eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
361-2

Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst am Beispiel am Beispiel des "Weberlieds"

2013
Florian Trabert
Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst am Beispiel des „Weberlieds“ Florian Trabert Blending elements of medieval, baroque and modern forms of lyrical expression, Brentano’s poetry assumes a singular status in the context of his time, the classical-romantic era. As the example of the so-called “Weberlied” [“The Weaver’s Song”] demonstrates, his lyrics emphasize the tonal materiality of language and at the same time formulate a self-critique of artistic expression, thus anticipating central aspects of avant-garde aesthetics. 1. Trotz seiner im Vergleich zu Autoren wie E.T.A. Hoffmann oder Eichendorff verhältnismäßig geringen Bekanntheit kann Clemens Brentano als der vielleicht typischste Vertreter der deutschen Romantik gelten. Begründet ist der exemplarische Status seines Werks nicht nur, weil dieses alle drei Phasen der Romantik - Früh-, Hoch- und Spätromantik - und alle drei literarischen Grundgattungen - Lyrik, Drama und Epik - umfasst, was sonst allenfalls auf das Werk Ludwig Tiecks zutrifft; Brentano erscheint vor allem deshalb als exemplarischer Romantiker, weil in seinem Werk die für diese Epoche charakteristische Spannung zwischen modernen und reaktionären Tendenzen mit besonderer Deutlichkeit zutage tritt. Einerseits verwirklichte Brentano in seinem ersten und einzigen Roman Godwi (1801) das romantische Prinzip der progressiven Universalpoesie mit weitaus größerer Radikalität als dessen Urheber Friedrich Schlegel, so dass Benno von Wiese treffend schreiben konnte, dass in diesem Text „alle im Athenäum erhobenen Forderungen über die romantische Poesie bis an die Grenze des Absurden“ (Wiese 1968: 247) erfüllt seien; andererseits trat Brentano in der Spätphase seines Schaffens vor allem als Verfasser katholischer Erbauungsliteratur wie der Erfolgspublikation Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi (1834) hervor (vgl. Schultz 1999: 147f.), der gegenüber sein säkulares Spätwerk zumindest in rein quantitativer Hinsicht einen relativ geringen Raum einnimmt. Die Generalbeichte, die Brentano 1817 ablegte, markiert einen deutlichen Bruch in seinem Leben und Schaffen, so dass sich nicht nur die Frage nach der Kontinuität von Brentanos Werk stellt, sondern dessen Verfasser zugleich als Prototyp des modernen, zerrissenen Künstlers gelten kann (vgl. Frühwald 1970: 229 und Schultz 1999: 6 und 9). Die in der Brentano-Forschung zu einem Topos gewordene Zerrissenheit des Autors veranschaulichte bereits zu dessen Lebzeiten Heinrich Heine mit einem höchst einprägsamen Bild. In seiner Streitschrift Die romantische Schule sah Heine in Brentano - gewiss nicht zu Unrecht - „ein K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Florian Trabert 122 1 In der von George und Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Das Jahrhundert Goethes nimmt die Lyrik Brentanos bereits in quantitativer Hinsicht einen großen Raum ein (vgl. Karlauf 2007: 305). korrespondierendes Mitglied der katholischen Propaganda“ (Heine 1835: 104) und schilderte als Personifikation seiner Muse eine chinesische Prinzessin, in deren kleinem kichernden Herze die allertollsten Launen nisteten. Es war nämlich ihre höchste Wonne, wenn sie kostbare Seiden- und Goldstoffe zerreißen konnte. Wenn das recht knisterte und krakte unter ihren zerreißenden Fingern, dann jauchzte sie vor Entzücken. (Heine 1835: 102f.) Trotz der satirischen Zuspitzung verdeutlicht Heines Bild gleich zwei zentrale Aspekte von Brentanos Ästhetik: Es rückt mittels der onomatopoetischen Verben knistern und kraken die klangliche Materialität seiner Texte in den Mittelpunkt und weist zugleich auf die für sein Spätwerk zentrale Aporie hin: „Die Absage an die Kunst wird in den Formen der Kunst zum Ausdruck gebracht.