eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
373-4

Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine systematische Einführung

2014
Elisabeth Birk
Mark Halawa
Björn Weyand
Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine systematische Einführung Elisabeth Birk (Chemnitz), Mark Halawa (Berlin) & Björn Weyand (Frankfurt/ M.) 1 Die Legitimationskrise der Semiotik Hat die Semiotik ihre beste Zeit hinter sich? Macht man sich mit den maßgebenden Strömungen der gegenwärtigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung vertraut, so fällt es schwer, diese Frage zu verneinen. Es mag befremdlich erscheinen, die Einleitung eines Themenheftes innerhalb einer semiotischen Fachzeitschrift mit einer derart ernüchternden Feststellung beginnen zu lassen. Gleichwohl lässt sich kaum leugnen, dass die Blütezeit der Semiotik der Vergangenheit angehört. Selbstverständlich wird nach wie vor in zahlreichen Disziplinen semiotische Forschung betrieben. Auch ist die Semiotik insbesondere in vielen sprach- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen weiterhin fester Bestandteil des Curriculums. Nichtsdestotrotz ist ihr akademischer Stellenwert im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrzehnte erheblich gesunken. Die tonangebenden Beiträge zur geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdebatte werden mittlerweile abseits des einst so wirkmächtigen semiotischen Paradigmas vorgebracht. Damit ist nicht gesagt, dass die Semiotik über kurz oder lang zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sei (eine solche Behauptung wäre ebenso vorschnell wie übertrieben); wohl aber deutet vieles darauf hin, dass sie sich in einer schweren Legitimationskrise befindet. So wird die Fruchtbarkeit neuerer geistes- und kulturwissenschaftlicher Theorieentwürfe auffallend oft auf der Basis einer schonungslosen Fundamentalkritik der Semiotik zu explizieren versucht. Offenbar wird es zunehmend als unerlässlich empfunden, zunächst ein generelles Ungenügen jedweden semiotischen Ansatzes hervorzuheben, um sodann zu neuen geistes- und kulturwissenschaftlichen Einsichten gelangen zu können. Nirgendwo sonst tritt diese Entwicklung dermaßen klar in die Blick wie auf dem Gebiet der Ästhetik. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war es vielerorts eine Selbstverständlichkeit, bei der Analyse ästhetischer Phänomene auf semiotische Instrumente zurückzugreifen. Spätestens mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert hat sich das Blatt allerdings entscheidend gewendet. Eine semiotische Theorieperspektive gilt nun vermehrt als Garant für eine Verkennung des Ästhetischen schlechthin. Die Sphäre des Ästhetischen, so ist häufig zu lesen, entziehe sich prinzipiell einem semiotischen Zugriff. Schließlich stünden in ihr nicht kommunikative Sinn- und Bedeutungsfaktoren im Vordergrund, sondern wesentlich auf die Aisthesis bezogene Erfahrungsmomente, die sich einer semiotischen Dekodierung rundweg K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 172 1 Exemplarisch sei für diese Position auf Serres 1998, Didi-Huberman 2000, Böhme 2001, Gumbrecht 2004 sowie Mersch 2002 verwiesen. 2 Wir paraphrasieren an dieser Stelle das berühmte Bühler’sche Prinzip der abstraktiven Relevanz, dem zufolge im Rahmen einer semiotischen Untersuchung von einem “Sinnending” nur diejenigen Eigenschaften “in die semantische Funktion eingehen”, die “für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant sind” (Bühler 1999: 44). 3 Auf diesen Sachverhalt wurde bereits verwiesen in Finke & Halawa 2012: 89. verweigerten. Faktoren der Sinnlichkeit - nicht solche der Sinnhaftigkeit - bildeten dementsprechend das Zentrum des Ästhetischen. 1 Das Bild von der Semiotik als einer weitgehend sinnlichkeitsvergessenen Disziplin ist nicht gänzlich unbegründet. Viele Wortführer des semiotischen Paradigmas setzen einen systematischen aisthetischen Reduktionismus an den Anfang ihrer zeichentheoretischen Erörterungen. Für sie gilt es als ausgemacht, innerhalb eines semiotischen Theorierahmens nur solche sinnlich-materiellen Einflussgrößen zur Kenntnis nehmen zu müssen, die für die Übermittlung und Interpretation abstrakter Sinngehalte in Anspruch genommen werden können. 2 Entsprechend werden Zeichen von ihnen primär als “solche wahrnehmbaren Dinge” aufgefasst, “die genutzt werden, um daraus Schlüsse auf nicht unmittelbar Wahrnehmbares zu ziehen” (Blanke/ Giannone/ Vaillant 2005: 149). In Anlehnung an Sybille Krämer lässt sich Zeichendefinitionen wie diesen ein “metaphysische[r] Gestus” (Krämer 2008: 25) attestieren. Was hier zählt, sind einzig und allein die immateriellen Sinn- und Bedeutungsstrukturen, die “hinter den Erscheinungen” (ebd.: 26) liegen und vermittels semiotischer Analyseinstrumente zu entschlüsseln sind. Die aisthetische Fülle eines Phänomens ist demgegenüber lediglich von randständigem Interesse. 3 Nimmt man vor diesem Hintergrund zur Kenntnis, dass speziell in zeitgenössischen ästhetischen Praktiken insbesondere die “einfache Phänomenalität der Dinge” (Mersch 2009: 5) im Mittelpunkt steht, scheint es auf den ersten Blick nur selbstverständlich zu sein, die Relevanz der Semiotik für die aktuelle ästhetische Theoriedebatte in Zweifel zu ziehen. Schließlich, so ließe sich im Anschluss an Gumbrecht (2004) argumentieren, kann das Paradigma des Zeichens aufgrund seiner Fixierung auf metaphysische Sinnstrukturen grundsätzlich nicht dazu in der Lage sein, auch nur die Fragen und Probleme zu registrieren, die durch den Kontakt mit aisthetischen Präsenzfaktoren gestellt werden. Eben darin gründet mithin die konstatierte Legitimationskrise der Semiotik: Es wird ihr schlichtweg nicht zugetraut, Antworten auf drängende Fragen und Probleme des gegenwärtigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdiskurses geben zu können. Die Semiotik wird daher verstärkt als eine aus der Zeit gefallene Disziplin angesehen. Niemand zweifelt an ihrer Kompetenz für die Untersuchung von Sinnphänomenen. Geht es aber um die Auseinandersetzung mit Präsenzphänomenen, wird ihr noch nicht einmal zugutegehalten, das Phänomen der Aisthesis denken zu können. Tatsächlich deckt ein differenzierterer Blick auf die semiotische Theoriegeschichte auf, dass sich die Dinge weitaus komplexer verhalten, als von vielen Zeichenkritikern angenommen. Es steht außer Frage, dass Faktoren der Aisthesis in vielen semiotischen Studien aufgrund eines ‘metaphysisch’ motivierten Erkenntnisinteresses keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass die Semiotik im Ganzen jegliches Gespür für Momente des Sinnlichen, Materiellen bzw. ‘Physischen’ vermissen lässt. So waren sich gerade die Schlüsselfiguren der modernen Semiotik der konstitutiven Rolle bewusst, die die Dimension der Aisthesis für die Dimension der Semiosis Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 173 4 Am Beispiel von Saussure, Cassirer und Peirce wurde dies etwa von Jäger 2004, Krois 2004 und Halawa 2009 rekonstruiert. 5 Wir denken hier vornehmlich an die in Fußnote 1 genannten Verfechter des Aisthetischen. spielt. Dieser Tatbestand bleibt im semiotikkritischen Klima unserer Zeit allerdings oft unbemerkt. Erklären lässt sich dies einesteils dadurch, dass das irreduzible “Ineinander von aisthesis und semiosis” (Rautzenberg 2009: 236; Hervorh. im Original) in vielen Zeichentheorien lediglich implizit zur Sprache kommt. 4 Weitaus gravierender ist überdies der Umstand, dass die Sensibilität, die in klassischen zeichentheoretischen Entwürfen für Faktoren der Aisthesis an den Tag gelegt wird, besonders von den Kritikern des semiotischen Paradigmas hartnäckig ignoriert wird. Das Reich der Zeichen ist in den Augen vieler Semiotik- Kritiker ganz offenkundig per se ein Reich des Anästhetischen. 5 Unterstellt wird somit eine theoretische Ausgangshaltung, der zufolge das Abstrakte gegenüber dem Singulären bzw. das Begriffliche gegenüber dem Anschaulichen durchweg ins Hintertreffen gerät. Die Semiotik stünde insofern für nichts anderes als eine Disziplin der kühlen Rationalität: Nicht die Erfahrung, sondern alleine die Interpretation eines Phänomens wäre für sie von Belang. 