eJournals Kodikas/Code 37/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Der vorliegende Band enthält die Beiträge zu einer Kongresssektion, die 2011 beim 13. Internationalen Semiotik-Kongress in Potsdam stattgefunden hat. Der Kongress stand unter dem Motto 'Repräsentation, Virtualität, Praxis'; dieses Thema trug die Sektion Rechnung mit dem Titel 'Imagination – Funktionen des virtuellen Erlebens'. Lässt man nun die Reihe der hier versammelten Aufsätze Revue passieren, könnte dieser Titel übermäßig restriktiv erscheinen für die imaginative Vielfalt, mit der die Sektionsteilnehmer auf die Sektionsausschreibung reagiert haben. So könnte z.B. 'virtuell' als die Negation von 'real' verstanden werden: dass eine solche Unterscheidung jedoch zu kurz greift, soll in Abschnitt 1 dieser Einleitung diskutiert werden. Auch der Begriff des 'Erlebens' könnte verengt verstanden werden; zum einen als ausschließlich individuell-kognitiver Begriff (siehe hierzu Abschnitt 2), zum anderen als rein passives Konzept, wohingegen die Beiträge zu diesem Band weitgehend überindividuelle Imaginarien besprechen und durchgehend das kreativ-produktive Element der Imagination herausarbeiten (dazu Abschnitt 5). Es besteht somit Klärungsbedarf.
2014
371-2

Einleitung: Begriffe, Facetten, Formen der Imagination

2014
Daniel Jacob
1 Vgl. die Beiträge in Markman/ Klein/ Suhr eds. (2009), besonders Decety/ Stevens (2009) und Beilock/ Lyons (2009), in denen simulation mit motor imagery gleichgesetzt wird, bestimmt als “ability to mentally simulate an action without overt execution” (Beilock/ Lyons 2009: 22). Einleitung: Begriffe, Facetten, Formen der Imagination Daniel Jacob (Freiburg i. Br.) Der vorliegende Band enthält die Beiträge zu einer Kongresssektion, die 2011 beim 13. Internationalen Semiotik-Kongress in Potsdam stattgefunden hat. Der Kongress stand unter dem Motto Repräsentation, Virtualität, Praxis; diesem Thema trug die Sektion Rechnung mit dem Titel Imagination - Funktionen des virtuellen Erlebens. Lässt man nun die Reihe der hier versammelten Aufsätze Revue passieren, könnte dieser Titel übermäßig restriktiv erscheinen für die imaginative Vielfalt, mit der die Sektionsteilnehmer auf die Sektionsausschreibung reagiert haben. So könnte z.B. ‘virtuell’ als die Negation von ‘real’ verstanden werden: dass eine solche Unterscheidung jedoch zu kurz greift, soll in Abschnitt 1 dieser Einleitung diskutiert werden. Auch der Begriff des ‘Erlebens’ könnte verengt verstanden werden; zum einen als ausschließlich individuell-kognitiver Begriff (siehe hierzu Abschnitt 2), zum anderen als rein passives Konzept, wohingegen die Beiträge zu diesem Band weitgehend überindividuelle Imaginarien besprechen und durchgehend das kreativ-produktive Element der Imagination herausarbeiten (dazu Abschnitt 5). Es besteht somit Klärungsbedarf: 1 Imagination: “Denken” ohne “Realität”? Es gibt eine Primärerfahrung, dass der Mensch in der Lage ist, Sachverhalte mental wahrzunehmen, kognitiv zu verarbeiten und zu versprachlichen, denen kein ‘Substrat’ jenseits des mentalen Geschehens entspricht: Träume, Tagträume, Wünsche, Pläne, das Reden im Irrealis oder Optativ und vieles Weitere. Eine bestimmte Richtung der Kognitionswissenschaft greift hierfür auf den Begriff der mental simulation zurück, 1 ein Begriff, der die Annahme der ‘Uneigentlichkeit’ solcher Prozesse in sich trägt. Tatsächlich gelten in unserer aufgeklärtrationalistischen Perspektive der Traum, die “Einbildung” und das “Wunschdenken”, oder in der Grammatik der modus irrealis als abgeleitete, defizitäre, weil mit der primären Welt nicht kompatible Erscheinungen. Dies, obwohl gerade all diese Erscheinungen und Erfahrungen eigentlich geeignet wären, die grundlegende Funktion imaginären oder imaginierten Erlebens aufzuzeigen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Daniel Jacob 4 2 Der Vollständigkeit halber sei auf J. Lacans Triade le symbolique - l’imaginaire - le réel hingewiesen (siehe hierzu noch kurz Abschnitt 7), die als direkte Bezugnahme auf den französischen Strukturalismus in der Folge Saussures gilt und somit auch als Bezugnahme auf das semiotische Dreieck angesehen werden kann (Lacan 1966; siehe besonders den Index p. 895). Als philosophisches Problem ist die Frage nach dem Verhältnis von mentalen Vorgängen oder “Gedankenwelt” und einer eventuellen “Wirklichkeit”, die hiervon unabhängig wäre, hier natürlich nicht lösbar, handelt es sich doch um die Grundfrage der abendländischen Philosophie überhaupt, wobei von Beginn an eine weitere Ebene als mögliche Grundlage der mentalen Prozesse, Zustände und Entitäten ins Spiel gebracht wurde, nämlich die Ebene der Sprache oder des Sprechens. In der Diskussion um die Triade von Sprachlich-Diskursivem, von Gedanklichem und einer - wie auch immer zu verstehenden - Ebene von Referenten, auf die die ersteren beiden sich beziehen (es handelt sich im Grunde um die Ecken des berühmten “semiotischen Dreiecks”, dessen bekannteste Version von C.K. Ogden und I.A. Richards 1923 zwischen symbol, thought und reference unterscheidet), 2 ging und geht es darum, ob einer - und welcher - dieser Ebenen Autonomie und damit ein Primat vor den anderen zukommt. Hier hat es mehrere “kopernikanische Wenden” gegeben; in der Tendenz aber führte die Abkehr von einem religiös begründeten theozentrischen Weltbild zugunsten anthropozentrischer oder materialistischer Weltbilder zur Abkehr von solchen Theorien, die in einer autonomen Ideenwelt den metaphysischen Ausgangspunkt der Erfahrungswelt sehen, und zu einer sukzessiven Aufwertung einerseits des menschlichen Anteils an der Triade (durch die Psychologisierung der Gedankenwelt und durch die Betonung des Sprachlichen als deren Garant oder Medium), parallel dazu aber auch zu einer Autonomisierung und letztlichen Verabsolutierung der objektiven (Außen-)Welt. Im Gegenzug wird das Gedankliche reduziert zur Wahrnehmung bzw. zum abstrahierten Resultat der Erfahrung (dies markiert z.B. den Übergang vom Rationalismus zum Empirismus im 18. Jh.). Die anthropozentrische Sichtweise hat sich hierbei auf Sprache und Diskurs als den einzigen Zugang zur Gedankenwelt geworfen, mit einer Tendenz, das Sprachliche auch zum eigentlichen Ursprung der gedanklichen Welt zu erklären. Nominalismus, idealistische Sprachbeschreibung, Sprachlicher Relativismus, Strukturalismus und Linguistic Turn können als Etappen dieser Spekulation gelten; erst die poststrukturalistisch-diskursanalytische Wende des späten 20. Jh. (als Vorgänger könnte man Wittgenstein nennen, und in gewisser Weise auch schon den antiken Sophismus) ging allerdings so weit, die Trennung von Gedanklich- Sprachlichem einerseits und einer jenseits davon gelagerten ‘Realität’ mit radikaler Emphase in Abrede zu stellen und das Gedankliche völlig auf den Diskurs zu reduzieren, wodurch sich als Domäne der Referenz nur noch der vorgängige Diskurs selbst bietet. Die materialistische Perspektive, und damit die vorläufig jüngste Phase moderner Erkenntnistheorie versucht, die gesamte Triade von der materiell-biologischen Seite her wieder zu rekonstruieren, wo die Träger von Wahrnehmung/ Gedanken/ Erleben selbst nur höhere Organisationsformen der objektiven Welt sind (als neuronale, psychische, soziale “Systeme”) und sich die Relation zwischen Gedanken und Objekt als Dichotomie von Systemimmanenz und Umwelt konstituiert und wo die Sprache die Rolle eines Mediums zur Systemkoppelung erhält (in den Kognitions- und Neurowissenschaften, der Psycholinguistik, der Evolutionären Erkenntnistheorie und der Systemtheorie). Einleitung 5 Paradoxerweise sind es gerade neurobiologische und evolutionäre Ansätze, die auch die von jeher erkannte Subjektivität (und somit tendenzielle Autonomie) der Wahrnehmung herausgearbeitet haben: wie sehr Wahrnehmung und deren mentale Verarbeitung nicht nur von der Konditionierung der Sinnesrezeptoren, sondern von Erfahrungen, Kategorien, Schemata, aber auch von aktuellen Aufmerksamkeiten (Relevanz, Aktivation), von Zwecken, Wünschen, Ängsten abhängt, ist aus der Psychologie, und bei weitem nicht nur dorther, hinreichend bekannt (Überblick bei Roth 2005). Dies gilt umso mehr, als das Wahrgenommene einem ständigen Abstraktions-, Interpretations- und Inferenzprozess unterliegt, in dem es mit nicht wahrgenommenen, sondern vorgängig vorhandenen, kontextuellen oder im Wissen/ der Erinnerung verankerten Tatsachen verknüpft, verrechnet und daran angepasst wird. Es ist bezeichnend, dass die einflussreichste Theorie, die sich explizit einer Trennung von diskursiver Gedankenwelt und referentiellem Substrat verweigert hat, nämlich die Diskursanalyse von Michel Foucault, aus der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Geisteskrankheit entstanden ist, womit die metaphysische Frage nach dem Realitätsgehalt eines Diskurses durch die Frage abweichender Interpretationen und Bezugsetzungen, bzw. durch die Frage nach der Legitimität/ Autorität des Diskurses abgelöst wird. Die Nicht-Hintergehbarkeit diskursiver Muster und Interpretationsschemata selbst für eine emphatisch um “Wahrheit” ringende Disziplin wie die Geschichtsschreibung hat insbesondere Hayden White in den berühmten Slogan “auch Klio dichtet” gefasst (1986). Die Einsicht um den relativ geringen Einfluss einer widerständigen Außenwelt auf unser Bild von derselben, die Einsicht, dass Realität, Vorstellungswelt und Diskurs in der Anwendung auf die Geschichte von Denken und Kultur und deren Produkte empirisch oft kaum zu trennen sind und dass deren Trennung zur Betrachtung bestimmter Gegebenheiten (und zwar nicht nur historischer Fakten und sozialer Phänomene, sondern sogar naturwissenschaftlicher Befunde, cf. Heisenberg 1959) nicht zu leisten ist, hat somit nicht nur Philologie, Philosophie und Wissenssoziologie, sondern auch Psychologie und Neurowissenschaften erreicht. Dabei gehen die verschiedenen Disziplinen komplementär vor: während Neuro- und Kognitionswissenschaft zeigen, wie Vorgestelltes im Individuum zur Handlung wird, auch wenn diese nicht pragmatisch auf die Außenwelt gemünzt ist (u.v.a. Glenberg/ Kaschak 2002, Grush 2004, Pulvermüller 2005, 2007, Rizzolatti/ Sinigaglia 2008, Decety/ Stevens 2009), bemühen sich geisteswissenschaftliche Theorieansätze wie Phänomenologie, Diskursanalyse, Konstruktivismus, Systemtheorie darum, den zwar überindividuellen, aber “konstruktiven” und somit im weitesten Sinne imaginären Charakter der angeblich “objektiven” Welt nachzuweisen. Es ist kein Zufall, dass der Streit um Objektivität und Konstruktion an solchen Punkten besonders erbittert geführt wird, wo es um das Zusammenspiel von biologisch/ physikalischen und sozialen Gegebenheiten geht, also z.B. an der Debatte um sex und gender, um Klimawandel oder - nach wie vor - um ethnische Abstammung. Unabhängig von den religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen Weltbildern und den sich daraus ergebenden Annahmen über die Gegebenheit und Priorität einer objektiven Wirklichkeit, und unabhängig davon, dass diese Frage aus erkenntnistheoretischer Sicht unentscheidbar ist, scheinen allerdings Begriffe wie ‘Imagination’ oder ‘Simulation’ per se eine solche vom Denken getrennte Wirklichkeit, ein “out there” vorauszusetzen, ebenso wie die genannten Phänomenbereiche Traum, Wunsch, kontrafaktisches oder fiktionales Sprechen etc. offensichtlich von anderen, wirklichkeitsbezogeneren Modi des Erlebens oder Denkens unterscheidbar sind. Als Menschen operieren wir mit dieser Annahme: wir glauben zumindest, etwas zu sehen, zu hören, zu bedenken, zu besprechen und die Wahrheit zu sagen, solange wir nicht träumen, spinnen, dichten, lügen. Daniel Jacob 6 Dass genau diese Spannung sehr oft die Grundlage künstlerischer Arbeit wie Literatur, Film und Malerei ist, wird weiter unten noch zu behandeln sein; vor allem aber zeigen dies auch eindrücklich die Beiträge des vorliegenden Bandes. Man kann somit unabhängig von dem erkenntnistheoretischen Status, den wir den Diskursen, den mentalen Modi und deren Referenten zuweisen, Imagination fassen als ein Ereignis auf der Ebene des Gedanklichen ohne zugehöriges referenzielles Substrat (also ohne Bezug auf ‘Realität’ oder unmittelbare Erfahrung). Allerdings bedarf dies weiterer Präzisierungen: 2 Prozess oder Bestand? Individuum oder Kollektiv? Es wurde bereits hingewiesen auf die mögliche Diskrepanz zwischen dem Begriff des “Erlebens” im Sektionstitel, der primär einen aufs Individuum gemünzten Vorgang zu benennen scheint, und der Ausrichtung der Beiträge, die mehrheitlich einen kollektiven Sachverhalt beschreiben, der zudem eher als Inventar von Kategorien, Schemata und Regeln denn als Prozess erscheint. Es handelt sich hier genaugenommen um eine zweifache Unterscheidung, deren jeweilige Alternativen nicht unbedingt miteinander einhergehen, aber starke Affinitäten aufweisen: Zum einen ist zu klären, ob wir über den Prozess des Denkens bzw. Erlebens sprechen oder über den Bestand an Ideen, Begriffen, Kategorien, Bildern, ob wir das semiotische Dreieck also als Modell des Diskurses bzw. der parole oder als Modell des kognitiven oder kulturellen Inventars (also der langue) interpretieren. Tatsächlich lässt sich die Präsenz/ Absenz von Bezugsobjekten für beide Sichtweisen diskutieren und somit ein imaginärer Charakter des Denkens/ Sprechens auf beiden Ebenen postulieren; ohnehin ist diese Unterscheidung in einer konsequent diskursanalytischen Perspektive aufgehoben. Eng damit verknüpft ist die zweite Frage, nämlich danach, ob wir über Prozesse/ Entitäten der individuellen Kognition oder über solche der sozialen Konstruktion sprechen. Besonders der Structural Functionalism in der Folge von Talcott Parsons (und der Tradition von Auguste Comte, Emile Durkheim und Max Weber) und die daran anknüpfende Evolutionäre Erkenntnistheorie und Systemtheorie (Berger/ Luckmann 1966, Maturana/ Varela 1992, Luhmann 1984) haben sich um die Frage bemüht, wie sich aus den kognitiven Operationen der Individuen kollektive Strukturen ergeben. Es sind die der kollektiven Dimension innewohnenden Prozesse der Wiederholung, der Routinisierung, der Interaktion, der Institutionalisierung und gegebenenfalls der Ritualisierung, die einerseits dazu führen, dass aus kognitiv-kommunikativen Prozessen tendenziell Entitäten eines