eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
373-4

"Une sorte de remontée vers le corps"

2014
Katja Schwerzmann
“Une sorte de remontée vers le corps” Skizze einer Ästhetik der körperlichen Responsivität im Ausgang von Roland Barthes’ Überlegungen zur Pseudo-Schrift Katia Schwerzmann (Berlin/ Lausanne) The sensory dimension of writing, which is never fully neutralised in the process of semiosis, remains aporetic in Derrida’s philosophy. I show how Barthes’ observations on pseudo-writing lead to his understanding of writing as a gesture, opening up post-structuralism to the body as absolutely non-repeatable, as the opposite of semiosis. The examination of Barthes’ account of the relationship between writing and the body leads to an aesthetic of physical responsiveness, which challenges the distinction between work, creator and viewer. In this regard ‘seeing’ can neither be reduced to the infinite decoding of signs nor to an immediate perception, but rather can be understood as the playful contact with signs. Barthes’ notion of writing contributes to overcoming the limits of Derrida’s account of the sensory quality of writing without jeopardizing the philosophical gain of deconstruction. 1 Barthes’ Auseinandersetzung mit dem Logozentrismus […] aus Gründen, die unter eine wahrhaftige Monumentalgeschichte fallen, haben wir Interesse daran zu glauben, zu behaupten, wissenschaftlich zu beweisen, daß die Schrift nur die “Transkription” der artikulierten Sprache ist: das Instrument eines Instruments: eine Kette, in deren Verlauf der Körper verschwindet. (dt. Barthes 1990: 162, frz. 2002 c: 346f.) Wenige Jahre nach Jacques Derridas Grammatologie (1967) formuliert Roland Barthes in mehreren Texten, am präzisesten aber in den Variationen über die Schrift (1973) (dt. Barthes 2006, frz. 2002 c: 267-316), eine eigenständige Kritik des Logozentrismus. Diese Kritik an der “Monumentalgeschichte”, die von Platons Phaidros bis zum Cours de linguistique générale von Saussure reicht, teilt mit derjenigen von Derrida einen gemeinsamen Gegenstand: die jahrhundertelange Vorherrschaft des Paradigmas der gesprochenen Sprache, die mit der Vorstellung einhergeht, dass Schrift als Derivat der Rede im Wesentlichen ein Transkriptions- und Kommunikationsinstrument ist (dt. Barthes 2006: 31, frz. 2002 c: 272). Während Barthes zwar ein ähnliches Vokabular wie Derrida verwendet, führen die ästhetischen Implikationen seines Schriftdenkens und insbesondere seines Umgangs mit der Materialität des Zeichens doch zu ganz eigenen Konsequenzen, so dass seine Position bestimmte Aporien in Derridas Schriftbegriff zu überwinden vermag. Der Logozentrismus, der bei Derrida die metaphysische Vorherrschaft der Präsenz als unmittelbarer Selbstidentität bezeichnet (Derrida 1999: 44), manifestiert sich paradigmatisch in der Aufwertung des gesprochenen Wortes als Selbstpräsenz des Subjekts und im Ver- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Katia Schwerzmann 250 ständnis der Schrift als “Supplements” des gesprochen Wortes. Diese für den metaphysischen Umgang mit der Schrift kennzeichnende Supplementarität und Sekundarität entsteht aus der strukturellen Möglichkeit jedes Schriftzeichens, in Abwesenheit des empirischen Kontexts seiner Produktion und des “semiotischen und internen” Kontexts einer gegebenen Verkettung von Zeichen zu funktionieren (Derrida 2001: 27). Diese “Kraft zum Bruch […] mit der Gesamtheit der Anwesenheiten, die den Moment [der, KS] Einschreibung organisieren” (ebd.), bedroht sowohl das metaphysische Verständnis der reinen Präsenz (bzw. des gesprochenen Wortes als Selbstpräsenz) als auch die Bändigung der Abwesenheit als modifizierter Präsenz. Aus diesem Grund wird die Schrift in der Metaphysik als Derivat der gesprochenen Sprache bestimmt und mit deren ‘voller’ Präsenz in Verbindung gehalten. Derrida führt aber in seiner dekonstruktivistischen Auseinandersetzung mit der Metaphysik aus, dass der Präsenz eigentlich der “generative Mechanismus” (Kogge 2005: 137) der Ur-Spur oder différance zugrunde liegt. Die Ur-Spur ist sowohl Temporalisation im Sinne der in der “Gegenwart eingeschriebenen Nicht-Präsenz des Anderen” als auch Verräumlichung im Sinne einer “Eröffnung der ursprünglichen Äußerlichkeit schlechthin” (Derrida 1983: 124). Ihre “Bewegung” ermöglicht das differentielle Spiel der Zeichen und wandelt die ‘Präsenz’ in ein unendliches Spuren- und Substitutionsfeld um. In diesem Sinne ist die Präsenz Spur einer Spur, anders gesagt: ein “Effekt” differentieller Verweise. Derridas Schriftdenken hat zur Folge, dass jedem Zeichen (inklusive der Stimme) eine graphematische Struktur (Wiederholbarkeit außerhalb des ursprünglichen Kontexts, Ersetzbarkeit und Verkettung in differentiellen Verweisen) unterlegt wird. Noch wichtiger: Die Erfahrung, die in der Metaphysik als unmittelbares, intuitives Verhältnis zur Präsenz verstanden wurde (ebd.: 106), wird als graphematisch verstanden. Sie bezieht sich auf keine reine Präsenz ohne Rest - denn solch eine originäre Präsenz gibt es nicht (Derrida 2001: 29) -, sondern findet immer schon innerhalb einer Verweis- und Wiederholungsstruktur statt und besteht im “unaufhörliche[n] Dechiffrieren” (Derrida 1999: 