“ (Müller-Seidel 1980: 253) Immer wieder führte diese von Brentano als existentiell empfundene Aporie den Autor an den Rand des literarischen Verstummens, wofür sich in seinem Werk vielfältige Reflexe finden. So schämt sich bereits der Erzähler von Brentanos bekanntester Erzählung Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl für seine Schriftsteller-Existenz und gibt sich die bescheidene Berufsbezeichnung „Schreiber“ (Brentano 1817: 14). Dieser Zerrissenheit Brentanos entspricht, dass sein Werk - sieht man von den genannten katholischen Erbauungsschriften und der zusammen mit Achim von Arnim publizierten Liedsammlung Des Knaben Wunderhorn ab - zu seinen Lebzeiten und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenig rezipiert wurde (vgl. Frühwald 1970: 226f.). Das mittlere und späte 19. Jahrhundert, so lässt sich vermuten, war nicht mehr empfänglich für die rückwärtsgewandten Tendenzen von Brentanos Texten aber noch nicht empfänglich für ihre modernen Züge. Die Wiederentdeckung Brentanos konnte somit erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Stefan George und Karl Wolfskehl initiiert werden (vgl. Frühwald 1970: 226f.) 1 . Der Brentanos Lyrik gewidmete Abschnitt aus Thomas Manns Epochenroman Doktor Faustus und Hans Magnus Enzensbergers 1961 unter dem Titel Brentanos Poetik publizierte germanistische Dissertation können als weitere bedeutsame Zeugnisse dieser Brentano-Renaissance gelten, in deren Zuge Brentano von der Literaturgeschichtsschreibung sogar zu einem „Avantgardist[en]“ (Sengle 1972: 468) erhoben wurde. Mit dieser Etikettierung allein erscheint es jedoch noch nicht gerechtfertigt, Brentano in den Kontext der „Avantgarden und ihrer (R)-Evolution der Zeichen“ zu stellen, zumal eine solche Erweiterung des Avantgarde- Begriffs auf das 19. Jahrhundert nicht unproblematisch ist. Gleichwohl soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass wesentliche Merkmale der Avantgarde, wie insbesondere das Eintreten der Kunst in das Stadium der Selbstkritik (vgl. Bürger 1974: 28) und das Primat der Materialität, in Brentanos am Paradigma der Musik orientiertem Sprach- und Dichtungsverständnis vorgeprägt sind. 2. Die bereits mehrfach thematisierte Zerrissenheit Brentanos zeigt sich nicht zuletzt in der Skepsis, die der Autor gegenüber seinem Material, den sprachlichen Zeichen, an den Tag legte. So beklagte Brentano sich in einem nicht abgeschickten Brief an E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst 123 2 So hebt Riedel „die anachronistische Konzeption der Chandos-Figur“ hervor. „Ihr historisches Kostüm ist Metapher; im Gewand eines spätelisabethanischen Intellektuellen verhandelt sie Probleme der Moderne. Chandos’ knappe Sätze über die Religion sind als Sätze nach Feuerbach und nach Nietzsche […] gesagt.“ (Riedel 1996: 18). 3 Die hier verwendeten Begriffe thematisieren, evozieren und imitieren beschreiben grundsätzliche Relationen zwischen Literatur und Musik (vgl. Trabert 2011: 119-165). dass ihm „die Worte nicht als rechtmäßige Bewohner, sondern als Mäuse, Raubthiere, Diebe, Buhler, Flüchtende und dergleichen mit den Empfindungen aus dem Maule laufen.“ (Brentano 1951: 164) Da Hugo von Hofmannsthal diese Briefpassage in seinem Notizenkonvolut Ad me ipsum (Hofmannsthal 1930: 615) zitierte, liegt es trotz der zeitlichen Differenz von fast einem Jahrhundert nahe, eine Parallele zwischen der Sprachkrise um 1800 und der Sprachkrise um 1900 zu ziehen, zumal sich letztere am deutlichsten in Hofmannsthals Chandos- Brief manifestierte. Dieser Vergleich erscheint nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil Brentano und Hofmannsthal ihre Sprachkrise mit einem der Biologie entnommenen Vergleich veranschaulichen - bei Brentano werden die Wörter zu „Mäuse[n]“ und „Raubthiere[n]“, im Chandos-Brief bekanntlich zu „modrige[n] Pilze[n]“ (Hofmannsthal 1902: 465); der Vergleich zwischen diesen beiden Autoren drängt sich auch deshalb auf, weil in beiden Fällen tiefgehende Sprachskepsis und höchste Sprachvirtuosität eine paradoxe Verbindung eingehen. Diese Parallelen sollten aber nicht über die gleichfalls sehr aussagekräftigen Differenzen hinwegtäuschen: Hofmannsthals fiktiver Lord-Chandos ist zwar ein Renaissance-Poet, aber wie es sich für eine um 1900 entstandene literarische Figur gehört, hat er gleichwohl seinen Nietzsche gelesen. Die Sprachkrise des Lord Chandos ist zugleich eine Krise der Metaphysik und der Religion, die ihm nur noch als eine „erhabene[.] Allegorie“ erscheint, so dass ihm gerade theologisch bedeutsame Begriffe wie „Geist, Seele oder Körper“ (Hofmannsthal 1902: 464f.) als erstes fragwürdig werden (vgl. Riedel 1996: 12-20) 2 . Brentano hingegen wird die menschliche Sprache im Bewusstsein der Absolutheit des göttlichen Wortes problematisch. Diesen Unterschied veranschaulichen auch die von den beiden Autoren gewählten Verben: Während Lord Chandos die Wörter im Munde „zerfallen“, mithin der gänzlichen Desintegration preisgegeben sind, „laufen“ sie Brentano „aus dem Maule“: Sie bleiben intakt, ohne jedoch unter der Verfügungsgewalt des Dichters zu stehen. Vergleichen lassen sich indes die Versuche der beiden Autoren, die Sprachkrise zu überwinden: Brentano wie Hofmannsthal wenden sich der nicht