Bestandes werden (nämlich Kategorien, Regeln); hieraus ergibt sich die konstatierte Überlappung der hier aufgeworfenen Fragen. Man könnte für diesen Bestand an imaginären, d.h. auf kollektiver Imagination beruhenden Kategorien und Entitäten den Begriff des Imaginariums verwenden, um damit den eher diffusen Begriff des Imaginären (cf. hierzu Abschnitt 7) zu meiden. Vor allem aber ist es erst die sozial-überindividuelle Dimension, die es ermöglicht, dass aus individuellen kognitiven Zuständen/ Inhalten über Prozesse der sozialen Strukturkoppelung und der “Koontogenese” (Maturana/ Varela 1992) externe, objektive Gegebenheiten, Strukturgegebenheiten der “Umwelt” werden, und zwar trotz ihres abstrakten, nicht-physischen Charakters. Hier zeigt sich einmal mehr, dass aus kognitivistisch-systemtheoretischer Sicht die Unterscheidung zwischen Gedanken und Realität schwer aufrecht zu erhalten ist. Am evidentesten kann dies gezeigt werden für soziale Institutionen (Berger/ Luckmann 1966, Einleitung 7 Luhmann 1984, Schmidt 1991). Vor allem bei Cornelius Castoriadis ist der Begriff der Imagination selbst da, wo er als imagination radicale dem “être psychique” zugeordnet ist, nicht psychologisch zu verstehen, sondern als Kondition für das imaginaire social instituant, und er erwächst aus einer soziologischen Erwägung mit dem Ziel, die historische Evolution einer Gesellschaft in nicht-deterministischer Weise zu fassen (siehe unten Abschnitt 4), und dem Endergebnis, Gesellschaft und ihre Strukturen per se als imaginäre Institution zu beschreiben. 3 Phantasie, Empathie, Suggestion: Quellen der Imagination Indirekt verknüpft mit den vorherigen Fragen ist die Frage danach, wodurch ein Denken oder Erleben, das nicht auf eine externe Referenz- oder Erfahrungswelt gerichtet ist, eigentlich induziert wird. Tatsächlich findet man unter den Prozessen, die man landläufig mit dem Begriff der Imagination verbindet, Auslöser auf allen drei Ebenen des semiotischen Dreiecks wieder: Die Imagination kann sich von selbst induzieren, im Traum, im Tagtraum, im assoziativ schweifenden oder auch im deduktiv-regelhaft projizierenden Gedanken, etwa einem Zukunftsentwurf (wir könnten dies mit dem aristotelischen Term der Phantasie bezeichnen; zum Aspekt der Freiheit der Imagination cf. Abschnitt 4). Daneben empfinden wir aber paradoxerweise auch manche Prozesse als ‘imaginär’, die durch sensorische Wahrnehmung äußerer Stimuli ausgelöst sind: so z.B. das Empfinden von Empathie. Die intuitive Erfahrung, dass der Mensch “sich in andere hineinversetzen” kann, dass er mit anderen “mitfühlt”, dass er gegebenenfalls die Handlungen selbst nachvollzieht, die er bei anderen beobachtet, wird spätestens seit der Debatte um die sogenannten Spiegelneuronen bei Affen, von denen man auf ein ähnliches System beim Menschen schloss (Gallese/ Goldman 1998), auch in den Neurowissenschaften beschrieben, in dem Sinne, dass Zustände und Handlungen, die der Mensch bei anderen Menschen beobachtet, bei ihm z.T. analoge neuronale Zustände auslösen, wie sie für handelnde Personen festzustellen sind (Gallese 2008; Rizzolatti/ Sinigaglia 2008; Decety/ Stevens 2009). Dass wir dieses als Fall von Imagination auffassen können, obwohl ein externer Stimulus im Spiel ist, liegt daran, dass der Stimulus nicht gleichzeitig der Referent, das Gemeinte der mentalen Vorstellung ist, die er auslöst. Angesichts dieser Dissoziation von Stimulus und Referent spielt es auch keine Rolle, ob die wahrgenommene Situation eine authentische ist oder ihrerseits nur eine mimetisch inszenierte: auch mimetisches Handeln, selbst da, wo es als solches erkannt ist, kann bekanntlich Empathie (eleos, “Mitleid” in aristotelischer Terminologie) auslösen, die der imaginär Erlebende durchaus auf sich selbst bezieht (phobos, “Furcht”). Auch wenn wir nicht selbst unter der Dusche stehen, sondern im Kinosessel sitzen, versetzt uns Norman Bates’ gezücktes Messer in Angst und verursacht uns Herzklopfen. Schließlich ist es eine Binsenweisheit und Alltagserfahrung, dass auch sprachlich-diskursive Ereignisse, das Hören von Wörtern oder Sätzen ebenso wie ein gelesener Text, die Eigenschaft haben, beim Rezipienten ein Erleben auszulösen, dem keine externe Realität entspricht und bei dem die zugehörige Referenz nur projiziert und nicht perzipiert ist. Wiederum müssen wir hier auf die Aufarbeitung einer zweieinhalbtausendjährigen Diskussion über den Abbildcharakter der Sprache verzichten; es sei hier nur auf jüngere neuropsychologische Untersuchungen verwiesen, die zeigen, dass das Hören oder Produzieren von Wörtern und Sätzen ähnliche “neuronale Korrelate” hat wie das Durchführen bestimmter Handlungen Daniel Jacob 8 3 Blending meint die Überlagerung von nicht-kompatiblen mental spaces (vereinfacht: Situationsvorstellungen), wie sie in der alltäglichen Rede ständig stattfindet, siehe auch Fauconnier/ Turner (2003). (Glenberg/ Kaschak 2002; Buccino et al. 2005; Pulvermüller 2005, 2007); auch die “Transportation into Narratives” (Green/ Donahue 2009) ist ein psychologisch gut untersuchtes Feld; dies betrifft selbstverständlich auch Geschriebenes (Nell 1988; Gerrig 1993; Appel et al. 2002). Unbearbeitet ist m.W. bis heute die Frage, wie ein nicht ikonisch darstellendes, sondern abstraktes, arbiträres, nicht-analoges Symbolsystem eine solche Suggestionskraft entfalten kann. Es erscheint evident, dass die Idee vom abbildenden Charakter der Sprache hier durch eine Analyse der evokativ-assoziativen Eigenschaften dieses Mediums ersetzt werden muss: die Suggestionskraft haftet den sprachlichen Entitäten nicht einfach an, sondern sie speist sich aus den Erfahrungen der Benutzer. Dies ist vielleicht auch der Schlüssel für das Paradoxon, dass fiktionale Rede nicht etwa weniger, sondern eher stärkere Suggestionskraft entfaltet als solche, die mit dem Anspruch auf ‘Wahrheit’ und Referenz in einer objektiven Welt verknüpft ist (siehe hierzu noch Abschnitt 5). 4 Freiheit und Kreativität Wie gesehen, ist die Unterscheidung zwischen Imagination und Wahrnehmung des Reellen keine, die absolut zu treffen ist, sondern eine Frage der jeweiligen Auffassung des Denkenden/ Wahrnehmenden oder Beobachters über den jeweiligen gedanklichen Prozess. Unter dieser Prämisse wäre Imagination eher zu fassen als das Erleben/ Denken, das frei ist vom Anspruch auf Wahrheit, wohingegen das Denken des Reellen oder des Wahren sich als ein Denken erweist, das sich gewissen Kontrollmechanismen wie Kausalität, Wahrscheinlichkeit, Regelhaftigkeit unterwirft (so formuliert es bereits Aristoteles in De Anima III.3). Tatsächlich hatte die eingangs erwähnte Sichtweise von Imagination als defizitär-weltentrücktem Modus immer auch eine Kehrseite: die Betonung der Freiheit von der Faktizität und Gesetzlichkeit der realen Welt, die mit dieser Loslösung einhergeht. Während in einer (neo)platonisch-christlichen Ideologie die Loslösung vom Weltlichen die Chance zur anagogischen Annäherung an die höhere Wahrheit der metaphysischen Ideenwelt bietet (u.a. kraft eines dichterischen furor divinus), interessieren sich die post-platonischen Ansätze für die Möglichkeit der gedanklichen