47). Obwohl Derrida die metaphysische Abwertung der Schrift als “sinnliche”, “räumliche” Äußerlichkeit in Frage stellt (Derrida 1983: 123f.), löst er ihre aisthetische Dimension - das sinnliche Beharren, das sie wahrnehmbar macht und ihr ein operatives Potential verleiht - in der Struktur der Wiederholung und Ersetzbarkeit als Eigenschaft jedes Zeichens auf. Die Evakuierung der aisthetischen Dimension der Schrift wird in der jüngeren Schriftforschung als erheblicher Makel in Derridas Denken angesehen (cf. z.B. Grube & Kogge 2005: 11). Dabei wird übersehen, dass Derrida konsequenterweise den sinnlichen Charakter der Schrift nicht mit ihrer aisthetischen Präsenz verbinden kann, die er gerade als Merkmal der Metaphysik zu überwinden versucht. Er befindet sich also in der paradoxen, vor dem Hintergrund seiner Prämissen aber notwendigen Situation, die metaphysische Abwertung der in die sinnliche Äußerlichkeit verdrängten Schrift zu hinterfragen, ohne sie mit der Präsenz verbinden zu können, die er gerade anderweitig zu dekonstruieren versucht. Das Problem des sinnlichen Rests als das Nicht-Zeichenhafte des Zeichens, das sich in der Semiose nicht auflösen lässt, obwohl es für ihr Funktionieren unerlässlich ist, bleibt bei Derrida aporetisch. Barthes, der sich im letzten Jahrzehnt seines Schaffens kritisch mit dem “mechanischen Charakter” der Sinnerzeugung und dem “unendlichen Zirkel der Sprache” (dt. Barthes 1981: 100, frz. 2002 b: 407f.) auseinandergesetzt hat, geht mit dem sinnlichen Rest des Zeichens - wie wir sehen werden - weder metaphysisch noch poststrukturalistisch um, indem er diesen weder auf ein Verständnis der Präsenz als unmittelbare Evidenz zurückführt noch in der Verweis- und Wiederholungstruktur der Zeichen auflöst, sondern in seinem Verhältnis zum Körper denkt. Dieser Schritt ist eng mit Barthes’ Kritik des Logozentrismus als Ethnozen- “Une sorte de remontée vers le corps” 251 1 Réquichot und sein Körper (dt. Barthes 1990: 219f., frz. 2002 c: 388f.), All Except you, à propos de Saul Steinberg (frz. Barthes 2002 c: 955f.), Variationen über die Schrift (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284), Semiographie André Massons (dt. Barthes 1990: 160f., frz. 2002 c: 345f.). 2 Man könnte hier hervorheben, dass die Pseudo-Schrift sich auf die Schrift als Kulturtechnik bezieht, dass sie in diesem Sinne nicht völlig referenzlos ist. Barthes interessiert sich aber nicht für diesen Aspekt, sondern für den Spurcharakter der Schrift, für ihren Bezug auf den schreibenden Körper. 3 Das Problem der Pseudo-Schrift kann mit Barthes’ “lebenslange[r] Sehnsucht nach dem Realen” (Peters 2012: 17) in Verbindung gebracht werden, die im 2012 erschienenen Sammelband Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen erkundet wurde. Diese Sehnsucht führt Barthes dazu, “in der Widerständigkeit der Zeichen, in beinahe körperlichen Signifikanten die Widerspenstigkeit des Realen im eigenen, literarisch gewordenen Text buchstäblich zu ‘realisieren’ und das Reale am Signifikanten zu ‘kristallisieren’” (ebd.: 21; Hervorh. im Original). Mehrere Arten von Kristallisierung scheinen sich dabei abzuzeichnen: Zunächst wird das Reale, obwohl es “undurchdringlich” bleiben soll, in der Photographie laut Eric Marty direkt denotiert. Dabei wird das Reale in einem Medium bewahrt, das es vor aller ideologischen, mythologisierenden trismus verbunden, der in einer Mythologie der Schrift besteht, die sie zum Signifikanten der abendländischen Rationalität macht. Aus dieser Perspektive stellt die Lautschrift als Resultat einer teleologischen Entwicklung vom Piktogramm zum Alphabet die Verkörperung der Effizienz von Kommunikation dar (dt. Barthes 2006: 29, frz. 2002 c: 271f.). Diese Schriftmythologie entwertet nicht nur das Ideogramm, sie evakuiert auch die rituellen und religiösen Funktionen der Schrift, wo der Sinn nicht vermittelt, sondern vielmehr verborgen wird. Die Konsequenz der instrumentellen Auffassung von Schrift ist von besonderer Bedeutung: Je mehr die Schrift als Instrument verstanden wird, desto transparenter wird sie im Bezug auf ihren Zweck - die Kommunikation - und desto weniger wird ihr Verhältnis zum schreibenden Körper beachtet. Im Gegensatz dazu beschreibt Barthes sein Interesse für die Schrift als “Rückgriff auf den Körper” (“remontée vers le corps”) (dt. Barthes 2006: 7, frz. 2002 c: 267). Ihm geht es dabei jedoch nicht um den sich stets entziehenden “Körper der geschriebenen Spur” (Derrida 1976: 303), sondern um den eigenen Körper in seinem gestischen Umgang mit der Schrift. Indem Barthes die Schrift als eine körperliche, muskuläre Praxis versteht (“Schreibung”/ “scription”, dt. Barthes 2006: 7, frz. 2002 c: 267), versetzt er das Problem ihrer sinnlichen Präsenz in das unauflösbare Verhältnis des eigenen Körpers zu den von ihm produzierten sinnlichen Resten. Dieses Verhältnis findet Barthes exemplarisch in einer spezifischen Art von Zeichen, denen er in Texten zu Masson, Réquichot und Steinberg besondere Aufmerksamkeit beimisst: Es handelt sich um das, was er mit Ausdrücken wie “fiktiver”, “falscher”, “unleserlicher”, “simili-” Schrift bezeichnet. 