2 Das Ineinanderwirken von Semiosis und Aisthesis in Barthes’ Denken Das vorliegende Themenheft versteht sich als Beitrag, dem verbreiteten Bild von einer wesentlich anästhetisch gestimmten semiotischen Denk- und Theorietradition kritisch entgegenzutreten. Gewiss: Auch für Roland Barthes erschien die Welt als ein übervolles Reich der Zeichen, die im unablässigen Prozess der Semiose beständig in weitere Zeichenrelationen übergehen und auf diese Weise ein immer dichteres Gewebe aus Strukturen des Sinns entstehen lassen. Kaum weniger gewiss ist jedoch, dass Barthes die sinnliche Dimension des Semiotischen von seinen frühen Schriften an auf exzeptionelle Weise mitgedacht hat. Mehr noch: Seine fruchtbarsten Einsichten über die Sphäre der Semiosis - so lautet die übergreifende These, die den nachstehenden Beiträgen zugrunde liegt - gewinnt Barthes gerade im Kontakt mit der Sphäre der Aisthesis. Diese sowohl von Kritikern als auch Anhängern der Semiotik erheblich vernachlässigte Perspektive auf seine Schriften zeigt Barthes als einen der inspirierendsten Vordenker gegenwärtiger Debatten zum Verhältnis zwischen Aisthesis und Semiosis und belegt auf diese Weise die ungebrochene Aktualität des 1980 verstorbenen Kulturtheoretikers. Der Schwerpunkt der für dieses Themenheft zusammengestellten Beiträge liegt auf Barthes’ vielfältigen Überlegungen zur Theorie der Schrift und des Bildes. Die Fokussierung auf diesen Aspekt des Barthes’schen Œuvres gründet zunächst auf der Beobachtung, dass Barthes’ Einsicht in das irreduzible Ineinander von Aisthesis und Semiosis - wenn auch nicht ausschließlich, so doch in besonders prägnanter Weise - in den Blick tritt, wo er sich eingehend mit Fragen der Bildlichkeit und Schriftlichkeit befasst. Barthes ist hier weit davon entfernt, die von ihm untersuchten kulturellen Phänomene - seien diese nun alltäglicher oder ästhetischer Art - auf der Grundlage eines aisthetischen Reduktionismus zu behandeln. Zwar zeigt er sich davon überzeugt, dass die Kategorie der Bildlichkeit nicht aus dem Einflussbereich der Sprache herauszulösen ist, wie heutzutage von namhaften Bildtheoretikern gefordert wird (cf. Boehm 2007). Jedoch führt ihn die Gewissheit, dass “der Semiologe Schrift und Bild auf gleiche Weise behandeln darf”, da es sich bei beiden medialen Registern um Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 174 “Zeichen” handele (Barthes 2010 a: 259; Hervorh. im Original), nicht zu einer einseitigen sprachanalytischen Rationalisierung des Bildes. Der frühe Barthes bekennt sich offen zu einer “generalisierte[n] Auffassung von Sprache” (ebd.: 253), der zufolge alles, was in irgendeiner Form bedeutungsvoll ist, zu einer Schrift - und somit zu einem semiotischen Phänomen - wird (cf. ebd.). Diese Auffassung zielt allerdings mitnichten an der Sinnlichkeit der Zeichen vorbei. Es sind nie nur abstrakte Bedeutungsgehalte allein, die Barthes’ semiologisches Interesse auf sich ziehen; vielmehr sind es immer auch die materielle Praxis der Zeichensetzung wie auch die sinnliche Dimension der Zeichenrezeption, die im umfangreichen Corpus seines Werkes verhandelt werden. Anders gesagt: Wenn Barthes das Reich der Zeichen unter der Prämisse einer generalisierten Auffassung von Sprache untersucht, die selbst wiederum auf einer generalisierten Auffassung von Schrift beruht, dann leistet er dies auf der Basis eines Sprach- und Schriftverständnisses, in dem die Sinnlichkeit der Zeichen niemals in einem Hegel’schen Sinne zu Gunsten des Begrifflichen ‘aufgehoben’ wird. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Sachverhalt in Barthes’ Variations sur l’écriture, die für die Barthes-Forschung gewissermaßen eine Neuentdeckung darstellen und in diesem Themenheft erstmals in der ihnen gebührenden Intensität untersucht werden. 1973 entstanden, blieb der Text aus bislang ungeklärten Gründen zu Barthes’ Lebzeiten unpubliziert. Erst im Jahr 1994 wurden die Variations in Frankreich in den Œuvres complètes zugänglich gemacht; in Deutschland erschien der Text 2006 unter dem Titel Variationen über die Schrift. Publiziert wurde eine Abhandlung, die in gewissem Sinne in einer Reihe mit jenen Arbeiten steht, in denen sich zu Beginn der 1970er-Jahre ein Umbruch im Denken Barthes’ vollzieht. Plakativ gesagt, ereignet sich in dieser Zeit die Wendung vom ‘Strukturalisten’ Barthes zum ‘Poststrukturalisten’ Barthes, wobei seine Überlegungen zur Schrift den wohl sinnfälligsten Teil dieser Entwicklung widerspiegeln: In L’empire des signes (1970) ist die japanische Schrift Projektionsfläche für eine Utopie des Zeichens, in der die ‘Zeichenleere’ Freiheit von der Repression des Konnotativen verspricht, während das Schriftzeichen als Phänomen der Oberfläche zur Chiffre für unterschiedlichste kulturelle Bereiche - von der Küche bis zum Stadtplan - wird. In Le plaisir du texte (1973) ist die Schrift schließlich nichts weniger als eine “Wissenschaft von den Wollüsten der Sprache” (Barthes 2010 b: 14). Das Phänomen der Schrift im Allgemeinen sowie die Praxis des Schreibens werden auf diese Weise zu Paradebeispielen für die Sinnlichkeit der Zeichen insgesamt. Wie Ottmar Ette (2010: 131) treffend bemerkt, kommt den Variations vor allem deshalb eine Schlüsselstellung im Barthes’schen Werk zu, weil sie eine Art “missing link” zwischen L’empire des signes und Le plaisir du texte darstellen: In L’empire des signes operiert Barthes innerhalb eines explizit fiktionalen Szenarios ‘Japan’ - “ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen” (Barthes 1981: 13) -, in dem die Zeichen für den westlichen Besucher von ihrer Bedeutungsfunktion befreit sind; die Variations wenden sich dagegen ausdrücklich der realen Schriftgeschichte und ihrer Darstellung zu. In Le plaisir du texte steht die Dynamik von Text und Leser im Vordergrund; demgegenüber wenden die Variations den Blick nicht primär auf den Text und seinen Leser, sondern auf die konkreten Praktiken des Schreibens, wodurch insbesondere der Anteil des gestuellen Vollzugs an der ‘Lust am Text’ mit besonderem Nachdruck hervorgehoben wird. Diese Schwerpunktsetzung ist insofern bemerkenswert, als Barthes durch sie ein explizit anti-phonozentristisches Schriftdenken zu begründen versucht, welches viele Argumente vorwegnimmt, die in der neueren Schriftlichkeitsdebatte - überraschenderweise ohne nennenswerten Rekurs auf Barthes - intensiv diskutiert werden (cf. Krämer/ Cancik-Kirschbaum/ Totzke 2012). So setzt Barthes in den Variations in Anlehnung an André Leroi-Gourhan Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 175 (1987) voraus, dass der menschliche Graphismus - und damit auch die Schrift - Eigenschaften besitzt, die von den medialen und phänomenologischen Registern des Mündlichen unabhängig sind. Seines Erachtens existiert zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein bedeutender “ontologische[r] Unterschied” (Barthes 2006: 49), durch den die Sphäre des Visuellen und Taktilen eine weitreichende Autonomie gegenüber der Sphäre des Hörens und Sprechens erhält. Schrift im ‘ursprünglichen Sinne’ bezeichnet für Barthes sodann in erster Linie eine “skripturale[…] Geste” bzw. den “manuelle[n] Sinn des Wortes” (ebd.: 8, 9; Hervorh. die Verf.). Leitend ist für ihn dabei der folgende Grundsatz: “[…] die Hand, das Auge lenken die Schrift, nicht die Vernunft der Sprache” (ebd.: 101). An anderer Stelle heißt es: “Die Schrift steht immer auf Seiten der Gebärde […]: sie ist taktil, nicht oral” (ebd.: 171; Hervorh. im Original). Hinter Worten wie diesen steht selbstredend keine grundlegende Sprachskepsis, wohl aber die Überzeugung, dass Schrift zuvorderst einen leiblichen, performativen oder - um einen von Barthes in Anspruch genommenen Ausdruck zu benutzen - rhythmischen Ursprung besitzt (cf. ebd.: 181). Es ist dies ein Ursprung, der nach Barthes’ Auffassung durch die traditionelle alphabetozentristische Engführung des Schriftbegriffs in Vergessenheit geraten ist. Unter anderem deshalb kritisiert er die traditionelle Vorstellung von der Schrift als eines sekundären semiotischen Systems, dessen Funktion ausschließlich darin bestehe, die gesprochene Sprache dauerhaft zu fixieren, als einen beklagenswerten “Übelstand” des abendländischen “Ethnozentrismus” (ebd.: 31). Für Barthes liegt auf der Hand, dass das Phänomen der Schrift nicht einfach nur für ein diskursives Medium des Sagens, sondern immer auch für ein aisthetisches Medium des Zeigens steht. Die semiotische Dimension der Schrift ist für ihn von daher untrennbar mit der Dimension der Aisthesis verbunden. Um die Variations sur l’écriture in historischer und systematischer Perspektive als einen Schlüsseltext sowohl für das Barthes’sche Œuvre als auch für die gegenwärtige Schriftlichkeitsdebatte kritisch zu reflektieren, skizzieren