Redisposition der Gegebenheiten der Außenwelt. Einen Schlüssel aus moderner Perspektive zu dem bekannten Paradoxon, dass imaginäre Konstrukte, z.B. ein fiktionaler Text, nicht nur vielfältigere mögliche Sachverhalte bieten können als die Realität, sondern dass sie gerade dadurch sogar eine ‘tiefere’ (oder ‘höhere’ …) Wahrheit transportieren können, geben Fauconnier/ Turner (1998: 133) mit dem Hinweis auf den kognitiven Mehrwert, den das blending 3 haben kann: “(…) the blend can have effect in cognition, leading us to modify the initial inputs and to change our view of the corresponding situations”. Allerdings wird aus diesem Zitat auch ersichtlich, dass, wie auch von jeher festgestellt, die Freiheit keine absolute ist, sondern dass es sich um die Redisposition von gegebener Welterfahrung oder Weltwissen handelt. René Descartes hat dies, mit Blick auf den Traum, folgendermaßen formuliert: Einleitung 9 4 “Nam sane pictores ipsi, ne tum quidem, cum Sirenas & Satyriscos maxime inusitatis formis fingere student, naturas omni ex parte novas iis possunt assignare, sed tantummodo diversorum animalium membra permiscent” (Descartes, Meditationes I,6; Übersetzung DJ; den Hinweis verdanke ich Hans-Martin Gauger). Denn nicht einmal die Maler können, wenn sie Sirenen oder Satyrisken mit maximal ungewohnten Formen vortäuschen wollen, diesen in jeder Hinsicht neue Naturen zuweisen, sondern sie vermischen bestenfalls die Glieder verschiedener Tiere. 4 Nach dieser Auffassung ist absolute Freiheit des Denkens von Erfahrung und deren Regeln schon mit Blick auf das Individuum eine Aporie. Auch Imagination, soll sie denn überhaupt als solche identifiziert werden und mehr sein als eine diffuse Ahnung oder völlig offenes Potential, hängt also von vorgängiger Erfahrung, Kategorisierung und Regelwissen ab; dies gilt umso mehr für die sozial-kollektive Ebene, etwa das mythisch-diskursive oder ikonographische Imaginarium: Sirenen, Sphingen, Basilisken, Einhörner und Jedi-Ritter sind komposit aus Elementen vorgängiger Erfahrung gebildet oder extrapoliert; ein Selbstgespräch benutzt nicht nur die Regeln der realen Sprache, sondern bespricht Dinge, die man einem realen Gesprächspartner gerne sagen würde; ein Bildungsroman operiert kaum mit weniger historischen oder universellen Alltagswahrheiten als ein historischer (zum Verhältnis von Realität und Fiktion siehe noch unten). Vehement in Abrede gestellt wird solche Gebundenheit von Imagination durch Cornelius Castoriadis. Sein Begriff der imagination radicale benennt eben gerade die völlige Freiheit, genauer, das grundsätzliche Potential des Menschen (qua Individuum) zur a priori uneingeschränkten Kreativität beim Schaffen von Kategorien des Denk- und Darstellbaren (“vis formandi”, wobei er sich mit der Idee der Imagination als “Kraft” auf Aristoteles’ De Anima III.3 beruft) und ist, wie oben schon bemerkt, somit Garant der Offenheit und Freiheit der individuellen und historisch-sozialen Entwicklung fern einer deterministischen Logik. 5 Fiktion und ‘Wahrheit’ Die Feststellung größerer Freiheit eines nicht auf Empirie bezogenen Denkens lässt sich somit auch auf diskursiv induzierte Imagination unmittelbar übertragen: da, wo er ohne Anspruch auf Referenz in einer objektiven Welt, also auf Abbildung von Realität und Behauptung von Wahrheit, ist, besitzt der Diskurs größere Freiheit. Aber wiederum gilt auch, dass diese Freiheit nur relativ ist; um überhaupt vom Leser in irgendeiner Weise ‘verstanden’ zu werden, muss ein Text auf einem gewissen Bestand von gemeinsamen Annahmen, Bezugspunkten, generellem Hintergrundwissen aufbauen, der größtenteils aus Alltagserfahrung und ‘Weltwissen’ konstituiert ist und nur zu einem kleinen Teil aus explizit fiktiven, mythischen Referenten oder gar Regeln. Dieses Aufruhen auf generellem Weltwissen auch bei explizit fiktionalen Texten gilt besonders im Bereich der Präsuppositionen, mehr als im Bereich der assertierten Sachverhalte: dem allgemeinen Weltwissen entnommen sind oft bestimmte (meist dem Texthintergrund angehörige) Identitäten, Orte, allgemeines Regelwissen wie Annahmen über menschliche Zwecke und Bedürfnisse, zu üblichem Verhalten von Dingen und Lebewesen, insbesondere im Bereich des Physischen. Wie im vorhergehenden Abschnitt angesprochen, unterscheidet sich der quantitative Anteil von ‘wahren’ und ‘unwahren’, fiktionalen Annahmen in Diskursformen wie dem Märchen, dem historischen Roman, dem Schlüsselroman bestenfalls graduell, während selbst die Daniel Jacob 10 5 Iser (1991: 37). Isers Begriff des “Imaginären” steht hier übrigens nicht zur Debatte: während wir in Abschnitt 3 Fiktionalität als eine spezielle Form der diskursiv ausgelösten Imagination gedeutet haben, ist das Imaginäre bei Iser etwas, worauf das “Fiktionale” durch sein Abweichen von der empirischen Welt verweist. Siehe hierzu noch kurz Abschnitt 7 sowie den Beitrag von Thomas Klinkert im vorliegenden Band. wissenschaftliche Historiographie in ihrer Narrativität nicht ohne Interpretations- und Darstellungsschemata jenseits einer reinen Faktenlogik auskommt (Hayden White 1973, 1986). Allerdings legt bereits diese Reihung wiederum nahe, dass, wie oben schon ausgeführt, die Frage von Imagination (hier als Fiktionalität) und ‘Wahrheit’ eher eine des Anspruchs ist als eine feststellbare Gegebenheit. Dieser Anspruch kann sogar sprachlich markiert sein: Für Wolfgang Iser wird [i]m Kenntlichmachen des Fingierens […] alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob. Die Einklammerung [i.e. die Markierung eines Textes als fiktional] zeigt an, daß nun alle ‘natürlichen’ Einstellungen zu dieser dargestellten Welt zu suspendieren sind. 5 So gesehen dürfte auch die ‘Skala’ der genannten Gattungen kaum quantitativ nach dem jeweiligen Anteil von ‘Wahrheit’ und Fiktion zu beurteilen sein, sondern nach den unterschiedlichen Weisen, in denen diese Einstellungen gehandhabt werden: Während der fiktionale Roman schlicht nicht auf den Wissenshintergrund und die Relevanzhorizonte des Lesers verzichten kann, die dieser größtenteils aus der Erfahrung bezogen hat, und deshalb die Fiktionalität auf die explizit assertierten Aussagen beschränken muss, signalisiert der historische Roman zwar Fiktionalität, um die nicht-garantierbaren Teile des Diskurses gegen die Verpflichtung auf die Grice’sche Maxime der Wahrheit abzusichern, bezieht seine Faszination aber aus der Plausibilität der gemachten fiktiven Behauptungen als mögliche historische Wahrheit (was ihm zudem die Möglichkeit einer ausmalenden Detailfreude gibt, während der historiographische Diskurs nicht nur der Grice’schen Qualitätssondern auch der Quantitätsmaxime verpflichtet ist). Der historiographische Diskurs schließlich stellt sich der Qualitätsmaxime “Sage nichts, was Du für falsch hältst oder wofür du keine angemessene Evidenz hast” und vertraut auf die deduktive Ableitbarkeit und Überzeugungskraft der getroffenen interpretativen Aussagen. Während hier also einfach unterschiedliche Grenzen bezüglich der Akzeptabilität von ‘wahrheitsbefreiten’ Aussagen gezogen werden, treiben andere Gattungen mit der zweifachen Natur fiktionaler Literatur ihr