eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
361-2

Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen

2013
Villö Huszai
1 Vgl. zum Beispiel die Kritik von Otto Stoessl in der „Österreichischen Rundschau“ von 1912, in der Stoessl Musil „eine eigentümlich verbohrte und ins absonderlich Sexuelle verbissene Begabung“ (TbII 698) vorgeworfen hatte. 2 Ich stütze mich im Folgenden auf die Avantgarde-Definition von Peter Bürger (1974). 3 Bonacchi (2010) stellt den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dar, vor dem Musil die „Vereinigungen“ schrieb, und erhellt, welche insbesondere psychologischen Theorien Musil beim Schreiben geleitet haben Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen Der Plot in Robert Musils Novelle „Die Versuchung der stillen Veronika“ Villö Huszai Robert Musil's novella, "The Temptation of Quiet Veronica" is often praised for being avantgarde. The following article debates the suitability of such praise, which implies that the novella lacks a realistic plot and storyline. I argue that, to the contrary, this novella tells a story in a precise and logical manner. Moreover, the novella contains the story of its own recounting. Unfortunately, the prevailing praise ("avant-garde") has until now obscured Musil's technical precision. Any future assessment of this novella as avant-garde must take into account Musil's engineer-like precision and link it to other, more typically avant-garde aspects of his work. Robert Musils frühe Novelle „Die Versuchung der stillen Veronika“, 1911 im Novellenband „Vereinigungen“ erschienen, stiess nicht nur in der zeitgenössischen Literaturkritik auf Ablehnung. 1 Sie ist bis heute ein Fremdkörper der deutschen Literatur geblieben; von der Mehrheit übergangen, von einer Minderheit bewundert - und dabei gerne als avantgardistisch gelobt. Man soll einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen: Trotzdem werde ich im folgenden Beitrag die Tauglichkeit dieses Lobes, für die „Versuchung der stillen Veronika“, aber auch für Musils Werk insgesamt, zur Debatte stellen. Dafür gilt es zwei Begriffe von Avantgardismus auseinanderzuhalten: Avantgardismus als engerer Begriff für die „historischen Avantgardebewegungen“ 2 und als weiterer Begriff für Kunstformen, die sich zur Tradition querstellen, sie überwinden wollen, herkömmliche Formen auflösen oder was der Formulierungen da noch sind. Als Avantgardist im engeren Sinne wird Musil in der Forschung nicht bezeichnet. Wenn die Forschung Musils Werk als avantgardistisch lobt, dann im weiteren Verständnis von Avantgardismus. Zentrale Bedeutung hat dabei in jüngerer Zeit der Begriff des Experimentes gewonnen: Musil ist demnach Avantgardist, weil „er Experimente im Sinne von formalen Erzählexperimenten auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten“ durchführt (Bonacchi 2010: 192). 3 Die Gleichsetzung von avantgardistisch mit K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Villö Huszai 94 könnten. Einigermassen verblüffend ist der Umstand, dass dieses Wissen mit keinerlei Textanalyse verknüpfbar scheint. Statt in eine Textarbeit zu münden, schliesst der Aufsatz mit der Feststellung: „Tatsächlich aber lösen diese intellektuellen Voraussetzungen sich im Erzählten völlig auf. Musil scheint somit jede Spur des intellektuellen Hintergrunds verwischt haben zu wollen“ (Bonacchi 2010: 213). 4 Votum Chris Bezzels im Rahmen insgesamt anregender Diskussionen im Rahmen der von Peter Rusterholz und Christina Vogel geleiteten Kongress-Sektion „Avantgarden und Ihre [R]Evoltion der Zeichen“ des 13. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik. 5 Der Einfachheit halber nenne ich im Folgenden nur immer ein Geschlecht, das andere ist jeweils mitgemeint. 6 „Untersuchung des Bedeutungsaufbaus“ lautet der Untertitel von Zellers Aufsatz. 7 Vgl. dasselbe Fazit in Bezug auf die 1924 erschienene Novelle „Tonka“ bei Rudolf Schier (1977). 8 So gegen den damaligen historisch-kritischen Herausgeber der „Vereinigungen“ Karl Corino (1974), der die Endfassung der Novelle für misslungen erklärte. 9 Das Verhältnis von Musils Erzählen zur „realistischen Schreibweise“ im Sinne des Epochenbegriffs hat Zeller an anderem Ort (Zeller 1980) behandelt. Vgl. hingegen Zeller (1981, 365, Anm. 6: „Unter realistisch verstehe ich jede Art von Erzählung, deren Absicht es ist, die vom Leser als real empfundene Welt darzustellen.“ 10 Davon, dass Musil „jeden Bezug auf die Wirklichkeit“ zerstöre (Zeller 1981, 371) kann nicht die Rede sein. 11 Ohne diese Annäherung von Fiktion und Wirklichkeit jemals im Stile postmoderner Literatur in einer deklarierten Identität von realem Autor und fiktiver Figur münden zu lassen. experimentell macht das Problem des weiteren Verständnisses deutlich; es besagt eigentlich nicht viel mehr als innovativ 4 und letztlich nur noch: gut. Denn gibt es gute Kunst, die nicht in irgendeiner Weise innovativ ist? Selbstverständlich sind Musils zwei Novellen, die nicht nur seine Leserinnen 5 , sondern auch ihren eigenen Autor beim Lesen überanstrengt haben, ein literarisches Experiment. Brisanter ist das Lob der Schweizer Germanistin Rosmarie Zeller im Rahmen ihrer Studie zum „Bedeutungsaufbau“ 6 (1981) der Novelle: Ohne dass Zeller den Begriff des Avantgardistischen verwendet, ist er in ihrem Fazit enthalten, Musil könne als „Vorläufer des Nouveau-Roman“ (Zeller 1981: 381) betrachtet werden. 7 Als eine der Ersten hat Zeller Musils ungewöhnlichen Gebrauch „poetischer Verfahren“, insbesondere das Erzählen in poetischen Bildern, anschaulich dargestellt und gegen damalige Kritiker verteidigt (Zeller 1981: 364). 8 Brisant ist Zellers Lob deswegen, weil es auf einen neuralgischen Punkt zielt: die Frage nämlich, wie Musil erzählt. Statt auf der „Abfolge einer ‚Geschichte‘“ beruhe die Komposition der Novelle auf „thematischen Variationen“ (Zeller 1981: 377); Musils in der Tat exorbitanter Einsatz von Sprachbildern und Vergleichen ginge demnach also auf Kosten einer stringenten Erzählung? Ja: Zellers Lob des Avantgardistischen gipfelt im Fazit, dass Musil auf die „logisch-chronologische Folge der Erzählung“ (Zeller 1981: 380) verzichte; der „Verzicht auf realistisches Erzählen“, so Zeller (1981: 365) zeichnet die Novelle aus. Dieses frühe Lob des Avantgardistischen ist von der Forschung nie angezweifelt worden; der Plot wurde schon vor Zeller als nicht diskussionswürdige Nebensache behandelt (vgl. Geulen 1965), das ist bis heute so geblieben. Ich hingegen werde dafür argumentieren (Kapitel 1 bis 4 dieses Beitrags), dass Musils Novelle mitnichten auf „realistisches Erzählen“ verzichtet - wobei ich mit dem Zellerschen Ausdruck „realistisches Erzählen“, wie Zeller selbst, nicht die Literaturepoche anspreche. 9 Unter „realistischem Erzählen“ verstehe ich ein Erzählen, das mit einem zeitlich und logisch nachvollziehbaren Plot einhergeht. 