durch die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem beeinträchtigten Musik als paradigmatischer Kunstform zu. Im Falle Hofmannsthals manifestierte sich die Hinwendung zur Musik vor allem in seiner Zusammenarbeit mit dem Komponisten Richard Strauss; bei Brentano hingegen blieb die Musikalisierung seiner Lyrik weitgehend auf monomediale Kunstformen beschränkt, wobei sich drei Ebenen unterscheiden lassen: Seine Gedichte thematisieren die Musik wie etwa in dem Zyklus Nachklänge Beethovenscher Musik; sie evozieren die Musik durch den narrativen Zusammenhang, da dieser verdeutlicht, dass die Gedichteinlagen von einer Figur gesungen werden; oder sie imitieren die Musik, indem sie durch eine Vielzahl von Klangfiguren zu einer Sprachmusik werden, die sich dem unmittelbaren Verständnis oft entzieht. 3 Die beschriebenen, im Werk Brentanos wirksamen Tendenzen - die Sprachkrise und die Hinwendung zur Musik - treten mit besonderer Anschaulichkeit in einer zentralen Episode seines Märchens Gockel, Hinkel und Gackeleia zutage. Auf die bizarr-phantastische und peripetienreiche Handlung dieses Märchens braucht hier nur insofern eingegangen zu werden, als dass sich diese um den wundersamen Ring des Königs Salomon dreht, der seinem Besitzer Florian Trabert 124 4 Anders verhält es sich mit dem formelhaften und stärker religiös konnotierten Verspaar „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.“, das gleichfalls das Gockel-Märchen durchzieht, dabei aber wie ein cantus firmus stets unverändert wiederholt wird. 5 Diese Bezeichnung geht offenbar auf Enzensbergers Dissertation zurück (Enzensberger 2 1964: 44) die Erfüllung aller Wünsche ermöglicht. Diesen Ring versuchen drei mit anti-judaischen Klischees versehene morgenländische Stempelschneider an sich zu reißen, indem sie Gackeleia, der Tochter des rechtmäßigen Besitzers Graf Gockel, eine Puppe verkaufen. Aufgrund eines zuvor erfolgten Fehltritts ist Gackeleia jedoch ausgerechnet der Besitz einer Puppe verboten, weshalb die drei Juden auf eine List zurückgreifen und unter Berufung auf eine Inschrift behaupten, das von der Grafentochter sehnlich gewünschte Spielzeug sei „keine Puppe, sondern nur / eine schöne Kunstfigur“ (Brentano 1838: 158). Der Text lässt sich somit als selbstreflexive Kritik am Medium Schrift verstehen, da sich die drei Juden der unmittelbaren Überzeugungskraft des schriftlichen Zeichens bedienen, die trotz der offenkundigen Täuschung funktioniert (Kremer 2 2003: 207). Damit jedoch nicht genug: Denn die vielfache, ja geradezu manische Wiederholung der Formel „keine Puppe, sondern nur / eine schöne Kunstfigur“ im gesamten Gockel-Märchen dient weniger der für Kunstmärchen typischen Simulation von Naivität und Oralität, sondern reduziert die Verse in zunehmendem Maße auf ihre klangliche Materialität, die aufgrund des Anfangs- und des Endreims besonders stark ausgeprägt ist. Indem Brentano die Verse vielfach abwandelt und modifiziert, bedient er sich zugleich typisch musikalischer Verfahrensweisen wie etwa der Umkehrung. 4 3. Die Musikalisierung seiner lyrischen Sprache hat Brentano jedoch in seinem zumeist als „Weberlied“ 5 bezeichneten Gedicht auf den Höhepunkt getrieben. Da sich Brentano im Weberlied ganz einer Logik des Klangs hinzugeben scheint, hat dieses Gedicht als extremer Fall von Sprachmusik in der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts einen singulären Status; im europäischen Kontext lassen sich der Lyrik Brentanos in dieser Hinsicht vermutlich nur die Gedichte Mallarmés an die Seite stellen, die allerdings ein halbes Jahrhundert später entstanden sind und somit bereits dem Vorfeld der Avantgarde zuzurechnen sind. Zudem ist die bereits mehrfach thematisierte Spannung zwischen den verschiedenen Schaffensphasen Brentanos dem Weberlied bereits textgenetisch eingeschrieben, da das Gedicht Teil des ab 1835 entstandenen Textes Aus dem Tagebuch einer Ahnfrau ist, das Brentano der überarbeiteten Fassung seines bereits zwanzig Jahre zuvor (1815/ 16) verfassten Gockel-Märchens als Anhang beifügte. Dass sich das Weberlied einer unmittelbaren Verständlichkeit entzieht, verdeutlichen bereits die Worte der als Erzählinstanz fungierenden Ahnfrau Amey, die das Gedicht als „wunderliche Reime“ (Brentano 1838: 362) bezeichnet: Wenn der lahme Weber träumt, er webe, Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe, Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, Daß das Herz des Widerhalls zerspringe, Träumt das blinde Huhn, es zähl’ die Kerne, Und der drei je zählte kaum, die Sterne, Träumt das starre Erz, gar linde thau es, Und das Eisenherz, ein Kind vertrau es, Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst 125 6 Ein strenger Trochäus entsteht oft nur durch Tonbeugungen, etwa wenn man bei „Nüchternheit“ (9) oder „Schüchternheit“ (10) auch die letzte Silbe betont. Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche; Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Führt der hellen Töne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen, Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien Der erwachten Nacht ins Herz all schreien; Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder, Geh’n die armen Herzen einsam unter! (Brentano 1838: 362) Dem 18 Verse aber nur ein einziges Satzgefüge umfassenden Gedicht liegt eine relativ einfache inhaltliche Gliederung zugrunde: Im ersten Teil werden acht Mängelwesen aufgezählt, die von ihrer körperlichen oder seelischen Integrität träumen (1-10); im zweiten Teil werden diese Träume von der „Wahrheit“ (11) zerstört, woran sich im letzten Verspaar eine kurze Klage über den Untergang der „süßen Wunder“ (17) und „armen Herzen“ (18) anschließt (vgl. Henel 1978: 432). Ins Komische gewendet findet sich diese Grundstruktur eines unsanften Erwachens aus einem schönen Wunschtraum auch im Gockel-Märchen: Nach der Vertreibung Gockels aus Gelnhausen träumt seine Frau Hinkel „von den Gelnhausner Braten und Eierwecken so klar und deutlich, dass sie im Traum sagte: ,ach es ist Wahrheit, es ist kein Traum; ‘ da krähte ihr Alektryo so schneidend dicht in die Ohren, daß sie vor Schrecken erwachte und an die harte Erde fiel.“ (Brentano 1838: 64) Dass in diesem Gedicht der klanglichen Logik gegenüber der semantischen Logik das Primat zukommt, zeigt sich bereits in der ersten Gedichthälfte mit aller Deutlichkeit: Denn das insbesondere in den ersten drei Zeilen exponierte Schema - die Mängelwesen träumen von der Überwindung eines Defekts, der sie in ihrem Innersten Wesen trifft (Enzensberger 2 1964: 44) - wird spätestens aber der siebten Zeile unterlaufen, da Starrheit keine Mangelerscheinung, sondern eine wesentliche Eigenschaft von „Erz“ (7) ist, während sich zwischen „taub[.]“ und „Nüchternheit“ (9) sogar kaum noch sinnvolle semantische Relation herstellen lassen. Brentano ist hier nur einen kleinen Schritt von Dadaistischer Lautlyrik als dem Prototypen avantgardistischer Sprachkunst entfernt. Auch der formale Aufbau des Gedichts unterstreicht das Primat des Klangs: Den 18 Versen liegt zunächst ein denkbar einfaches Reimschema zugrunde, da diese mit einer einzigen Ausnahme Paarreime bilden. Gleichfalls einfach gehalten ist das Metrum des Gedichts, dessen fünfhebige Trochäen mit durchgehend weiblicher Kadenz über die Versgrenzen hinaus einen regelmäßigen Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben entstehen lassen. Dieses relativ einfache Grundmuster wird jedoch von einer Vielzahl von klanglichen Mitteln geradezu überwuchert. Die häufigen Abweichungen des Rhythmus vom Metrum unterbinden jegliche metrische Monotonie, 6 und angesichts der zahlreichen Binnenreime gerät das simple Paarreimschema vollkommen in den Hintergrund. Durch die Binnenreime entstehen bei insgesamt vier Zeilenpaaren (7/ 8, 9/ 10, 12/ 13 und 15/ 16) jeweils drei Säulen unterschiedlicher Breite, die meistens drei, seltener auch zwei, vier oder fünf Silben umfassen. Exemplarisch lässt sich dies an den klanglich besonders intensiven Versen am Ende des ersten Teils zeigen, deren Binnenreime in einem Fall sogar zur Auflösung der morphologischen Einheiten beitragen: Florian Trabert 126 7 Heinrich Henel hat hierin einen Grundzug der Lyrik Brentanos erkannt: „Brentanos Lyrik ist zugleich freier und strenger [als die traditionellen Strophen- und Gedichtformen]. Außer Metrum und Endreim können Binnenreime, mehrsilbige Reime, Anaphora und Epiphora, und die genaue oder variierende Wiederholung einzelner Wörter, Wendungen und ganzer Zeilen oder Zeilenpaare die Bindung herstellen. Diese Vielfalt der Mittel ermöglicht einerseits eine große Dichte des Gewebes im einzelnen Gedicht, andrerseits eine große Abwechslung von Gedicht zu Gedicht.“ (Henel 1980: 76) 8 Brentano behält dabei nicht das für die Divina Commedia charakteristische Reimschema der Terzine bei, sondern wandelt dieses zur Reimfolge abc abc ab. 9 So schreibt Schlegel von Guido Cavalcantis Canzone „Donna mi prega“, daß diese „lehrend von dem Wesen der Liebe handelt, und wie im Sylbenmaß überkünstlich ein fast unentwirrbares Gewebe von Spitzfindigkeit ist“ (Schlegel 1803-1827: 145). Träumt das starre Erz, gar linde thau es, Und das Eisenherz, ein Kind vertrau es, Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche; Angesichts der berauschenden Klangwirkung dieser Binnenreime nimmt man es kaum wahr, dass sich Brentano an einer Stelle auch des banalsten aller Reime bedient: „Schmerz“ (15) reimt sich auf „Herz“ (16). Obwohl sich Brentano keiner traditionellen Strophen- oder Gedichtform bedient, entsteht insbesondere durch die Binnenreime ein mit größter Strenge gewebtes Gebilde. 