1 Es sind Signifikanten, die intrinsisch kein Signifikat, keinen Referenten, 2 keine Bedeutung haben - Zeichen, die einer ihrer Seiten beraubt wurden und die aus diesem Grund “die Identität zwischen der gezeichneten und der geschriebenen Linie” veranschaulichen (dt. Barthes 1990: 161, frz. 2002 c: 345f.). Die verschiedenen Bezeichnungen dieses graphischen Phänomens werden hier unter dem Begriff der Pseudo-Schrift gesammelt, da das Präfix pseudo die erwähnten Konnotationen des als ob enthält (“Pastiche”, “Plagiat” und “Fälschung”, dt. Barthes 1990: 160, frz. 2002 c: 345). Indem das “Pseudo-” nicht völlig dem entspricht, was es sein sollte, ohne dabei etwas völlig anderes zu sein, vermag es unbeachtete Aspekte des ‘wahren’ Phänomens zu beleuchten. Die Pseudo-Schrift ist eine ‘Schrift’, die nicht das ist, was ihr eine konventionelle Auffassung von Schrift zuschreibt, nämlich ein Kommunikationsinstrument zu sein. Sie verstellt die Schrift und enttäuscht die Erwartung an Lesbarkeit und Transparenz. Mehr noch: Indem sie eine Schrift ohne Signifikat ist, eröffnet sie einen sinnlichen Bereich, der der Semiose widersteht und das gestische Wesen der Schrift erscheinen lässt. 3 Katia Schwerzmann 252 Verzerrung schützt (cf. Marty 2012: 67). Zweitens wird das Signifikat im Haiku beispielsweise so “verdunstet”, dass das Zeichen das Reale ohne die Vermittlung der Bedeutung zu denotieren scheint und die Bedeutungsassoziationen zu beschneiden vermag (cf. Lindorfer 2012: 198). Die Pseudo-Schrift stellt vielleicht eine dritte Art von Kristallisierung dar: Indem sie laut Barthes in einer Geste völlig aufgeht, denotiert sie nichts mehr. Sie ist das Sinnliche, insofern sie sich als pure Medialität ohne Vermittlung von etwas zeigt. Dadurch unterbricht sie die Semiose und bringt den sinnlichen Rest des Realen, der am Zeichen haftet, zum Vorschein. 4 Die Ästhetik beschränkt sich hier nicht auf eine Theorie der Kunst, sondern bezeichnet den Umgang mit dem Sinnlichen im weiten Sinne und bezieht die Modi seiner Erfahrung mit ein. Ausgehend von Barthes’ Überlegungen zur “Pseudo-Schrift” soll gezeigt werden, dass sein Schriftdenken den Poststrukturalismus auf den Körper als das ‘Andere’ der Semiose öffnet und das Verständnis des Körpers auf eine Ästhetik der körperlichen Responsivität gründet. 4 Darunter verstehe ich im Sinne von Bernhard Waldenfels eine Ästhetik, die weder eine Produktionsnoch eine Rezeptionsästhetik ist, sondern die darin besteht, auf das Fremde, das Beunruhigende, das uns “sticht” (hier die bedeutungsfreien graphischen Phänomene), mit einer körperlichen, gestischen Tätigkeit zu antworten. Dabei wird die Singularität der responsiven Erfahrung weder in der Verweis- und Wiederholungsstruktur aufgelöst noch auf eine amediale Faszination zurückgeführt, sondern beruht auf einem Spielen, das als enge Berührung zwischen dem Körper und dem Zeichen zu verstehen ist. Um dies weiter auszuführen, werde ich zuerst Barthes’ gestische Bestimmung der Schrift erläutern, um dann das Sehen, an das sie appelliert, als eine gestische, haptische Tätigkeit darzulegen, die sich schließlich im Spielen vollzieht. 2 Die Wahrheit der Schrift als Geste Die Semiographie Massons berichtigt Jahrtausende Schriftgeschichte und verweist uns nicht auf den Ursprung (auf den Ursprung kommt es uns nicht an), sondern auf den Körper […]. Die Arbeit Massons sagt uns: Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (und nicht in ihrer Instrumentalität), muß sie unlesbar sein: Der Semiograph (Masson) produziert wissentlich, durch ein souveränes Elaborat, Unlesbares: Er löst den Schreibtrieb vom Imaginären der Kommunikation (der Lesbarkeit). (dt. Barthes 1990: 162, frz. 2002 c: 347; Hervorh. im Original) Barthes’ polemischer Ansatz zur Schrift besteht darin, die konventionelle Opposition von referentieller und referenzloser Schrift aufzulösen, um die Wahrheit der Schrift in dem, was sich ihrer Instrumentalität entzieht, zu verorten, so dass die Pseudo-Schrift zum Paradigma der Schrift “in ihrer Wahrheit” wird. Diese These ist umso provokanter, als sie von Barthes wie eine Evidenz dargestellt wird: Das Interessante aber - das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet: keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext, zwischen Nicht-Entziffertem und Nicht-Entzifferbarem. Es sind wir, unsere Kultur, unser Gesetz, die über den Referenzstatus einer Schrift entscheiden. (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284) Die Identität der “wahren” und “falschen” Schrift wird zuerst als “absolut” behauptet, um dann durch den “Kontext” relativiert zu werden. So gilt die Differenz zwischen Entzifferbarkeit und Unentzifferbarkeit, zwischen Anwesenheit oder Abwesenheit der Bedeutung nicht als intrinsisches Merkmal der Schrift, sondern sie wird vielmehr in einer als unmotiviert (im linguistischen Sinne) dargestellten, kulturellen Entscheidung externalisiert. “Une sorte de remontée vers le corps” 253 5 Das kann man schon anhand der abgedruckten Werke von Saul Steinberg (frz. Barthes 2002 c: 956) und der Pseudo-Schriften am Ende von Roland Barthes. Über mich selbst feststellen (dt. Barthes 1978: 202, frz. 2002 c: 760). 