doppeltes Spiel: So will z.B. der Schlüsselroman hinter der vorgegebenen Attitüde der Fiktionalität Wahrheit, d.h. reale, externe Referenz durchscheinen lassen; andere Gattungen nehmen zwar eine grundlegend fiktionale Haltung ein, experimentieren aber explizit damit, wie weit der fiktionale Text sich tatsächlich von den Regeln des Weltwissens entfernen kann (phantastische Literatur, Science Fiction), oder sie konfrontieren unterschiedliche, inkompatible Wissensbestände miteinander (z.B. im sogenannten Magischen Realismus). Es zeigt sich, dass nicht nur die größere Freiheit des referenzfreien, wahrheitsunabhängigen Diskurses diesem mehr inhaltliche Möglichkeiten bietet; vielmehr erweist sich die Spannung zwischen alltäglichem Wahrheitsanspruch und fiktionaler Freiheit selbst als Potential zum Herstellen von poetisch-ästhetischen, symbolisch-signifikativen oder pragmatischen Effekten. Einleitung 11 6 Vom Spiel zur Illusion: virtuelle und mimetische Realitäten Zu erwähnen sind abschließend eine Reihe von Situationen, die ebenfalls einen Modus des “Als-Ob” aufweisen, denen aber ein referenzielles Substrat oder eine objektive Handlungseinbettung nicht abzusprechen ist. Da ist zum einen das Rollenspiel - als Kinderspiel, als mentales Training (etwa im Sport), als therapeutische Maßnahme (in Sozialpädagogik und Psychotherapie). Das “Als-Ob” liegt hierbei nicht in der Reduktion auf das Mentale - es wird ja gehandelt und interagiert - sondern in der Loslösung des Handelns von der pragmatischen Situation: im Spiel werden bestimmte pragmatische Prämissen (etwa: Regeln, Handlungslogiken) außer Kraft gesetzt bzw. durch willkürliche andere ersetzt, die nicht der pragmatischen Situation entsprechen. Diese Loslösung eröffnet ähnliche kreative Möglichkeiten wie bei der Imagination; das Rollenspiel ermöglicht zudem antizipierende Vorbereitung erwarteter Situationen, und es kann einen kathartisch-therapeutischen Wert gegenüber pragmatisch eingebundenen vorgängigen oder parallelen Situationen haben. Zu den Formen des von außen induzierten Erlebens nicht-‘realer’ Situationen gehören auch die verschiedenen Stufen der virtual reality: moderne Informationstechnologie bietet uns zunehmend komplexere und flexiblere Stimuli, die von denjenigen traditionell erworbener interaktiver Handlungsabläufe immer weniger zu unterscheiden sind, sodass die Grenzen zwischen dem Handeln in einer physischen und sozialen Umwelt und dem Handeln in einer ‘virtuellen’ oder simulierten, d.h. hier, elektronisch basierten, programmierten und so als ‘konstruiert’ aufzufassenden Welt sich zunehmend aufzulösen scheinen. Genaugenommen sind solche Situationen überhaupt nur aus einer abgehobenen Beobachtersicht zum Bereich der Imagination zu rechnen; aus der Sicht des wahrnehmenden Individuums hingegen handelt es sich um eine objektive, extern sensomotorisch induzierte Erfahrung, unabhängig davon, inwieweit der Wahrnehmende den Stimulus nun als real oder virtuell erkennt. In dieser Hinsicht ist diese Situation vergleichbar mit derjenigen, wo die Simulation/ Illusion nicht durch einen elektronisch generierten Stimulus, sondern durch einen physischen Interaktionspartner hervorgerufen wird, der eine Rolle spielt, ohne dass der Wahrnehmende dessen gewahr ist (Unsichtbares Theater, versteckte Kamera, Orson Welles’ War of the Worlds, …). Auch hier liegt das “Als-Ob” bestenfalls beim mimetisch Handelnden, nicht beim intendierten ‘Publikum’ vor. Allerdings zeigen gleich zwei Beiträge dieses Bandes (Rupert-Kruse, Schmalfuß) eindrücklich, dass die Illusion erst durch die oben angesprochene subjektiv-aktive Rolle des Rezipienten, durch dessen massive Interpretations- und Inferenzleistung ermöglicht wird: die Wirkmacht des Gesehenen oder virtuell Erfahrenen entsteht erst dadurch, dass das zu Erlebende in der Imagination des Rezipienten zu einem Gesamtbild zusammengesetzt wird, indem es mit Wissen und vorgängigen Erfahrungen ergänzt und verrechnet wird. Hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung der Realität nicht weniger Imagination beansprucht als die Wahrnehmung dessen, was wir aus höherer Perspektive, oder sogar als Rezipienten, als ‘nicht wahres’, illusives Erleben erachten; es sind somit gerade die illusiven Konstellationen, die uns den Anteil der Imagination auch bei der Wahrnehmung der ‘Wirklichkeit’ vor Augen führen. Situationen völliger Illusion sind ungewöhnlich und man kennt sie eher aus der kinematographischen oder literarischen Fiktion, etwa im Film Matrix, wo sich die Welt als eine rein virtuelle erweist, in Calderóns La vida es sueño, einem barocken Vexierspiel zwischen Realität, inszenierter Realität und angeblichem Traum, oder in Cervantes’ Don Quijote, in dem die Umwelt des Protagonisten sich mal mehr, mal weniger auf dessen Wahnvorstel- Daniel Jacob 12 6 Vgl. hierzu z.B. die entsprechenden Zitate aus Iser (1991: 21) und Foucault (1964: 297f.) im Artikel von Thomas Klinkert. lungen einlässt und sein Spiel mitspielt. Dass eine solche Situation auch ohne den Wahn des Wahrnehmenden vorstellbar ist, zeigen Plots vom Strickmuster des Films Good bye Lenin. All diese Werke haben ein Moment der Absurdität, und es handelt es sich um künstlerischfiktionale Bearbeitungen des eingangs bereits als philosophisch-theologisches Thema benannten Grundproblems der conditio humana: dass der Mensch sich der ‘Realität’ des Wahrgenommenen niemals sicher sein kann. Wichtig für die hier beschriebenen Fälle der mimetischen oder virtuellen Illusion ist, dass hier keine Losgelöstheit zwischen der gedanklichen Welt und der Referenz- oder Erfahrungswelt besteht; vielmehr ergibt sich ein Bruch zur ‘Wirklichkeit’ erst in der Metabetrachtung, und zwar aus dem irrealen Status des externen Stimulus, der den gedanklichen Prozess auslöst. Insofern ist im Fall der Illusion nicht mehr Imagination im Spiel, als es bei jedem Wahrnehmungsprozess der Fall ist. Andererseits verleiht die erst aus der Metaperspektive erkennbare Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität der Situation überhaupt ihr literarisches und philosophisches Potential. 