eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
361-2

Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik

2013
Mark Halawa
Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik Überlegungen zu einer pragmatistischen Ästhetik Mark A. Halawa Recent aesthetic theories plead for a decidedly post-hermeneutic, or non-semiotic, account of aesthetic experience. Especially with recourse to avant-garde art, posthermeneutic aesthetic theories posit an aisthetic notion of aesthetic experience which is claimed to undermine the hermeneutic realm of meaning. This essay argues against this point of view by countering established dichotomies between the aisthetic (or aesthetic) and the semiotic (or non-aesthetic). Based on Charles S. Peirce’s semiotic pragmatism, it outlines the aisthetic foundation of semiosis. As a consequence, it illustrates the futility of posthermeneutic attempts to substitute the aisthetic for the semiotic. In particular, the essay focuses on Peirce’s conceptions of tychism and synechism in order to demonstrate that the force of spontaneously occurring discontinuities (i.e., unforeseen happenings of chance or moments of sudden surprise) embodies the indispensable experiential basis of Peirce’s process philosophical, or synechistic, idea of semiosis. In fact, the receptivity for the experience of surprising events represents the pivotal element of a progressivist ethos that is characteristic of pragmatist thought. From this follows that exactly those experiential factors, which according to posthermeneutic aesthetic theories are of nonsemiotic character, are to be regarded as the fundamental sources of semiosic processes. Following Richard Shiff’s Peircean interpretation of Cy Twombly’s art of drawing, the essay eventually reflects on the aesthetic implications of the tensional, but yet productive, interrelationship between aisthesis and semiosis. By this means it shows that the aisthetic experience of presence (Gumbrecht) may be interpreted as a paradigmatic focal point with regard to the analysis of the condition of the possibility of continuous semiosic growth. Art, or aesthetic experience, thus turns out to serve as a ‘school’ for a pragmatist account of semiotics. „Die Kunst den Zufall liebt, der Zufall liebt die Kunst.“ (Agathon, zit. n. Aristoteles 1995: 1140a) 1. Ästhetische Theorie im Zeitalter der Posthermeneutik Die Avantgarde stellte die ästhetische Theorie bekanntlich vor enorme Herausforderungen. Künstlerische Praktiken und ästhetische Konzepte, die in der systematischen Reflexion über die Bedingungen, Möglichkeiten, Grenzen und Funktionen von Kunst traditionell als wesentlich erachtet worden waren, wurden nun radikal in Frage gestellt. Wie unter anderem von Dieter Mersch (2002 a: Kap. III) herausgearbeitet wurde, trat an die Stelle einer seit der Neuzeit über Jahrhunderte weitgehend fest etablierten Werkästhetik eine Ereignisästhetik, die mit einer performativen Wende des künstlerischen Schaffens und ästhetischen Denkens K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mark A. Halawa 72 1 Zu denken ist hier vor allem an Erwin Panofskys Ikonologie, die das methodische Fundament für eine hermeneutisch ausgerichtete Kunstgeschichte legte und den wissenschaftlichen Kunstdiskurs jahrzehntelang dominierte. 2 Zum Begriff der Posthermeneutik cf. Mersch 2010. 3 Zur ausgeprägten Materialitäts- und Präsenzvergessenheit der semiotischen Tradition cf. Mersch 2002 b. Dass mitnichten die gesamte semiotische Theoriegeschichte Aspekte der Aisthesis (Materialität, Präsenz, Ereignis) ignoriert hat, wird unter Verweis auf die peircesche Kategorienlehre in Halawa 2009 zu belegen versucht. Ausführlicher hierzu cf. auch Halawa 2012: Kap. 6. einhergehen sollte. Faktoren der technischen Virtuosität und schöpferischen Genialität - einst unverzichtbare Topoi ästhetischer Theoriebildung und Kunstkritik - wurden in den Hintergrund gerückt, um stattdessen vor allem der schieren Präsenz des ästhetischen Objekts die volle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Darüber hinaus wurde einem gängigen „Apriori des Sinns“ (ebd.: 157), welchem in der konventionellen akademischen Kunstgeschichte lange Zeit eine methodische Primatstellung zugewiesen worden war, 1 entgegengewirkt. Nicht mehr kunstvoll verschlüsselte Sinnwelten standen in avantgardistischen Pionierarbeiten im Zentrum, sondern die Sinn zersetzende performative Erfahrung des ästhetischen Objekts oder Ereignisses höchstselbst (cf. Fischer- Lichte 2004: 19). In der Folge hatte sich auch die ästhetische Theorie zunehmend auf ein „nichthermeneutische[s] Feld“ (Gumbrecht 2004: 30) zu begeben: Wenn durch ästhetische Erwägungen überhaupt noch etwas in die Sphäre des Verstehens überführt werden sollte, so betraf dies nunmehr weniger Aspekte des symbolischen Ausdrucks als solche der aisthetischen Wirkung. Die avantgardistische Umwertung des Ästhetischen hinterließ freilich auch in der semiotischen Forschung deutliche Spuren. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erschien es in der Regel als vollkommen unproblematisch, die Untersuchung von ästhetischen Phänomenen in Form einer Zeichenanalyse zu betreiben. Je größer jedoch die Aufmerksamkeit wurde, die avantgardistische Kunstpraktiken speziell seit den 1960er Jahren auf sich ziehen konnten, desto stärker stießen gängige semiotische Analysemodelle an ihre Grenzen. In der Tat geriet die Semiotik durch die posthermeneutische 2 Stoßrichtung der Avantgarde verstärkt unter einen Legitimitätsdruck: Wo es durch eine explizit präsenzbezogene künstlerische Praxis zu einer Überlagerung des „Signifikantenstatus“ durch den „Körperbzw. Materialstatus“ kommt (Fischer-Lichte 2004: 24), stellt sich geradezu unweigerlich die Frage nach dem analytischen Nutzen und Wert einer Forschungsperspektive, die gemeinhin auf immaterielle Sinn- und Bedeutungseinheiten ausgerichtet ist und im Zuge dessen Fragen der Materialität, Präsenz und ereignishaften Performativität überwiegend ausblendet. 