10 Ich werde aber nicht nur dafür argumentieren, dass die Novelle einen realistischen, nachvollziehbaren Plot besitzt: Überdies argumentiere ich dafür, dass Johannes, der Protagonist der Novelle, zum Erzähler, mehr noch: zum fiktiven Autor genau dieser Novelle werden wird (Kapitel 5, 6). Mit anderen Worten: Zum Plot gehört sogar der Plot des Zustandekommens dieses Plots; die Erzählung der Erzählung. Nicht ein „Verzicht auf realistisches Erzählen“, sondern geradezu eine Art „Hyperrealismus des Erzählens“ kann man Musil demzufolge attestieren. 11 In den 20er Jahren Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 95 12 Zur Frage, inwiefern Musils Ingenieurtum von Belang ist für den Dichter Musil, siehe zum Beispiel Bolterauer (2007, 138), die Musils ingenieurmässige Genauigkeit aber nur theoretisch beteuern, nicht an der Erzählung nachvollziehen kann. 13 Vgl. zum Beispiel Geulen (1965, 186), demzufolge Musil einem „Problem“ den Vorrang vor einem spannenden Plot gibt. Problematisch ist das Ausspielen des einen gegenüber dem andern. notiert Musil in einem anderen Zusammenhang: „Es kommt davon, daß ich Ingenieur bin“ (TbI, 644). Anstatt auf einen soliden Plot zu verzichten, integriert der Ingenieur-Dichter Musil sogar noch die Konstruktion des Plots, das Zustandekommen der Erzählung, in den Plot seiner Novelle. 12 Dieser Hyperrealismus lässt sich bei allen grösseren Erzählungen Musils einschliesslich des unvollendeten Hauptwerkes „Mann ohne Eigenschaften“ nachweisen (Huszai 2002, insbesondere 109-143). Gerade während des langwierigen Schreibprozesses der „Versuchung der stillen Veronika“ hat Musil diesen Hyperrealismus, der bei seinem Erstling „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ nur erst als Nukleus vorhanden war, entwickelt; gerade an dieser Novelle lässt sich die epistemologische und ethische Dimension dieser Erzählweise aufzeigen (Kapitel 7, 8). Auf der Basis dieser Darlegungen werde ich abschliessend dazu Stellung nehmen, ob und inwiefern Musils Erzähltexte als avantgardistisch charakterisiert werden können. 1. Plot und lösbare Rätsel: Doppeltes Ärgernis für die Literaturtheorie Wieso eigentlich geht das Lob des Avantgardistischen in der Musil-Forschung, zumindest bezüglich dieser Novelle, so gerne auf Kosten des Plots? Es bedarf eines detektivischen Lesers, der sich vom Plot nicht abbringen lässt - und das läuft dem gegenwärtigen Trend zuwider, Texte nur so lange als wertvoll zu betrachten, wie sie uns vor unlösbare Rätsel stellen, uns als „unlös- und unlesbare“ (Villiger 2010: 143) Texte begegnen. Villiger schreibt in seinem Aufsatz „Der Literaturwissenschaftler als Detektiv“ (2010: 149) sogar: So besteht ein nicht geringer Motor der Forschung darin, auch solche Texte zu rätselhaften Gebilden zu machen, die es auf den ersten Blick gar nicht sind oder sein wollen, denn offenbar dürfen sie nur als rätselhaft-komplizierte den Anspruch erheben, interessant oder ‚modern‘ (eine weitere oft diffuse Kategorie) zu sein. Was Villiger hier mit „modern“ in Anführungszeichen bezeichnet, entspricht der Funktion des Begriffs „avantgardistisch im weiteren Sinn“. Es ist zu einer Routine der Literaturwissenschaft geworden, Literatur für ihren standhaften Nachweis der Rätselhaftigkeit und Unsagbarkeit von was auch immer zu loben. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich Musils Novelle „entschlüsseln“ liesse, aber es gilt echte Rätsel von falschen, echte Offenheit von falscher, zu unterscheiden. Dass die Forschung Musil für seinen angenommenen Verzicht auf einen handfesten Plot gerade lobt, ist Indiz dafür, in welchem Mass der Plot für die gegenwärtige Literaturwissenschaft etwas Minderwertiges darstellt. Brooks (1984: 4) schreibt: Plot has been disdained as the element of narrative that least sets off and defines high art […]. (Übersetzung VH: Der Plot wird als dasjenige Element einer Erzählung gering geachtet, das am wenigsten geeignet ist, Kunsthaftigkeit zu erzeugen oder anzuzeigen). 13 Villö Huszai 96 14 Der erste Absatz der Novelle ist eine Art „Prolog“, der später (Kapitel 6 dieses Beitrags) zur Sprache kommen wird. Der Begriff „Prolog“ stammt von Corino (1974: 232). 15 In der späteren Novelle „Die Amsel“ wird die Figur Aeins seinem Alter ego Azwei auf eine analoge Kardinal- Frage antworten: „[…] und wenn ich den Sinn wüsste, brauchte ich Dir wohl nicht erst zu erzählen“ (GWII 562). Das „Unfassbare“ handlich zu machen wie „ein Kristall, den man in die Tasche stecken kann“ (MoE 533f.), ist nicht Sache dieser Novellen. Brooks gibt jedoch zu bedenken: […] one must in good logic argue that plot is somehow prior those elements most discussed by most critics, since it is the very organising line, the thread of design, that makes narrative possible because finite and comprehensible. (Übersetzung VH: Man kann mit guten Gründen dafür argumentieren, dass der Plot Vorrang hat vor den Elementen, die von den meisten Literaturwissenschaftlern am intensivsten diskutiert werden, denn er ist das organisierende Moment; der rote Faden der Konstruktionsgestalt, der das Erzählen erst möglich, weil begrenzbar und verständlich macht.) Musil hat seiner Novelle einen nachvollziehbaren Plot, einen solchen „roten Faden“ der Konstruktion, mitgegeben. Diese Feststellung plausibel zu machen, ist die detektivische Knochenarbeit, die als erstes nun an der Novelle zu leisten ist. 2. „Nachträglich“: ein Wort als Prüfstein des Avantgardistischen „Der Schock des Rezipienten“ ist in den historischen Avantgardebewegungen „oberstes Prinzip“ (Bürger 1974: 24). Ein Schock des Nicht-Verstehens ist der Leserin der „Versuchung der stillen Veronika“ am Anfang der Novelle zunächst gewiss. Zugleich enthält aber genau dieser Anfang mit dem Wort „Nachträglich“ d a s Schlüsselelement für den Nachweis eines nachvollziehbaren Plots. Der zweite Absatz der „Versuchung der stillen Veronika“ beginnt wie folgt: 14 „Kreisendes! “ Nachträglich, in den Tagen einer fürchterlichen Entscheidung zwischen einer mit unsichtbarer Bestimmtheit wie ein dünner Faden gespannten Phantasie und der gewohnten Wirklichkeit, in diesen Tagen einer verzweifelten letzten Anstrengung jenes Unfassbare in diese Wirklichkeit zu ziehen - dann des Fallenlassens und sich in das einfach Lebendige wie in einen wirren Haufen warmer Feder Werfens sprach er es an wie einen Menschen.“ Nicht nur die Metapher „Kreisendes! “ ist rätselhaft. „Nachträglich“ in Hinblick auf was? Von welcher „fürchterlichen Entscheidung“ ist die Rede? Welches Unfassbare? Und: Wen oder was hat Johannes „wie einen Menschen“ angesprochen? Mit „Kreisendes! “ hat Johannes offenbar jenes „Unfassbare“ angesprochen - aber was ist nun dieses unfassbare „es“, wonach die zwei Protagonisten Veronika und Johannes unentwegt suchen? Gleich zu Beginn der Novelle wird hier der Leserin mit diesem „es“ eine Kardinalfrage der Novelle anheimgestellt, auf die es keine einfache Antwort geben wird. Dieses „es“ gehört nicht zu dem, was Brooks zum roten Faden des Plots zählen würde; hier ist eher eine Art Epizentrum aller Fragen der Novelle zu vermuten. 15 Auch die Angabe „Nachträglich“ scheint zunächst von dieser Art zu sein. Karl Corino stellt 1974 fest, dass Musil mit dem Wort „Nachträglich“ das erzählte Geschehen zeitlich zu fixieren versuche. Der „ahnungslose Leser“ sehe sich „aber wie einer Gleichung hohen Grades gegenüber, in der selbst scheinbare Konstanten sich als Unbekannte Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 97 16 Corino 1974, 233, Anmerkung 1: „Deren Attribute [der Wirklichkeit, VH], ‚einfach‘, ‚lebendig‘, ‚warm‘ kehren als das ‚Füllwarme […] Lebendige‘ in Johannes’ Brief wieder.