann. Barthes’ Interpretation folgt einer esoterischen und eher westlichen Lektüre des Haiku. Sie ist durch die theoretischen Zusammenhänge, die Barthes für seine Semiologie aufzeigt, dennoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen. So arbeitet er am Haiku die Grenze des Sagbaren sowie das Moment des ‘Sichzeigens’ heraus. 18 Auch ist die Nähe zu anderen eigenen Texten und Themen evident. Gerade im Zusammenhang mit dem ‘stumpfen Sinn’ erschließen sich Gemeinsamkeiten sowie Erweiterungen der Begrifflichkeiten. Der ‘stumpfe Sinn’ und das Haiku haben Eigenschaften gemeinsam, sie sind ‘Zitate’ oder Fragmente, die an eine “fragile Essenz der Erscheinung” und einen Augenblick, der “buchstäblich nicht fassbar ist”, gebunden sind (ebd.: 105). Und sie werden beide als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” beschrieben. 19 In der Formel der ‘anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt’ bezieht sich ‘ohne bezeichnenden Inhalt’ auf einen Zustand der ‘angehaltenen Sprache’ (cf. ebd.: 102). Wenn der ‘Drang’ nach Klassifizierung und Semantisierung unterbrochen wird oder ins ‘Leere’ läuft und es nichts mehr gibt, das etwas aussagen könnte, dann tritt der ideale Zustand einer ‘flachen Sprache’ ein, in der es keine übereinander gelagerten Sinnschichten mehr gibt (cf. ebd.: 101ff.). Diesem idealen Zustand (des Zen) entspricht das Haiku in seiner Struktur insofern, als es nur aus kurzen Zeilen und keinen vollständigen Sätzen besteht, auf Konjunktionen verzichtet und den Zusammenhang der Zeilen offen lässt. In diesem Sinne fällt jeweils die folgende Zeile der vorhergehenden ins Wort (oder ins Bild), um die metaphorischen Erweiterungen zu unterbrechen. Darin ist das Haiku der modernen französischen Dichtung eines Stéphane Mallarmé sehr ähnlich, zum Beispiel in seinem berühmten Buch Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897). Barthes verweist im Übrigen auch mehrere Male auf den Dichter (cf. ebd.: 125, 138). Auf der Ebene des Gedichttextes kann jedoch keine vollständige Auflösung des Sinns geschehen, denn die einzelnen Worte bleiben les- und interpretierbar; es sind Zeichen mit, wenn auch uneindeutiger Referenz. Das Paradoxon, welches sich für Barthes daraus ergibt, Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 291 ist, dass die ‘Sinnleere’ in einer lesbaren Sprache geschieht. Das heißt, die Haiku-Dichtung kann die Sprache nicht verlassen. Was sie jedoch kann, ist, sich der deskriptiven und definitorischen Sprache entledigen, die in einer ‘ausschweifenden’ und ‘sinnüberfüllten’ westlichen Literatur vertreten sei (cf. ebd.: 114). Es gibt also so etwas wie einen ‘Sinn ohne Sinn’ oder auch eine ‘sinnschwangere Abwesenheit des Sinns’. Ganz abgesehen von der Spitze gegen die westliche Kultur, die immer alles erklären und ausführen muss, ist festzustellen, wie in Barthes’ Beschreibung der Modus des Zeigens an die Stelle des Sagens tritt: Das Haiku “schrumpft zur reinen und bloßen Designation. Es ist dies, es ist so, sagt der Haiku, es ist solches. Oder besser: Solches! ” (ebd.: 114; Hervorh. im Original). In der deiktischen oder anaphorischen Geste des Zeigens wird der Sinn zu einem Blitz, einem kurzen Moment von Klarheit, um sogleich wieder spurlos zu erlöschen (cf. ebd.: 115). So geht die Kunst des Haiku - besser die Kunst seiner Rezeption - in einem augenblicklichen ‘Sichzeigen’ auf. Die anaphorische Geste des Sichzeigens führt zu einer Ekstatik, einer ‘Schau ohne Kommentar’, was der Sprache vorgängig und an die Präsenz der Materialität sowie die Setzung und Verkörperung von Zeichen in Kunstwerken gebunden ist (cf. Mersch 2002: 194f.). Indem Materialität und Performanz in der Beschreibung des Haiku in den Vordergrund rücken, fällt auf, wie auf der Textebene die visuelle Dimension der kalligraphischen Zeichnung bisher unerwähnt blieb. Barthes hatte früh in seinem Ikono-Text die Tuschzeichnung von Yokoi Yayû eingefügt, ohne jedoch näher auf sie einzugehen (cf. Barthes 1981: 35). Nur eine lapidar