3 Die wohl drängendste Frage lautet: Kann es angesichts einer posthermeneutischen Kunstpraxis, wie sie bis heute nachwirkt, noch eine zeitgemäße semiotische Ästhetik geben? Oder schärfer formuliert: Soll es sie überhaupt noch geben? Verschafft man sich einen Überblick über jüngere einschlägige Studien zur ästhetischen Theorie (Studien, die sich meist ausdrücklich als Reaktion auf die performative Wende der Avantgarde begreifen), so stellt sich der Eindruck ein, als müssten derartige Fragen eindeutig negativ beantwortet werden. Auffällig oft stößt man auf das explizit zeichenkritisch begründete Bedürfnis nach einer posthermeneutisch formulierten „neuen Ästhetik“ (Fischer-Lichte 2004: 30), die den Herausforderungen einer präsenzbezogenen Kunstpraxis gewachsen ist (cf. auch Böhme 1995; Mersch 2002 a). Es verwundert daher nicht, wenn Martin Seel im Rahmen einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen ästhetischen Theorie zu dem Ergebnis gelangt: Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 73 4 Für eine prozessphilosophische Deutung des Pragmatismus cf. Hampe 2006. „Unter Ästhetikern gehört es heute zum guten Ton, der Hermeneutik nicht über den Weg zu trauen. Vielen gilt sie als ästhetisch naiv. Sie klammert sich - so geht die Kunde - an den Sinn und das Verstehen von Objekten, die gar nicht dazu da sind, in denkender Betrachtung gedeutet zu werden.“ (Seel 2002: 27) Auf den ersten Blick scheint die jüngere Kunstgeschichte dieser gleichermaßen hermeneutikwie semiotikkritischen „Kunde“ Recht zu geben. Was in avantgardistischen Arbeiten offenbar nicht intendiert wird, ist die Einbettung des Ästhetischen in ein Begriffsnetz der semiotischen und hermeneutischen Kontrolle. Ganz im Gegenteil ist es die Erfahrung eines begrifflichen Kontrollverlusts, die im Zentrum steht. Nicht das Verstehen oder Dechiffrieren von Sinn, sondern die Herbeiführung eines Zustandes hermeneutischer Widersetzlichkeit ist leitend. Ästhetisches Erleben erweist sich als ein „Sichaussetzen ins Unerwartete“ (Mersch 2002 a: 222), als ein „Wegführen vom Vertrauten in ein Außen, ein Anderes, das sich ungewollt aufdrängt, sich einmischt, beunruhigt und die Begriffe, Deutungen und Bilder in Bewegung bringt“ (ebd.). Provoziert wird die Erfahrung einer Umbzw. Unordnung der Begriffe wie der Sinne - nicht der Aufbau oder die Aufrechterhaltung eines ebenso präzisen wie in sich geschlossenen Zeichensystems, welches zum Zwecke einer geordneten Funktionalität möglichst störungsresistent zu sein hat. Wird das theoretische Erbe des Zeichen- und Interpretationsparadigmas unter derartigen Bedingungen überflüssig? Ein genauerer Blick auf einige Kernelemente des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce wird zeigen, dass diese Frage nicht ohne Weiteres positiv zu beantworten ist und die oben skizzierte „Kunde“ von einer posthermeneutischen Ästhetik nicht zu weit getrieben werden sollte. Zu bedenken ist dabei indes Folgendes: Es liegt angesichts der skizzierten Transformationen des ästhetischen Feldes auf der Hand, dass der Versuch einer Kritik posthermeneutischer Zuspitzungen nicht darauf abzielen kann, das Ziel eines semiotisch geschulten Verstehens von Kunst mit peirceschen Termini zu reformulieren. Zwar ist es zweifelsohne möglich, auch avantgardistische Kunstphänomene unter klassischen semiotischen Gesichtspunkten in Augenschein zu nehmen, doch lässt sich kaum abstreiten, dass eine vorwiegend auf Sinn- und Bedeutungsstrukturen fokussierte Analyseperspektive Gefahr läuft, die für die Erfahrung zeitgenössischer Kunst so essenziellen aisthetischen Präsenzfaktoren gänzlich unberührt zu lassen. Um ein solches Versäumnis zu verhindern, wird sich der nachstehende Text auf einen Aspekt konzentrieren, der nicht im engeren Sinne mit Sinn- und Bedeutungsfragen zusammenhängt, dafür aber gleichwohl von elementarem semiotischen Interesse ist. Was in diesem Aufsatz thematisiert wird, sind die metasemiotischen Impulse, die ästhetische Erfahrungskontexte speziell unter den Bedingungen avantgardistischer Kunstpraktiken für den Begriff der Semiose zu geben vermögen. Die aisthetische Erfahrung von „Präsenzeffekten“ (Gumbrecht 2004: 18) - so lautet die Kernthese dieses Beitrages - gibt in paradigmatischer Form Auskunft über die erfahrungsbezogenen Ausgangspunkte der Zeichengenese. Kunst lässt sich aus diesem Grund nicht alleine als eine „Schule der Wahrnehmung“ begreifen, wie Maurice Merleau-Ponty (2006: 48) in semiotikkritischer Absicht mit Blick auf die Malerei der Moderne einst notierte; als solche erweist sie sich im Gegenteil immer auch als eine Schule der Semiotik. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang präzisierend festzuhalten: Zum einen gilt es zu bedenken, dass der Begriff „Semiotik“ im hier zugrunde gelegten Theorierahmen pragmatistisch verwendet wird, d.h.: der Zeichenbegriff wird vor allem prozessphilosophisch gedeutet. 4 Mark A. Halawa 74 Entsprechend wird die Semiotik nicht, wie gemeinhin üblich, als eine Disziplin verstanden, die es sich zur Maxime macht, Zeichenvorkommnisse immer schon als kommunikative Phänomene zu betrachten, die im Hinblick auf ihren Bedeutungsgehalt zu analysieren sind; stattdessen wird sie als das epistemologische Scharnier einer Philosophie begriffen, die zu ergründen versucht, unter welchen Bedingungen eine kontinuierliche Modifikation und Erweiterung von etablierten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten nötig und möglich wird. Indem die prozessphilosophische Stoßrichtung des Pragmatismus an der Schwelle zum Ästhetischen reflektiert wird, ergibt sich daraus zum anderen ein veränderter Blickwinkel auf das Verhältnis zwischen Semiotik und Ästhetik. Kunst tritt aus der Perspektive eines semiotischen Pragmatismus nicht bloß in den Grenzen einer ‚verstehenden Optik‘ in den Vordergrund; vielmehr erscheint sie als privilegierter Ort für den Nachvollzug derjenigen aisthetischen Voraussetzungen, unter denen semiosische Ereignisse allererst entstehen und kontinuierlich weitergeführt werden können. Wie noch zu zeigen sein wird, mündet das Konzept der Semiosis auf diese Weise in den Bezugsrahmen einer pragmatistischen Ästhetik. Zur Erläuterung dieser Thesen setzt der vorliegende Beitrag an solchen Begrifflichkeiten an, die in der jüngeren ästhetischen Theorie für gewöhnlich in Gebrauch genommen werden, um die aisthetischen Grenzen des Zeichen- und Interpretationsparadigmas offenzulegen, dabei aber interessanterweise ausgerechnet eben jene Erfahrungsmomente streifen, die in der Tradition des Pragmatismus einen ausgezeichneten Stellenwert besitzen. So fällt auf, dass im Umkreis posthermeneutischer Ästhetiken häufig auf den Begriff der Plötzlichkeit (cf. Bohrer 1981), der Störung (cf. Rautzenberg 2009), der Ereignishaftigkeit (cf. Mersch 2002 a) oder des Zufalls (cf. Mersch 2000) zurückgegriffen wird, um die besondere Kraft der ästhetischen Erfahrung „intensiver Präsenz“ (Mersch 2002 a: 222) zu charakterisieren. Es sind demnach Momente des plötzlichen Stockens, der unerwartet auftretenden Orientierungslosigkeit oder des unvorhergesehenen Schocks, die als Hauptmerkmale ästhetischen Erlebens gelten - Merkmale wohlgemerkt, die meist nicht nur als dezidiert asemiotisch, sondern außerdem oftmals als von der semiotischen Tradition konsequent vernachlässigt vorgestellt werden (cf. Mersch 2002 b; Gumbrecht 2004). Dass dieser Befund nicht uneingeschränkt zu halten ist, wird in den folgenden Kapiteln dargelegt. Dazu soll sich in einem ersten Schritt dem progressivistischen Ethos des Pragmatismus gewidmet werden, welches als zentrale ethische Gelenkstelle des pragmatistischen Prozessdenkens betrachtet werden kann (Kap. 2). Im Anschluss daran wird die elementare Bedeutung rekonstruiert, die der Begriff des Zufalls in Peirce’ semiotischem Pragmatismus für das Problem der kontinuierlichen Zeichenbildung (Semiose) besitzt (Kap. 3). In Anlehnung an eine von Richard Shiff vorgenommene peirceanische Deutung der Zeichenkunst Cy Twomblys sollen die hier gewonnenen Erkenntnisse schließlich ästhetisch fruchtbar gemacht werden (Kap. 4). 2. Das progressivistische Ethos des Pragmatismus Charles Sanders Peirce ist sowohl als Vater des Pragmatismus als auch als einer der federführenden Begründer der modernen Semiotik allseits bekannt. Wie wichtig es ist, diese beiden Stränge des peirceschen Œuvres zusammenzudenken, gerät allerdings oft in Vergessenheit. Wo von Peirce’ Pragmatismus die Rede ist, werden dessen Ausführungen zur Semiotik nicht selten nur am Rande gestreift oder sogar vollends ausgespart; umgekehrt wird in vielen Darstellungen der peirceschen Semiotik kaum oder überhaupt nicht auf die unmittelbare Nähe Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 75 5 Ausnahmen bilden die ausgezeichneten Beiträge in Wirth 2000 sowie Apel 1975 und Pape 1989. 6 Wo es die diesem Text zugrunde gelegten Quellen zulassen, wird auf eine in der Peirce-Forschung gängige Notationsweise zurückgegriffen, die auf entsprechende Textpassagen in den Collected Papers of Charles S. Peirce Bezug nimmt. Die erste Ziffer nennt den betreffenden Band der achtbändigen Collected Papers (hier: Band 5), während die dem Punkt folgenden Ziffern den betreffenden Abschnitt (hier: Abschnitt 171) bezeichnen. 7 „Logic, in its general sense, is, as I believe I have shown, only another name for semiotic ( μ ), the quasi-necessary, or formal, doctrine of signs.“ (Peirce 1955: 98, CP 2.227) zwischen Peirce’ semiotischem und pragmatistischem Denken hingewiesen. 5 Beide Fälle greifen schon alleine deshalb zu kurz, weil Peirce selbst das enge Wechselverhältnis zwischen Pragmatismus und Semiotik wiederholt mit besonderem Nachdruck herausgestellt hat. Am deutlichsten lässt sich dieser Sachverhalt in Peirce’ Ausführungen über die Logik der Abduktion nachvollziehen. Peirce bestimmt darin die Abduktion als jenen logischen Schlussprozess, durch welchen sich ein interpretierendes Bewusstsein ausschließlich dazu in die Lage versetzen könne, innovative Erkenntnisse zu generieren. Die Abduktion, schreibt Peirce, „ist die einzige logische Operation, die irgendeine neue Idee einführt“ (Peirce 1991: 115, CP 5.171 6 ). Peirce vermerkt des Weiteren, dass das exklusive kreative Potenzial von abduktiven Schlussprozessen für seine Philosophie des Pragmatismus zentral sei. „Wenn Sie das Problem des Pragmatismus sorgfältig betrachten“, so lautet es in Peirce’ Pragmatismus-Vorlesungen von 1903, „werden Sie sehen, daß es nichts anderes ist als das Problem der Logik der Abduktion“ (ebd.: 133, CP 5.196). Diese Aussage lässt sich in dreifacher Hinsicht übersetzen: Da das „Problem des Pragmatismus“ mit dem „Problem der Logik der Abduktion“ quasi in einem synonymen Verhältnis steht, ist das mit der Abduktionslogik einhergehende Problem des Neuen zum einen desgleichen für den Pragmatismus elementar. Hält man sich vor Augen, dass Peirce den Begriff der Logik semiotisch zu fassen pflegte, 7 so ergibt sich daraus zum anderen, dass das gemeinsame Grundproblem von Abduktion und Pragmatismus - die Herbeiführung neuer Ideen - zugleich von semiotischer Relevanz ist. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass mit der Abduktion der logische Quellpunkt neuartiger Ideen bzw. Zeichenprozesse lokalisiert ist (cf. ebd.: 122ff., CP 5.180ff.), so wird daraus schließlich ersichtlich, weshalb die Analyse des Problems der Abduktion für Peirce als Schlüssel für das Verständnis der Bedingungen der Möglichkeit von semiosischen Phänomenen dient. Berührt wird durch all dies jene Frage, die Peirce in seinem philosophischen Denken zeitlebens wohl am meisten beschäftigen sollte: Wie ist Semiose möglich? Vor dem Hintergrund dieser drei Aspekte lassen sich einige Schlüsse über die grundlegenden Merkmale des Pragmatismus ziehen. Zunächst wird verständlich, warum sich der Pragmatismus nicht, wie häufig geschehen, auf eine spezifische Theorie der Wahrheit reduzieren lässt. Zweifellos haben sich sämtliche Pioniere des Pragmatismus - neben Peirce zählen darunter bekanntermaßen William James und John Dewey - ausführlich über den Begriff der Wahrheit geäußert (cf. James 1909; Dewey 2004: 219ff.); jedoch darf dieser Tatbestand nicht das weitere Faktum überdecken, wonach eines der wesentlichsten Leitmotive pragmatistischen Philosophierens in der Suche nach den Voraussetzungen für die Freisetzung neuartiger Erkenntnis- und Erfahrungsweisen gründet. Tatsächlich leitet der eine Sachverhalt in den anderen über: Indem der Pragmatismus durch seine strikte Ablehnung von absolutistischen Wahrheitskonzeptionen einen dynamischen Wahrheitsbegriff stark macht, postuliert er einen Pluralismus von Erkenntnisweisen, dem auf Seiten des Erkenntnissubjekts die Mark A. Halawa 76 8 Logische und zeichentheoretische Erwägungen spielen in Deweys wissenschaftstheoretischen Untersuchungen keine unwesentliche Rolle - allerdings nie mit der für Peirce typischen Systematik (cf. Dewey 2008). Demgegenüber machte James aus seiner Abneigung gegen logische Fundierungsversuche nie einen Hehl (cf. Ayer 1978: xiv). 