6 “Hésitation? Non, car la majuscule tranche. Celle-ci marque que l’être du référent n’est pas seulement identifié par lui-même (nulle mention antérieure), mais qu’il est de plus distingué par lui-même, parmi les référents possibles […]. Comparable à la majuscule des noms propres, elle distingue un référent unique et en souligne l’identité à soi, maintenue dans la multiplicité indéfinie des apparitions lexicales; elle souligne du même coup que ce référent unique est une Idée” (Milner 2003: 17; Hervorh. im Original). 7 “Die Ideen (im platonischen Sinn) sind keine metallisch glänzenden, wie Begriffe geschnürte Figuren, sondern eher leicht zittrige, winzige Makulaturen auf vagem Grund” (dt. Barthes 1990: 189, frz. 2002 d: 690). 8 Obwohl Barthes in Cy Twombly oder Non multa sed Multum oft das Wort “Spur” verwendet, bevorzuge ich in den folgenden Ausführungen den “Rest” (cf. “reste”: frz. Barthes 2002 d: 706), um die Spezifität von Barthes’ Logik des Zusatzes gegenüber Derrida zu betonen. Denn während die Spur bei Derrida rein strukturell als Bedingung der Möglichkeit der Substitutionen verstanden wird, ist sie bei Barthes ein sinnlicher Rest, der sich gerade nicht substituieren lässt, sondern übrig bleibt. Statt die Negierung der Relevanz der referenziellen Funktion für den Schriftbegriff allzu schnell als die gewohnte poststrukturalistische Haltung abzutun, soll zumindest eingeräumt werden, dass aus einer rein phänomenologischen Perspektive der Unterschied zwischen einer noch nicht entzifferten Schrift und einer fiktiven, referenzlosen Schrift schwer zu fassen ist. 5 Nehmen wir Barthes’ Behauptung, dass die Pseudo-Schrift die Wahrheit der Schrift ausmacht, als heuristische Hypothese an. Worin besteht dann die Wahrheit - Barthes spricht in Bezug auf Cy Twombly vom “Wesen” - der Schrift? “TW bekundet auf seine Weise, daß das Wesen der Schrift weder in einer Form noch in einer Verwendung liegt, sondern bloß in einer Geste, die sie hervorbringt, indem sie sie nach sich zieht: ein Gewirr, beinahe ein Geschmier, eine Achtlosigkeit” (dt. Barthes 1990: 166, frz. 2002 d: 704). Dass Barthes nach der Schrift in ihrer Wahrheit und nach ihrem Wesen fragt, dass er den Anfangsbuchstaben von bestimmten Wörtern wie “Text” auf Französisch groß buchstabiert (frz. Barthes 2002 c: 347), so dass dieser Großbuchstabe - um Jean-Claude Milners Worte zu übernehmen 6 - die Selbstidentität des Referenten betont, überrascht: Denn wenn die Signifikanten frei spielen sollen, ohne von einem Signifikat bzw. Referenten unterstützt zu sein (dt. Barthes 2006: 79, frz. 2002 c: 284), impliziert das Wesen doch gerade die Existenz eines einheitlichen Referenten. Der Widerspruch zwischen der “Selbstidentität” des Referenten “Text”, “Schrift” und der freien Entfaltung der auf ihre sinnliche Seite begrenzten Signifikanten wird nur aufgehoben, wenn das Wesen für Barthes etwas grundsätzlich Sinnliches ist, eine sinnliche Idee, eine Idee, die die sinnlichen Eigenschaften des Dinges umfasst. 7 Um welche Eigenschaften handelt es sich? Und wie ist das Sinnliche zu verstehen? Nicht in dem friedlichen In-Sich-Ruhen der Dinge, sondern in einer Logik des Zusatzes (supplément), des Restes, 8 des Überschusses, die sowohl für die Dinge als auch für die Zeichen zu gelten scheint und die aus der Unterscheidung von Funktion und Wesen entsteht: Worin liegt das Wesen einer Hose (falls sie eines hat)? Sicherlich nicht in dem gestärkten und geradlinigen Gegenstand auf den Kleiderbügeln in den Kaufhäusern; eher in jenem Stoffknäuel, das achtlos aus der Hand eines Jugendlichen herabfällt, wenn er sich erschöpft, träge und nachlässig entkleidet. (dt. Barthes 1990: 166, frz. 2002 b: 704) Das Wesen eines Gegenstands offenbart sich laut Barthes, wenn dieser Gegenstand “aus dem Gebrauch gezogen wird”. In diesem Sinne hat das Wesen mit dem “Abfall” (“déchet”) zu tun, d.h. mit dem Rest als dem sinnlichen Zusatz, der zum Funktionieren des Dings bzw. Zeichens nicht erforderlich ist (dt. Barthes 1990: 176, frz. 2002 d: 712). Barthes betont also nicht die Katia Schwerzmann 254 9 Auch Derrida erwähnt in der Grammatologie das “Gewand” als logozentrisches Bild für die Supplementarität und Exteriorität der Schrift bei Saussure (cf. Derrida 1983: 62). Für Derrida ist dieses Bild problematisch, insofern die Schrift nie die reine Äußerlichkeit einer vollständigen Präsenz (das gesprochene Wort) sein kann: “Das Draußen unterhält mit dem Drinnen eine Beziehung, die wie immer alles andere als bloß äußerlich ist” (Derrida 1983: 62). Wenn die Schrift das gesprochene Wort supplementieren muss, heißt es schon, dass die Präsenzfülle des gesprochenen Wortes eine Leerstelle, einen Mangel enthält, der durch die Schrift ersetzt werden muss (Derrida 1983: 250). Diese Leerstelle der différance bedarf des Supplements und der Ersatzkette. In der Logik des Supplements ist die Schrift also nicht das reine Außen des gesprochenen Worts, da sie vom Wort intrinsisch benötigt wird. In Barthes’ eigener Logik des Zusatzes ist die Schrift als sinnlicher Rest auch keine reine Äußerlichkeit, da sie auf den Körper über sein Verschwinden hinaus bezogen bleibt. 