hingeworfene, handschriftliche Notiz ziert den Bildrand der Reproduktion und stellt die Frage: “Où commence l’écriture? Où commence la peinture? ” (ebd.: 35). In L’empire des signes wird auf diese Frage nur implizit eingegangen - auf jeden Fall wird sie nicht im Sinne des sechs Jahre früher verfassten Aufsatzes “Rhétorique de l’image” verhandelt - nicht mehr die “Ontologie der Bedeutung” des Bildes (Barthes 2013 c: 28), vielmehr das Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild stehen im Fokus. Dieses Spannungsverhältnis nennt Barthes in der Präambel zum Text ein “visuelles Schwanken”: Der Text ist kein ‘Kommentar’ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ‚Illustrationen’ zum Text. Beide dienten mir lediglich als Ausgangspunkt für eine Art visuelles Schwanken - ähnlich vielleicht jenem Sinnverlust, den der Zen als Satori bezeichnet. Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Austausch der Signifikanten: Körper, Gesicht, Schrift, ermöglichen und darin das Zurücktreten der Zeichen lesen. (Barthes 1981: 11) Der Ausgangspunkt für eine noch nicht näher definierte ‘Zirkulation’ zwischen Körper, Gesicht und Schrift, ist also zunächst ein “visuelles Schwanken” zwischen Bild und Text, das an der Kalligraphie exemplifiziert wird, die die Schrift der Malerei annähert. Schrift und Zeichnung werden in ihr als komplementär angesehen, das heißt auch als gleichwertig behandelt. Die Differenz zwischen den beiden Registern wird dadurch nicht aufgehoben, aber das Buch verbindet beide in einer malerischen Geste und verschiebt dadurch die Wahrnehmung: Das Zeichen wird auf der Ebene des Sehens verstanden und von der Lautlichkeit entkoppelt. In der Geste der Malerei wird die Schrift ihrem ursprünglichen Zweck der Kommunikation entfremdet. Indem die ‘Herrschaft des Codes’ und die ‘semantische Operation’ (die Interpretationskette) durch das Bild gestört werden, wird die Sprache ‘zum Verstummen’ gebracht. Was dabei umso mehr hervortritt, ist die an-ordnende und ein-teilende Geste der Kalligraphie, die sie mit der Schrift teilt. Damit wird nicht mehr die sprachliche Funktion der Schrift, sondern ihre performativ-graphische Geste des auf sich selbst bezogenen stummen Zeigens im Medium der Zeichnung beschrieben (cf. ebd.: 115). Carol Jana Ribi 292 20 Das vollständige Zitat, das Barthes einführt, lautet: “Die Schrift also, die taub ist für die Schreibfläche, weil sie auf einem Zurücktreten und einer unsichtbaren Verschiebung beruht (nicht von Angesicht zu Angesicht; sie regt nicht so sehr den Blick an als die Linienführung), einer Verschiebung, die den Träger in Bahnen einteilt, als wolle sie an die mehrfache Leere gemahnen, in der sie zustande kommt - die Schrift ist lediglich als Oberfläche abgehoben, hat sich zur Oberfläche verwoben, sie ist Abgesandte des Grundes, der nicht Grund hin zur Oberfläche, sondern eine Faser, die von unten her in die Vertikale ihres Drüber geschrieben ist (der Pinsel wird senkrecht gehalten) - das Ideogramm geht so wieder in die Spalte - Röhre oder Leiter - ein und lagert sich dort stufenförmig ab wie eine komplexe Schranke, die der Einsilber im Bereich der Stimme schafft: Diese Spalte kann man als ‘leere Manschette’ bezeichnen, in der zunächst ein ‘ein einzelner Zug’ erscheint, der Atem, der durch den gebogenen Arm geht, die perfekte Operation, bevor sie die der ‘verdeckten Spitze’ oder des ‘Fehlens von Spur’ wird.” (Barthes 1981: 79) 21 Barthes lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es sich bei den drei Gebärden auch um verschiedene Schreibweisen respektive Schriften des Bunraku handelt: “Der [sic] Bunraku praktiziert also drei gesonderte Schriften, die er gleichzeitig an drei Orten des Schauspiels zu lesen gibt: die Marionette, den Spieler und den Sprecher: die ausgeführte Gebärde, die ausführende Gebärde und die stimmliche Gebärde.” (Barthes 1981: 70) Diese Analogie zur Schrift wird von Barthes in Bezug auf die systematische Unterscheidung der Bewegungsweisen respektive