9 Mit Hans Joas ist in diesem Kontext zusätzlich auf George H. Mead zu verweisen, dessen sozialbehavioristische Interpretation des Pragmatismus mit einer Philosophie der Kreativität zusammenläuft (cf. Joas 1996). 10 Gemeint sind die Aufsätze „The Fixation of Belief“ und „How to Make Our Ideas Clear“ (cf. Peirce 1967: 293ff., 326ff.). 11 So ist es sicherlich kein Zufall, wenn William James schreibt: „No particular results then […] but only an attitude of orientation is what the pragmatic method means.“ (James 1907: 510; Hervorh. v. mir, M.A.H.) Disposition zu einer flexiblen und progressiven Auslegung seines Selbst- und Weltverhältnisses korrespondiert. Bewusst ist an dieser Stelle nicht in einem einschränkenden Sinne lediglich von einem peirceschen Progressivismus die Rede. Es ist durchaus richtig, dass die pragmatistischen Entwürfe von James und Dewey kaum etwas mit der logischen Stringenz des peirceschen Denkens gemein haben. 8 Daraus folgt aber nun nicht, dass zwischen Peirce auf der einen sowie James und Dewey auf der anderen Seite eine unüberbrückbare Kluft vorherrschen würde. Trotz aller wohlweislich nicht zu verdrängenden inhaltlichen Differenzen zwischen den genannten Autoren lässt sich nicht abstreiten, dass eine um Novität, Innovativität bzw. Kreativität bemühte Programmatik in den Schriften von James und Dewey kaum weniger stark ausgeprägt ist als bei Peirce. 9 Ganz im Gegenteil ist zu konstatieren, dass der Versuch, jene Sphären des In-der-Welt-Seins zu ermitteln, die im Erfahrungsleben als Fremdes oder Anderes in Erscheinung treten und auf diese Weise den Kreis des bislang Bekannten vor neue Herausforderungen stellen, für die Philosophie des Pragmatismus insgesamt kennzeichnend ist. Der Pragmatismus steht aus diesem Grund auch nicht bloß für eine spezielle Methode, die bei der Verfertigung ‚klarer Gedanken‘ besondere Dienste erweist. Zwar wird diese Lesart durch die wichtigsten Gründungsurkunden des Pragmatismus 10 ebenso nahegelegt wie durch einige von Peirce oder James überlieferte Selbstaussagen (cf. Peirce 1970: 539; James 1907: 509) - zu stark zugespitzt, geht sie allerdings an der prozessphilosophischen Pointe des Pragmatismus vorbei. Wer die Schriften der ersten Pragmatistengeneration eingehend studiert, wird bemerken, dass die darin entfalteten methodischen Erwägungen einem dezidiert progressivistischen Ethos unterstehen. Was Peirce ebenso wie James und Dewey durch seine philosophischen Reflexionen zu konturieren versucht, sind die Bedingungen, unter denen gewährleistet werden kann, dass dasjenige, was von allen drei Pragmatisten als Prozess der Forschung (d.h.: als der Prozess der Bildung neuartiger Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsformen) bezeichnet wird, möglichst niemals eine dauerhafte Unterbrechung erfährt. Der Pragmatismus ist daher zuvorderst eine Philosophie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie es gelingen kann, etablierte Wissens- und Erfahrungshorizonte entgegen den Mechanismen konservativer oder gar dogmatischer Denkmuster kontinuierlich zu erweitern. Man bedient sich sodann keineswegs nur einer metaphorischen Sprechweise, wenn man in der Einrichtung eines progressiv-dynamischen Selbst- und Weltverhältnisses die ‚Moral‘ der pragmatistischen Methode und Wahrheitstheorie identifiziert. 11 Richard J. Bernstein kann nur beigepflichtet werden, wenn er schreibt: „I do not think of pragmatism as a set of doctrines or even as a method.“ (Bernstein 1993: 324). Tatsächlich ist es weitaus plausibler, in den Schriften von Peirce, James und Dewey die Virulenz eines spezifischen „pragmatic ¯ ethos“ (ebd.: 324; Hervorh. im Original) wiederzuerkennen, für welches „the serious Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 77 12 Leider hat Bernstein, der den Bestand eines „pragmatic ¯ ethos“ wohl zuerst konstatiert hat, die ethischen Implikationen des Pragmatismus nicht ausführlich erörtert. Obwohl er für das Verständnis des pragmatistischen Ethos einige hilfreiche Hinweise gibt und sich darüber hinaus speziell in den Schriften Richard Shustermans einige instruktive Überlegungen zu dieser Problematik finden (cf. Shusterman 1997), bleibt die detaillierte Darlegung der Hintergründe und Kernelemente eines spezifisch-pragmatistischen Ethos ein Desiderat. 13 Für diesen Vorwurf cf. vor allem Horkheimer 2008. Zur Geschichte des (positivistischen) Missverständnisses des Pragmatismus unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Philosophie cf. Joas 1992: 96-145. 14 Ganz ähnliche Forderungen stellt Dewey (cf. Dewey 2008). Zur ethischen Dimension des peirceschen Pragmatismus cf. Erny 2005. encounter with what is other, different, and alien“ (ebd.: 328) die leitende Maxime darstellt. 12 Wie ein Blick in Peirce’ Vorlesungen für die Cambridge-Conferences von 1898 offenbart, speist sich das pragmatistische Interesse an der Begegnung mit dem, was - mit Bernstein gesprochen - anders, verschieden und fremd ist, aus einem unablässigen „Willen zum Lernen“ (Peirce 2002: 229). Anstatt uns hartnäckig auf eingefahrene Denk- und Erfahrungsmuster zu verlassen, sollen wir uns nach Peirce ein Beispiel am Ethos der experimentellen Wissenschaften nehmen und ein selbstkritisches Gespür für die stetige Plastizität und Widersetzlichkeit der Dinge entwickeln. Nur wenn wir auf die Unwägbarkeiten und Spontaneitäten unseres Erfahrungslebens genügend achtgeben, sind wir seines Erachtens dazu in der Lage, etablierte Überzeugungen auf die Probe zu stellen und zum Zwecke eines Wachstums unseres Wissens und Erfahrens zu modifizieren. Das mechanische Abspulen von tradierten Denk- und Verhaltensmustern ist für Peirce - hierin unterscheidet er sich kaum von James und Dewey - ein beklagenswertes Signum für intellektuellen Stillstand und Trägheit. Es kann nicht oft genug darauf verwiesen werden, dass die pragmatistische Orientierung an den experimentellen Wissenschaften nicht das Geringste mit einer positivistischen Tatsachenfixiertheit zu tun hat. 13 Vielmehr ist sie zu großen Teilen moralischer Natur: Appelliert wird an eine „moralische[…] Tugend“ (Peirce 2000 b: 203) und „Aufrichtigkeit“ (ebd.), wie sie für den idealtypischen Wissenschaftler charakteristisch ist, der stets die prinzipielle Bereitschaft in sich trägt, noch die am sichersten geglaubten Erkenntnisse kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Unmissverständlich hält Peirce fest: „So muß sich der wissenschaftlich Forschende stets darauf einstellen, sämtliche Theorien aufzugeben, deren Untersuchung er vielleicht viele Jahre gewidmet hatte. […] Eine derartige Einstellung erfordert ein gewisses Maß an Heldentum, das schon deswegen um so höher zu achten ist, als die Masse der Menschen, anstatt einen solchen Widerruf zu rühmen, ihn für etwas ganz Verächtliches hält.