7 Modelle hierfür lassen sich kaum bei Brentanos Zeitgenossen finden, sondern am ehesten in der mittelalterlichen provenzalischen und italienischen Lyrik, die in der Romantik als Projektionsfläche für das Ideal einer Vereinigung von Dichtung und Musik fungierte. Als konkrete Beispiele ließen sich etwa die Kanzone „L’aur’amara faÿls bruoills brancutz“ (Arnaut Daniel: 50-53) des von Dante außerordentlich geschätzten provenzalischen Trobadors Arnaut Daniel und die Kanzone „Donna mi prega, per ch’eo voglio dire“ (Cavalcanti: 360-365) von Dantes Jugendfreund Guido Cavalcanti anführen, zumal die florentinische Gruppe der Stilnovisten um Dante und Cavalcanti mit einigem Recht als die ,Avantgarde‘ der mittelalterlichen Literatur gelten kann. Der Verweis auf die romanische Literatur des Mittelalters erscheint nicht nur im Hinblick auf Brentanos familiäre Herkunft plausibel, sondern auch angesichts des Umstands, dass der Autor in das Gockel-Märchen unmittelbar vor dem Weberlied den Beginn des achten Purgatorio-Gesangs aus Dantes Divina Comedia in freier Übersetzung integriert hat (vgl. Brentano 1838: 359f.) 8 . Die Rezeption dieser Texte wurde in Deutschland maßgeblich durch August Wilhelm Schlegel initiiert (vgl. Schlegel 1803-1827: 130-194 und Strobel 2010: 159-183) 9 , mit dem Brentano seit seiner Jenaer Zeit in Kontakt stand (vgl. Schultz 1999: 15). Brentano kann somit als ein später Nachfahr des trobar clus gelten, der dunklen und hermetischen Lyrik der mittelalterlichen Trobadors. Allerdings verfolgt Brentano mit der Klangmagie seiner Verse ein anderes Ziel als seine mittelalterlichen Modelle - ein Ziel, das vor allem durch die romantischen Reflexionen zum Verhältnis der Medien Literatur und Musik bestimmt ist, dem romantischen Ideal einer größtmöglichen Annäherung der Literatur an die Musik. Musikalisch sind die zahlreichen Klangfiguren des Gedichts nicht nur, weil sie den Klang ins Zentrum rücken - was eine tautologische Beschreibung wäre -, sondern weil sie auf einer vertikalen Ebene Beziehungen schaffen und so eine wesentliche objektiv-technische Differenz zwischen Literatur und Musik wenn nicht überwinden, so doch zumindest aufbrechen. Durch die syntagmatischen Relationen, die zwischen den Versen entstehen, nähert sich der prinzipiell lineare literarische Text der ,zweidimensionalen‘ Musik an, bei der die horizontale Dimension der Melodik durch die vertikale Dimension der Harmonik erweitert wird. Am deutlichsten belegen dies die Verse 9 Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst 127 10 Eine solche Deutung hat bereits Gerhard Kaiser vorgeschlagen, wobei seine Ausführungen allerdings etwas vage bleiben: „Das Traumgedicht Brentanos ist ein poetologisches Gedicht vom Dichter, der von einem Text träumt, der alle seine Figuren den Traum vom vollkommenen Leben träumen läßt.“ (Kaiser 1987: 258). 11 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß eine sozialgeschichtliche Deutung des Gedichts, wie sie Peter Utz in Ergänzung der poetologischen Lesart vorgeschlagen hat, gleichfalls möglich ist. „[D]er lahme Weber“ ersteht dann als Vertreter eines Standes, der durch soziale Armut existentiell bedroht ist (Utz 1987: 248-252). 12 Im gleichen Sinn schreibt Gerhard Kaiser: „Die Lichtsymbolik der Aufklärung kommt bei Brentano in der gleichen Umkehrung vor wie in den geschichtsphilosophischen Hymnen an die Nacht (1800) des Novalis.“ (Kaiser 1987: 260). 13 Auf diese Problematik hat zuerst Heinrich Henel hingewiesen, der dabei auch seine älteren Deutungsansätze widerruft: „Man kommt besser zurecht, wenn man, wie ich früher, die ,Träume‘ als berechtigte Sehnsüchte, die ,Wahrheit‘ als Wirklichkeit und den Untergang der ,armen Herzen‘ als unnötige Grausamkeit versteht. […] Nur ist das Leichte nicht notwendig das Richtige. Ergibt sich die weltliche Deutung des Gedichts ungezwungener, so ist die religiöse tiefer und dem Denken des alten Brentano gemäßer.