7 Imagination, Imaginarien und “das Imaginäre”: die Beiträge dieses Bandes Die Potsdamer Arbeitssektion trug im Titel den Begriff Imagination. Die meisten Aufsätze verwenden - zusätzlich oder stattdessen - den Begriff des Imaginären, teilweise als generalisierendes Synonym, teilweise aber auch in Absetzung zum ersteren Begriff. Damit stellen sie sich (eher implizit) in eine Tradition existenzphilosophischer Ansätze, an deren Anfang Jean-Paul Sartres auf Husserls Phänomenologie aufbauende Essays zur imagination (1936) und zum imaginaire (1940) stehen, zu der man aber auch Jacques Lacans psychoanalytisch gefassten Begriff des imaginaire im Rahmen seiner schon erwähnten Grundtriade “RSI” (le réel, le symbolique, l’imaginaire, vgl. Fn. 2), Cornelius Castoriadis’ ebenfalls schon erwähnte Begrifflichkeit (die ebenfalls imagination und l’imaginaire nebeneinander stellt) und schließlich Wolfgang Isers Begriff des Imaginären rechnen kann. Rahmen und Denkstil dieser Einleitung machen es unmöglich, hier auch nur ansatzweise die extrem aufgeladenen und voraussetzungsreichen Begriffsverwendungen zu analysieren, die nicht nur einen diffusen und oszillierenden Charakter des Imaginären unterstellen 6 , sondern dies auch in ihrem sprachlichen Duktus so inszenieren (bei gleichzeitig beeindruckender apodiktischer Sicherheit). Während Sartres Begriff der imagination relativ nahe an unseren bisherigen Ausführungen steht, nämlich als psychologischer, von der Realität losgelöster Prozess oder “Akt”, ist die imagination radicale bei Castoriadis eine allgemeine Disposition des Menschen, aus der das imaginaire constituant als soziales Potential abzuleiten ist. Lacans imaginaire bietet, wie in Abschnitt 1 erwähnt, einerseits Anklänge an das semiotische Dreieck, wird andererseits aber zum Schauplatz einer stark topologisch-strukturalistisch gefassten Subjekt-Objekt- Ausdifferenzierung des individuellen Bewusstseins und stellt somit starke generalisierende Hypothesen über die psychische Ontogenese auf. Bei Iser wird das Imaginäre aus der Differenz zwischen dem Realen und Fiktiven abgeleitet als etwas Drittes, worauf diese Differenz verweist. Entsprechend der existenzphilosophischen bzw. psychoanalytischen Grundlage fungiert das Imaginäre bei allen genannten Autoren somit als wichtige Ebene Einleitung 13 menschlichen “Seins” bzw. Bewusstseins, eine - eher projektive - Benennung einer Grundgegebenheit der conditio humana abseits der Niederungen der materiellen Welt. Zur Oszillation der Begrifflichkeit trägt auch die Zweideutigkeit des französischen Ausdrucks l’imaginaire bei, der nicht nur deutbar ist als substantivisch verwendetes Adjektiv (und somit als Abstraktion - oder Hypostase - der potentiellen Eigenschaft von Gedanken, imaginär zu sein), sondern auch als genuin substantivisches Kollektivum (Imaginarium), also im Sinne eines sich sozial aufbauenden Bestandes an Vorstellungen, Ideen, Entitäten, Kategorien, Annahmen, Bildern; somit nicht als Potential oder Ebene menschlicher Kognition, sondern als deren Ergebnis und Inhalt (cf. Abschnitt 2). Gemeinsam haben beide, dass damit die Ebene des Denkbaren benannt ist, im Gegensatz zur Ebene des Epistemischen, also dessen, was man weiß oder wissen kann, sei es aus der Erfahrung, der Schlussfolgerung, dem für wahr Gehaltenen, das den Regeln des Für-Wahr-Haltens unterliegt. Imagination als Prozess, Imaginarien als individuelle oder auch und besonders als gesellschaftliche Motiv- und Vorstellungsbestände und “das Imaginäre” als menschliches Potential des Denkbaren bilden den Rahmen, in dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes bewegen. Sie alle verhandeln diese Frage allerdings im Kontext einer semiotischen Fragestellung, d.h. sie behandeln das Imaginäre oder die Imagination mit Blick auf kommunikative Prozesse oder auf den Zeichencharakter der als imaginär erkannten Entitäten. Dabei bewegen sich drei der Beiträge (Richtmeyer, Klinkert, Firchow) auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Reflexion über Wahrnehmen, Wissen, Imaginieren und Mitteilen des Gewussten/ Imaginierten, indem sie von philosophischer (Schleiermacher, Wittgenstein) oder von literaturwissenschaftlicher Seite (Iser, Warning, Walton) vorgeschlagene Begrifflichkeiten aufarbeiten. Zwei Beiträge (Rupert-Kruse, Schmalfuß) behandeln das, was oben als Illusion ausgewiesen ist, nämlich das Nachvollziehen von visuell wahrgenommenem, aber als Mimesis bzw. virtual reality von der Realität abgekoppeltem Input am Beispiel von Kino und Computerspiel. Die drei verbleibenden Beiträge (Dina Salama, Neecke und Dalia Salama) schließlich behandeln literarisch-narrative Darstellungen von imaginärem Erleben vor ihrem jeweiligen epistemischen Hintergrund, der in den ersten beiden Fällen in der mittelalterlichen Mystik, im dritten Fall in den symbolistisch-tiefenpsychologischen Präokkupationen des Wiens der 1920er Jahre zu situieren ist. Mitten im Zentrum der oben angesprochenen erkenntnistheoretischen Debatte bewegt sich das Denkgebäude, das Markus Firchow in dem Beitrag Bildlichkeit und Wissen. Zur Funktion der Oszillation in Schleiermachers Dialektik vorstellt. Oszillation ist eine Denkfigur, bei der einander gegenübergestellte Prinzipien nicht durch eine statische Mitte ausgeglichen werden oder sich gegenseitig aufheben, sondern sich durch ihre Spannung erst bedingen und sich “in der Schwebe” halten als “eine Bewegung, die erst im Vollzug einer wechselseitigen Bezogenheit ihrer Pole Stabilität generiert”. Diese Figur wird angewendet auf ein komplexes System von dialektischen Polaritäten: Organisation vs. Vernunft (direkt korreliert mit Stoff vs. Form des Denkens), organische vs. intellektuelle Tätigkeit, sinnlich-konkret vs. abstraktallgemein, organisierendes vs. symbolisierendes Handeln, Bild vs. Begriff u.v.m. Die “schwebende Identität” zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Besonderem und Allgemeinem ist der Begriff, dessen sinnlich-bildlicher Charakter durch seine Schematizität gewährleistet bleibt, dessen abstrakt-allgemeiner Charakter aber auf Kosten der Bestimmtheit gegenüber dem einzelnen Bild geht. Die Wahrnehmung des Einzelnen ist nicht möglich ohne den Rekurs auf den Begriff (die Vernunft “bildet” dem Sinnlichen “die allgemeinen Begriffe für jede Form ein”); der Begriff seinerseits hängt wiederum ab von der Fixierung durch sprachliche Zeichen (wodurch sich Schleiermacher als Vertreter des idealistischen Glosso- Daniel Jacob 14 zentrismus im Stile Humboldts erweist). Der oszillierende Charakter von Wissen zwischen der Bestimmtheit des Bildes und der Diffusität des Begriffs führt dazu, dass Wissen und Wahrheit, soweit sie nicht rein begrifflicher Natur sind, nicht objektiv sein können, sondern sich als Denken in der intersubjektiven Kommunikation bewähren müssen; dies zumal, da das wissende Subjekt den individuellen Ort seines Wissens/ Denkens/ Wahrnehmens nicht überwinden kann. Von einem “radikalen Relativismus oder Konstruktivismus” unterscheidet sich dieses Konzept dadurch, dass Wissen nicht in einer “Potenzierung von Allgemeinheit und Abstraktion” (ebenso wenig wie von Sinnlichkeit und Konkretion) liegt; vielmehr liegt die “schwebende Einheit” des Wissens in der Ausgewogenheit zwischen konkretisierender Sinnlichkeit und verallgemeinernder Abstraktion, zwischen Bild und Begriff. Im engen Sinne semiotisch ist Ulrich Richtmeyers Untersuchung zu Ludwig Wittgensteins Begriff der Intransitivität in verschiedenen Zeichenformen (Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis). Richtmeyer analysiert die für Wittgenstein typische Denkfigur, aus einer sprachkritischen Reflexion eine über das Sprachliche hinausgehende Situation zu analysieren. Das sprachliche Zeichen ist in dem Maße intransitiv, in dem seine Bedeutung unartikuliert ist, es aber dafür “Nachdruck” besitzt. Im gegebenen Beispiel ist der doppelte Gebrauch von Adjektiven wie bestimmt oder eigenartig (entweder zur Vorbereitung einer genaueren Beschreibung oder eines Vergleichs oder aber gerade, um die Unbeschreibbarkeit einer Gegebenheit zu signalisieren) ein “Hinweis auf die sprachliche Uneinholbarkeit besonderer Wahrnehmungen”. Die Intransitivität, die