“ entpuppen“ (Corino 1974: 232). Diese Rätselhaftigkeit, die spätere Forscher als avantgardistisch loben, ist bei Corino noch eindeutig kritisch zu verstehen: Musil versuche zwar eine zeitliche Fixierung des Geschehens, die aber nicht gelinge; zu stark sei Musils Wille zu „verschleiern“ und zu „düpieren“ (Corino 1974: ebd.). Dem möchte ich entgegenhalten: Musil bietet hier seinen Leserinnen ein Kombinationsspiel an, das gleich zwei Fragen zu beantworten erlaubt: die Frage, worauf sich die Angabe „Nachträglich“ bezieht, und die Frage, von welcher fürchterlichen Entscheidung die Rede ist. Dazu muss man nur den vermeintlich unverständlichen Novellenanfang mit der Schlusspartie kombinieren. Diese Korrespondenz hatte bemerkenswerterweise auch schon Corino konstatiert, daraus aber nicht geschlossen, dass sich so seine Unbekannten berechnen lassen. 16 Die Metapher des Fallenlassens und die Thematisierung der Wirklichkeit als „wirrer Haufen warmer Federn“ zu Anfang des Textes finden sich in einem Brief gegen Ende der Novelle wieder. Alle lexikalischen Korrespondenzen mit der eingangs zitierten Textstelle sind von mir kursiv gesetzt: In dem Brief stand, was bist du, ich habe mich nicht getötet? Ich bin wie einer, der auf die Straße hinaus fand. Ich bin heraußen und kann nicht zurück. Das Brot, das ich esse, das schwarz-braune Boot, das am Strande liegt und mich hinaustragen sollte, das Leisere, Undeutlichere, Füllwarme, nicht vorschnell Verfestigte, alles Lärmende, Lebendige ringsum hält mich fest. Wir werden darüber sprechen. Es ist alles heraußen bloß einfach und ohne Zusammenhang und übereinandergestreut wie ein Haufen Schutt, aber ich bin davon wie ein Pfahl gefaßt und verrammt und wieder verwurzelt worden …. (GWII 220f.). Im „Füllwarme[n]“ des Briefes klingt der „Haufen warmer Federn“ an, in den Vokabeln des „Lebendige[n]“ und „einfach“ das „einfach Lebendige“. Nicht lexikalisch, aber sinngemäss korrespondiert auch die Beschreibung „ohne Zusammenhang und übereinandergestreut“ mit dem „Haufen warmer Federn“. Zeller zieht 1981 aus der Korrespondenz die richtigen Schlüsse: „Nachträglich“ bezieht sich auf den Zeitpunkt der „Entscheidung von Johannes […], ob er Selbstmord begehen soll“ (Zeller 1981: 368f.). Ahnungslos sind wir Lesenden also nur so lange, wie wir nicht den ganzen Text gelesen haben (dazu auch Zeller 1981: 369! ). Dass die Ausdrücke „Nachträglich“ und „fürchterliche Entscheidung“ für die meisten „Vereinigungen“-Leserinnen Unbekannte bleiben, ist der unwegsamen Wegstrecke zwischen Anfang und Ende der Novelle geschuldet: Schon Musil wusste, dass seine zwei Novellen unmässig ermüden. Wer sich bis zum Ende der Novelle durchgekämpft hat, muss nochmals von vorne beginnen, so legt es die Korrespondenz zwischen den zwei Textstellen nahe. Was Musil in Hinblick auf den „Mann ohne Eigenschaften“ notiert, gilt schon für seine frühe Novelle: „Es ist sehr anmaßend; ich bitte mich zweimal zu lesen, im Teil u. im Ganzen“ (NMoE 1941). Zeller hat die Gleichung schon früh auflösen können und wertet sie doch gerade als eines der Mittel, dem Leser die zeitliche Orientierung zu verunmöglichen (Zeller 1981: 369), ja diagnostiziert die „Auflösung des zeitlichen Ablaufs“ (Zeller 1981: 370). Ich erkenne im Gegenteil in dieser Rückkoppelung von Ende und Anfang gerade das Schlüssel-Moment in Musils ingenieurhaft umsichtiger Konstruktion des Zeit- und Handlungsgerüstes. Die Verzahnung von Anfang und Ende schliesst aber das kleine Skandalon ein, dass Musil in seiner Erzählweise auf eine gewisse Form von Ganzheit baut. Musil steht Ganzheits-Vorstellungen grundsätzlich so kritisch gegenüber wie die historische Avantgarde (vgl. Bürger 1974: 25), Villö Huszai 98 17 Auch Musils Ringen um die Endfassung seines Hauptwerkes ist Indiz dafür, welch grosses Gewicht er dem wohlkonstruierten Text-Ganzen beimass. 18 Dritter, vierter und fünfter Absatz besteht aus Erinnerungen von Johannes an Gespräche; aber mit dem Absatz „Einmal aber sah Veronika ihn an, mit ihren großen, gesträubten Augen, […]“ beginnt die Handlung (GWII 196, zweiter Absatz). 19 Zu dieser eigentümlichen Dominanz der Vorgeschichte gehört zum Beispiel, dass Demeter, der Dritte, sich während dieses Gesprächs zwar auch im Haus befindet, aber nie leibhaftig auftritt; er kommt nur in diesen Gesprächen zwischen Johannes und Veronika vor. aber seine schuldbewusste Notiz zum „Mann ohne Eigenschaften“ gesteht ein erzählerisches Streben nach einer erzähltechnischen Form von Ganzheit ein. 17 Dieses Streben, ja die Notwendigkeit einer erzählerischen Konstruktion, hängt damit zusammen, was Brooks „the thread of design“, den „roten Faden“ der Konstruktion, nennen würde. 3. Der Plot im zeitlichen Überblick: Vorgeschichte und Haupthandlung Der Plot besteht in einer Dreiecksgeschichte, die sich zwischen Veronika und den zwei Männern Johannes und Demeter abspielt. Schauplatz ist ein Haus, das die drei gemeinsam bewohnen. Nachdem am Anfang der Novelle davon erzählt wird, wie Johannes die „Tage einer fürchterlichen Entscheidung“ verbracht hat, werden Gespräche zwischen Johannes und Veronika geschildert. Diese müssen zeitlich alle vor diesen „Tagen einer fürchterlichen Entscheidung“ liegen; aus den Gesprächen ergibt sich ja erst Johannes’ Entschluss, sich umzubringen. Die in den ersten Absätzen geschilderten Ereignisse sind also zunächst einmal weit nach hinten zu rücken. Für die zeitliche Orientierung ist es wichtig, zwischen Vorgeschichte und gegenwärtiger Novellen-Handlung zu unterscheiden. Im fünften Absatz der Novelle wird das erste Gespräch erwähnt: „Und einmal hatte er zu Veronika gesagt: es ist Gott; er war furchtsam und fromm, es war lange her und es war sein erster Versuch“ (GWII 195). Die gegenwärtige Novellen-Handlung beginnt aber eigentlich erst mit dem letzten dieser Gespräche (vom achten Absatz der Novelle an, GWII 196 oben bis GW 202): Erst dieses letzte Gespräch löst das Geschehen aus, das in die „Tage einer fürchterlichen Entscheidung“ mündet. 18 Doch die Unterscheidung von Vorgeschichte und aktuellem Novellen- Geschehen ist nicht einfach zu leisten. Denn in diesem letzten Gespräch bringen Veronika und Johannes nicht nur ihre Gegenwart, sondern vor allem diese Vorgeschichte ihrer Dreiecks-Beziehung zur Sprache - und diese besteht ebenfalls mehrheitlich aus Gesprächen. 