wir im Folgenden das Verhältnis von Barthes’ Ausführungen zu seinen zeitgenössischen Quellen einerseits und zur neueren Schrifttheorie andererseits. Im Anschluss daran umreißen wir Aspekte des Postsemiotischen im Barthes’schen Denken, auch über seine Überlegungen zur Schrift hinaus, um noch einmal auf die Frage zurückzukommen, ob die Semiotik ihre beste Zeit hinter sich hat. Generell gilt es in Bezug auf die Schwerpunktsetzung dieses Themenheftes folgenden Aspekt im Auge zu behalten: Wenn die nachstehenden Beiträge den unterschiedlichen Konstellationen von Aisthesis und Semiosis im Barthes’schen Werk nachspüren, so ist damit kein einheitliches Theorem postuliert; tatsächlich erweist sich das Verhältnis von Aisthesis und Semiosis als Gemengelage. Nicht nur neigen diverse Texte Barthes’ in unterschiedlichem Maße der einen oder anderen Seite zu, auch das Verhältnis der beiden Bereiche changiert. So spielt Barthes in manchen Schriften Aisthesis und Semiosis gegeneinander aus (etwa indem er die Autonomie des Signifikanten feiert oder umgekehrt die allgemeine Anwendbarkeit sprachbezogener Kategorien postuliert); an anderen Stellen scheinen sie miteinander verwoben oder komplementär zu sein - und oft genug lassen sich beide Bewegungen im selben Text festmachen. Diese komplexen Verhältnisse zeigen sich auch in der Vielfalt der Aspekte, die in den Beiträgen des vorliegenden Themenheftes zur Sprache kommen. Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 176 3 Barthes’ Variations sur l’écriture (1973) - ein neu zu entdeckender Schlüsseltext für die Schrifttheorie Die Variations sur l’écriture liefern einen Kommentar zu philologischen und linguistischen Schrifttheorien und konkreten Phänomenen der Schriftgeschichte. Sie analysieren die Schriftforschung der damaligen Zeit auf ihre grundlegenden Denkfiguren hin und setzen ihnen einen Schriftbegriff entgegen, der die materiellen und performativen Aspekte der Schrift hervorhebt und auf diese Weise mit einer weitgehend phonozentrischen Tradition radikal bricht. Damit einher geht ein grundlegender Wandel des Schriftbegriffs innerhalb von Barthes’ eigenem Werk: Stand in früheren Arbeiten der Begriff der écriture als Bezeichnung für “eine Spielart des literarischen Stils” (ebd.: 7) im Fokus, tritt an dessen Stelle nun der Begriff der scription zur Bezeichnung des “muskuläre[n] Akt[es] des Schreibens, der Prägung der Buchstaben” (ebd.) sowie zur Reflexion jener gestischen Aspekte des Schreibprozesses, deren Neuigkeitswert bereits im vorangegangenen Abschnitt hervorgehoben wurde. Die Variations präsentieren ihre Reflexionen in vier Kapiteln, deren einzelne Abschnitte alphabetisch - und nicht etwa systematisch - angeordnet sind. Auf diese Weise ‘variieren’ die Reflexionen tatsächlich über das Thema Schrift, ohne es für einen systematischen Gesamtentwurf zu vereinnahmen. Gleichwohl zeigt sich, dass die beiden ersten Kapitel Illusions und Système eine Auseinandersetzung mit den in der Literaturliste der Variations (cf. ebd.: 193f.) aufgeführten Autoren führen: Barthes bezieht sich mit den Arbeiten von Gelb (1963 [1952]), Diringer (1948) und anderen auf die vornehmlich philologisch orientierten Gesamtdarstellungen der Schriftgeschichte, die für den Schriftdiskurs der 1950er-Jahre prägend waren. Dabei zeigt sich, dass Barthes, manchmal - fast wie im Vorübergehen - eine ganze Reihe von Gedanken vorbringt, die in frappierender Weise Entwicklungen der neueren Schriftforschung entsprechen: Wer ethnozentrische Ansätze in Schrifttypologie und Schriftgeschichte kritisiert, wer die mediale Dimension von Schrift untersucht oder die Vielfalt ihrer Funktionen und wer die konkrete Situation des Schreibens und den historischen Kontext einer Schreibpraxis in den Blick nimmt, kann sich in gewisser Weise auf Barthes’ Analysen aus den 1970er-Jahren beziehen. Umgekehrt zeigt sich im Vergleich aber auch, wo Barthes durch seine an der Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus orientierte Herangehensweise an manchen Stellen in die Irre geht. Eine Rekonstruktion dieser Zusammenhänge verdeutlicht, wie Fragen der Schriftgeschichte und -theorie mit solchen der Semiotik im weitesten Sinne verwoben sind und was die Hinwendung zur Performativität und Materialität von Schriftzeichen theoretisch impliziert, nämlich eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Aisthesis und Semiosis. Barthes entwirft seinen Schriftbegriff in den Variations gegen einen zeitgenössischen Schriftdiskurs, dessen mythologische Aspekte er entlarven möchte - und überträgt damit sein Anliegen der Mythologies auf den wissenschaftlichen Diskurs. Seine knappe kritische Analyse verweist auf drei Zusammenhänge, die in diesem Diskurs einen Mythos der Schrift erzeugen und im nächsten Abschnitt dieser systematischen Einführung kritisch rekonstruiert werden sollen. 3.1 Logozentrismus und Ethnozentrismus Erstens stellt Barthes den Zusammenhang von Logozentrismus und Ethnozentrismus heraus (cf. Barthes 2006: 41). Schrift wird - wie weiter oben schon gesagt - traditionellerweise als sekundäres Zeichensystem aufgefasst, dessen ausschließlicher Sinn darin besteht, gesprochene Sprache wiederzugeben. Entsprechend werden Schriften danach eingeteilt, welche Ein- Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 177 heiten der gesprochenen Sprache sie wiedergeben: Lautschriften (Alphabete, Silbenschriften), Wortschriften und Ideenschriften (die ganze Sätze wiedergeben). Diese Einteilung birgt die Gefahr einer historisierenden Interpretation, die die Geschichte der Schrift als eine Evolutionsgeschichte vorstellt, deren telos dann das Alphabet darstellt (cf. ebd.: 27ff.). Alphabetische Schriften gelten aus dieser Perspektive als besonders gute Abbildungen der gesprochenen Sprache und werden als die besten Systeme angesehen - Barthes bezeichnet diese Einstellung als “Alphabetozentrismus” (ebd.: 75; Hervorh. im Original) und kommentiert sie ironisch mit den Worten: “wir sind die besten” (ebd.: 75; Hervorh. im Original). Damit trifft Barthes sehr genau die problematischen Aspekte in Werken wie Gelbs A Study of Writing. Gelb, der in seinem einflussreichen Werk den Terminus ‘Grammatologie’ (cf. Gelb 1963: 23) für die Wissenschaft von der Schrift geprägt hat, nimmt eine Dreiteilung der Schriftsysteme in Alphabete, Silbenschriften und Wortschriften vor (wie die meisten Schriftgeschichten verlegt er das, was Barthes ‘Ideenschriften’ nennt, in die Vorgeschichte der Schrift im eigentlichen Sinn). Seine Typologie steht im Dienst eines allgemeinen Evolutionsmodells der Schrift. Gelb postuliert ein “principle of unidirectional development” (ebd.: 200), das besagt: “writing […] must pass through the stages of logography, syllabography, and alphabetography in this, and no other order” (ebd.: 201). Die ethnozentrische Logik, die Gelbs Darstellung strukturiert, hat eine lange Tradition. Man kann hier an das Hegel-Zitat denken, dem Derridas Grammatologie zu Bekanntheit verholfen hat und dem zufolge die Alphabetschrift “la plus intelligente” (zit. nach Derrida 1967: 11) sei. Auch an bestimmte Aspekte der Humboldt’schen Buchstabenschrift wäre zu denken, die in eine ähnliche Richtung weisen (cf. Humboldt 1963). Schließlich findet die Tradition einer ethnozentrischen Entwicklungslogik ihre Fortsetzung in schrifttheoretischen Arbeiten der 1960erbis 1980er-Jahre. Hervorzuheben wären hier die Arbeiten von Goody/ Watt (1986) und Havelock (1987), die nicht nur die Geschichte der Schrift selbst, sondern vielmehr die Rolle der Schrift in der Geschichte rekonstruieren möchten. Für sie verbindet sich die Entstehung des griechischen Alphabets mit dem ‘griechischen Wunder’ und erhält so gleichsam die Rolle einer prometheischen Initialzündung für die gesamte westliche Zivilisation. Barthes’ Analyse des Alphabetozentrismus passt auf diese Autoren fast noch besser als auf diejenigen, auf die sich seine Überlegungen stützen, da sich das “wir sind die besten” dort vom strukturellen Problem (wieder) zur expliziten These entfaltet hat. Das Grundmuster, das Barthes hier ausmacht, ist also eine typische Denkfigur, die sich im westlichen Schriftdiskurs in vielfältigen Abwandlungen reproduziert findet. Auf bemerkenswerte Weise trifft Barthes’ Kritik sich hier mit den neueren Entwicklungen der Schrifttheorie: Gelbs Darstellung der Schriftgeschichte ist inzwischen vielfach kritisiert worden, sowohl hinsichtlich ihrer Interpretation der historischen Fakten als auch hinsichtlich der allgemeinen teleologischen Struktur des Modells und deren ethnozentrischen Implikationen (cf. exemplarisch die Einschätzung von Coulmas 2003: 15f.). 