Unbeschreibbarkeit, Nicht-Artikuliertheit und der Hervorhebungscharakter (“das was Nachdruck auf sich zieht”) kommt also dem Wahrgenommenen zu. Wittgenstein selbst ist es auch, der den (scheiternden) Versuch sprachlicher Artikulation des intransitiv Wahrgenommenen neben den Versuch der bildlichen Artikulation stellt. Dem Bild kommt, paradoxerweise möchte man sagen, per se ein intransitiver Charakter als mediale Spezifik zu: das Bild verweist nicht, sondern es ist, was es ist (“das Bild sagt mir sich selbst”). Insofern ist das bildlich Wahrgenommene auch in keiner Weise imaginär oder virtuell. Imagination ist in Wittgensteins Überlegungen zum sprachlichen oder bildlichen Zeigen gar nicht vorgesehen, und wenngleich Richtmeyer mehrfach die Idee des “geistigen Bildes” auch bei Wittgenstein auffindet, wird “[…] die implizite Bildlichkeit des Imaginären in einer medienspezifischen Praxis [begründet]”. Hier erweist sich Wittgenstein in seinen Spätschriften (dem Braunen und dem Blauen Buch) in dem oben schon angedeuteten Sinne als Vorläufer der diskursiven Wende des späten 20. Jh. Thomas Klinkert, Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien, kommt auf die Frage nach der Funktionsweise fiktionaler Texte zurück. Er diskutiert mehrere Ansätze, die die unfruchtbare Dichotomie des Oppositionspaars “Urbild” - “Abbild” (der platonischen Tradition) bzw. “wahr” - “unwahr” (in vorwissenschaftlichen Vorstellungen, aber auch noch in Searles Definitionsversuch von Fiktion) überwinden wollen. Hierbei finden sich beide der oben thematisierten Sichtweisen von Fiktion wieder: zum einen die bereits angesprochene Auffassung Wolfgang Isers, wonach das Fiktive Teil einer Triade ist, in der es zwischen dem Realen und dem Imaginären vermittelt und wo es, in seinem Hinausgehen über das Reale, auf das Imaginäre verweist; zum anderen die Vorstellung, wonach fiktionaler Diskurs ein Auslöser eines Imaginationsprozesses ist, ein “game of makebelieve”, vergleichbar mit dem mimetischen Spiel von Kindern, dem Tagtraum o.ä., in der Theorie von Kendall L. Walton. Einen dritten Weg beschreitet Rainer Warning, der Cornelius Castoriadis’ Begriff des Imaginären mit Michel Foucaults Idee von der Literatur als contrediscours verknüpft und zeigt, dass der Konterdiskus - wie das Imaginäre, das er transportiert - nicht losgelöst vom Epistemischen gefasst werden kann, dass eine Unterscheidung zwischen Einleitung 15 epistemischem Diskurs und poetischem Konterdiskurs nicht als semantische, sondern als pragmatische Operation aufgefasst werden muss. Ausgehend von der kreativ-vermittelnden Funktion des Fiktiven in allen drei Ansätzen zieht Klinkert den Schluss, “dass der auf Imagination basierende fiktionale Verarbeitungs- und Transformationsmodus der elementare ist, der bei jeder Form zeichengesteuerter Kommunikation zuallererst zum Tragen kommt”, und erkennt den Unterschied von “Realem” und “Fiktivem” als Frage einer sekundären “Statuszuschreibung”. Der Beitrag von Patrick Rupert-Kruse, Aufmarsch der Phantome. Mentale Präsenz und das Empathisieren abwesender Figuren im Film behandelt den mehrfach (Abschnitt 1 u. 6) angesprochenen Verrechnungs- und Inferenzprozess, nach dem das Wahrgenommene durch Rückbezug auf Erfahrenes und Gewusstes selektiert, interpretiert und vor allem ergänzt wird. Rupert-Kruse verweist auf Wolfgang Isers Begriff der “Verweisungsganzheit”, unterscheidet aber auch verschiedene Ebenen solcher Verweisungsgefüge wie etwa die physikalische Welt, die Wahrnehmungswelt, die soziale Welt und die moralische Welt (H.-J. Wulff). Hilfsmittel hierbei sind bestimmte “Spuren” (“körpernahe Artefakte, diegetische Objekte, Erzählungen”), die “wie Vektoren einen Schnittpunkt im Raum, ein Figurenmodell innerhalb des mentalen Gesamtmodells des Films” umreißen. Dabei sind ganz unterschiedliche Prozesse im Spiel, die an verschiedenen kinematographischen Beispielen demonstriert werden. So gibt es zwei Phasen des kognitiven Prozesses: die “somatische Empathie” (verstanden als neuronaler Prozess) ist die Verschmelzung der Kognition des Rezipienten mit der beobachteten Figur zu einem “cinästhetischen Körper”. Eine besondere Rolle spielt dabei die Fusion der optischen Perspektive des Zuschauers mit der einer Figur (“Erste-Person-Perspektive”). Im zweiten Schritt der “Perspektiveninduktion” wird ein wissensgesteuertes Modell der Figuren aufgebaut. Rupert-Kruse zeigt an verschiedenen Beispielen, wie es gelingt, durch das filmisch erzählte Geschehen Leerstellen empathisch-projektiv zu füllen. So wird in Lars und die Frauen einer Puppe durch die soziale Interaktion und den Diskurs ihrer Umgebung die Lebensgeschichte einer Person eingeschrieben; in Der unsichtbare Dritte werden Spuren gelegt, die eine Figur konstruieren lassen, die überhaupt nicht existiert. In beiden Fällen gehen somit explizit nicht-existente Figuren (“Phantome”) in das mentale Situationsmodell ein, das der Rezipient imaginär aufbaut und empathisch füllt. Eine ähnliche Form von Empathie beschreibt Sven Schmalfuß in seinem Beitrag Schwirrende Fragen/ Antworten. Subjekt-Wahrnehmung und Imagination in/ an den digitalen Spielen des Studios Q UANTIC D REAM . Den imaginativen Identifikationsprozess mit einer oder mehreren Spielfiguren (Avataren) analysiert Schmalfuß unter dem Schlagwort Immersion, ein Begriff, der insbesondere das integrative Zusammenspiel von Narration, Spiel und Illusion beschreibt. Die von Schmalfuß beschriebenen Spiele zeichnen sich durch besondere Komplexion der Identifikationsperspektiven aus (der Spieler wechselt die Avatare und muss z.T. gegen sich selbst arbeiten, oder er wird durch bestimmte Phasen bewusst aus der Immersion gerissen). Der entscheidende Unterschied zum Film ist aber natürlich die interaktive Dynamik, deren Komplexität und Offenheit der Artikel anhand einer Reihe von Spielen bzw. Spielgattungen untersucht, wobei er die sich abhängig von den Aktionen der Spieler verzweigenden Spielverläufe beschreibt, analog zum Labyrinth, in Anlehnung an Jorge Luis Borges und Umberto Eco. Ein anderer Unterschied zu mimetischen Formen ist die - begrenzte - Natürlichkeit der physischen Bewegungen der Figuren; deren situationelle Adäquatheit oder aber notwendige oder sogar kalkulierte Defizite werden mit dem Begriff des Uncanny Valley umschrieben; die Kondensation solcher komplexer Verhaltensweisen in einfachen Steueraktionen des Spielers vergleicht Schmalfuß mit einer Metapher. Das dritte Daniel Jacob 16 “Attraktionselement” neben dem Ludischen und dem Simulativen ist die Narration; auch sie bietet durch die Offenheit des Spiels andere Möglichkeiten als andere narrative oder mimetische Gattungen, auch in dieser Frage gibt es bezeichnende Strukturunterschiede zwischen den untersuchten Spielen. Narrative Darstellungen von imaginativen, nämlich visionären Vorgängen bearbeiten die Beiträge von Dina Salama, Michael Neecke und Dalia Salama; sie sind, respective, dem Hochmittelalter, dem Spätmittelalter und dem Beginn des 20. Jh. zuzuordnen; dabei spiegeln sie nicht nur fast idealtypisch sowohl die epistemischen wie epistemologischen Hintergründe ihrer Epochen wider, sondern auch die jeweils