19 Diese zeitliche Doppelbödigkeit, der ständige Wechsel zwischen Vorgeschichte und Gegenwart der Erzählung, gilt es als zu lösendes Problem zu erkennen. Aber nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Vorgeschichte erschwert es, Vorgeschichte und erzählte Gegenwart auseinanderzuhalten. Denn die Vorgeschichte übertrifft die Gegenwart an Schockartigem: Es ist die Vorgeschichte, in der sich die für Musils Zeitgenossen - und wohl nicht nur für diese - schockierenden erotischen Begegnungen Veronikas abspielen, so diejenige mit zwei Bauernhunden (GWII 199) oder diejenige mit Demeter angesichts zweier sich begattender Hühner (GWII 196f.). Aber eine erschwerte zeitliche Orientierung ist nicht gleich dem Verzicht auf eine „logisch-chronologische Folge der Erzählung“ (Zeller 1981: 380). Das gegenwärtige Gespräch hat zur Folge, dass Johannes Veronika eine Art Heiratsantrag macht: „Komm, gehen wir zusammen fort“ (GWII 202). Veronika weist Johannes jedoch, wie Petrus Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 99 einst seine Jüngerschaft, mit einem dreimaligen Nein zurück und Johannes, in christusähnlicher Ergebenheit in den eigenen Tod, schliesst darauf: „Ich gehe fort; gewiss, vielleicht werde ich sterben“ (GWII 202). Johannes reist ab und es beginnt eine Schilderung der Zeit, die Veronika nach dieser Abreise verbringt (GWII 212-223). Sie verläuft synchron mit den „Tagen einer fürchterlichen Entscheidung“, die Johannes durchlebt; hier sind also zweiter bis vierter Absatz der Novelle zeitlich einzuordnen. Die Zeit, die Veronika nun getrennt von Johannes verbringt, kulminiert in einer Art makabrer Hochzeitsnacht Veronikas mit dem vermeintlich Toten: „Und als es Abend wurde, wußte sie, daß es geschehen sein müsse“ (GWII 213); dass Johannes den in Aussicht gestellten Selbstmord verübt haben müsse. Veronika erhält am nächsten Morgen jedoch den oben besprochenen Brief, in dem Johannes Veronika den Ausgang seines Ringens mitteilt. An einem der weiteren Tage, also noch vor Johannes’ angekündigter Rückkehr, tritt nun auch Demeter für ein einziges Mal leibhaftig auf; Veronika begegnet ihm im Haus. Demeter steht in Kontrast zu Johannes, der in seiner Suche nach dem „Unfassbaren“ einst Priester werden wollte; während Demeter in der Hühner-Szene Veronikas Kopf packt und „ihn gegen die Brust hinab“ drückt, ihn „fest nach abwärts“ (GWII 197) Richtung Glied drückt und dabei nichts sagt, im Gegensatz zum gesprächigen, priesterhaften Johannes; Demeter, der Lasterhafte mit den „engen Reithosen“ und den verschwiegenen „Lippen, die wie ein kurzer breiter blutiger Schnitt waren“. Mit dem einzigen leibhaftigen Auftritt Demeters endet der Novellentext, nicht aber das Novellengeschehen! Die oben besprochenen Korrespondenzen verweisen die Leserin zurück an den Anfang der Novelle. Bevor ich der Bedeutung dieses Rückverweises nachgehe, sei anhand einer anderen Textsequenz weiter dafür argumentiert, dass „die zeitliche Orientierung“ in der Tat ausserordentlich erschwert, aber nicht „aufgehoben“ ist. Zeller stützt ihr Lob des Avantgardistischen nicht nur auf das Manöver rund um die Zeitangabe „Nachträglich“. Sie führt ein weiteres Verfahren Musils an, das mit dem fünften Absatz der Novelle beginnt: Es handelt sich um die Textsequenz, in der die oben erwähnten ersten Gespräche oder Gesprächsfetzen zwischen Veronika und Johannes dargestellt werden, oft eingeleitet mit so vagen Zeitangaben wie „einmal“, „damals“ oder „oft“. So heisst es zum Beispiel: „Und er sagte oft zu Veronika, daß […]“ (GWII 195). Diese Vagheit macht es zunächst in der Tat schwierig, diese Gespräche der Vorgeschichte zeitlich einzuordnen. Aber das gilt nicht für die ganze Sequenz. Wenn Veronika sich an die Szene erinnert, in der Demeter Johannes ins Gesicht schlägt, wird diese zeitliche Vagheit Schritt für Schritt in die Konkretheit des gegenwärtigen Gesprächs überführt. Diese zeitliche Präzisierung lässt sich im Detail verfolgen. Johannes schlägt, nachdem von Demeter ins Gesicht geschlagen, nicht zurück (was wiederum an die Offenbarungsgeschichte gemahnt). Johannes fragt Veronika: „Und du hast auch mit Demeter darüber gesprochen? “ „Aber das war viel später,“ antwortete Veronika und zögerte und sagte: „ein einziges Mal,“ und nach einer Weile: „vor einigen Tagen. Ich weiß nicht, was mich trieb. Johannes fühlte … dumpf irgend etwas … in seinem Bewußtsein war fern ein Erschrecken: so muß Eifersucht sein. (GWII 199) Bis Veronika mit Demeter über die einseitige Prügelei spricht, verstreicht unbestimmt viel Zeit. Doch dann wird der Leser plötzlich energisch aus dieser zeitlichen Vagheit der Vorgeschichte ans gegenwärtige Gespräch herangeführt: Dieses einzige Gespräch hat „vor einigen Tagen“ stattgefunden. Das vage, zusammenfassende „oft“ wird ins singuläre Ereignis, „ein einziges Mal“, überführt, gefolgt von der präzisen zeitlichen Anknüpfung an die Jetzt- Zeit: „vor einigen Tagen“. Aber mehr noch: Durch die Angabe, dass Johannes Eifersucht Villö Huszai 100 20 Vgl. Bolterauer (2007, 141), die von der „Musil’schen Tendenz zur Verunklarung“ spricht. 21 Der vierte Absatz wird in Kapitel 5 dieses Beitrags noch genauer betrachtet. fühlt, wird nun auch verständlich, dass er Veronika kurz darauf auffordert, mit ihm wegzugehen. Durch den Vorschlag, sie sollten zu zweit abreisen, versucht Johannes, das Dreiecks-Verhältnis aufzubrechen, den Konkurrenten auszustechen, der gefährlich zu werden droht. Die Dreiecksgeschichte, der Plot, konkretisiert sich bei genauem Hinsehen zeitlich und logisch. 4. Die Novelle als Endlos-„Kreisendes! “-Escher-Bild Warum macht es Musil seinen Lesern aber so schwer, sich zu orientieren? 20 Das ist keine triviale Frage. Ich kann hier nur feststellen, dass ein Text, der so viel Kombinationsbereitschaft und Wachsamkeit verlangt, detektivisches Vergnügen bereitet - auch wenn das, wie Villiger (2010: 149) zutreffend schreibt, aus literaturwissenschaftlicher Sicht ein Ärgernis darstellt. Besonders eindrücklich in dieser Hinsicht und für die zeitliche Orientierung zentral ist der Übergang vom vierten zum fünften Absatz. 21 Hier der fünfte Absatz der Novelle: Und einmal hatte er zu Veronika gesagt: es ist Gott; er war furchtsam und fromm, es war lange her und war sein erster Versuch, das Unbestimmbare, das sie beide fühlten, fest zu machen; sie glitten in dem dunklen Haus aneinander vorbei; aufwärts, abwärts, aneinander vorbei. Aber wie er es aussprach, war es ein entwerteter Begriff und sagte nichts von dem, was er meinte. (GWII 221) Dieses „Und einmal hatte er zu Veronika gesagt“ folgt nahtlos auf die Zeitangabe „Nachträglich“ des zweiten Absatzes; diese Nahtlosigkeit legt nahe, dass Johannes diese Worte irgendwann nach diesen „Tagen einer fürchterlichen Entscheidung“ zu Veronika gesprochen hat. Doch wie schon oben festgestellt, beginnt mit diesem fünften Absatz die Erinnerung an all die Gespräche, die erst zu diesen „Tagen einer fürchterlichen Entscheidung“ geführt haben. Zwischen dem vierten und dem oben zitierten fünften Absatz befindet sich also gerade jener Text-Ort, wo Anfang und Ende des eigentümlichen Zeitbandes, das über das Textende hinaus geht, aufeinandertreffen. Am besten lässt sich das Phänomen durch den Vergleich mit Bildern von Maurits Cornelis Escher (1898-1972), insbesondere mit dem Bild „Wasserfall“ (1961) veranschaulichen. Dieses paradoxe Bild, in dem Wasser aufwärts zu fliessen scheint, kommt durch eine optische Täuschung zustande. Das Penrose-Dreieck (1934 erfunden, aber erst in den 50er Jahren popularisiert) bildet das Grundprinzip: Es macht sich die Zweideutigkeit zunutze, die entsteht, wenn der dreidimensionale Raum zweidimensional, als Fläche, dargestellt