10 Der Rest ist für Barthes das Überflüssige, worin gerade “das ganze ‘Zweckfreie’ des Menschen, seine Perversion, seine Verausgabung” besteht (dt. Barthes 1990: 168, frz. 2002 d: 706). Es ist zugleich der Ort der Wollust: “Die Perversion ist die Suche nach einer Lust, die von keinem gesellschaftlichen oder Gattungszweck rentabilisiert wird” (dt. Barthes 2002 a: 254, frz. 2002 c: 874). medialen Merkmale der Schrift, die in der Semiose transparent werden, sondern vielmehr diejenigen, die der Semiose widerstehen. Die Schrift wird “als der eigentliche Überschuß ihrer eigenen Funktion” verstanden (dt. Barthes 1990: 161, frz. 2002 c: 346; Hervorh. im Original). Das Vokabular des “Zusatzes” erinnert an Derridas Logik des “Supplements” als ersetzendes Spiel der Zeichen. 9 Der Zusatz ist aber bei Barthes kein ersetzendes Supplement im Sinne von Derrida, sondern eine Bei-lage, insofern das Sinnliche sowohl neben dem Gebrauch liegt als auch den Gebrauch übersteigt. Der Zusatz erweist sich bei Barthes als das, was sich im Spiel der unendlichen Verweise gerade nicht ersetzen lässt. Während das Wesen der Dinge und Zeichen in ihrem sinnlichen Rest lokalisiert wird, ist dieser Rest jedoch nicht autonom, sondern steht vielmehr selber in Bezug auf einen Körper. Sowohl bei der auf dem Boden zurückgelassenen Hose als auch bei der Schrift ist das Wesen als Rest nicht unabhängig vom Körper zu denken, von dem der Rest abgelöst wurde. Sein Verhältnis zum Körper wird durch eine körperliche Geste mediatisiert, die Barthes wiederum als Rest bzw. als Zusatz der Tat definiert, als das, was im Gegensatz zur Tat auf nichts zielt, nichts will, alle Zweckmäßigkeit übersteigt. In diesem Sinne ist die Geste intransitiv, sie hebt “die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung” auf (dt. Barthes 1990: 168, frz. 2002 d: 706) und ist aus dieser Perspektive, wie Agamben ebenfalls betont, pure Medialität, die nichts vermittelt, also nichts Weiteres macht, als sich zu vollziehen und sich zu zeigen: “Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem” (Agamben 2006: 54; Hervorh. im Original). So wäre also die Logik des Zusatzes bei Barthes zu verstehen: Die Geste gilt als Rest des Körpers, der weitere Reste produziert. 10 Als Rest einer Geste bleibt Schrift auf den Körper bezogen, der ihn produziert hat, indem ihr Verhältnis zum Körper wie eine Resonanz der Geste, ein Echo in ihr aufbewahrt wird: Die zurückgelassene Hose bezieht sich als Stoffknäuel auf den trägen Körper des Jugendlichen, so wie die Schrift sich auf die träge schreibende Hand Twomblys bezieht. Beide sind eine Art von Abschuppung des Körpers und seiner Geste. Diese Abschuppung ist aber keine tote Spur, sondern wird vom Körper weiter belebt - worauf ich später zurückkommen werde. Da die Geste keine Ursache ist, ist die Schrift auch kein Resultat der Geste, sondern geht in sie über, was zu einer Erweiterung der Definition der Schrift als Geste führt. So offenbart die Pseudo-Schrift die gestische Wahrheit und die körperliche Natur der Schrift, indem sie purer Rest und d.h.: pure Geste ist. Die gestische Bestimmung der Schrift erlaubt es Barthes, “Une sorte de remontée vers le corps” 255 11 “[…] und dann ist diese Geste verrückt; feierlich eine Abgrenzung eintragen, von der unmittelbar nichts übrig bleibt, außer die geistige Remanenz einer Aufteilung, sich der vollständig rituellen und gänzlich arbiträren Vorbereitung des Sinns widmen” (dt. Barthes 1978: 52, frz. 2002 c: 627; Hervorh. im Original). sie nicht nur zweidimensional, sondern auch räumlich zu verstehen. Daher beginnt Schrift schon mit den “Teilungs- und Wegnahmegebärden” des “geschriebenen” japanischen Essens (dt. Barthes 1981: 27, frz. 2002 b: 362). Diese Gesten können als Schrift verstanden werden, insofern sie die “vollständig rituelle und gänzlich arbiträre Vorbereitung des Sinns” 11 vollziehen (dt. Barthes 1978: 52, frz. 2002 c: 627). Die Geste wird jedoch erst dann zur Schrift, wenn sie durch einen Code geregelt ist oder sich mit einem bestehenden Code auseinandersetzt. Im Bezug auf Schrift besteht der Code für Barthes nicht primär in den Regeln der Produktion und der Entzifferung der Mitteilung. Er ist vielmehr das, was die räumliche Orientierung der Gesten kulturell regelt (dt. Barthes 2006: 151f., frz. 2002 c: 302f.). Der ‘Duktus’ als Schreibgeste ist eine kodifizierte Geste, insofern ihre “Ordnung und Richtung” geregelt sind. Im Reich der Zeichen werden besonders viele Praktiken als schriftlich oder graphisch bezeichnet (man erinnere sich, dass das leere Zeichen als Geste laut Barthes die Differenz zwischen Schrift und Zeichnung auflöst): von der japanischen Kunst des Ikebana (dt. Barthes 1981: 63, frz. 2002 d: 386) zum Kochen und Essen (dt. Barthes 1981: 27, frz. 2002 d: 362) bis hin zum Marionettentheater (dt. Barthes 1981: 67f., frz. 2002 d: 390f.). Dort wird die Stimme als Schrift bezeichnet, indem sie nicht der Ausdruck einer Emotion ist, sondern durch ihre starke Kodifizierung zum Zeichen der Emotion gemacht wird. 3 Barthes’ Aufteilung des Sehens Die Pseudo-Schriften offenbaren nicht nur die gestische Wahrheit der Schrift, sondern auch, laut Barthes, das Wesen des Textes als Gewebe von Signifikanten, dessen Erkenntnis sich durch das Sehen vollzieht: Denn um zu verstehen, was der Text ist, genügt es - aber das ist unabdingbar -, den Schwindel erregenden Schnitt zu sehen, der dem Signifikanten sich zu konstituieren, sich zu gliedern