“ (Peirce 2000 a: 228) 14 Es ist wohl wahr, dass Peirce besonders in seinen Frühschriften durch seine ebenso berühmte wie viel kritisierte Idee der final opinion die Chance auf eine endgültige Feststellung der menschlichen Erkenntnistätigkeit in Aussicht gestellt hat (cf. z.B. Peirce 1967: 219ff., CP 5.311; ebd.: 349f., CP 5.407f.). In dieser Sache gilt es indes einem Hinweis Karl-Otto Apels zu folgen: Die Idee der final opinion steht lediglich für ein kontrafaktisches „regulative[s] Prinzip“ (Apel 1975: 117). So sehr sich eine Forschungsgemeinschaft auch um die Gewinnung absolut gesicherten Wissens bemüht: stets untersteht sie einer fallibilistischen Forschungslogik, die der tatsächlichen Genese einer final opinion entgegenläuft. Keine Erkenntnis ist laut Peirce davor gefeit, über kurz oder lang zweifelhaft zu werden. Alles Wissen bleibt in seinen Augen „immer provisorisch“ (Peirce 2002: 240). Nur wer diesen epistemologischen Grundsatz akzeptiert, zeigt sich nach seinem Urteil von einem „wahren wissenschaftlichen Mark A. Halawa 78 15 Nicht umsonst vermerkt Peirce, dass abduktiv gewonnene Wahrnehmungsurteile „absolut jenseits der Kritik sind“ (Peirce 1991: 123, CP 5.181), weil „[d]as Wahrnehmungsurteil […] das Ergebnis eines Prozesses [ist], […] der nicht bewußt genug ist, um kontrolliert zu werden, oder, um es genauer zu sagen, nicht kontrollierbar und daher nicht voll bewußt ist“ (ebd.). Die wichtigste logische Anlaufstelle für die Gewinnung neuer Ideen untersteht also nicht der uneingeschränkten Kontrolle eines absolut autonomen Erkenntnissubjekts. Cf. auch Peirce 1970: 420, CP 5.443: „Es ist wichtig für den Leser, sich klar zu machen, daß echter Zweifel immer einen Ursprung außer uns hat, gewöhnlich in einer Überraschung; und daß es uns ebenso unmöglich ist, einen echten Zweifel in uns durch einen Willensakt […] zu schaffen, […] wie es uns unmöglich sein würde, uns durch einen bloßen Willensakt eine echte Überraschung zu schaffen.“ 16 „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.“ (Peirce 1967: 339, CP 5.402) Eros beseelt“ (ebd.: 152), welcher für die dauerhafte Freisetzung eines aufrichtigen Willens zum Lernen unverzichtbar sei. Nicht von ungefähr hält Peirce fest: „Das Erste, was zum Willen zum Lernen gehört, ist eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen eigenen Stand der Überzeugungen“ (ebd.: 229). Intellektuelle Starrheit und Trägheit demonstrierten daher solche Personen, die sich immerzu „mit dem zufriedengeben […], was man schon zu denken geneigt ist“ (ebd.: 241). Man könnte meinen, dass Peirce mit Worten wie diesen einer regelrechten Fetischisierung des Unkonventionellen Vorschub leisten würde. Dieser denkbare Eindruck trügt allerdings. Zur Debatte steht nicht die Etablierung einer Haltung, durch die immer und überall an grundsätzlich allen Überzeugungen gezweifelt wird (dies käme einer vulgären Einverleibung eben jenes cartesianischen Zweifels gleich, gegen den sich sämtliche Vertreter des Pragmatismus bekanntlich vehement sträuben). Stattdessen geht es um die Entwicklung einer Sensibilität für diejenigen Bruchstellen unseres Erfahrungslebens, die eine progressive Erweiterung „dessen […], was schon bekannt ist“ (ebd.: 230), begünstigen und nahelegen. Zu betonen ist, dass es sich hier nicht um Bruchstellen handelt, die autonom gefunden bzw. nach eigenem Gutdünken souverän herbeigeführt werden können; ganz im Gegenteil entstehen sie auf heteronome Art, insofern das, was die Mechanismen des konventionellen Denkens, Erkennens und Wahrnehmens aushebelt, in der unerwarteten Konfrontation mit „überraschende[n] Tatsache[n]“ (Peirce 1991: 129, CP 5.189) begründet liegt, die sich in unserer Erfahrung als „das aufgezwungene Element in unserer Lebensgeschichte“ (Peirce 2002: 228) zu erkennen geben. Die Begegnung mit dem Anderen, Verschiedenen bzw. Fremden erweist sich nicht als ein Geschehen der selbst- und fremdmächtigen Kontrolle - sie ereignet sich, geschieht, wird unverhofft als Widerständiges erfahren. Ihr Anlass ist eine überraschende „experience of resistance“ (Peirce 1904: 26). Oder um es mit deweyschen Worten zu sagen, die in ähnlicher Form auch von Peirce hätten verfasst werden können: „Ein Problem muss […] empfunden werden, bevor es formuliert werden kann“ (Dewey 2008: 92; Hervorh. v. mir, M.A.H.). 15 Nur wo sich unvorhergesehen etwas als widerständig aufdrängt und infolgedessen die Aktivität des Geistes anstößt, kann es aus pragmatistischer Perspektive in einem genuinen Sinne zu einem Prozess der Forschung kommen. Das Ethos des Pragmatismus zielt dementsprechend auf die Kultivierung einer Empfindsamkeit für diejenigen Spontaneitäts- und Überraschungsmomente, die für eine stetige Modifikation des menschlichen Wissens- und Erfahrungshorizonts impulsgebend sind. Die Kontinuität des Forschungsprozesses (und damit der Semiose) wird im peirceschen Pragmatismus ohne Frage bereits auf methodischer Ebene im Rahmen der pragmatischen Maxime 16 widergespiegelt. Schon die konditionale Struktur dieser Maxime deutet an, dass die Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 79 17 Zu Peirce’ „Logik der Vagheit“ cf. Pape 2000: 59ff. 18 Cf. oben Anm. 11. in ihr anvisierte Klärung von Begriffen niemals endgültig abgeschlossen werden kann und der Prozess der zeichenvermittelten Auslegung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses immer ein Stück weit unbestimmt, unsicher, fallibel und vage bleiben muss. 17 Ein Prinzip der semiotischen Kontinuität ist in den Prozess der Forschung somit immer schon eingeschrieben. Immerhin geht es hier um die hypothetische (sprich: abduktive) Vergegenwärtigung von „denkbaren Wirkungen“, die mit Blick auf den „Gegenstand unseres Begriffs“ und unter Verweis auf die „Vorstellung“, die wir uns von diesem im Zuge eines Gedankenexperiments machen, „praktische Relevanz haben könnten“ (Peirce 1967: 339, CP 5.402; sämtliche Hervorh. v. mir, M.A.H.). Nun trägt aber selbst die ausgefeilteste Methode keineswegs schon von sich aus die von ihr erhofften Früchte. Entscheidend ist, mit welcher Entschlossenheit und Stringenz sie in der gelebten Praxis in Gebrauch genommen wird. Dies gilt selbstredend auch für die Methode des Pragmatismus. Es ist ein spezifisches Ethos, eine besondere Haltung, die das progressivistische Forschungsideal des Pragmatismus trägt und belebt. 