wird. Linien, die sich im dreidimensionalen Raum nicht schneiden, scheinen sich, wenn zweidimensional dargestellt, zu schneiden. Dadurch ergibt sich der paradoxe Eindruck, dass sich das Wasser in Eschers Bild in einer Endlos-Schlaufe befände. Analog dazu gerät die Leserin von Musils Novelle in eine Endlos-Schlaufe, wenn sie den zeitlichen Bruch zwischen viertem und fünftem Absatz überliest; wenn sie statt des faktischen Zeitbruches ein Vorwärtsschreiten der erzählten Zeit annimmt. Und genau dazu wird sie verführt: Weder signalisiert der Text diesen zeitlichen Bruch formal: der nächste, der sechste Abschnitt beispielsweise mit der Zeitangabe „damals“ (GWII 195), beginnt ganz ähnlich wie der fünfte; mit nichts ist der fünfte als ein besonderer Text-Ort hervorgehoben. Noch signalisiert der fünfte Absatz den zeitlichen Abgrund thematisch: Im fünften Absatz geht es wie im zweiten bis vierten Absatz Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 101 um das, was Johannes mit dem „Unfassbare[n] und mit „Gott“ (GWII 195) anspricht. Ich fasse zusammen: Was die fiktive Zeit betrifft, befindet sich zwischen viertem und fünftem Absatz ein Bruch, thematisch und in der Wortwahl gehen die zwei Absätze nahtlos ineinander über. Wer, nachdem er am Ende der Novelle angelangt ist, wieder zum Anfang zurückkehrt und den Graben überliest, gerät in einen Endlos-Zirkel. Und um auf die Eingangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen: Warum denkt sich die Menschheit das Penrose-Dreieck aus? Warum zeichnet Escher das Bild „Wasserfall? “ Eventuell fände man in dieser Verwandtschaft eine Teilantwort auf die Frage, warum Musil uns die Orientierung nicht leicht macht. 5. Johannes: Fast Priester, fast Evangelist und dann? Was im zweiten bis vierten Absatz erzählt wird, geschieht also im Zeitraum nach Johannes’ Abreise, zeitgleich mit dem, was Veronika erlebt; und vor Johannes Rückkehr. Warum platziert Musil das im zweiten bis vierten Absatz erzählte Geschehen an den Anfang der Novelle? Worum geht es überhaupt in diesen ersten, so verwirrend platzierten drei Absätzen? Die „Tage einer fürchterlichen Entscheidung“ verändern Johannes’ Suche nach dem „Unfassbaren“. Früher hatte er Priester werden wollen, Veronika wird sich in einem Gespräch erinnern: „‚Du wolltest ja Priester werden, warum? ! ‘“ (GWII 199). Nun wünscht sich Johannes in den „Tagen einer fürchterlichen Entscheidung“ die Rolle des Evangelisten: „Daß ich sagen könnte: du bist Gott, und ein kleines Steinchen unter der Zunge trüge, wenn ich von dir rede, um der größeren Wirklichkeit willen! “ Doch anders als Demosthenes, der mit Steinen im Mund gegen das Meer anzureden vermag, liegt Johannes noch „mit dem Munde im Staub“ (GWII 195), was mit der Brief-Metapher „übereinandergestreut wie ein Haufen Schutt“ (GWII 221) korreliert. Den zwei Stationen, Priester, Evangelist, die einzunehmen Johannes doch nicht richtig gelingen will, folgt im vierten Absatz als letzte Station eine Vision, die von allen Rätseln dieser Novelle vielleicht das grösste ist. Hier der vierte Absatz: Aber so lag er bloß mit dem Mund im Staub und einem wie ein Kind danach tastenden Herzen. Und wußte bloß, daß er es brauchte, weil er feig war, wußte es. Aber es geschah dennoch, wie um aus seiner Schwäche eine Kraft zu holen, die er ahnte und die ihn lockte, wie sonst nur in der Jugend manchmal etwas gelockt hatte, der mächtige, noch gänzlich antlitzlose Kopf einer unklaren Gewalt und man fühlt, daß man mit den Schultern unter ihn hineinwachsen und ihn sich aufsetzen könnte und mit dem eigenen Gesicht ihn durchdringen. (GWII 195) Der vierte Absatz endet damit, dass sich etwas Neues, etwas Machtvolles zeigt: „[…] der mächtige, noch gänzlich antlitzlose Kopf einer unklaren Gewalt“ (GWII 195). Von welcher Gewalt ist die Rede? Sicher ist, dass hier das Schweisstuch der Veronika ins Spiel kommt. Veronika hat sich, so die Legendenbildung, des leidenden Christus auf dem Weg nach Golgatha erbarmt. Sie hat ihm Blut und Schweiss mit einem Tuch abgewischt und auf diesem Tuch ist das Gesicht von Christus zurückgeblieben. Wie bei vielen anderen christologischen Motiven in der „Versuchung der stillen Veronika“ gibt es keine einfache Entsprechung: Musils Veronika ist alles andere als die Barmherzige der Heiligenlegende. Eher agiert sie wie der abtrünnige Jünger Petrus, der dreimal abstreitet, Jesus zu kennen. Wenn Veronika Johannes mit ihrem dreimaligen Nein zurückweist, verweigert sie ihm das Erkanntwerden im alttestamentlichen Sinn des Wortes: Sie weist sein Liebeswerben zurück. Und in dem hier evozierten Schweisstuch zeichnet sich nicht das Gesicht von Christus ab, sondern dasjenige Villö Huszai 102 22 Vgl. für Musils emphatisches Dichterverständnis seinen poetologischen Essay „Erkenntnis des Dichters“ (GW 1025-1030). 23 Diese metafiktionale Lektüre des Novellen-Anfangs bedarf der Vertiefung, beispielsweise könnte man dafür nun die über die ganze Novelle verstreuten christologischen Motive (das dreimalige Nein Veronikas ist dafür nur ein Beispiel) weiterverfolgen. Vor allem aber gälte es die Differenz zwischen dem omnipräsenten Kommunikationsmedium „Gespräch“ und dem Schreiben zu verfolgen (dazu Bolterauer 2007 insgesamt). des Möchtegern-Evangelisten Johannes. Das Schweisstuch wird zu einer Art magischer Maske, die Johannes mit der dieser Maske eigenen „Gewalt“ ausstatten könnte, so jedenfalls Johannes’ Hoffnung, Vorahnung. Doch von welcher Gewalt ist die Rede? Sicher ist: Unter diesen „antlitzlose[n] Kopf hineinwachsen und ihn sich aufsetzen“ impliziert, nicht mehr mit dem Mund im Staub zu liegen. Und sobald Johannes diese Maske mit dem eigenen Gesicht durchdrungen hat, wird dann dieser Mund nicht endlich sprechen wollen? Nach dieser Vision von Johannes, mit dem fünften Absatz, beginnt die Geschichte mit ersten Erinnerungen von Johannes an früheste Gespräche. Das Schweisstuch der Veronika ist die Maske des zukünftigen Autors Johannes; die Maske, die Johannes, noch nicht zu Veronika zurückgekehrt, schon erhofft, erfühlt, erahnt, vorwegnimmt - radikaler als in diesem 1911 verfassten Text hat Musil sein emphatisches Dichterverständnis nicht mehr zum Ausdruck gebracht. 22 Ein emphatisches, ein überhöhendes Verständnis dessen, was ein Dichter ist, aber nicht unbedingt ein schönfärberisches. Das sichert die Figur Demeter, der Dritte im Bunde. Als Veronika Demeter im letzten Absatz der Novelle begegnet, sind dessen Lippen „wie ein kurzer breiter blutiger Schnitt“ (GWII 223). Das ist genau jener Schnitt, den es noch braucht, damit Johannes’ Vision Realität wird: Es gilt das Schweisstuch gewaltsam zu durchschneiden, bevor sich der Mund auftun kann. Das Bild einer hauchdünnen Membran wiederum erinnert daran, dass die Verletzung des Hymens Voraussetzung der Befruchtung ist. Demeter, der Gewalt und Sexualität repräsentiert und zugleich den Namen der Göttin der Fruchtbarkeit trägt, bildet Teil von Johannes’ Autor-Vision, ob dies dem Fast-Priester Johannes nun recht ist oder nicht. Am Anfang der Novelle dasjenige, was Johannes während des letzten Drittels der Novelle erlebt, quasi im Voraus nachzuliefern: Das ist also nur ein Teil dessen, was die Rückkoppelung des Textendes mit dem Anfang leistet. Es geht nicht nur um einen, dank des Escher- Tricks, in sich kreisenden Plot, sondern um einen in sich kreisenden Plot des Plots: Die fiktive Zeit läuft über das Textende hinaus weiter, um am Anfang davon berichten zu können, wie der erlebende Held Johannes zum erinnernden Helden und zugleich zum schreibenden Autor wird. Die Novelle beginnt mit diesen drei Absätzen, weil in diesen - „Nachträglich“ - erzählt wird, wie es überhaupt zur Novelle kommen konnte; wer sie (die fiktive Novelle! ) geschrieben hat; und mit welchen Ansprüchen. Mit den höchsten, wie die Verschränkung der metafiktionalen mit der christologischen Motivik anzeigt. 