der stillgestellten Bewegung (Spur) vorgenommen; der Vergleich wird nicht entlang der Systeme selbst angestellt. Die Unterscheidung zwischen ‘Systematisch’ und ‘System’ ist für Barthes’ Semiologie grundlegend (Ette 1998: 460). Wie im Textfragment von Philippe Sollers 20 - das Barthes in die Mitte des Buches und inmitten seiner Auseinandersetzung mit den Gesten des Bunraku setzt - lässt sich von der kalligraphischen Schrift sagen, dass sie ihren ‘Träger’ in ‘Bahnen’ teilt, als wolle sie an die mehrfache ‘Leere’ (der weißen Fläche) erinnern, in der sie zustande gekommen ist; sie stellt sich dadurch selbst aus, verweist auf ihre Beschaffenheit als Papier, Tusche und graphische Spur und lässt eine ihr vorgängige Operation erahnen, die sich zwischen Körper, Gesicht und Schrift ereignet (cf. ebd.: 79). In der “Zirkulation” zwischen “Körper, Gesicht, Schrift” (ebd.: 11) sind ‘Operationen’ respektive Produktionsweisen sowie Werkzeuge am Werk, die es für Barthes zu beschreiben gilt. Exemplarisch für dieses ‘Zirkulations-Verhältnis’ wurde neben das Zitat von Sollers eine Fotografie eingefügt; sie zeigt eine Hand, die einen Pinsel hält und gerade im Begriff ist, einen ‘Zug’ auszuführen. Sie hält ihr Werkzeug senkrecht zum Papier, nur die Spitze des Pinsels ist durch den leichten Druck der Hand gebogen. Die Fotografie zeigt im Grunde eine stillgestellte Geste des kalligraphischen Schreibens. Sie verweist auf die Gradation von Gesten, die die Züge einer Kalligraphie erst entstehen lassen. Und diese dem Produkt vorgängige Geste ist es, die Barthes interessiert, denn sie lagert sich in der Zeichnung ab. Die Operation des Malens selbst ist jedoch nicht mehr einholbar und bleibt als solche ohne Spur. Es sind vielmehr die Züge, der Duktus der kalligraphischen Zeichen, die zu Spuren einer Geste werden. So ist das Haiku bei Barthes auch eine Metapher für einen “diskontinuierlichen Zug” und ein “Ereignis” (ebd.: 114), das diesen Zug beinhaltet. 5 Die drei Gesten Wie bereits erwähnt, ist Sollers’ Text inmitten der Beschreibung des japanischen Puppentheaters Bunraku eingefügt. Und dies scheint nicht zufällig so zu sein. Denn das vorhergehende Kapitel “Die drei Schriften” führt am Beispiel des Puppenspiels eine Unterscheidung von drei Gestentypen ein. Es sind dies die “ausgeführte”, die “ausführende” und die “stimmliche” Geste (ebd.: 67). 21 Diese Unterteilung entspricht der Aufführungspraxis, dass drei Spieler eine Puppe führen und ein vierter die Geschichte rezitiert. Was Barthes an der Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 293 Spielweise des Bunraku interessierte, ist die funktionale Auftrennung der Gesten in Puppenbewegung, Puppenführung und Stimme des Erzählers: Barthes unterscheidet die transitive Handlung der Puppenspieler, die codierte Geste der Figuren sowie die rhythmisierte Stimme des Vorlesers. Die Puppen-Spieler werden von keiner Kulisse verdeckt - im Gegensatz zum traditionellen europäischen Puppentheater. Der Bühnenraum ist offen und die Gesten sind allesamt sichtbar. Die Bedienung der Puppen ist hierarchisch aufgeteilt: Der Meister hält den Kopf und Rumpf sowie die rechte Hand der Puppe. Seine Gehilfen, die im Gegensatz zum Meister durch schwarze Ganzkörper-Masken verhüllt sind, teilen sich die linke Hand sowie die Beinpartie auf (cf. ebd.: 67). Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass alle drei Spieler in einer möglichst natürlich wirkenden, fließenden Bewegungsabfolge die einzelnen Gliedmaßen bedienen. Barthes’ Faszination ist die sichtbare Präsenz der Körperhandlungen der Puppenspieler, die eben nicht aus dem Hintergrund als unsichtbare magische Hand operieren; auch trägt im Unterschied zum Schauspieler-Theater die Puppe eine Verfremdung ins Spiel hinein: Nicht die Identifizierung mit den Puppen, sondern eine gestisch-stilisierte Darstellung wird verfolgt: “Die Emotion ist nicht länger Überschwemmung, sie wird Lektüre; die Stereotype verschwinden” (ebd.: 74). Es geht Barthes darum, am Bunraku die