“ (Henel 1978: 437). Problematisch scheint mir an diesem Ansatz zu sein, daß Henel den Kontext des Weberliedes absolut setzt und damit verkennt, daß zwischen den Gedichteinlagen und dem Kontext stets eine dialektische Beziehung besteht. Es ist auch nicht so, daß der Kontext von Aus dem Tagebuch einer Ahnfrau durchgängig für eine positive Deutung der „Wahrheit“ spricht, die den Traum „übern Haufen“ rennt. So warnt in einer anderen Gedichteinlage ein Storch ein einsames Lamm mit den Worten: „Der Widder kömmt gelaufen schier und rennt dich übern Haufen hier“ (Brentano 1838: 343). und 10, die nicht zufällig in der Mitte des Gedichtes stehen, da sie den Höhepunkt des Sprachrauschs markieren: Zwischen den einzelnen Wörtern und Silben bestehen dermaßen enge und vielfältige klangliche und semantische Relationen, dass die Linearität der Verse weitgehend aufbricht. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird es auch möglich, dieses Gedicht als poetologischen und damit selbstreflexiven Text zu lesen, 10 was schon allein deshalb naheliegt, da das erste im Gedicht genannte Mängelwesen, „der lahme Weber“, sich als traditionelle Metapher für den Schriftsteller deuten lässt, und auch die Nachtigall bei Brentano als toposhafte Metapher für den Künstler fungiert. 11 Bei dieser Lesart werden die Träume der Mängelwesen zu Metaphern für den Traum der Sprache, die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu überwinden und somit zu Musik zu werden. Dass der Sprache die Erfüllung dieses Traums verwehrt bleibt, deutet allerdings bereits die mediale Vermittlung des Weberlieds an, die sich aus dem narrativen Kontext erschließen lässt. Denn im Gegensatz zur Mehrzahl der Gedichteinlagen im Werk Brentanos kommt dem Weberlied gerade nicht die Funktion zu, inmitten des geschriebenen und mithin ,toten‘ Textes die lebendige Stimme zu evozieren: Der Erzählinstanz, der Ahnfrau Amey, liegt das Gedicht als geschriebener Text vor (vgl. Brentano 1838: 362). Mit dieser poetologischen Deutung des Weberlieds ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, wie der Einbruch der „Wahrheit“ (11) im zweiten Teil des Gedichts zu deuten ist, der nicht nur den Traum „übern Haufen“ (14) rennt, sondern auch das Reimschema, das an dieser Stelle bezeichnenderweise vom durchgehenden Paarreim abweicht (vgl. Kaiser 1987: 260). Im Kontext der romantischen Poetik liegt es sicherlich nahe, die Wahrheit negativ als „Herrschaftsanspruch der aufklärerischen Vernunft“ (Utz 1987: 231) 12 zu deuten, die durch das Attribut der höhnisch lachenden Fackel ihre eigene Pervertiertheit zu erkennen gibt. Ganz so einfach liegen die Dinge allerdings nicht, 13 da die „Wahrheit“ im theologischen Sinne ein göttliches Prinzip ist, und für den Katholiken Brentano die Worte Jesu: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14.6) verbindlich waren. Auf diese Verse bezieht sich das Gockel-Märchen auch an einer Stelle zumindest implizit, wenn Graf Gockel bei Florian Trabert 128 14 In dem Gedicht „Sprich aus der Ferne“ aus dem Roman Godwi ist die frühromantische Vorstellung einer Verbundenheit aller Erscheinungen noch gleichsam a priori gegeben: „Alles ist freundlich wohlwollend verbunden, / Bietet sich tröstend und trauernd die Hand, / Sind durch die Nächte die Lichter gewunden, / Alles ist ewig im Innern verwandt.“ (Brentano 1801: 175). seiner Leichenrede auf den Hahn Alektryo sagt: „Gleichwie der Hahn den Tag verkündet und den Menschen vom Schlaf erweckt, so verkünden fromme Lehrer das Licht der Wahrheit in der Nacht der Welt […].“ (Brentano 1838: 106f.) Angesichts dieser Zusammenhänge ist die »Wahrheit« dann als Absolutheit des religiösen Prinzips zu deuten, dass die notwendige Relativität des poetischen Wortes fragwürdig werden lässt und somit die Möglichkeit künstlerischer Äußerung radikal in Frage stellt. Gänzlich auflösen lässt sich der Interpretationskonflikt zwischen einer romantischen und einer theologischen Lesart des Weberlieds wohl nur um den Preis der Einseitigkeit, so dass es sinnvoller erscheint, diese Ambivalenz als zeichenhaft für Brentanos Zerrissenheit zwischen romantischer Kunstpoesie und katholischer Erbauungsliteratur zu deuten. Auch für den Gesamttext des Gockel-Märchens gilt, dass dieser eine hybride Komposition aus säkularem und geistlichem Text ist, der sich kaum widerspruchsfrei in die eine oder andere Richtung deuten lässt (vgl. Kremer 2 2003: 208). Der eigentliche Defekt der „armen Herzen“ scheint zudem auch weniger in ihrem spezifischen Mangel zu bestehen - der Lähmung, der Krankheit, der Stummheit etc. - sondern in ihrer Isolation, in der sie die kompensatorischen Wunschträume befangen halten. Dies verdeutlicht das letzte Verspaar: „Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder, / Gehn die armen Herzen einsam unter! “ (17f.). Eine Überwindung dieser Isolation wäre durch ein Opfer im christlichen Sinne möglich, wie es im Gockel-Märchen der Hahn Alektryo vollbringt, um Graf Gockel in den Besitz von König Salomons Ring zu bringen; zu einer solchen Opferbereitschaft wird auch die Gräfin Amey in Aus dem Tagebuch einer Ahnfrau durch eine innere Stimme ermahnt: „[H]ast du je für das Glück anderer ein Opfer gebracht? […] Zu Leid und Freud gehört ein Echo, ein Widerhall, der antwortet - aber du bist einsam! “ (Brentano 1838: 357) 14 . An dieser Stelle lassen sich die musikalischen Effekte des Gedichts erneut ins Spiel bringen, da durch die zahlreichen Assonanzen und Binnenreime Echowirkungen oder Widerhalle entstehen, die darauf abzielen, die Isolation der Mängelwesen zu durchbrechen. So träumt „die stumme Nachtigall“ (3) davon zu singen, „daß das Herz des Widerhalls zerspringe“ (4), wobei der eigentümliche Genetiv hier als Instrumentalis zu verstehen ist, das Herz also durch den Widerhall zerspringen soll (vgl. Kaiser 1987: 253). Brentano aktualisiert somit den antiken Echo-Mythos, demzufolge das Echo aus dem - bekanntlich unerfüllt bleibenden - Wunsch der Nymphe Echo nach der Vereinigung mit dem schönen Jüngling Narziss entstanden ist (Ovid: V.339-401). Das Echo als zentrale musikalische Metapher des Weberlieds steht somit am Schnittpunkt der hermeneutisch deutbaren und der hermetischen, sprachmusikalischen Partien des Gedichts, wobei sich auch letztere einer Deutung nicht gänzlich entziehen. Es ist also nicht so, dass sich das Weberlied in dem Maße der Verständlichkeit entzieht, wie die vor allem durch die Binnenreime hervorgerufenen Klangwirkungen zunehmen. Sinn und Klang stehen sich in der Lyrik Brentanos nicht als bloße Antithesen gegenüber, sondern sind vielmehr dialektisch aufeinander bezogen. Clemens Brentanos musikalische Poetik als Vorform avantgardistischer Sprachkunst 129 4. Im Hinblick auf das Gesamtwerk Brentanos erscheint es als kaum zufällig, dass die zentrale musikalische Metapher des Widerhalls ausgerechnet mit der „stumme[n] Nachtigall“ (3) verbunden ist. Wie bereits Hans Magnus Enzensberger gezeigt hat, verkomplizieren sich bestimmte Motive in Brentanos Werken, indem sich akustische mit bildlichen Beziehungen kreuzen (vgl. Enzensberger 2 1964: 81-83), die ihrerseits mit intertextuellen Bezügen angereichert werden. Die Motive werden somit zu Komplexen, wobei das Nachtigall-Motiv fraglos einen der wichtigsten Komplexe im Werk Brentanos darstellt. Vor dem Hintergrund von Brentanos romantischer Poetik steht das Nachtigall-Motiv in seinem Frühwerk für das Ideal einer Aufhebung der Dichotomie von Kunst und Natur, vergleichbar den Äolsharfen, die die Figur Kordelia aus dem Roman Godwi an einer Eiche anbringen lässt (vgl. Brentano 1801: 502). Der Klang der Äolsharfe und der Gesang der Nachtigall sind gleichermaßen „Bild[er] der poetischen Stimme der Natur wie des dieser Stimme nachgebildeten künstlerischen Werkes“ (Frühwald 1984: 278). Als besonders aufschlussreich für die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen im Werk Brentanos erscheint dabei der Umstand, dass „die stumme Nachtigall“ (3) des Weberliedes im frühen Roman Godwi in Gestalt einer „geblendeten Nachtigall“ eine Vorläuferin hat. Lässt sich „die geblendete[.] Nachtigall, die sich zu Tode singt, weil sie die Stunden der Ruhe nicht mehr erkennen kann“ (Brentano 1801: 115) als Metapher für die Leiden des Künstlers deuten, die eine notwendige Voraussetzung jeder Kunstproduktion und damit auch jedes Kunstgenusses darstellen, so bleibt der stummen Nachtigall des Weberliedes durch ihren Defekt jegliche künstlerische Äußerung verwehrt, so dass sie zu einer erlösungsbedürftigen Figur wird. Dass Brentano somit wie die Avantgardisten die Kunst selbst radikal in Frage stellt, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies aus höchst unterschiedlicher Motivation geschieht: Während Brentano die Kunst aus einer religiösen Perspektive fragwürdig wird, richtet sich die avantgardistische Kritik primär gegen die Kunst als bürgerliche Institution. Eine zusätzliche religiöse Aufladung erfährt das Nachtigall-Motiv durch die Rückbindung an die barocke Lyrik, in der die Nachtigall als Sinnbild der gottlobenden Seele erscheint. Die Forschung hat hierbei zumeist und sicherlich mit Recht den Bezug zu der 1817 von Brentano herausgegebenen Gedichtsammlung Trutz-Nachtigall des Jesuitendichters Friedrich von Spee hergestellt (vgl. Schultz 1999: 48), der hier durch den Verweis auf das Lied des Einsiedels „Komm Trost der Nacht / O Nachtigal“ (Grimmelshausen 