23 6. Johannes: der fiktive Autor, und sein Urahn monsieur le vivisecteur Das Schweisstuch der Veronika birgt die Transformation des erlebenden Helden zum erinnernden Autor. Das Schweisstuch ist ein eigentümliches Zwischending zwischen Gegenständlichkeit und Zeichenhaftigkeit: Es enthält das konkrete Antlitz von Jesus Christus und ist doch zeichenhaft. Das Schweisstuch ist eine Art Zwischenstufe, eine Art sinnliches Zeichen. Am Ende steht das reine Zeichen, der Text. Das Tuch, das noch die Körperlichkeit Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 103 24 Dazu Huszai 2006. des erlebenden Johannes abbildet, ist die Vorstufe zum Papier; zum Novellen-Papier, das nur existiert, weil Johannes zum Autor geworden ist. Zum fiktiven Autor wohlverstanden. Vom realen Autor Musil ist der Autor Johannes zu unterscheiden: Der reale Autor schreibt eine Novelle, deren Protagonist als Autor eben dieser Novelle aufzufassen ist. Die beste Verdeutlichung für die vertrackte Doppel-Konstruktion von erlebender Figur und fiktivem Autor stammt von Musil selbst. Und zwar in Form des fulminanten Prosa-Textes, mit dem Musil seine Tagebücher begonnen hat. Es genügt im Grunde schon der Titel dieses Fragment gebliebenen Textes, um die Konstruktion vor Augen zu führen: „Blätter an dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur“ (TbI 1). Auf einen Schlag ist in diesem an Nietzsche angelehnten ersten Tagebücher-Eintrag die Konstruktion da, denn der doppeldeutige Genetiv birgt beides: das Nachtbuch über monsieur le vivisecteur, das zugleich von ebendiesem monsieur le vivisecteur verfasst ist. Wir lesen das Nachtbuch, das von monsieur le vivisecteur handelt, und zugleich das Nachtbuch des fiktiven Autors monsieur le vivisecteur; wir lesen die Novelle, die von Johannes handelt, und zugleich lesen wir die Novelle des fiktiven Autors Johannes. Der erste Absatz des Nachtbuches lautet: Bei mir ist die Wonne mit mir allein zu sein, ganz allein. Die Gelegenheit in der nicht uninteressanten Geschichte m.l.v blättern zu können, ohne obligo mich hier zu entrüsten dort zu freuen, mein eigener Historiker sein zu können; oder der Gelehrte zu sein der seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop setzt und sich freut sobald er etwas neues findet. (TbI 1) Dieser erste Absatz enthält eine Art Skizze dessen, wie man sich das Verhältnis von erlebendem und erinnernd-schreibendem Held vorstellen kann: Der fiktive Autor Johannes ist kein Autor, der Geschichten frei erfindet, sondern er gewinnt sie aus der Untersuchung der vorgegebenen Welt. Er seziert - sich selbst; unvermeidlicherweise also am lebenden Körper, wie es sein Name auch zum Ausdruck bringt. Ebenso verfährt Johannes: Er setzt, indem er den Novellentext verfasst, „seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop“. Die Autorschaft des Helden monsieur le vivisecteur liegt offen vor unseren Augen da. Warum denn nicht auch die Autorschaft von Johannes - wie auch aller anderen fiktiven Autoren, von Törless über Aeins (Die Amsel) oder Homo (Grigia)? Warum müssen wir Johannes’ fiktive Autorschaft kunstvoll aus dem Text extrapolieren? In diesem Punkt ist Musil Traditionalist sprich hält er sich an das in der Literaturtheorie des Realismus gängige Gebot „Bilde Dichter, rede nicht.“ 24 Musil notiert im Tagebuch während der Arbeit an den „Vereinigungen“: „Der Autor zeige sich nur in den ministeriellen […] Kleidungsstücken seiner Personen. Er wälze immer die Verantwortung auf sie ab“ (TbI 226). Nur im Tagebuch kommt Autorschaft unverstellt zum Ausdruck, denn, wie Musil im eigenen Tagebuch notiert: „Tagebücher? / Ein Zeichen der Zeit. So viele Tagebücher werden veröffentlicht. Es ist die bequemste, zuchtloseste Form. […] Es ist nicht Kunst“ (TbI 215). Im Tagebuch legt Musil seine Konstruktion fiktiver Autorschaft offen, weil das Tagebuch für Musil „nicht Kunst“ ist. Musil ist in diesem Punkt so sehr Traditionalist, dass er nicht nur seine eigene Autorschaft, sondern sogar diejenige seiner Figuren verschweigt. Von hier aus nun lässt sich zum ersten Absatz der Novelle, dem „Prolog“ (Corino 1974: 232) bemerken: Im Prolog gewährt Musil Einblick in eine Text-Werkstatt, wie sonst nirgends in seinen veröffentlichten Erzähltexten: „Irgendwo muß man zwei Stimmen hören. Vielleicht liegen sie bloß wie stumm auf den Blättern eines Tagebuchs nebeneinander und ineinander […]“ (GWII 194). Die zwei Stimmen kann man Veronika und Johannes zuordnen. Die Villö Huszai 104 Frage ist aber: Von wessen Tagebuch ist hier die Rede? Ist es nun die Textwerkstatt des realen Autors Musil, der nachweislich in den Tagebüchern an seiner Novelle „Die Versuchung der stillen Veronika“ gefeilt hat? Oder könnte man sich Johannes vorstellen, der auch diesen Teil noch gedichtet, seiner Novelle vorangestellt hat? Dass also von Johannes’ Tagebuch die Rede ist? Dafür könnte man im Novellentext nach Hinweisen suchen. Darauf, dass die Figur Johannes schreiben wird, weist der Name des Evangelisten hin. Aber in der privaten Form eines Tagebuchs? Fest steht, dass Musils monsieur le vivisecteur offenkundig eine Doppelung von realem und fiktivem Schreibakt modellhaft skizziert: Hier schreibt die fiktive Figur monsieur le vivisecteur und zugleich der reale Autor Robert Musil, der reale Besitzer des Tagebuchs. Dieselbe Doppeldeutigkeit ist auch dem Prolog eingeschrieben: Tagebuch des realen Autors Robert Musil oder Tagebuch des fiktiven Autors Johannes? Die dritte Variante lautete: Irgend ein Tagebuchschreiber, der Tagebuchschreiber an sich. Aber diese Variante wäre die uninteressanteste, weil sie nicht zur Verdichtung des Textes beiträgt. Und dass Musil alles daransetzt zu verdichten, dürfte bei dieser Novelle augenfällig sein. 7. Gesprächigkeit der Liebe: epistemologisch betrachtet Wenn monsieur le vivisecteur das Urmodell ist für Musils durchgängige Konstruktion fiktiver Autorschaft, ergibt sich folgendes Problem: Wie ist es möglich, dass Johannes nachträglich über Erlebnisse von Veronika schreiben kann, bei denen er gar nicht zugegen war? Das ganze letzte Drittel der Novelle ist eindeutig aus der Perspektive von Veronika geschrieben; Johannes ist abgereist. Die Lösung des Problems ist ein Satz im Brief von Johannes: „Wir werden darüber sprechen“ (GWII 221). Es ist nur ein Satz, ein ausgesprochen kurzer Satz, aber in ihm steckt ein wesentlicher Teil des Plots: Johannes wird zurückkehren und