Diskontinuität der codierten Hand-Gesten nachzuvollziehen, um zu zeigen, wie sie in ihrer Aufführung codiert bleiben und vom Rezipienten ‘gelesen’ oder erkannt werden (cf. ebd.: 74). Wieder ließe sich Barthes’ Interpretationsweise kritisieren, indem man darauf verweist, dass das traditionelle Bunraku durchaus ein Pathos der Emotionen kennt und sehr wohl eine Identifikation hervorrufen will, sowie darauf, dass auch in Europa Figurentheater mit sichtbarem Ganzkörpereinsatz gespielt wurde und wird. Im Kontext der Überschrift “Die drei Schriften” ist jedoch von eine metaphorischen Auffassung auszugehen, in dem Sinne, dass die systematische Dreiteilung der Gesten Barthes’ Unterscheidung von Skriptur, Schreibung und Lektüre entspricht. 6 ‘In die Situation der ideographischen Schrift versetzt’ Wie lassen sich aber Gesten des (Puppen)Spiels mit denjenigen der Schrift verbinden? Und was hat dies mit der Kalligraphie, dem Haiku und dem Ideogramm zu tun? Im ersten Kapitel von L’empire des signes schreibt Barthes, dass der ‘Autor’ sich von “Japan” - einem durch seine Lektüre entstandenen imaginären Ort - in die “Situation der Schrift” versetzt sieht (ebd.: 14). Auf der gegenüberliegenden Seite zu dieser Aussage ist eine Kalligraphie des Schriftzeichens Mu abgebildet. So ist die ‘Situation’, in welche sich der Erzähler versetzt fühlt, diejenige der kalligraphischen Ideogramm-Schrift, die schwer zugänglich und kryptographisch wirkt - sei es, weil der ‘Autor’ der Sprache nicht mächtig ist oder sei es, weil die Zeichen so alt sind, dass ihre Bedeutung vergessen wurde. Durch diesen ikono-textuellen Zusammenhang gewinnt der folgende Satz eine neue Bedeutung: Ich kann auch ohne jeden Anspruch eine Realität darzustellen oder zu analysieren (gerade dies tut der westliche Diskurs mit Vorliebe), irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug) aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. (Barthes 1981: 13) Das ‘System’, das ‘gebildet’ wird, ist ein ‘ideographischer Raum’, der an das Gesicht, den Körper und eine ideographische Schrift gebunden und von ihnen begrenzt wird. Das, was sich in diesem Zwischenraum ereignet, bekommt die Systematik einer Schrift, auch wenn es um Carol Jana Ribi 294 das Essen oder Kochen, den Austausch von Geschenken oder Grüßen geht. Die den unterschiedlichen Zeichensystemen gemeinsame Systematik wird entlang der Gesten von codierten Handlungen festgelegt. Neben der kalligraphischen Schrift, die ein zentrales Beispiel ist, werden auch verschiedene andere Bewegungs- und Handlungsweisen wie das Kugelspiel “Patchinko” oder die Zubereitung des Ragouts “Sukiyaki” beschrieben. Das “Reich der Zeichen” lässt sich somit als ein ‘Reich der Gesten’ lesen, das “ausgedehnt und um so vieles weiter als die Sprache ist” (ebd.: 23). “Der Austausch der Zeichen” besitzt “trotz der Undurchsichtigkeit der Sprache und zuweilen gar wegen ihr einen faszinierenden Reichtum, eine bestrickende Beweglichkeit und Subtilität” (ebd.). Grund für diese Beweglichkeit ist eine den Zeichen zugrunde liegende Körperlichkeit, die in die körperliche “Beherrschung der Codes” und Gesten übergeht. In L’empire des signes sind die Gesten codierte Körperhandlungen, wie am Beispiel des Bunraku gezeigt wurde; sie unterteilen sich in die drei Stadien der Produktion, des Produktes und der Rezeption. Indem sie einteilen und Dinge andeuten, verbinden sie das, was im Raum auseinandergeht, sie sind wie die Schrift “genau jener Akt, welcher in derselben Arbeit vereint, was sich im ebenen Darstellungsraum allein nicht zusammenbringen ließe” (ebd.: 27). So verbinden Gesten der kalligraphischen Malerei die Materialität mit dem performativen Ereignis und der Aisthetik des graphischen Zuges, bringen diesen zum Stillstand, wandeln sich von einer Operation des Ziehens zur ausgeführten Geste (Spur) in der Zeichnung, die sich präsentiert, um eine audiovisuelle Vielzahl an Interpretationen und Lektüren hervorzurufen. 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