3.2 Die Reduktion der Schrift auf ihre Transkriptions- und Kommunikationsfunktion Zweitens diagnostiziert Barthes ein für den damaligen Schriftdiskurs typisches (und seiner Auffassung nach insbesondere vonseiten der Sprachwissenschaft forciertes) “transkriptionalistische[s] Vorurteil” (Barthes 2006: 69). Dieses besagt, dass Schrift gesprochene Sprache schlicht transkribiert. Es geht einher mit der Auffassung, gesprochene Sprache diene ausschließlich der Übermittlung von Informationen. Getreu dem Motto: Sprache übermittelt Bedeutung, Schrift hält Sprache fest. Weder Schrift noch Sprache werden in dieser Auf- Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 178 fassung in ihrem medialen Eigensinn erkannt. Vielmehr wird ihnen ein Ideal der Transparenz angetragen, das sie als Medien zum Verschwinden bringt. Gegen diese Sichtweise hält Barthes fest, dass die Domäne der Schrift über die gesprochene Sprache und den Bereich des Sprachlichen insgesamt hinausgehe (cf. ebd.). Zum einen gibt er zu bedenken, dass man von einer ursprünglichen Transkriptionsfunktion nicht ausgehen könne. Zum anderen hebt er hervor, dass die Schrift immer auch andere als kommunikative Funktionen ausgeübt habe. Des Weiteren ruft Barthes in Erinnerung, wie sehr Schrift und gesprochene Sprache neben diesen historischen und funktionalen Faktoren durch soziale Aspekte (die Barthes an dieser Stelle nicht weiter ausführt) und mediale Unterschiede getrennt seien. Dabei werden Letztere von ihm als physische gedacht: Die Schrift ist “mit der Hand verbunden” (ebd.) und unterscheidet sich damit schon rein körperlich von der gesprochenen Sprache. Die Spur dieser Geste ist für Barthes insbesondere im Ideogramm fassbar: “das Ideogramm beispielsweise transkribiert eine Geste, die ihrerseits Zeichen einer Handlung ist” (ebd.). Wir würden heute eher von ‘Logogrammen’ sprechen, aber gemeint sind Schriften wie das Chinesische (cf. ebd.: 29); man kann annehmen, dass Barthes hier die chinesische Kalligraphie und ihre Rückbindung an die Geste des Schreibens vor Augen steht. Diese Ausrichtung auf die Geste des Schreibens findet ihr Echo in aktuellen Arbeiten zur Geste in Schrift und Zeichnung (cf. Richtmeyer & Goppelsröder 2014; Stingelin 2004; Giuriato 2005; Zanetti 2006 ). Mit dem Blick auf die Handschrift werden auch weitere Dimensionen der Schrift wesentlich, die nicht in eine reine Logik der Transkription passen, sei es das Schreibmaterial (cf. Barthes 2006: 173ff.) oder Aspekte wie Kursivität (cf. ebd.: 149f.) und Farbe (cf. ebd.: 149). So lässt sich die von Barthes kritisierte Auffassung auch als ein Ausblenden der Dimension der “Schriftbildlichkeit” (Krämer 2005: 24) fassen. Der mediale Eigensinn von Schriften rückt die Schriften natürlicher Sprachen in eine Reihe mit z.B. mathematischen oder musikalischen Notationen und unterläuft so die Vorstellung einer unüberwindlichen Opposition von Sprache und Bild, von diskursiven und ästhetischen Darstellungsweisen, die eine herrschende Denkfigur unserer Tradition ist. Nicht nur diagnostiziert Barthes die Verdrängung der spezifischen Medialität der Schrift im Schriftdiskurs, er bietet auch eine Erklärung für ihre Entstehung: Schrift ist nicht nur kein transparentes Medium für gesprochene Sprache; vielmehr projizieren wir umgekehrt die Strukturen der Schrift auf die gesprochene Sprache. Die Vorstellung von der Sekundarität der Schrift und ihrer Bestimmung zur Transparenz auf die gesprochene Sprache hin sind, so lautet es in den Variations, selbst nichts anderes als eine “alphabetische Illusion” (Barthes 2006: 51; Hervorh. im Original). Was man als Funktionsprinzip des Alphabets zu erkennen meint - die Wiedergabe der gesprochenen Lautfolge -, wird als Bestimmung der Schrift insgesamt gesetzt; Schriften anderen Typs und andere Gebrauchsweisen von Schrift werden ausgeblendet. Auch hier benennen die Variations Problembereiche, die zu den wichtigsten und fruchtbarsten Untersuchungsbereichen in neueren Arbeiten zur Schrifttheorie gehören. Die Erkenntnis, dass Schrift als Medium nicht “transparent” sein kann, sondern für uns vielmehr ein “Modell der Lautsprache” (Günther 1995: 15) darstellt, hat zu einer Fülle von psychologischen, linguistischen, wissenschaftshistorischen, kulturwissenschaftlichen und philosophischen Untersuchungen zum Verhältnis von Schrift und sprachlichem Wissen geführt. Zu nennen sind etwa die Fülle der Untersuchungen zur Frage der ‘phonologischen Bewusstheit’, d.h. zur Frage, inwieweit die Fähigkeit, sublexikalische Einheiten in der gesprochenen Sprache zu erkennen, vom Erlernen einer Schrift abhängt (cf. die Übersicht in Homer 2009). Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 179 Der Einfluss der spezifischen medialen Eigenschaften der Schrift auf unser Bild von der Sprache ist auch der Ausgangspunkt von Olsons (1991) Arbeiten zur Entstehung metalinguistischer Fähigkeiten sowie einer Reihe von Arbeiten zur Rolle der Alphabetschriften in der Entwicklung linguistischer und logischer Kategorien in der okzidentalen Tradition (cf. z.B. Stetter 1999; Totzke 2004). Gemeinsam ist diesen Ansätzen bei all ihren Unterschieden die Überlegung, dass Schrift Sprache in bestimmter Weise festhält und sie daher als Gegenstand der Betrachtung gemäß ihrer (der Schrift) eigenen medialen Charakteristika vor Augen stellen kann. 3.3 Logozentrismus und die Ausblendung der konkreten Situation des Schreibens Drittens stellt Barthes den Zusammenhang von Logozentrismus und dem Ausblenden der konkreten Situation des Schreibens mit ihren sozialen, materiellen, physischen und psychischen Bedingungen und Konsequenzen dar. Barthes räumt der Betrachtung von Schriften als Systemen im Sinne des klassischen Strukturalismus, d.h. (theoretisch) in Absehung von ihrer Verwendungssituation, durchaus ihren Raum ein: In der Tat stellt Barthes als antilogozentrische These die Behauptung auf, dass Schrift Sprache ist: “Es hat in der Tat zwei Sprachen gegeben, die von zwei verschiedenen Zonen des Cortex abhängen” (Barthes 2006: 49). Die geschriebene und die gesprochene Sprache sind zwei unterschiedliche Modalitäten der Sprache. Und Barthes fügt hinzu: “wir besitzen geradezu zwei Sprachen” (ebd.: 53), insofern wir gleichsam in einer Diglossiesituation leben, in der wir zwei Sprachen mit unterschiedlichen Funktionspotenzialen in unterschiedlichen Kontexten verwenden. Schrift ist eine unabhängige Modalität von Sprache - und in gewisser Hinsicht wie eine eigene Sprache -, gerade nicht ein bloßer technischer Trick, ein gadget, wie es ein Ursprungsmythos will (cf. ebd.: 80), das dem Bereich des Sprachlichen äußerlich wäre. Diese Grundeinsicht, dass Schrift Sprache ist - und damit auch Gegenstand linguistischer Untersuchung -, begann sich bereits in den 1980er-Jahren auch in der Sprachwissenschaft selbst durchzusetzen; inzwischen hat sich die Schriftlinguistik als Teildisziplin der Linguistik etabliert. Jenseits dieser systematischen Betrachtungsweise ist Schrift aber für Barthes vor allem als konkrete Schreibpraxis zu sehen. Im Format der Variations haben ausführliche Fallstudien keinen Raum, aber Barthes deutet zumindest an, wie etwa sozio-ökonomische, medienhistorische und körperliche Aspekte des Schreibens von Bedeutung für die Untersuchung von Schrift sein können. Insbesondere geht es Barthes aber um letztere, um die scription. Denn sie stellt die Verbindung her zwischen den schrifttheoretischen Aspekten und dem Motiv der jouissance. Das letzte Kapitel der Variations, das eben diesen Titel trägt, widmet sich ebenso dem Schreibduktus wie Schreibmaterialien, dem Rhythmus der Schreibbewegung, den Ritualen des Schreibens, dem kulturspezifischen Verhältnis von Körper und Schrift, der Psychologie des Kopierens usw. Diese historische Vielfalt der Schriftpraktiken wird zunehmend als solche auch Thema der Schriftforschung. So spricht etwa Lurie (2011: 2) in seiner Studie zu den Anfängen des Schriftgebrauchs in Japan von “plural literacies”, gerade auch in Hinblick auf Phasen der Schriftgeschichte, für die die Frage der Lesbarkeit von Schriftzeugnissen rückblickend nicht mehr entscheidbar, der Gebrauch also nicht mehr rekonstruierbar ist. Auch in den Einzelstudien, die im Umkreis der sogenannten New Literacy Studies entstehen, wird eine solche Pluralität der Praktiken im Rahmen soziolinguistischer Analysen vorausgesetzt (cf. z.B. Sebba 2007). Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 180 Diese drei beschriebenen Themenkomplexe hängen systematisch miteinander zusammen: Die Privilegierung der Kommunikationsfunktion der Schrift führt zur Abwertung ihres medialen Eigengewichts. Auf der Seite der Rezeption bringt sie die ikonischen Aspekte des Schriftzeichens zum Verschwinden; auf der Seite der Produktion zieht sie eine Abwendung von der Geste des Schreibens nach sich - und führt damit zu einer Aufwertung des Alphabets, das dem Ideal der Transparenz und des unverstellten Blicks auf die Semantik am ehesten zu entsprechen scheint. Barthes bringt gegen diesen Theoriekomplex in den Variations zum einen, wie dargestellt, die Vielfalt historischer Schreibpraktiken ins Spiel, in denen sich Aisthesis und Semiosis überschneiden. Zum anderen wendet er sich aber auch einer Reflexion über die Souveränität des Signifikanten und die Frage der Lesbarkeit zu. Die Aufsprengung der strukturalistischen Einheit von signifiant und signifié ist ein Leitmotiv der poststrukturalistischen Theoriebildung in den 1970er-Jahren und ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Zeichentheorie. Der Rehabilitierung des Signifikanten als Oberflächenphänomen wird gleichsam apotropäische Kraft gegen die Dominanz der Bedeutungsintention des Subjekts zugeschrieben. Wo Barthes dieser Spur folgt, spielt er Aisthesis und Semiosis mithin gegeneinander aus, wobei sich in den Variations mit aller Klarheit die Problematik dieser Konstellation zeigt. Barthes verabsolutiert einzelne Aspekte der Schrift und entfernt sich damit von den konkreten Schriftpraktiken, auf die er den Blick lenken möchte. So notiert er gegen die Privilegierung der Kommunikationsfunktion zur Frage der Lesbarkeit: dass die Schrift allem Anschein nach manchmal (immer? ) auch dazu gedient hat, das ihr Anvertraute zu verbergen. […] Die Kryptographie ist die eigentliche Mission der Schrift. Die Unlesbarkeit des skripturalen Systems ist, weit davon entfernt, mangelhaft, abstoßend zu sein, im Gegenteil seine Wahrheit (die Essenz einer Praxis vielleicht an seiner Grenze, nicht in seinem Zentrum). (Barthes 2006: 23ff.; Hervorh. im Original) Die Beobachtungen, auf die diese These sich stützt - nämlich, dass es einen rituellen und ästhetischen Gebrauch der Schrift gibt, der von semantischer Transparenz abgekoppelt ist (cf. ebd.: 31), dass es ein methodischer Fehler ist, okzidentale Werte der Klarheit und Effizienz auf beliebige kulturelle Kontexte zu projizieren (cf. ebd.: 31 und 43), und dass Schriftbeherrschung auch Herrschaftswissen ist und Schrift als Instrument sozialer Exklusion und Herrschaftssicherung dienen kann (cf. ebd.: 25 und 119ff.) -, diese Beobachtungen sind nicht nur plausibel und finden ihren Widerhall in der neueren Schrifttheorie. In ihnen deutet sich zugleich auch ein grundlegendes Problem an: Barthes’ Kritik an der Bestimmung des Wesens der Schrift über ihre Kommunikationsfunktion bewegt sich hier auf eine Logik der Umkehrung zu (“die Wahrheit liegt auf der anderen Seite” [ebd.: 27]), die - und das zeigt auch die vorsichtige Formulierung in der oben zitierten Passage - eine unglückliche ist. Denn wenn man eine “Nachtseite der Schrift” (ebd.: 25) bestimmen möchte, bringt man sich in die missliche Lage, die Pluralität konkreter Praktiken der Literalität, auf die man sich stützt, gerade wieder zu leugnen. Barthes’ Rede von einer gleichsam liminalen Wesensbestimmung (“die Essenz einer Praxis vielleicht an seiner Grenze, nicht in seinem Zentrum” [ebd.: 25]) trägt dem Rechnung, ohne eine Lösung des Problems weiter zu verfolgen. Barthes verhandelt die Problematik der Lesbarkeit und affirmiert die Souveränität des signifiant, wenn er noch nicht entzifferte Schriften einerseits und “die fiktiven Schriften wie sie von manchen Malern oder manchen Außenseitern imaginiert wurden” (ebd.: 77) andererseits, d.h. Kunstwerke, die mit nicht entzifferbaren schriftähnlichen ‘Zeichen’ arbeiten, vergleicht. Als Beispiele für die ersteren nennt Barthes die Schrift der Osterinseln und die Inschriften des Industals, für die letzteren Werke von Masson und Réquichot (cf. ebd.). Er gelangt zu dem Schluss: Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 181 6 Von einem Einfluss Barthes’ kann aufgrund der oben angedeuteten Editionsgeschichte natürlich nicht die Rede sein, auch Verweise auf die Variations gibt es im Bereich der Schrifttheorie bislang kaum. Das Interessante aber - das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet: keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext, zwischen Nicht-Entziffertem und Nicht-Entzifferbarem. […] Was soll das heißen? Dass der Signifikant frei ist, souverän. Eine Schrift braucht nicht ‘lesbar’ zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinne zu sein. (Ebd.: 77ff.) Was im L’empire des signes noch Utopie ist - die Zeichenleere, die der Schrift in einem ausdrücklich fiktiven Japan ihre Souveränität diesseits jedes Sprachsystems verleiht -, wird in den Variations somit zum Faktum umgedeutet. Lesbarkeit gilt damit nicht länger als intrinsische Funktion der Schrift. Der mit dieser Zeichenleere ermöglichte Blick auf die Materialität des Schriftzugs, die wiederum denjenigen auf die scription freimachen soll, beruht auf einer folgenreichen, von Barthes gleichsam unter der Hand eingeführten Abstraktion. Denn wenn Barthes notiert: “keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext”, so impliziert dies, dass sich die Souveränität des signifiant nur dann behaupten lässt, wenn man von der Verwendung der Zeichen und jedem kontextuellen Hinweis darauf absieht, die aisthetischen Aspekte also völlig von der Zeichenfunktion ablöst. Diese abstrakte Betrachtungsweise dient Barthes dazu, einen in der phonozentrischen Tradition unterbelichteten Aspekt hervorzuheben; eine Definition der Schrift gibt sie unterdessen nicht her. Neuere Ansätze der Schrifttheorie versuchen demgegenüber, gerade der Vielfalt der Gebrauchsweisen Rechnung zu tragen. Grube/ Kogge beschreiben Schrift über drei Perspektiven: die “Operativität” (Typisierung), die “Referenz” sowie die “aisthetische Präsenz” (Grube & Kogge 2005: 12). In unterschiedlichen Gebrauchskontexten können diese Aspekte jeweils unterschiedlich bedeutsam bzw. auch ganz stillgestellt sein (cf. ebd.: 12f.). So lässt sich z.B. der Tatsache Rechnung tragen, dass Schriftzeichen im Rahmen ihrer aisthetischen Präsenz “ikonische Potentiale” (ebd.: 14) entfalten (können). Die von Barthes angeführten fiktiven Künstlerschriften können als Praktiken beschrieben werden, die die Aspekte der Referenz und Operativität stillstellen. Sie werden somit als Abstraktionsleistungen greifbar - ein Aspekt, der verloren geht, wenn man von der ‘Souveränität des Signifikanten’ spricht und damit schon von vornherein von seinen Kontexten und Verwendungsweisen abstrahiert. Was Grube und Kogge als “Struktur-Modell des Schriftbegriffs” (ebd.: 12) entwickeln, wird bei Stingelin (2004), Giuriato (2005) und Zanetti (2006) in medienhistorischer Perspektive für literarische Schreibprozesse untersucht, für die sie drei Aspekte unterscheiden: die “Semantik (Sprache)”, die “Benützung eines Schreibwerkzeugs (Instrumentalität)” sowie die “spezifische Körperlichkeit des Schreibaktes (Geste)” (Stingelin 2004: 18; cf. Giuriato 2005: 7; Zanetti 2006: 12); im Fokus steht dabei die scription und ihre Geschichte. Gemeinsam ist diesem Modell und demjenigen von Grube und Kogge trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen das Bewusstsein, dass Schrift und Schreiben immer von mehreren Seiten zu beleuchten sind, und dass Schrift-Modelle flexibel genug sein müssen, um unterschiedlichen historischen Schriftpraktiken gerecht werden zu können. Barthes kann als Vorläufer dieser unterschiedlichen Entwicklungen in der neueren Schrifttheorie gelten. 