seine Gespräche mit Veronika fortsetzen. Und wenn diese Gespräche denjenigen gleichen werden, die durch die Novelle hindurch dargestellt werden, dann wird Johannes jedes Detail von dem erfahren, was Veronika nach seiner Abreise erlebt hat. Der Satz „Wir werden darüber sprechen“ stellt sicher, dass Johannes in der Lage sein wird, über Veronikas Erleben zu berichten; weil sich die zwei gesprächsweise über das Geschehene verständigt haben. Dass diese Ankündigung der Rückkehr und erneuter Gespräche wichtig ist, unterstreicht der letzte Absatz der Novelle, denn dort wird die Ankündigung wiederholt: Veronika fragt sich, „[…] wie Johannes wohl sein werde, da er doch wiederkommen wird; […]“ (GWII 223). Und dass Johannes tatsächlich zurückgekehrt ist und die Gespräche stattgefunden haben: Dafür ist die Existenz der Novelle der Beweis. „Wir werden darüber sprechen“ ist die Voraussetzung dafür, dass Johannes in die Maske des Schriftstellers hineinwachsen wird. Mit anderen Worten inszeniert Musil in dieser frühen Novelle schon, was er in Nachlass-Texten des „Mann ohne Eigenschaften“ dann breit wird gestalten wollen: die Gesprächigkeit der Liebe als Voraussetzung dafür, von dieser Liebe zu erzählen. Schreiben ist ein einsames Geschäft. Wie einsam von der Zweisamkeit der Liebe schreiben? Die Gesprächigkeit der Liebe gibt dem Autor (Autorinnen gibt es in Musils Reich nicht) die Möglichkeit, nicht nur über das eigene Erleben, sondern auch über dasjenige seiner Geliebten - und damit erst: über die Liebe - zu schreiben. In Gesprächen versichern sich Liebende dessen, was sie erlebt haben, und können nun von einem einzigen Erlebnis sprechen. Im Nachlass zum „Mann ohne Eigenschaften“ beschäftigt Musil nachweisbar die Frage: Wie lässt sich ein gemeinsames Gefühl feststellen? (Huszai 2009). Unbekümmerte Autoren und Autorinnen von Liebesgeschichten gehen notorisch davon aus, dass Sätze wie „Ihre Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 105 25 Was Johannes zuerst ja verhindern will und Veronika darum vorschlägt, mit ihm wegzugehen: Erst als Veronika ihm von einem Gespräch zwischen ihr und Demeter erzählt, fühlt er Eifersucht (vgl. GWII 199). Herzen schlugen im Gleichklang der Liebe“ (oder eben die Novellen-Aussage: „das Unbestimmbare, das sie beide fühlten“, GWII 195, kursiv VH) kein Problem darstellen. Im nachgelassenen „Mann ohne Eigenschaften“ wird Musil dieses Problem breit in Angriff nehmen. Und zwar in Form der Frage: Wie lässt sich vom „anderen Zustand“ berichten, der doch einen absoluten Gleichklang der Gefühle zwischen zwei Menschen beinhaltet? Natürlich: Musil könnte diesen Gleichklang einfach erfinden. Statt sich diese Freiheit zu nehmen, erfindet Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ erneut einen monsieur le vivisecteur, der sich selber und die Bedingungen seines Denkens und Fühlens unters Mikroskop setzt: Ulrich fragt sich nicht nur, wie dieser Gleichklang möglich sein kann, sondern wie er denn wissen kann, was in der Geliebten vorgeht. Die Antwort, die Musil gibt, lautet: Die Gesprächigkeit der Liebe ermöglicht ein solches Wissen. Der erlebende Held, sei es nun Johannes oder Ulrich, spricht mit seiner Liebes-Partnerin über das Erlebte. Im Gespräch lässt sich aushandeln, worin das gemeinsame Erlebnis besteht. Es lässt sich nachweisen, dass Musil im Nachlass-Text die zwei Geschwister stets vorgängig über das Erlebte hat miteinander reden lassen, bevor im Roman von einem solchen Erlebnis berichtet wird (Huszai 2009: 199-203). Darum ist der Novellen-Satz „Wir werden darüber sprechen“ fundamental. Ganz beiläufig, schon fast am Ende der Novelle, wird mit der darin angekündigten Gesprächigkeit dem Leser erklärt, wie Johannes überhaupt dazu in der Lage gewesen sein wird, über das Erleben Veronikas zu berichten. 8. Gesprächigkeit der Liebe: ethisch betrachtet Aber es geht bei der Darstellbarkeit von Liebe nicht nur um ein epistemologisches Problem, sondern auch um eine ethische Frage. Gerade an der „Versuchung der stillen Veronika“ kann man die Brisanz dieser Frage gut zeigen. Corino (1974: 246) zieht die Vorstufe, „Das verzauberte Haus“, mit der Begründung vor, dass die Vorstufe „in toto die dichterische Beschreibung eines ‚pathologischen Seelenablaufs‘“ ist, während Musil in der Endfassung die psychologische Motivation eliminiert und einen metaphysisch-theologischen Überbau errichtet habe (Corino 1974: ebd.). Corino betrachtet die Endfassung als misslungen und nimmt an, dass Musil aus demselben Grund die „Vollendung der Liebe“ (die zweite Novelle der „Vereinigungen“) der „Versuchung der stillen Veronika“ vorgezogen hat. Corinos Gegenüberstellung der zwei Fassungen ist in der Sache beeindruckend luzide; ich möchte nur für eine andere Wertung plädieren. Es ist gerade in ethischer Hinsicht der grosse Wert der Endfassung, dass sie den objektivierenden Blick auf einen „pathologischen Seelenablauf“ aufgibt. Veronika wird nicht mehr „objektiv“ betrachtet, sondern ist Gesprächspartnerin - Gesprächspartnerin jener Figur, die zum fiktiven Autor Veronikas wird. Statt zu pathologisieren, versucht Musil mittels seines fiktiven Autors Johannes, seines Avatars gleichsam, gemeinsam mit der fiktiven Figur Veronika Erkenntnis zu gewinnen. 25 Diese Gespräche sind gleichsam die Bausubstanz des Textes. Der fiktive Autor Johannes baut den Novellentext aus den Erkenntnissen, die er in Gesprächen mit der Geliebten und mit ihr gemeinsam gewinnt; aus den vielen Gesprächen, die im konkreten Novellentext geschildert werden, aber auch aus Gesprächen, die mit dem Satz „Wir werden darüber sprechen“ nur erst angekündigt sind. Und mit dem Villö Huszai 106 26 Vgl. den Hinweis auf frühere Gespräche mit Demeter: „Gespräche mit Johannes, Gespräche mit Demeter“ (GW 216). 27 Vgl. für eine narratologie-interne Abrechnung mit der Kategorie den Beitrag von Weimar 1994. letzten Satz der Novelle ist sogar der verruchte Dritte als Gesprächspartner von Veronika und damit auch von Johannes angedeutet, wenn es über Veronika und Demeter heisst: „Und nach einer Weile gingen sie weiter, ohne noch gesprochen zu haben“ (GWII 223). Das „noch“ lässt die Möglichkeit offen, dass auch Demeter mitreden wird. 26 9. Metafiktionale Vivisektion versus narratologische Verrätselung Statt Verzicht auf realistisches Erzählen das Gegenteil: Musil versucht, das Erzählen selbst unters Mikroskop zu legen, „der Gelehrte zu sein, der seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop setzt […].