und sich zu entfalten erlaubt, ohne dass ihn noch irgendein Signifikat stützte. Diese unlesbaren Schriften sagen uns (und nur das), dass es Zeichen gibt, aber keinerlei Sinn. (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284; Hervorh. im Original) Gerade wenn das Entziffern durch leere Zeichen verhindert wird, enthüllt sich der Text “im heutigen Sinne des Wortes” als “Raster”, “Gewebe” (dt. Barthes 1981: 19, frz. 2002 b: 356) von Signifikanten, die aufeinander verweisen, ohne dass diese Verweisstruktur durch ein Signifikat oder einen Referenten geregelt wird. Aber warum wird das, was der Text ist, gerade durch das Sehen (und Barthes setzt das Wort kursiv) der Pseudo-Schrift verstanden? Wie ist das Sehen bei Barthes zu verstehen? In den Variationen über die Schrift übernimmt Barthes Leroi-Gourhans Theorie der gegenseitigen Befreiung des Gesichts und der Hand als Ermöglichung der gesprochenen Sprache und des Graphismus, um das Auge mit der Hand zu verknüpfen: “das Gesichtsfeld hat seine eigene Sprache gehabt (die des Gehörs und des Gesprächs), die Hand ihre andere (die der visuellen Wahrnehmung [vision] und des gestischen Verlaufs [tracé gestuel])” (dt. Barthes 2006: 51, frz. 2002 c: 277). So gehört das Katia Schwerzmann 256 12 Die theoria - als Betrachtung eines Spektakels, Beobachtung eines geistigen Inhalts und Spekulation - verbindet auf Griechisch das Sehen mit dem Denken. Auge aus der Perspektive der Schrift zum System der Hand. Im Grunde operiert Barthes in Cy Twombly oder Non multa sed multum mit einer ähnlichen Aufteilung des Sehens zwischen einem “repressiven”, “kontrollierenden”, “rationalen” Sehen und dem, was als ein gestisches Sehen beschrieben werden könnte, wonach das erste die Hand zum Instrument seiner Zwecke macht, während das zweite hinter die Hand zurücktritt (dt. Barthes 1990: 171, frz. 2002 d: 708f.). Barthes verbindet das repressive, rein optische Sehen und dessen Zwang zur “Wirklichkeitstreue” und “Nachahmung” mit der “gesamte[n] Malerei unserer Vergangenheit”. Interessant ist dabei, dass das repressive Verhältnis zwischen Auge und Hand Werke produziert, die wiederum ein denkendes, sozusagen theoretisches 12 Sehen hervorrufen, welches das Werk als fertiges Produkt wahrnimmt. Insofern Twombly laut Barthes die Malerei vom Sehen zugunsten der Hand befreit hat, provoziert seine Kunst eine andere Art von Sehen, das die Bewegung (also die Geste) “erneut” sehen und “genießen” soll. Auch im Reich der Zeichen wird zwischen der “visuelle[n] Erfahrung”, die mit einer “gestische[n] Praxis” verbunden wird, und dem rationalen Sehen unterschieden, wo “Kenntnis gewöhnlich durch Stadtpläne, Führer, Telefonbücher, mit einem Wort: durch die gedruckte Kultur” sichergestellt wird (dt. Barthes 1981: 54, frz. 2002 b: 381). Das nicht repressive, körperliche Sehen geht bei Barthes - wenn auch nur potentiell - mit einer gestischen Praxis einher, welche darin besteht, das Werk “erneut” zu sehen, d.h. es gestisch nachzuvollziehen. Ich würde dieses Sehen als haptisch, berührend, nah bezeichnen, insofern es das Werk nicht als Produkt aus der Ferne rein optisch wahrnimmt, sondern indem es die im Werk aufbewahrte “Bewegung” durch eine nachahmende Tätigkeit erfährt. Dieses Sehen ist synonym für ein Lesen, das gerade keine Entzifferung sondern ein “Nachzeichnen” ist: Ich betrachte Hérodiade (1960) und habe wirklich nichts dazu zu sagen, außer die gleiche Platitüde: daß es mir gefällt. Aber plötzlich taucht etwas neues auf, ein Wunsch: der Wunsch, das gleiche zu machen: zu einem anderen Tisch zu gehen (nicht mehr dem Schreibtisch), Farben zu nehmen und zu malen, Striche zu ziehen. (dt. Barthes 1990: 201, frz. 2002 d: 700; Hervorh. im Original) Das japanische Blumengebinde besitzt ein Volumen; es ist ein unbekanntes Meisterwerk, wie Frenhofer, Balzacs Held, es erträumte, der hinter die gemalten Figuren gelangen wollte; und gerade kann man den Körper in den Zwischenraum der Zweige hineinbewegen, in das Licht des Aufbaus, kann man es zwar nicht lesen (seine Symbolik lesen), wohl aber den Weg der Hand verfolgen, die es geschrieben hat: eine wirkliche Schrift, weil sie ein Volumen schafft, weil sie der Lektüre verwehrt, bloßes Entziffern einer Botschaft zu sein (und wäre diese auch hochgradig symbolisch), und weil sie der Lektüre damit gestattet, die Spur ihrer Arbeit nachzuzeichnen [elle lui permet de refaire le tracé de son travail]. (dt. Barthes 1981: 61, frz. 2002 b: 386; Hervorh. im Original) Das Sehen ist in diesem Sinne keine Sinnkonstitution eines Gegenstands als dies oder das, eines Gegenstandes, den wir “auf etwas hin ansehen oder verstehen” (Waldenfels 2007: 329), wie in der Hellen Kammer, wo “ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte” (dt. Barthes 1985: 35, frz. 2002 d: 809; Hervorh. im Original), sondern eine Antwort. Und das, worauf ich als Betrachter antworte, konstituiere ich nicht selbst, wie “Une sorte de remontée vers le corps” 257 13 “Was der Antwort vorausgeht, ist kein fremder Wille, sondern Beunruhigung, Widerfahrenes, Pathos oder Appell, und all das kommt nirgendwo anders zur Wirkung als in der nachträglichen Antwort” (Waldenfels 2010: 157). “[…] das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren” (dt. Barthes 1985: 35, frz. 2002 d: 809). 