6 Interessant sind die Übereinstimmungen vor allem deshalb, weil Barthes’ Überlegungen zur Schrift in den Variations in einem doppelten Kontext stehen: Sie sind einerseits eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Schriftdiskurs. Man kann Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 182 die Variations hier als Vollzug eines performative turn und eines material turn avant la lettre lesen - die Erschließung des Gegenstandsbereichs der Schrift über die Untersuchung von Schreibmaterialien, Schreibbewegungen, Gebrauchssituationen in bestimmten historischen Kontexten wird in Barthes’ Dossier bereits skizziert. Andererseits stehen die Variations aber auch im Kontext eines Gesamtwerks, in dem es unter anderem um die Natur des Zeichens und die Verstrickung unserer Begriffe davon in ideologischen Zusammenhängen geht. Das erlaubt Barthes, die wiederkehrenden Denkfiguren des Schriftdiskurses zu identifizieren und ihren Zusammenhang aufzuzeigen. Allerdings führt ihn seine zeichentheoretische Agenda auch dazu, eine Wesensbestimmung der Schrift vorzunehmen, die seinen eigenen Analysen zum Teil zuwiderläuft. Die Variations machen so deutlich, in welcher Weise unser Diskurs über Schrift in diese Fragestellungen eingebunden ist und welche allgemeinen philosophischen und zeichentheoretischen Entscheidungen wir treffen, wenn wir bestimmte Entscheidungen im Bereich der Schrifttheorie fällen - etwa über das Verhältnis von signifiant und signifié oder die Anforderungen an ein Modell der Schrift. Sie zeigen außerdem, dass zeichentheoretische Analysen, die Schrift und Schreiben ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, sich damit auch der historischen Vielfalt von Schriftpraktiken öffnen müssen. Zugleich zeigt die Betonung der körperlichen und visuell-aisthetischen Aspekte von Schrift, dass diese nicht allein semiotisch einholbar ist. Genauer gesagt: Hier zeigt sich an einem konkreten Untersuchungsbereich, wie schwierig es ist, im Einzelnen das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis zu bestimmen, ohne einer Seite schlicht den Zuschlag zu erteilen. Barthes’ Denken eröffnet damit postsemiotische Perspektiven, die abschließend umrissen werden sollen: Barthes’ mythographische Analysen der materiellen Kultur, die Verortung der ‘Lust am Text’ im Leseprozess und die berühmte Unterscheidung zwischen punctum und studium des fotografischen Bildes verdeutlichen, wie sich das schwierige Verhältnis von Aisthesis und Semiosis durch das gesamte Barthes’sche Werk hindurch verfolgen lässt. 4 Postsemiotische Perspektiven “Kultur kann völlig unter einem semiotischen Gesichtspunkt untersucht werden” (Eco 1987: 54; Hervorh. im Original) - was Umberto Eco in Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen formuliert, kann als der common sense der semiotischen Theoriebildung gelten. Die Semiose, als Kern semiotischen Weltverstehens, bildet nach Peirce bekanntlich einen unendlichen Prozess der Ersetzung von Zeichen durch Zeichen. So wird “jedes Zeichen von einem nachfolgenden in potentiell endloser Reihung ausgedeutet” (Volli 2002: 30). Dass den Ausgangspunkt solcher Semiosen die unterschiedlichsten, dabei aber stets schon als zeichenhaft aufgefassten Objekte bilden können - denn “[n]ichts ist ein Zeichen, wenn es nicht als ein Zeichen interpretiert wird” (Peirce, zit. nach Nöth 1985: 36) -, haben diverse Arbeiten immer wieder gezeigt, so etwa Ecos Ausführungen zur Semiotik der Architektur und den verschiedenen semiotischen Aspekten etwa von Treppen (cf. Eco 2002: 293ff.). Nimmt man den Begriff der Semiose ernst, dann erscheint die Sprache nach gängiger Meinung als das privilegierte Medium, mit dem sich die gesamte als zeichenhaft begriffene Wirklichkeit - und das meint: die gesamte Wirklichkeit - erfassen lässt. In diesem Sinne erklärt auch Roland Barthes in seinem Vortrag zur “Semantik des Objekts” einem semiotisch nicht vorgebildeten Publikum, dass “alles, was in der Welt mehr oder weniger bedeutet, immer mit Sprache Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 183 7 Zu diesen und ähnlichen Denkfiguren in Barthes’ Œuvre cf. Richard 1988. 8 Zu Barthes’ Selbstverständnis als Schriftsteller cf. Bürger 1992 sowie kritisch dazu Ette 1998: 131-133, 163-167. Éric Marty spricht mit Bezug auf die Mythologies von einer “poétisation de ces choses”, die dem Umgang mit Dingen in den Werken von Francis Ponge oder Marcel Proust vergleichbar sei (Marty 2008: 191f.). vermengt ist: es gibt keine signifikanten Objektsysteme im Reinzustand; die Sprache greift immer als Relais an” (Barthes 1988 a: 187). Doch gerade die Objektwelt und die Frage nach der “Weise, in der die Objekte in der heutigen Welt bedeuten können” (ebd.), sind es, die Barthes nicht nur zu semiotisch versierten Analysen - wie etwa in den Mythologies (Barthes 2010 a) - veranlassen, sondern die ihn zugleich an die Ränder des Semiotischen und über das bloß Zeichenhafte hinaus führen. So räumt denn auch Eco ein, dass “die Gesamtheit der Kultur sub specie semiotica” zu betrachten nicht heiße, “Kultur sei nur Kommunikation und Signifikation, sondern es bedeutet, daß man sie gründlicher verstehen kann, wenn man sie unter semiotischen Gesichtspunkten betrachtet” (Eco 1987: 52; Hervorh. im Orig.). Eco weiß also durchaus darum, dass Kultur mehr ist als das bloß Zeichenhafte - und beschränkt sich letztlich doch wieder auf deren rein zeichenhafte Aspekte. Dagegen treibt Barthes diese Einsicht willentlich produktiv voran, indem er gerade “den logischen Widerspruch”, dieses “alte Gespenst” (beide Zitate Barthes 2010 a: 11; Hervorh. im Orig.), sucht, jene “Spalte[n]”, “Zwischenr[ä]um[e]” (ebd.: 22) oder “Haarriss[e]” (Barthes 2006: 99; Hervorh. im Orig.), 7 an denen der Anspruch der Semiotik auf eine vollständige Erfassung der Welt den Blick freigibt auf nicht-semiotische Aspekte der Wirklichkeit, an denen - anders formuliert - Semiosis und Aisthesis ineinanderwirken und eine körperliche Ergriffenheit erzeugen. In der neueren Diskussion um Semiotik und Hermeneutik hat insbesondere Dieter Mersch auf die “Residuen des ‘Asemiotischen’” (Mersch 2010: 13) aufmerksam gemacht. Unter dem Titel Posthermeneutik fasst Mersch das von den Zeichen “Unabgegoltene” (ebd.) unserer Semiosphäre, wozu “die Materialität der Dinge, die Leiblichkeit des Körpers” zählen, “aber auch das Übriggelassene, die untilgbaren Reste, derer wir nicht Herr werden, der Verfall, das Altern oder die zeitliche Erosion, die nicht erfasst, begriffen oder berührt werden können” (ebd.; Hervorh. im Orig.). Indem Barthes die Grenzen des Semiotischen in seinem Werk wiederholt überschreitet, erscheint er gleichsam als Vordenker einer solchen Posthermeneutik oder Postsemiotik (cf. Weyand 2013 b: 111f., 117f.). Gibt es einerseits berechtigterweise ein Einverständnis darüber, dass das Werk Roland Barthes’ von Diskontinuitäten und Wendungen gekennzeichnet ist (cf. Bensmaïa 1988: 182), wie sie für sein Schrift- und Textverständnis in den Abschnitten 2 und 3 dieser Einleitung ausführlich dargelegt worden sind, so bilden andererseits demgegenüber nicht nur das Problem der Signifikation (cf. Genette 1966: 188), sondern auch Aspekte des A- oder Postsemiotischen eine überraschende Kontinuität in Barthes’ Denken, die sich von den Mythologies bis zu La chambre claire nachvollziehen lässt. Diese postsemiotischen Elemente stellen die Semiotik - wie eingangs erwähnt - nicht grundsätzlich in Frage. Denn mit dem postsemiotischen Bewusstsein haben sich die das Semiotische überschreitenden Phänomene keineswegs erledigt, sondern verlangen, wenn darüber kommuniziert werden soll, danach, “durch anderes wahrnehmbar und bezeichenbar” (Mersch 2010: 13; Hervorh. im Orig.) gemacht zu werden, also semiotisiert und in die unablässige Zirkulation der Semiose eingeführt zu werden. Barthes’ Texte operieren häufig parallel an der ‘klassischen’ semiotischen Analyse kultureller Phänomene, die sie virtuos vollführen, begeben sich an die Ränder des Semiotischen und leisten durch ihre literarischen Verfahren 8 eine Erstsemiotisierung des Asemiotischen. Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 184 9 Zu den Mythologies, ihrer Entstehung und Rezeption cf. Weyand 2012. 10 Zur aktuellen Dingforschung cf. Böhme 2006; Daston 2004; Hahn 2005; Kohl 2003; Weyand 2013 a. 11 Auf diese Qualität einiger Mythologien Barthes’ weisen auch Eco und Pezzini hin: “Dans d’autres [mythologies; die Verf.], comme ‘La nouvelle Citroën’, ou dans des pages comme celles qu’il écrit sur la chevelure des Romains au cinéma, la signification agissait précisément à travers des objets, des choses, plutôt qu’à travers des mots.” (Eco/ Pezzini 1982: 39) 4.1 Materielle Kultur/ Dinge Analoges gilt, wo die Dinge selbst zu Zeichen werden - auch hier ist das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis ein komplexes. Exemplarisch zeigt sich dies bereits in den Mythologies, jenen feuilletonistischen Artikeln, die zwischen 1954 und 1956 monatlich in der von Maurice Nadeau herausgegebenen Zeitschrift Les lettres nouvelles und 1957 gebündelt in Buchform erschienen. 