1668/ 69: 34-36) aus Grimmelshausens Schelmenroman Simplicissimus ergänzt werden soll, das Brentano in Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen wörtlich zitiert (Brentano 1846: 447f.). Besonders evident scheint dieser intertextuelle Zusammenhang zu sein, da in der dritten Strophe des Lieds mit dem Echo die zentrale musikalische Metapher des Weberlieds in das Lob Gottes einbezogen wird: „Echo, der wilde Widerhall / Will seyn bey diesem Freudenschall“ (Grimmelshausen 1668/ 69: 35). Dass die Handlung des Gockel-Märchens größtenteils in einem Waldstück zwischen Hanau und Gelnhausen spielt, lässt sich zudem nicht nur als etwas kalauernder Verweis auf das zentrale Hahn-Motiv des Märchens verstehen, sondern auch auf das Lied des Einsiedels, das dieser im Simplicissimus an gleicher Stelle singt. Diesen Zusammenhang bestätigt auch der durchaus selbstreferentiell zu verstehende Kommentar des Grafen-Gockel: „Es ist und bleibt doch halt immer ein höchst merkwürdiger klassischer Boden, die Gegend zwischen Hanau und Gelnhausen! “ (Brentano 1838: 94) Brentanos Rückgriff auf die barocke Lyrik beschränkt sich jedoch nicht auf motivische Anleihen, sondern schlägt sich auch auf einer strukturellen Ebene nieder. Das Florian Trabert 130 15 Eine typisch barocke Antithetik, die deutlich an Gryphius’ berühmtes Vanitas-Sonett erinnert, weist auch das gleichfalls aus dem Gockel-Märchen stammende Schnitter-Lied auf: „Was heut noch frisch und blühend steht / Wird morgen schon hinweggemäht“ (Brentano 1838: 436). Weberlied nähert sich dem frühneuzeitlichen Typus des Kataloggedichts an, das in einem denkbar scharfen Gegensatz zum ,Stimmungsgedicht‘ steht, dem vorherrschenden Typus der klassisch-romantischen Epoche. Die gesamte erste Hälfte des Gedichts besteht aus einer Reihung von Exempla, wobei Brentano relativ unbekümmert Menschen, Tiere, Dinge oder Abstrakta aufeinanderfolgen lässt, auf ein lyrisches Ich als Träger subjektiver Stimmungen hingegen gänzlich verzichtet. An die barocke Rhetorik erinnert zudem die antithetische Spannung zwischen dem Defekt und seiner träumerischen Überwindung, die jedem dieser Exempla zugrundeliegt. 15 Brentanos literaturgeschichtliche Stellung scheint somit durch eine geradezu paradoxe Verbindung mittelalterlicher, frühneuzeitlicher und moderner Elemente bestimmt zu sein. Der zentrale Aspekt von Brentanos musikalischer Poetik, die Auflösung des sprachlichen Zeichens zu einer Materialität des Klangs und dessen erneute semiotische Aufladung, scheint dabei den deutlichsten Schnittpunkt zwischen den rückwärts und den vorwärts weisenden Tendenzen von Brentanos Ästhetik zu markieren. Brentanos Rückgriff auf weit zurückliegende Traditionen muss nicht zwangsläufig dagegen sprechen, in seiner Lyrik eine Vorform avantgardistischer Sprachkunst zu sehen. Der von den Avantgardisten proklamierte Traditionsbruch richtete sich in erster Linie gegen die unmittelbar vorangegangene Epoche, während sich die Avantgardisten vielfach von dezidiert anti-klassizistischen Epochen wie dem Barock oder eben der Romantik inspirieren ließen. Dieser Umstand sollte freilich nicht dazu verführen, im romantischen Programm der progressiven Universalpoesie eine unmittelbare Antizipation der avantgardistischen Ästhetik zu sehen: Während die Romantiker die Kunst im Medium der Kunst kritisch reflektieren ohne dabei an deren Aufhebung zu denken, stellen die Avantgardisten die Institution der Kunst mit künstlerischen Mitteln radikal in Frage. Der Fall Brentanos ist indes noch einmal anders gelagert und erscheint deshalb in diesem Kontext von besonderem Interesse. Vor allem seine späte Lyrik markiert bereits einen Schwellenbereich zwischen den Positionen der Romantik und der Avantgarde, da die Mängelwesen des Weberlieds aus einer religiösen Perspektive die Kunst an sich fragwürdig werden lassen. Die blinde Nachtigall des frühen Romans Godwi geht noch im Programm der progressiven Universalpoesie auf, die stumme Nachtigall des Weberlieds indes nicht mehr. Bezahlt hat Brentano den ,avantgardistischen‘ Status seiner Lyrik innerhalb der klassisch-romantischen Epoche mit einer Sonder- und Außenseiterstellung, die der Einsamkeit der vom Weberlied besungenen Mängelwesen nahe kommt. Bibliographie Primärtexte Arnaut Daniel: „L’aur’amara faÿls bruoills brancutz“, zitiert nach: Die Gedichte aus Dantes De vulgari Eloquentia 1986, ed. Frank-Rutger Hausmann, München: Fink: 50-53. Brentano, Clemens 1801: Godwi oder Das steinerne Bildnis der Mutter, ed. Ernst Behler, Stuttgart: Reclam. 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