14 Cf. Mersch 2004: 86. 15 “Faszination? Nein, die eine Photographie, die ich von den anderen unterscheide und die ich liebe, hat nichts von jenem flimmernden Punkt, der vor den Augen auf und nieder schwebt und einen das Haupt wiegen läßt; was sie in mir erzeugt, ist genau das Gegenteil von Benommenheit; vielmehr eine innerliche Erregung, ein Fest, auch eine Arbeit, der Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will” (dt. Barthes 1985: 26, frz. 2002 d: 803). 16 “Der Körper, das ist die nicht zu reduzierende Differenz, und zugleich ist er das Prinzip jeder Strukturation (da die Strukturation das Einzige der Struktur ist)” (dt. Barthes 1978: 190, frz. 2002 c: 747; Hervorh. im Original). Bernhard Waldenfels es signalisiert und Barthes selber in Bezug auf das punctum betont. 13 Das responsive Sehen ist hier eher eine “At-tention” (Waldenfels 2004: 221) (zunächst weder passiv noch aktiv), die die Differenz zwischen dem konstituierenden Subjekt und dem zu konstituierenden Objekt aufhebt und eine Bereitschaft, von einem Fremden, vom “Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will” (dt. Barthes 1985: 26, frz. 2002 d: 803) berührt, affiziert, beunruhigt zu werden. 14 Aber dieses Berührtwerden ist bei Barthes keine reine Passivität, sie mündet nicht in einen faszinierten Blick, 15 sondern in eine Responsivität, die in einer belebenden Tätigkeit besteht (dt. Barthes 1985: 29, frz. 2002 d: 804). Wie läuft aber eine solche Responsivität im Fall des “geschriebenen” Blumengebindes oder der Zeichnung von Cy Twombly ab? Waldenfels erklärt die Appellkraft der Dinge folgendermaßen: “Aufforderungskomplexe zeichnen sich also dadurch aus, daß jeweils etwas auftritt, das nicht nur auf etwas anderes bezogen ist, sondern dazu aufruft, dieses andere herbeizuführen. Aufforderungscharaktere sind im eigentlichen Sinne keine Eigenschaften, sondern Fremdbezüge der Dinge” (Waldenfels 2007: 482; Hervorh. im Original). Worauf beziehen sich das japanische Blumengebinde und Twomblys Zeichnung? Gerade auf die körperliche Geste, die sie im Raum oder auf der Fläche eingeschrieben haben. Wie oben beschrieben, ist die Schrift oder im breiteren Sinne die Graphie ein Echo-Vermittler: Sie bewahrt die erzeugende Geste als Echo oder Vibration (was Barthes “Arbeit” nennt), welche den wahrnehmenden Körper dazu anregt, “die Spur ihrer Arbeit [der Hand, KS] nachzuzeichnen” (dt. Barthes 1981: 61, frz. 2002 b: 386). Die Affiziertheit führt zu einer nachahmenden Responsivität, die sich als genussvoll, kreativ und/ oder Erkenntnis erzeugend erweist: Ich ahme nicht direkt TW nach (wozu auch? ), ich ahme das tracing nach, das ich, wenn nicht unbewußt, so zumindest phantasierend, aus meiner Lektüre folgere; ich kopiere nicht das Produkt, sondern die Produktion. Ich trete sozusagen in die Fußstapfen der Hand. (dt. Barthes 1990: 178, frz. 2002 d: 715; Hervorh. im Original) Durch das Nachvollziehen der Produktion erfährt Barthes die Macht des Künstlers und seine eigene Ohnmacht sowie die Spezifität der Kunst von Twombly, die im “rarus” besteht (dt. Barthes 1990: 202, frz. 2002 d: 700f.). Das Nachvollziehen ist also kein bloßes Nachmachen, sondern ein Mitmachen im Sinne von Waldenfels: “Im bloßen Nachmachen entsteht dasselbe noch einmal, im Mitmachen entsteht Eigenes aus Fremdem” (Waldenfels 2010: 216). Das Mitmachen ist aber bei Barthes keine bloße Aneignung, sondern die Erfahrung der absoluten Singularität des Körpers des Anderen und seiner irreduziblen Differenz zum eigenen Körper (dt. Barthes 1990: 177, frz. 2002 d: 714). Der Körper gilt in diesem Sinne als das, was unwiederholbar ist, anders gesagt: als das Nicht-Zeichenhafte. 16 Katia Schwerzmann 258 17 “So geschmeidig, so schwerelos und so ungewiß der Strich auch sein mag, er verweist immer auf eine Kraft, eine Richtung; er ist ein energon, eine Arbeit, die die Spur ihres Triebs und ihrer Verausgabung aufzeigt. Der Strich ist eine sichtbare Aktion” (dt. Barthes 1990: 177, frz. 2002 d: 714; Hervorh. im Original). Barthes’ Verständnis des gestischen Sehens, das ich als eine responsive Auffassung des Sehens verstehe, hat ästhetische Konsequenzen. Barthes bevorzugt eine Art von Kunst (und von Text), die kein Produkt ist, sondern als Produktion wirkt. Es handelt sich um Werke, die ‘energetisch’ 17 sind, die jenseits ihrer Erzeugung weiter arbeiten, insofern sie den vom Trieb belebten Körper des Künstlers spüren lassen. Die graphische Kunst vermag es, durch ihre Linienhaftigkeit den produzierenden Körper und die Dynamik seiner Geste in besonderem Maße spüren zu lassen. 