9 Barthes nimmt in seiner Kolumne alltägliche Phänomene wie die Tour de France, Beefsteak mit Pommes Frites, das Gesicht Greta Garbos, Sandalenfilme oder Reinigungs- und Waschmittel in den Blick. Die bekannteste dieser Analysen ist Barthes’ Text über die Citroën DS 19. Barthes beschreibt das Automobil als ein “vollkommen magisches Objekt” (Barthes 2010 a: 196), beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die Namensgebung der DS, in der durch die Homophonie zur ‘déesse’ das Göttliche bereits als Zeichenassoziation angelegt ist. Barthes entwirft ein weiträumiges Assoziationsfeld, in dem die DS mit gotischen Kathedralen, dem Gewand Christi, Jules Vernes Nautilus, Fritz Langs Metropolis und modernen Haushaltsgeräten verknüpft wird. Es zeichnet die semiotischen Analysen der Mythologies aus, dass die Semantik der Dinge darin nicht allein auf sprachliche Konnotationen zurückgeführt, sondern - in Vorwegnahme aktueller Ansätze der material culture- und Dingforschung 10 - aus der Materialität der Dinge selbst entwickelt wird. 11 So gründet der Vergleich der DS mit dem nahtlosen Gewand Christi auf den neuartigen Gummifugen, die das Heckfenster einfassen, sowie auf den Verbindungsstellen zwischen den Blechteilen, deren “taktile[…] Erkundung” (ebd.: 198) Barthes zwar als kleinbürgerlich desavouieren will, zugleich jedoch textuell nachvollzieht und damit in ihr Recht setzt: Eifrig betastet es [das Publikum; die Verf.] die Ränder der Fenster, es streicht mit der Hand über die breiten Gummifugen, die das Heckfenster mit seiner verchromten Einfassung verbinden. […] Die Blechteile, die Verbindungsstellen werden berührt, die Polster betastet, die Sitze ausprobiert, die Türen gestreichelt, die Lehnen befühlt. (Ebd.: 197f.) Die “neue Phänomenologie der exakten Passung” (ebd.: 197), die Barthes der DS zuschreibt, will demnach körperlich erfahren werden und ist nicht vollends semiotisch einzuholen: Sie ist nur fassbar im sinnlichen Erlebnis ihrer aisthetischen Präsenz, durch “sinnlich-affektive Teilnahme” (Böhme 1995: 51). Wiederholt weist Barthes, insbesondere in seinem Nachwort “Der Mythos heute”, auf die “sinnliche Realität” (Barthes 2010 a: 262) des Signifikanten und Effekte der Präsenz im Alltagsmythos. Diese Präsenzeffekte sind aus der ideologiekritischen Perspektive, die Barthes in den Mythologies einnimmt, problematisch, weil sie mitverantwortlich dafür sind, dass der Alltagsmythos Geschichte als Natur, d.h. gemachte Aussagen als natürliche Gegebenheiten erscheinen lässt (cf. ebd.: 278). Trotz dieser Kritik vollziehen die Mythologies selbst Oszillationsbewegungen zwischen Bedeutungs- und Präsenzeffekten, wie sie Gumbrecht (2004: 210ff.) als charakteristisch für die Faszination durch Gegenstände des ästhetischen Erlebens ausgemacht hat. Mit diesem Wechselspiel und Ineinandergreifen von Bedeutung und Präsenz - oder: Semiosis und Aisthesis - partizipieren die Mythologies an einer Entwicklung der Faszination, die diese im Verlauf des Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 185 12 Rückblickend konstatiert Barthes, die Mythologies fielen in eine Schaffensphase, die von Faszination geprägt gewesen sei (cf. Barthes 1988 b: 8). 20. Jahrhunderts zu einer positiven Erlebnisweise im Umgang mit Dingen aufsteigen lassen (cf. Connor 1998; Hahnemann & Weyand 2009). 12 4.2 Lesen In den Variations findet sich ein Eintrag, der dieses Ineinander von Bedeutung und Präsenz, von Semiosis und Aisthesis anhand einer Manuskriptseite auf den Lektüreprozess überträgt: Unendlich. Ich habe eine Manuskriptseite vor mir; etwas, das gleichzeitig an der Perzeption, der Intellektion, der Assoziation teilhat - aber auch am Gedächtnis und am Genuss - und das man Lektüre nennt, setzt sich in Gang. Diese Lektüre, wo werde ich, wo kann ich damit innehalten? Sicher, ich sehe genau, von welchem Raum mein Auge ausgeht; aber wohin? Welchem anderen Raum passt es sich an? Reicht es hinter das Papier? (aber hinter dem Papier ist der Tisch). Welches sind die Ebenen, die jede Lektüre entdeckt? Wie ist die Kosmographie beschaffen, die dieser einfache Blick postuliert? Sonderbarer Kosmonaut, der ich bin, durchquere ich viele Welten, ohne in einer einzigen innezuhalten: die Weiße des Papiers, die Form der Zeichen, die Gestalt der Wörter, die Regeln der Sprache, die Zwänge der Botschaft, die verschwenderische Fülle der assoziierten Sinnebenen. Dieselbe unendliche Reise in der Gegenrichtung, auf den Spuren dessen, der schreibt: vom geschriebenen Wort kann ich zurückgreifen auf die Hand, den Muskel, das Blut, den Trieb, die Kultur des Körpers, seinen Genuss. Zu beiden Seiten erstreckt sich die Schrift-Lektüre bis ins Unendliche, bezieht den ganzen Menschen ein, seinen Körper und seine Geschichte; es ist ein panischer Akt, dessen einzige gesicherte Definition die ist, dass er nirgendwo innehält. (Barthes 2006: 155/ 157; Hervorh. im Original) Wenn der beschriebene Leseakt “nirgendwo innehält”, erscheint er als Prozess der unendlichen Semiose: Assoziationen, eine Fülle von Sinnebenen, die Regeln der Sprache, aber auch die Zwänge der Botschaft halten diesen Prozess in Gang und bewirken eine Lust am Text. Als ‘Schrift-Lektüre’ (und nicht allein Textlektüre) geht diese Semiosis mit einer aisthetischen Wahrnehmung einher: Die Weiße des Papiers sowie die Form und Gestalt der Zeichen und Wörter, also die Materialität des Schriftträgers und die Bildlichkeit der Schrift, wirken ebenso in die Lektüre wie der Text und sein Sinnpotential. Die Lektüre folgt damit dem von Sybille Krämer formulierten aisthetischen Grundpostulat: “[D]ie Materialität eines Sinns wird gegenwärtig nur in der Materialität eines Sinnlichen” (Krämer 2004: 20). Für Barthes führt dieser Weg noch weiter, von der Manuskriptseite zum Körper des Schreibenden. Doch welche Rolle kommt der Aisthesis und den Effekten von Präsenz zu, wenn es sich nicht um ein Manuskript handelt, sondern um einen gedruckten Text? 4.3 Text und Diegese Mit Le plaisir du texte legt Barthes eine Texttheorie vor, die die Autonomie des Signifikanten feiert. Barthes stellt der auf den Fortgang der Geschichte orientierten Lektüre eine Lektüreweise entgegen, der es um den Genuss des Signifikanten und der Signifianz (signifiance) geht. Diese andere Lesart läßt nichts aus; sie ist schwergewichtig, klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Beflissenheit und einem Fortgerissensein, ergreift an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 186 das die Sprache zerschneidet - und nicht die Anekdote: Nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blätterwerk der Signifianz […]. (Barthes 2010 b: 21) Unter Signifianz begreift Barthes den “Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird” (ebd.: 77; Hervorh. im Original) und somit auch sinnlich, d.h. aisthetisch wahrnehmbar ist. Erfolgt die Rückbindung der Schrift an den Körper über die Hand, so entwirft Barthes für den Text eine gleichsam utopische, zumindest jedoch imaginäre Fundierung in der Stimme: Wäre es möglich, sich eine Ästhetik der textuellen Lust vorzustellen, dann müßte in sie eingehen: das Schreiben mit lauter Stimme. […] Das Schreiben mit lauter Stimme ist […] nicht expressiv; es überläßt die Expression dem Phäno-Text, dem regulären Code der Kommunikation; es selbst gehört jedoch zum Geno-Text, zur Signifianz […]. (Ebd. 82f.; Hervorh. im Original) Anstelle der “Klarheit der Botschaften” ist das Ziel dieser Ästhetik der textuellen Lust eine “von Haut überzogene[…] Sprache”, ein “Text, in dem man das Korn der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Lüsternheit der Vokale, eine ganze Stereophonie, die tief ins Fleisch reicht, hören kann” (ebd.: 83). Auf diese Weise wird der Körper des Schreibenden im Text präsent: “Das körnt, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: das lüstet” (ebd.: 84), lautet der letzte Satz von Le plaisir du texte. Bemerkenswert ist unter postsemiotischer Perspektive nicht nur, dass Barthes den Text über die Signifianz und damit insbesondere über den Signifikanten an den Körper rückbindet. Auch die Signifikatsebene der Diegese, d.h. der erzählten Welt, ermöglicht Effekte der Präsenz. So führt Barthes über die Lektüre eines Textes von Stendhal aus: In einem alten Text, den ich soeben gelesen habe (einer Episode aus dem Leben der Kirche, von der Stendhal berichtet), wird Nahrung benannt: Milch, Brotschnitten, Sahnekäse aus Chantilly, Konfitüre