18 Die pragmatische Maxime ist die forschungslogische Konsequenz und das methodische Vehikel eines gelebten Willens zum Lernen. Peirce schien diesen Gesichtspunkt im Auge gehabt zu haben, als er im reiferen Stadium seines philosophischen Denkens die Ethik der Logik (und damit auch der Semiotik) vorlagerte. „[A]uch die Theorie des Schließens“, heißt es in einem Text aus dem Jahr 1904, müsse von einer „Theorie der Tugend abhängen“ (Peirce 2000 b: 203). Dieses ethische Motiv macht sich unter anderem in der sogenannten Ersten Regel der Logik bemerkbar, die Peirce einige Jahre zuvor im Rahmen der bereits erwähnten Cambridge Conferences präsentierte: „Behindere nicht den Gang der Forschung“ (Peirce 2002: 241). Diesen forschungsethischen Imperativ, der aufgrund seiner prozessphilosophischen Stoßrichtung für die Architektonik des peirceschen Pragmatismus kaum weniger von Bedeutung ist als die pragmatische Maxime, formuliert Peirce auch folgendermaßen: „Verstelle nie irgendeiner wirklichen Untersuchung nachhaltig den Weg“ (Peirce 1970: 535f., CP 8.243). Es gilt freilich zu berücksichtigen, dass Peirce diesen Appell in der Hauptsache an die Person des Wissenschaftlers richtet. Die in den obigen Zitaten eingeforderte „Aufrichtigkeit“ und „Tugend“ bezieht sich auf die wissenschaftliche Forschungspraxis, an der laut Peirce neben den experimentellen Wissenschaften gleichermaßen die Philosophie teilhat, sofern sie denn - wie gefordert (cf. Peirce 2002: 152) - dazu bereit ist, sich in ihren Theoriebildungen für die Idee des Experimentalismus und Fallibilismus zu öffnen. Von der Tugendhaftigkeit des nicht wissenschaftlich arbeitenden und denkenden Alltagsmenschen ist hier also zunächst nicht die Rede. Einer Ausweitung des progressivistischen Ethos des Pragmatismus auf die Sphäre des alltäglichen Lebens steht dieser Sachverhalt indessen nicht entgegen. Insbesondere Dewey hat sich darum verdient gemacht, den von Peirce visionierten Progressivismus über das Gebiet der Logik und Wissenschaftstheorie hinaus fruchtbar gemacht zu haben. Schon ein flüchtiger Blick in die bedeutendsten Schriften Deweys erfasst eine geradezu grenzenlose Lust am Anderen, Fremden und Neuen. Für Dewey gründet der Beitrag des Pragmatismus nicht alleine darin, den fallibilistischen Geist der experimentellen Wissenschaften in die traditionellerweise nach absolut gesicherten Erkenntnissen strebende Philosophie zu transferieren. In seinen Augen stellt er vielmehr das philosophische Rüstzeug bereit, um in sämtlichen Bereichen Mark A. Halawa 80 19 Zum Begriff der kreativen Intelligenz cf. Dewey 2004: 192. 20 Auch für Dewey ist dieser Aspekt von besonderer Bedeutung (cf. Dewey 1983: 15-62). des Lebens (speziell auf sozialer und politischer Ebene) ein durch und durch progressives Selbst- und Weltverhältnis kultivieren zu können, welches durch die Inanspruchnahme einer kreativen Intelligenz 19 der „Macht der Tradition und der dogmatischen Autorität“ (Dewey 2001: 312) erfolgreich zu trotzen vermag. Kennzeichnend für Deweys explizit erfahrungszentrierten Pragmatismus ist die Vision einer „kultivierte[n] Naivität“ (Dewey 2007: 52) der Sinne und des Denkens. Intendiert ist damit weniger eine Infantilisierung des sinnlichen und kognitiven Weltverhältnisses als eine Rezeptivität für das, „was in der Perzeption neu ist“ (Dewey 1988: 317). Peirce selbst hätte im zur Debatte stehenden Zusammenhang sehr wahrscheinlich nicht von solchen Metaphern Gebrauch gemacht, wie sie für die Schriften Deweys so typisch sind. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass die Sehnsucht nach einer „kultivierten Naivität“ auch in seiner Version des Pragmatismus zum Vorschein kommt. Auf der einen Seite steht außer Frage, dass der peircesche Pragmatismus zu erklären versucht, wie der Mensch sich dazu in die Lage versetzt, adäquate Gewohnheiten des Denkens, Wahrnehmens und Handelns auszubilden (cf. Peirce 1967: 293ff., 326ff.). 20 Auf der anderen Seite steht aber ebenso sehr fest, dass die Festsetzung einer gleichsam mechanistisch wirkenden Macht der Gewohnheit durch die Aufforderung zur Etablierung einer prinzipiellen Offenheit für die unwägbaren Spontaneitäten des Erfahrens zu umgehen versucht wird. „Zur Gewohnheit geworden“, schreibt Peirce, „macht die Sinneswahrnehmung kaum noch Eindruck auf mich; oder wenn sie denn bemerkt wird, so von einer neuen Seite, von der sie eher als langweilig erscheint“ (Peirce 1998 a: 204). Ein pragmatistisch gesinnter Geist ist daran interessiert, sich wiederholt von den Dingen ‚beeindrucken‘ zu lassen. Und um diesem Interesse entgegenzukommen, ist die Eingrenzung des Denkens und Wahrnehmens durch Gewohnheiten, die konservativ am Altbekannten festhalten, zu verhindern. Vor dem Hintergrund der eingangs erläuterten posthermeneutischen Tendenzen innerhalb der jüngeren ästhetischen Theorie lässt sich nun ein erstes Fazit ziehen: Das im Kontext der performativen Ästhetik verzeichnete Streben nach einem Kontakt mit dem Unerwarteten, Anderen oder Befremdlichen mag im Kern posthermeneutisch motiviert sein, doch lässt es sich unter den Voraussetzungen eines semiotischen Pragmatismus keineswegs als wesentlich postsemiotisch bestimmen. Was sich der verstehenden Wahrnehmung als Fremdes oder Unkonventionelles in den Weg stellt, aktiviert - nicht: blockiert - den zeichenvermittelten Prozess der Forschung. Die plötzliche Umbzw. Unordnung der Dinge wird nicht als unwillkommenes Störfeuer desavouiert, sondern im Gegenteil als existenzieller (d.h.: erfahrungsbezogener) Grundpfeiler für die Möglichkeit zur kontinuierlichen Entgrenzung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses anerkannt. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass der Quellpunkt der Semiose im Theorierahmen des peirceschen Pragmatismus aufs Engste an die Konfrontation mit überraschenden Tatsachen gekoppelt wird (cf. Halawa 2009). Setzt man mit Andreas Reckwitz voraus, dass die Etablierung eines weitgehend von der Avantgardekunst inspirierten Kreativitätsdispositivs für den Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert charakteristisch ist (cf. Reckwitz 2012: Kap. 1), so lässt sich des Weiteren festhalten, dass die in eben jener Zeitspanne entstandene Philosophie des Pragmatismus ein solches Dispositiv bereits von Grund auf in sich trägt. Das bestimmende Merkmal der Avantgarde - ein Unbehagen am immer wieder Gleichen, Alten, Bekannten - wird durch das Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 81 21 Der Zusammenhang zwischen dem von Reckwitz diagnostizierten Kreativitätsdispositiv auf der einen und dem Pragmatismus auf der anderen Seite darf hingegen nicht zu stark zugespitzt werden. Was Reckwitz in seiner soziologischen Genealogie des spätmodernen „Doppel[s] von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ“ (Reckwitz 2012: 15) herausarbeitet, ist ein Kreativitätsaktionismus, durch den die ununterbrochene Produktion von Neuem aus konsumistisch-kapitalistischen Gründen geradezu zu einem Fetisch erhoben wird, sodass dieser den melioristischen Intentionen der im Pragmatismus angestrebten kreativen Intelligenz in entscheidenden Punkten widerspricht. Kreativität ist speziell bei Dewey ein Mittel, um unversehens eintretende problematische Gegebenheiten auf intelligente Art und Weise aufzulösen. Intelligent meint hier: Eine als problematisch gegebene Situation wird durch die intervenierende Reaktion, die durch sie erforderlich gemacht wird, in einer Form modifiziert, welche melioristische (d.h.: die Dinge bessernde) Konsequenzen nach sich zieht (cf. Dewey 2004: 193f.). Abermals ist zu bedenken, dass die Modifikation des Gegebenen zum Zwecke der Realisierung eines wünschenswerten Neuzustandes der Dinge nicht ohne Weiteres gänzlich autonom herbeigeführt werden kann. Es ist der existenzielle Kontakt mit einem Anderen oder Außen des Selbst, der die zukunftsgewandte Realisierung von Wünschenswertem animiert (cf. ebd.: 195). Im von Reckwitz dargelegten Kreativitätsdispositiv steht demgegenüber die ebenso pausenlose wie willkürliche sinnliche Affektion einer Konsumentengesellschaft im Zentrum, deren kostbares Gut der Aufmerksamkeit durch die ästhetisierte Präsentation von stets als neu, originell und innovativ deklarierten Konsumobjekten adressiert wird. Durch die widerständige Kraft eines ‚Außen‘ gestellte Fragen eines zukunftsgewandten Meliorismus stellen sich hier nicht. Stattdessen dreht sich die spätmoderne Privilegierung des Kreativen primär um den auf Dauer gestellten „sozialen Prozess der Verfertigung von sinnlichen, semiotischen und emotionalen Reizen für ein Publikum“ (Reckwitz 2012: 58; Hervorh. im Original), welches unter dem stetigen Einfluss einer konsumistisch orientierten „Ästhetisierung des Ökonomischen“ (ebd.: 140; Hervorh. im Original) steht. Unter diesen Voraussetzungen kann das von Reckwitz (ebd.: 52f.) als hegemonial gekennzeichnete Kreativitätsdispositiv aus pragmatistischer Perspektive als eine Pathologisierung von Kreativität identifiziert werden. Nicht eine Aufmerksamkeit generierende Reizung der Sinne durch das Neue, sondern eine aisthetische Sensibilisierung für das Andere oder Fremde zum Zwecke der progressiven Transgression des Erfahrungslebens steht im Pragmatismus im Vordergrund. Für Reckwitz’ eigenen kritischen Blick auf pathologische Tendenzen des spätmodernen Kreativitätsdispositivs cf. ebd.: Kap. 2.3 und Kap. 8. Bezüge auf den Pragmatismus finden sich dort allerdings nicht. progressivistische Ethos des Pragmatismus auf philosophischer Ebene widergespiegelt. Durch diesen Hinweis soll keineswegs ein immanentes Bedingungsverhältnis zwischen Pragmatismus und Kreativitätsdispositiv unterstellt werden. Allerdings darf vermutet werden, dass das Signum der von Reckwitz so bezeichneten Spätmoderne - die Ausbildung eines permanenten Kreativitätsstrebens (cf. ebd.: 14ff.) -, wenn auch eingeschränkt, ebenfalls auf den Pragmatismus bezogen werden kann. 21 3. Zur Rolle des Zufalls im peirceschen Pragmatismus Der bisherige Verlauf meiner Argumentation konzentrierte sich auf die Tatsache, dass eine Offenheit für das Andere, Verschiedene oder Fremde für die klassischen Entwürfe des Pragmatismus von größter Bedeutung ist. Zugleich wurde hervorgehoben, wofür eine Rezeptivität für Modalitäten des Spontanen und Überraschenden zu entwickeln ist, nämlich die Ausbildung und Festigung eines progressivistischen Ethos, durch welches ein stetiges Wachstum des menschlichen Wissens- und Erfahrungshorizonts anvisiert wird. Weitgehend offen blieb, warum im klassischen Pragmatismus dem Motiv einer kontinuierlichen Prozessualität des Denkens und Erfahrens ein privilegierter Stellenwert eingeräumt wird. Um die Gründe für diese prozessphilosophische Akzentuierung nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf die peircesche Naturphilosophie lohnenswert. Entfaltet wird darin ein Weltbild, Mark A. Halawa 82 das aufgrund seiner ausdrücklichen Einbeziehung von Spontaneitätsfaktoren nicht zuletzt ästhetisch anschlussfähig ist. In der Spätphase seines philosophischen Denkens publizierte Peirce in der Zeitschrift The Monist eine Reihe von Aufsätzen, in denen die Fundamente einer „evolutionäre[n] Kosmologie“ (Peirce 1998 a: 179) gelegt werden (cf. Peirce 2009). Ein Vergleich dieser Texte mit früheren Arbeiten lässt den folgenden Befund zu: Was Peirce seit seinen frühesten philosophischen Ansätzen erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch akzentuiert, findet in seinen Monist-Beiträgen eine naturphilosophische Fortsetzung. In beiden Fällen macht sich ein konsequentes Prozessdenken bemerkbar, das auf der Sensibilisierung für die kontingenten Elemente des Erfahrungslebens gründet. Auf den ersten Blick mutet die peircesche Kosmologie hegelianisch an. So ist Peirce davon überzeugt, dass im Universum ein Kontinuitätsprinzip wirksam ist, welches er mit dem Begriff des Synechismus - von griech. für „zusammenhängend“, „angrenzend“ (cf. Deuser 1998: 779) - versieht. Mit dem Prinzip des Synechismus verbindet Peirce die Idee, dass der kosmologische Lauf der Dinge durch „das zunehmende Beherrschtwerden von Gesetzen“ (Peirce 1970: 279, CP 5.4) gekennzeichnet ist. Da die Verbreitung von Momenten der Regelmäßigkeit für Peirce auch abseits von menschlichen Erkenntnisprozessen als Indiz einer kosmologischen Vernunft gedeutet wird, knüpft er das Prinzip des Synechismus an die Vorstellung eines kontinuierlichen „Wachstum[s] der