4 Responsivität und Spiel Das Werk als Produktion, Produktivität oder Arbeit hat sich bei Barthes als ein energetischer Brennpunkt erwiesen, der die mitmachende Tätigkeit des Körpers provoziert. Wie soll diese Tätigkeit näher bestimmt werden, die sich jenseits der Trennung zwischen Subjekt und Objekt entfaltet? Eine Antwort kann in Barthes’ Spielbegriff gefunden werden, welcher sowohl das Verhältnis der Zeichen untereinander als auch den körperlichen Umgang mit ihnen bezeichnet und das Wechselspiel zwischen dem Produkt, dem Produzenten und dem Re-produzenten zu beschreiben vermag. Dieser Begriff scheint besonders geeignet zu sein, um die Verbindung des Poststrukturalismus mit einer Ästhetik der körperlichen Responsivität zu beleuchten. Der Begriff des Spiels hat bei Barthes zumindest drei verschiedene Bedeutungen, von denen die zwei ersten von Derrida geteilt werden, während die dritte sich auf den Körper hin öffnet. Erstens ist das Spiel im französischen Sinn von jeu ein Freiraum, ein Abstand. Jeu bezeichnet so den Raum zwischen lose miteinander verbundenen Elementen, der ihnen erlaubt, sich zu bewegen (dt. Barthes 1978: 80, frz. 2002 c: 651). In diesem Sinne ist der Leerraum zwischen den Zeichen die Bedingung der Möglichkeit ihrer Substitution und Kombinatorik. Das Spiel bezeichnet zweitens die Kombinatorik selbst, also das Verhältnis der Zeichen zueinander. Diese Kombinatorik wird als ein unendlicher Prozess verstanden, der in “das zwanghafte Spiel des Symbolersatzes”, anders gesagt: in eine leer laufende Semiose münden kann (dt. Barthes 1981: 103, frz. 2002 b: 40). Drittens kennzeichnet das Spiel den körperlichen, praktischen Umgang mit dem Schreiben bzw. Zeichnen. Barthes verweist im Text zu Twombly auf Winnicotts Unterscheidung zwischen dem geregelten game und dem freien play bzw. dem playing als Tätigkeit, um Twomblys Produktion als “Prozess der Handhabung” auf der Seite des playing zu situieren (dt. Barthes 1990: 179, frz. 2002 d: 716). Im Reich der Zeichen taucht der Spielbegriff in Bezug auf das japanische Essen auf, das mit den Operationen des Schreibens oder Malens verglichen wird. Spielen heißt dabei, diskrete, zerschnittene Elemente wegzunehmen und zusammenzustellen (dt. Barthes 1981: 25, frz. 2002 d: 358f.). Das Spielen besteht in diesem Sinne in einer körperlichen, lustvollen Tätigkeit, die sich frei von Codes, Regeln, festgelegten Ordnungen entfaltet. Die spielerische Antwort auf das Werk kann in Bezug auf Barthes’ Utopie des Amateurs auf die Reziprozität von Berühren und Berührtwerden zurückgeführt werden: “Der Amateur ist kein Konsument. Der Kontakt zwischen dem Körper des Amateurs und der Kunst ist sehr eng und gegenwärtig. Das ist das Schöne daran, und darin liegt die Zukunft” (dt. Barthes 2002 a: 238, frz. 2002 c: 861). Gegen die Massenkultur, die die Trennung zwischen Konsument “Une sorte de remontée vers le corps” 259 und Produzent vollzieht, zielt die Amateurkultur darauf ab, dass das Berührtwerden durch ein Werk sich in Berührung, d.h. Handhabung oder Spiel umkehrt. 5 Der Körper als das Andere der Semiose Der Ansatzpunkt meiner Überlegungen war das bei Derrida aporetisch gebliebene Problem des sinnlichen Rests der Schrift, der sich im unendlichen Verweisspiel und in der Ersatzkette der Zeichen nie völlig bändigen lässt. Barthes geht mit dem Sinnlichen ganz anders um: Indem er die Pseudo-Schrift zum Paradigma der Schrift in ihrer gestischen Wahrheit macht, verortet er das Sinnliche am Zeichen in dem, was sich dem Sinn bzw. der Funktion entzieht, und das heißt: in seiner Verbindung zum Körper und seiner Geste. Das Sinnliche ist bei Barthes weder der transparente Vermittler der Bedeutung noch die stumme, passive Materie, so wie die Hose/ Schrift weder in ihrem Gebrauch verschwindet noch bloß da liegt. Die Schrift bewahrt vielmehr in sich die Geste des Körpers, der sie da hat fallen lassen, als eine Resonanz. In seinem Verhältnis zum Körper ist das Sinnliche energetisch, es agiert auch jenseits des Verschwindens des produzierenden Körpers. Das Sinnliche arbeitet weiter, und diese Arbeit provoziert ein gestisches Sehen, das weder ein Entziffern noch ein unmittelbares intuitives Wahrnehmen ist, sondern eine Bereitschaft, berührt zu werden und dieses Berührtwerden in eine spielerische Tätigkeit umzuwandeln - was ich als körperliche Responsivität verstanden habe. Dies bedeutet, den sinnlichen Rest körperlich, gestisch nachzuvollziehen, das Mitmachen ohne das “Alibi des Sinnes” zu genießen (dt. Barthes 2006: 137, frz. 2002 c: 299) und die Produktivität des Werkes durch die eigene Produktion fortzusetzen. Barthes’ Schriftdenken kann dazu beitragen, das Problem der sinnlichen Dimension der Schrift in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, das nicht impliziert, die Errungenschaften von Derridas Dekonstruktion der Präsenz kurzerhand zu vergessen. Insofern die Schrift bei Barthes in ihrem unüberwindbaren Verhältnis zu einem als absolut singulär verstandenen Körper besteht, der jenseits seiner konkreten Präsenz als Rest oder Geste in der Schrift weiter arbeitet, schlägt Barthes einen Schriftbegriff vor, der nicht metaphysisch ist. Denn Schrift ist bei ihm keine bloße Äußerlichkeit, sondern bezieht sich immer auf die physiologische, muskuläre Dichte des Körpers. Genauso wenig wird die Schrift auf eine reine Präsenz zurückgeführt, da sie den schreibenden Körper in seiner Abwesenheit spüren lässt und in ihrer Arbeit Anwesenheit und Abwesenheit in Spannung hält. Barthes’ Schriftbegriff ergänzt insofern Derridas Poststrukturalismus um den Körper und macht aus dem sinnlichen Rest das nicht Ersetzbare, als dasjenige, was sich dem Sinn entzieht: “[Z]iehen Sie den Sinn ab, es bleibt der Körper, bald gezwungen, bald belohnt” (dt. Barthes 2006: 137, frz. 2002 c: 299). 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