aus Bar, Orangen aus Malta, gezuckerte Erdbeeren. Ist dies noch eine Lust der reinen Repräsentation (die dann nur von einem Leser als Feinschmecker empfunden wird)? Aber eigentlich mag ich Milch oder derlei Süßspeisen nicht besonders, und ich projiziere mich kaum in die Details solcher Leckereien. Etwas anderes geschieht, was zweifellos an einen anderen Sinn des Wortes “Repräsentation” gebunden ist. Wenn jemand in einer Diskussion für seinen Gesprächspartner etwas repräsentiert, so führt er nur den letzten Zustand der Realität an, das Unbehandelbare, das ihr innewohnt. Genauso wohl der Romancier, der die Nahrung anführt, benennt, mitteilt (sie als etwas Mitteilbares behandelt) und damit dem Leser den letzten Zustand der Materie aufdrängt, das, was in ihr nicht überholt, zurückgedrängt werden kann […]. Das ist es! Dieser Ausruf darf nicht als eine Erleuchtung der Intelligenz aufgefaßt werden, sondern als die Grenze der Namengebung, der Imagination selbst. Es gäbe somit am Ende zwei Realismen: Der erste dechiffriert das “Reale” (was sich nachweisen, aber nicht sehen läßt); der zweite sagt die “Realität” (was sich sehen, aber nicht nachweisen läßt); der Roman, der diese beiden Realismen miteinander vermischen kann, fügt dieser Einsehbarkeit des “Realen” den phantasmatischen Schweif der “Realität” hinzu: Erstaunen, daß man im Jahre 1791 “einen Orangensalat mit Rum” zu sich nahm, wie in unseren Restaurants heute: ein Stück des historisch Intelligiblen und die Hartnäckigkeit der Dinge (die Orange, der Rum), schlicht da zu sein. (Ebd.: 59f.; Hervorh. im Original) Für Barthes entsteht die Lust am Text auch an diesen “Klüftung[en]” (ebd.: 61), an denen die textuelle Repräsentation sich öffnet und umschlägt in Momente der Präsenz, durch die die Dinge “schlicht da sind” in ihrer Materialität, dem “letzten Zustand der Materie”, dem, “was in ihr nicht überholt, zurückgedrängt werden kann”. Diese aisthetische Präsenz zeigt die Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 187 Grenzen der Semiosis auf: “Ich weiß wohl, daß dies nur Wörter sind, aber dennoch … (ich bin bewegt, als ob diese Wörter eine Realität aussagen würden).” (Ebd.: 62; Hervorh. im Original) 4.4 Das fotografische Bild Wenn sich dieses Erlebnis der Präsenz in Le plaisir du texte im Ausruf “Das ist es! ” artikuliert, so nimmt dies bereits eine zentrale Wendung aus La chambre claire vorweg: In seinem berühmten Versuch, zu einer “‘Bestimmung’ der P HOTOGRAPHIE ” zu gelangen, stößt Barthes auf die “unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit (‘Es-ist-so-gewesen’) und Wahrheit (‘Das ist es! ’)” (Barthes 1989: 124; Hervorh. im Original). Durch dieses Ineinander von Wirklichkeit und Wahrheit erscheint für Barthes “[j]egliche Photographie” als “eine Beglaubigung von Präsenz” (ebd.: 97) des Gezeigten - eine Präsenz, in der “das Abbild bis an jenen verrückten Punkt [führt], wo der Affekt […] das Sein verbürgt” (ebd.: 124). Dabei wird das Es-ist-sogewesen zum punctum der Fotografie, jenem nicht kalkulierbaren Detail, durch das der Betrachter affiziert wird: “Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht” (ebd.: 36; Hervorh. im Original). Barthes führt das punctum zunächst als ein formales Gegenelement zum studium ein als einer Rezeptionsweise, die sich auszeichnet durch “die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit” (ebd.: 35). Mit dem Es-ist-sogewesen bestimmt sich das punctum nicht mehr über die Form, sondern über die “Dichte”, es “ist die Z EIT ” (ebd.: 105; Hervorh. im Original). Die entscheidende Differenz zwischen studium und punctum liegt in ihrem Verhältnis zur semiotischen Codierung: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (ebd.: 60; Hervorh. im Original). Das studium ist damit semiotisch erfassbar, das punctum kann dagegen nur aisthetisch erfahren werden, und doch bestimmt gerade dieses asemiotische Detail “plötzlich meine ganze Lektüre” (ebd.: 59). Es scheint, als sei die Semiosis in La chambre claire, Barthes’ letzter Veröffentlichung, damit zugunsten der Aisthesis an ihr Ende gelangt. Hat die Semiotik also ihre beste Zeit hinter sich? In seinem Nachruf auf Barthes hat Jacques Derrida die Untrennbarkeit von studium und punctum hervorgehoben: [C]ette apparente opposition (studium/ punctum) n’interdit pas, favorise au contraire une certaine composition entre les deux concepts. Que faut-il entendre par composition? Deux choses, qui encore composent ensemble. […] Séparés par une limite infranchissable, les deux concepts passent entre eux des compromis, ils composent l’un avec l’autre et nous y reconnaîtrons tout à l’heure une opération métonymique : le ‘hors champ subtil’ du punctum, son hors code compose avec le champ ‘toujours codé’ du studium. Il lui appartient sans lui appartenir, il y est insituable, ne s’inscrit jamais dans l’objectivité homogène de son espace cadré mais il l’habite ou plutôt le hante : ‘C’est un supplément : c’est ce que j’ajoute à la photo et qui cependant y est déjà.’ (Derrida 1981: 274; Hervorh. im Original) Das studium und das punctum sind demnach durch eine unüberwindliche Grenze getrennt - diejenige zwischen dem Außerhalb des Codes und dem immer Codierten -, und doch ist das punctum dem studium immer schon zugehörig. Ihr Verhältnis, und damit das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis, ist demzufolge keines der Ersetzung. So wenig wie die Postmoderne ohne die Moderne und der Poststrukturalismus ohne den Strukturalismus auskommen, so wenig - davon sind die Herausgeber dieses Themenheftes überzeugt - gelangt die Semiotik an ihr Ende durch die Dringlichkeit postsemiotischer Fragestellungen. Die gegenwärtige Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 188 Legitimationskrise der Semiotik beruht auf einer teils begründeten, teils jedoch auf einer auf selektiver Rezeption der Semiotik fußenden Kritik. Ist die Semiotik in einigen ihrer einschlägigen und prominenten Positionen tatsächlich von einem aisthetischen Reduktionismus geprägt, so schließt dies noch keineswegs die Möglichkeit aus, Semiosis und Aisthesis zu verbinden. Wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, erweist sich die Semiotik nicht nur als anschlussfähig an aktuelle Diskurse um Präsenz und Aisthesis; mit dem Œuvre Roland Barthes’ werden diese Aspekte von einem Klassiker der semiotischen Theoriebildung bereits auf vielfältige Weise verhandelt. Das Themenheft möchte auf diese Aspekte in Barthes’ Denken aufmerksam machen und dazu beitragen, seine Schriften für die weitere Diskussion um Semiosis und Aisthesis produktiv zu machen. 5 Danksagung Die Mehrzahl der Beiträge dieses Themenhefts geht auf eine von den Herausgebern veranstaltete Tagung desselben Titels zurück, die vom 26. bis 28. September 2012 am DFG- Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Institut für Germanistik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg stattfand. Unser Dank gilt daher an erster Stelle Prof. Dr. Sybille Krämer als Leiterin des Graduiertenkollegs. Ohne ihre Unterstützung hätte die Tagung (und in der Folge diese Publikation) nicht realisiert werden können. Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich danken wir für die Möglichkeit, die Beiträge als Themenheft der Zeitschrift Kodikas/ Code zu veröffentlichen - und nicht zuletzt für seine Geduld. Rahel von Minden hat uns kompetent bei der redaktionellen Bearbeitung einzelner Texte geholfen; dafür sei ihr herzlich gedankt. Bibliographie Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1988 a: “Semantik des Objekts”, in: Barthes 1988 b: 187-198 Barthes, Roland 1988 b: Das semiologische Abenteuer, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1989: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006: Variations sur l’écriture / Variationen über die Schrift, Französisch - Deutsch, übersetzt von Hans-Horst Henschen, mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2010 a: Mythen des Alltags, vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin: Suhrkamp Barthes, Roland 2010 b: Die Lust am Text, aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp Bensmaïa, Réda 1988: “Vom Fragment zum Detail”, in: Henschen (ed.) 1988: 181-208 Blanke, Börries, Antonella Giannone & Pascal Vaillant 2005: “Semiotik”, in: Sachs-Hombach, Klaus (ed.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/ M.: Suhrkamp: 149-162 Boehm, Gottfried 2007: Wie Bilder Sinn erzeugen. 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