“ Und in dem Masse, in dem das Schreiben zum Organismus des monsieur le vivisecteur gehört, in dem Masse gehört es natürlich auch zu dessen realem Autor Robert Musil. Es gibt unzählige nicht-fiktionale Reflexionen Musils über das eigene Schreiben, in den Tagebüchern, Essays oder Briefen; sie werden von der Forschung auch gebührend ausgewertet. Auch gibt es ein reges Interesse am realen Schreibakt Robert Musils (Fanta 2000), doch die Möglichkeit, dass Musil auch in seinen autorisierten Texten jeweils eine Doppelfigur wie die des monsieur le vivisecteur konstruieren könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Das hängt auch damit zusammen, dass Musils Erzähltexte regelmässig mithilfe der narratologischen Kategorie des „Erzählers“ analysiert werden; eine Instanz, die weder fiktive Figur ist noch der reale Autor; die darum weder als Akteur der fiktiven Realität noch als Akteur der Realität, die sich realer Autor und Leserschaft teilen, beobachtbar ist; 27 eine simple Formel, die Musils Ingenieurs-Kunst einer fiktiven Autorschaft des Helden übertüncht. In Musils Texten, in denen die Frage der Perspektive epistemologisch und ethisch so genau unter die Lupe genommen wird, führt die Kategorie „Erzähler“ zu chronischer Vagheit. Eine germanistische Aussage zu der Protagonistin Claudine, der Heldin der zweiten „Vereinigungen“-Novelle, die aber in erzähltechnischer Hinsicht mit Veronika austauschbar ist, kann das vor Augen führen: One can never tell with certainty whether the analogical association originates in the mind of the narrator or in Claudine’s own.“ (Cohn 1974, 294) (Übersetzung VH: Man kann nie mit Sicherheit angeben, ob eine Assoziation aus dem Geist des Erzählers oder aus Claudines eigenem stammt.) Wo soll das sein: „im Geist des Erzählers“? Was geht uns dieser Geist an, den es weder in der fiktiven Realität noch in der realen gibt? Was gewinnen wir hingegen, wenn wir annehmen, dass dieser Text nicht von diesem ominösen „Erzähler“ stammt, sondern vom Geliebten, der nachträglich zum Dichter wird, sei das nun Johannes oder der namenlos bleibende Ehegatte von Claudine? Wir gewinnen eine Verdichtung der Materie: Die Figur, die wir als Erlebende kennenlernen, begegnet uns, in Form des Textes, als schreibende wieder. Wir können den Wortlaut der Novelle mit einer Figur des Textes in Zusammenhang setzen. Dadurch gewinnt dieser Wortlaut (Wortlaut hier nicht wörtlich zu verstehen, es handelt sich um einen fiktiven Text! ) ganz neue, und vor allem präzise Vernetzungsmöglichkeiten. Genau die Vernetzungs- Ingenieurs-Kunst wider das Lob des Avantgardistischen 107 leistung, die autobiographisch interessierte Germanisten anstreben, wenn sie literarische Texte danach untersuchen, was sie mit dem Leben des realen Autors zu tun haben, ist seit dem Nachtbuch des monsieur le vivisecteur ein erklärtes Thema des Dichters Musil selbst: wie eine Figur das eigene Leben, den „eigenen Organismus“ unters Mikroskop legt sprich in fiktiven Text verwandelt. Die eigentlich seit Geulen (1965) unhinterfragte Annahme, dass Musil in der „Versuchung der stillen Veronika“ keine nennens- und damit erkennenswerte Geschichte erzählt, und die in der Germanistik bis heute naiv verwendete Kategorie des „Erzählers“ haben es der Musil-Forschung verunmöglicht, diesen essentiellen Teil des Plots, die Autorwerdung der Hauptfigur, in den Blick zu nehmen. 10. Fazit Das Lob des Avantgardistischen erklärt für minderwertig, für altmodisch, was für den Ingenieur-Dichter Musil offenkundig grossen Wert hatte: die Konstruktion eines soliden Plots, die Konstruktion einer plausiblen Zeit- und Handlungsstruktur. Fatal ist das Lob deswegen, weil Musil kein schlichter Erzähler ist und es einer grossen, einer erstaunlich grossen Anstrengung, einer nie erlahmenden und nie an ein Ende kommenden Anstrengung bedarf, diesen Aspekt seiner Texte, den Plot, auszuloten. Das Lob des Avantgardistischen im weiteren Sinne, sei es als Lob des Experimentellen oder als das Lob, Musils Texte seien Vorläufer des Nouveau Roman etc., dispensiert von dieser Anstrengung. Aber gerade für Musils Texte gilt der Einwand von Brooks, dass der Plot doch eigentlich den Kern bildet, ohne den man gar nicht vernünftig über einen narrativen Text sprechen kann. Denn Musils Hyperrealismus, seine Konstruktion fiktiver Autorschaft, macht aus dem Plot viel mehr als „bloss eine Geschichte“. Musil packt dadurch, dass seine erlebenden Helden zu Autoren werden, all das, was Germanisten so lieben, an Sprachreflexion etc., in die konkrete Geschichte; er macht die Sprache, die Zeichenhaftigkeit der Literatur, zu einem Teil des Plots. Ich bin überzeugt, dass auch epistemologische und psychologische Fragen oder Fragen des erzählerischen Ethos, aber auch wissenschaftshistorische Fragen enger und ernsthafter mit dem Plot verknüpft werden können und müssen, als das bis anhin der Fall ist. Keine noch so theoretische Annäherung an Musils Erzähltexte kann ohne diesen Plot auskommen; und darum brauchen wir eine neue wissenschaftliche Hinwendung zu demselben. Darum scheint mir ein einstweiliges Moratorium für das Lob des Avantgardistischen angemessen. Das Moratorium könnte dauern, bis das Lob nicht mehr automatisch mit einer Geringschätzung des Plots einhergeht. Es hätte den Vorteil, dass die Forschung sich unterdessen überlegen könnte, wie man auf dem heutigen Stand der Wissenschaft über Plot-Fragen überhaupt wissenschaftlich diskutieren, sich austauschen, konstruktiv streiten kann. Um noch einmal auf Zellers Aufsatz von 1981 zu sprechen zu kommen: Man könnte diesen durch vielschichtige Beobachtungen und Anregungen bis heute massgeblichen Aufsatz lesen, ohne das „Plot- Opfer“ erbringen zu müssen. Das Lob des Avantgardistischen im weiteren Sinne ist vage, und es ist problematisch. Es bleibt die Frage, ob Musil mit den historischen Avantgardebewegungen in Beziehung gesetzt werden kann. Man könnte den erzählerischen Hyperrealismus Musils, für den ich argumentiert habe, gerade als Beleg für Musils Traditionalismus werten. In der Konsequenz, mit der Musil seine metafiktionale Konstruktion unausgesprochen lässt und sie dem Kombinationswillen seiner Leserinnen überlässt, scheint mir Musil der realistischen Doktrin des „Bilde Dichter, rede nicht“ verpflichtet. Aber das ist nur ein Aspekt dieses Hyperrealismus. Indem Villö Huszai 108 die fiktiven Figuren, die Musil erzählt, zu Erzählern ihrer selbst werden, rücken diese Figuren demjenigen ungewöhnlich nahe, der sie erzählt, dem realen Autor Musil. Durch diese Konstruktion wird die Dichtung von innen her ausgedehnt, überdehnt: Die Trennung von Realität und Dichtung, die für den ideologischen Realismus und die bürgerliche Kunst so wichtig ist, wird dadurch prekär. Die Aufhebung dieser klaren Trennung ist aber ein zentrales Anliegen der historischen Avantgarde (Bürger 1974: 29). Mit ganz anderen Mitteln zieht hier Musil am selben Strang wie die offen revoltierende Avantgarde. Es spricht nichts dagegen, solchen Verwandtschaften nachzuforschen, solange die grossen Unterschiede nicht vergessen gehen. Die Verbindlichkeit und ingenieurhafte Präzision, mit der Musil uns Geschichten erzählt, scheint mir ein solcher Unterschied. Bibliographie Bolterauer, Alice 2007: „‚Worte aus dem Dunkel zu holen.‘ Überlegungen zu Robert Musils Erzählung ‚Die Versuchung der stillen Veronika‘. In: literatur für leser 3 (2007, 133-145) Bonacchi, Silvia 2010: „Robert Musils ‚Vereinigungen‘ als Erzählexperiment.“ In: Calzoni/ Salgaro (ed.) 2010: 191-213 Brooks, Peter 1984: Reading for the Plot, Design and Intention in Narrative. New York Calzoni, Massimo Salgaro (ed.) 2010: Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment, Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. 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