dazugehörigen narrativen Verfahren. Sie sind hier nicht chronologisch angeordnet, sondern nach dem unterschiedlichen Verhältnis von ‘Wahrheit’ und ‘Fiktion’ im Sinne der oben in Abschnitt 5 skizzierten ‘Typologie’ narrativer Texte. Der Beitrag von Dina Salama, Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit: Konrads von Würzburg ‘Der Welt Lohn’ und ‘Engelhard’ untersucht zwei unterschiedliche Visions-Erzählungen aus dem 13. Jh. Imagination ist hier doppelt im Spiel: zum einen auf der diegetischen Ebene durch das Verhandeln der visionären Erlebnisse; vor allem aber nähert sich Dina Salama der Narration in diesen Texten mit dem auf Roland Barthes zurückgehenden (und von Gerhard Neumann aufgenommenen) Begriff der Szenographie, womit die Imagination des Textrezipienten ins Spiel kommt, was durch die narrativen Dispositive der beiden Texte auch jeweils stark bedient wird. Für beide, Rezipient und Protagonisten, gilt, dass die jeweils gezeichneten visionären Welten (die zugewandte Frontpartie der Frau Welt ebenso wie die das Traum-Setting im Engelhard) und die jeweiligen idealen Dialoge eine auf vorgängigen Imaginarien (Minnedichtung im einen Fall, christlich-eschatologische Motivik im anderen) beruhende Konstruktion sind, die auf dem Weg des Blending (Fauconnier/ Turner) mit anderen diskursiven Motiven angereichert wird. In beiden Texten wird eine Opposition zwischen einer (überirdisch-)schönen Idealwelt und abstoßend-ekelerregender Morbidität inszeniert; hier allerdings mit unterschiedlichen Wahrheitszuschreibungen: Während im Fall von Frau Welt die Dichotomie zwischen Sein und Schein Anlass für einen fast platonisch zu nennenden Welt- und Kunstpessimismus ist und somit insgesamt zum Erkennen einer ‘höheren’ Wahrheit in der allegorischen Vision führt, erfährt im Engelhard die Engelserscheinung unmittelbar die Qualifikation als ‘höhere Wahrheit’. In beiden Fällen hat das imaginierte Geschehen einen handlungsorientierenden Charakter für Protagonisten und Rezipienten. Auch der Beitrag von Michael Neecke zu Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung: Imagination und Virtualität in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts behandelt Visionserzählungen; anders als bei Konrad aber, wo die Frage der Wahrheit von vorneherein nur das allegorisch Gemeinte betrifft, ist im 14. Jh. die Authentizität der Vision ein Problem; während die Zeitgenoss(inn)en in ihrem inquisitorischen Zweifel an der visionären Erfahrung sich zunehmend auf “das äußerlich Sichtbare” fixieren, diskutiert die moderne Kritik, inwieweit in der mystischen Literatur der literarische Topos an die Stelle der authentischen mystischen Erfahrung tritt, bzw. mystische Erfahrung überhaupt nur als literarischer Gegenstand aufzufassen ist, bzw. welchen Status eine sinnliche mystische Erfahrung als Konstrukt hat. Die Reduktion mystischer Erfahrung auf Sichtbares, an welcher der Erfahrungsverlust festgemacht wird, veranlasst Neecke zu einer grundsätzlichen Diskussion der Frage, inwieweit die Substitution des Erlebten durch das Sichtbare, das Bildliche, als ein zivilisatorischer Prozess, nämlich als Affektverschiebung im Sinne von Norbert Elias aufzufassen ist. Nach einem Exkurs auf das Beispiel der Pornographie kommt Neecke auf den Einleitung 17 Präzeptor und Beichtvater der dominikanischen Schwestern, Heinrich Seuse zu sprechen. Dessen eigene Vita ist zu lesen als Anleitung, von exzessiven Askesepraktiken zu einer höheren gottesbezogeneren Leidensfähigkeit und einer “bildlosen Gotteserkenntnis” vorzudringen; allerdings ist dieses “Hinaussteigen” über das Sinnliche nur möglich um den Preis, wiederum auf Bildhaftes zurückzugreifen, das visuelle Bild mittels eines literarisch-sprachlichen Bildes zu überwinden. Es bleibt, wie Neecke abschließend feststellt, aus konstruktivistischer Perspektive ein Moment der “Unreinheit”. Einen Sprung in der Zeit, nicht aber in der epistemologischen Frage nach dem Wahrheitsgehalt in der Narration über-realen Erlebens stellt der letzte Aufsatz des Bandes, der Beitrag von Dalia Salama, Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers T RAUMNOVELLE dar. Die narrative Pragmatik der Traumnovelle liegt, wie Dalia Salama eingehend zeigt, zum einen in der fast provokanten Mischung von hochgradigem ‘Realismus’ (Bezüge zum Wien der 20er Jahre bei freilich fiktionalen Personen) und phantastischem Geschehen. Aber auch inhaltlich gehört die Darstellung des imaginativen Prozesses ganz in die Episteme ihrer Zeit: Anders als im Mittelalter, wo der Traum als von außen gegebene anagogische Erfahrung und Zugang zur höheren Wahrheit (die es allerdings zu deuten gilt) erscheint, anders auch als im Barock, wo der Traum als mise en abîme, als Vexierspiegel, als trompe-l’œil die Aufmerksamkeit auf den Status der Realität lenken will und als memento von deren Nichtigkeit fungiert, lässt Schnitzlers Text, wie Dalia Salama ebenfalls eindrücklich vorführt, die Ambiguität zwischen Realität und Traum offen. Die Traumnovelle steht damit in der Tradition der Novellenliteratur des 19. Jh., wo Traum und Wahn die Schlupflöcher für das Phantastische sind im szientistischen Kontext des in Abschnitt 1 benannten materialistischen Weltbildes, wo also die Psychologie für Erklärung des Über-Realen herhalten muss. Allerdings ist es in diesem Fall eher eine ‘tiefere’ als eine ‘höhere’ Wahrheit, die der Traum transportiert. Wie Dalia Salama ausführt, repräsentiert die Traumnovelle fast idealtypisch die Epistemologie der Wiener Tiefenpsychologie, wonach im onirischen Geschehen das unausgelebte Begehren sich eine Bahn an die Oberfläche des Erlebens bricht. Das konstruktive Potential dieses Begehrens zeigt Dalia Salama eindrücklich in einem minutiösen Durchlauf durch die Novelle, in dem sie schildert, wie sich in der Phantasie des Protagonisten Fridolin reale Begegnungen mit - durchaus wechselnden und widersprüchlichen - Wunschbildern, aber auch mit traditionellen Typisierungen bzw. Zuschreibungen von Frauengestalten und Männerrollen vermischen und überlagern; wobei auch die der Tiefenpsychologie wichtige kathartisch-bewältigende Erzählhandlung nicht fehlt. Bei aller Vielfalt der angesprochenen Themen und Perspektiven der Beiträge zum vorliegenden Band ergibt sich somit ein sehr klares und einfaches Fazit für die eingangs dieser Einleitung aufgeworfene Frage, die auch der Sektionsausschreibung zugrunde lag: Die Trennung zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung, zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen realem Erleben und Einbildung mag als heuristische Unterscheidung unumgänglich sein; die nähere Betrachtung zeigt, dass die conditio humana darin besteht, hier gerade KEINE Abgrenzung zuzulassen. Imagination ist ein unerlässlicher Bestandteil aller kognitiven und kommunikativen Prozesse, auf individualpsychologischer ebenso wie auf kollektivsozialer Ebene. Daniel Jacob 18 Bibliographie Appel, Markus, Koch, Erik, Schreier, Margrit & Groeben, Norbert 2002: “Aspekte des Leseerlebens: Skalenentwicklung”, in: Zeitschrift für Medienpsychologie, 14.4 (2002): 149-154. 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