Vernünftigkeit“ (ebd.). Materie, die keinen größeren diskontinuierlichen Einflüssen unterliegt, repräsentiert nach Peirce’ Auffassung „bloßen, spezialisierten und teilweise abgestorbenen Geist“ (Peirce 1998 a: 179). Im Prozess ihrer Bildung untersteht Materie mithin einem kosmologischen Gesetz des Geistes, welches mit der zunehmenden Ausbildung von Regelhaftigkeit allerdings an Dynamik verliert. Dass der Prozess des Synechismus unterdessen niemals zu einem definitiven Ende gelangen kann, deutet Peirce bereits durch den Hinweis auf den Bestand eines „teilweise“ abgestorbenen Geistes innerhalb gesetzesförmiger Materie an. Selbst in der starrsten Form von Materie schlummert stets noch ein Fünkchen geistigen Potenzials. Tatsächlich kann das synechistische Prinzip in der peirceschen Kosmologie vor allem deshalb nicht zum Stillstand kommen, weil ihm eine weitere kosmologische Kraft gegenübersteht, die Peirce als Tychismus - von griech. für „Zufall“, „Glück“ (cf. Deuser 1998: 780) - bezeichnet. Die Erlangung eines Grades absoluter Gesetzmäßigkeit wird durch das Wirken eines Zufallsprinzips vereitelt, welches die Eigenschaft besitzt, „die Dinge auf lange Sicht aus einem Zustand der Homogenität in einen Zustand der Heterogenität überzuführen“ (Peirce 1998 a: 121). Was im Stadium einer hochgradig ausgeprägten Gesetzmäßigkeit ‚zusammengeschweißt‘ wird, erfährt durch die Kraft des Zufalls einen Bruch. Teilweise abgestorbener Geist wird somit wieder vorwiegend lebendig. Insofern das tychistische Prinzip der spontanen Diskontinuität in Peirce’ Augen einen festen Bestandteil des Universums ausmacht (cf. ebd.: 116ff.), trägt es dazu bei, dass es in der Natur keine Gesetzmäßigkeit gibt, die den Lauf der Dinge für immer und ewig unter den Zwang einer absoluten Notwendigkeit stellt. Nichts verhält sich immer absolut gleich, sondern demonstriert auf kurz oder lang kleinere oder größere Variationen, die sich nicht eindeutig auf eine präzise zu bestimmende und universal gültige Ursache zurückführen lassen. Wo der Zufall Einzug erhält, öffnet sich sodann der Raum für evolutionäre Variabilität, kosmologische Diversität bzw. „sporadische Originalität“ (ebd.: 484). Oder anders gewendet: Der Tychismus verhindert mechanische Gleichförmigkeit und absolute Homogenität (cf. Deuser 1998: 780). Wachstum gründet nicht auf der Akkumulation und Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 83 22 Zur pragmatistischen Aneignung des Darwinismus cf. Dewey 2004: 31ff.. 23 Diesen Vorwurf macht z.B. Mersch 2002 b: 211ff. Festsetzung des immer wieder Gleichen, sondern auf dem plötzlichen Auftauchen eines Anderen, Neuen, Abweichenden. Entsprechend lässt sich festhalten: Der Tychismus hält die Dinge im Fluss - er verkörpert gewissermaßen ein heraklitisches Gesetz des stetigen Werdens, welches von Peirce freilich größtenteils von Darwin bezogen wird (cf. Peirce 1998 a: 146f.). 22 Zugleich hält der Tychismus den Geist lebendig. In einer Welt uneingeschränkter Gleichförmigkeit gäbe es keinerlei Reibungsflächen für die Initiierung geistiger Aktivität. Wo die Ordnung der Dinge durch ein Gesetz „absolute[r] Notwendigkeit“ (ebd.: 204) determiniert würde, verhielte sich auch der Geist aufgrund des akuten Mangels von Überraschungsmomenten, die Denken allererst anstoßen, „steif und unüberwindlich“ (ebd.). Nicht nur bliebe „kein Raum für die Bildung neuer Verhaltensgewohnheiten übrig[…]“ (ebd.), auch „würde das intellektuelle Leben zu einem jähen Ende kommen“ (ebd.). Sein bestimmendes Kraftzentrum findet der Geist sodann im Auftreten von Faktoren der „Unbestimmtheit“ (ebd.: 203) und „Unsicherheit“ (ebd.: 204). Peirce erkennt darin nicht etwa einen „bloße[n] Defekt, sondern im Gegenteil [das] eigentliche[…] Wesen“ (ebd.) des Geistes. Das semiotische Motiv des Bestimmens geht in seinen Augen stets mit einem Motiv des Bestimmt-Werdens einher. Die kontinuierliche Evolution der Semiosis vollzieht sich daher nicht unter dem Eindruck eines linearen Erkenntnisprinzips; stattdessen ist es die Virulenz von epistemischen Bruchstellen, die dem synechistischen Gesetz des Geistes zugrunde liegt (cf. Halawa 2012: 157). In der Peirce-Forschung wird aus guten Gründen darauf hingewiesen, dass im peirceschen Pragmatismus „das Hauptmotiv nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine ist“ (Oehler 2000: 27). Da für Peirce „die Form der Allgemeinheit […] dasselbe ist wie Kontinuität“ (Peirce 2000 a: 374), bildet der Synechismus folglich ein zentrales Schlüsselelement des Pragmatismus. Tatsächlich gibt Peirce offen zu, dass „der Tychismus […] nur ein Teil und Korrelat des allgemeinen Prinzips des Synechismus [ist]“ (CP 8.252). Das Prinzip der Kontinuität wird dem Prinzip des Zufalls übergeordnet, sodass dem Motiv der kontinuierlichen Bestimmung ein größerer Stellenwert als dem des Bestimmt-Werdens beigemessen wird. Eine systematische Ausblendung oder Ignoranz des Individuellen lässt sich Peirce allerdings nicht unterstellen. 23 Schließlich macht er immer wieder deutlich, dass Kontinuität niemals von Momenten der Diskontinuität zu trennen ist. Aspekte der Spontaneität bilden vielleicht nicht den Zielpunkt des peirceschen Pragmatismus, dafür aber den unerlässlichen belebenden Reizpunkt für die kontinuierliche Fortsetzung der Semiosis. Würde das Individuelle durch die bestimmende Kraft des Allgemeinen getilgt oder aufgehoben werden, so ginge damit das stimulierende Element des pragmatistischen Prozessdenkens verloren. Dass Peirce eine solche Vorgehensweise ganz gewiss nicht im Sinn hatte, belegt etwa die Vehemenz, mit der er in seinen Pragmatismus-Vorlesungen davor warnt, in der Kategorie der Drittheit, die für das Allgemeine, Begriffliche und Zeichenhafte steht, den ausschließlichen Kulminationspunkt seiner dreigliedrigen Kategorientafel zu identifizieren (cf. Peirce 1991: 63, CP 5.91). Für Peirce kann es schlichtweg keinen Gedanken (Drittheit) geben, dessen Entstehung nicht in irgendeiner Form durch widerständige Erfahrungsmomente (Zweitheit) angetrieben wird, die mit phänomenalen Empfindungsqualitäten (Erstheit) einhergehen (cf. Spielmann 2002). Mark A. Halawa 84 Die Semiose ist nicht alleine eine Sache des Denkens, sondern ebenfalls eine Sache des Fühlens. Entsprechend ist die Struktur der Erkenntnis nicht bloß abstrakter Natur, sondern wesentlich erfahrungsbezogen. Von einer Hegemonie des Allgemeinen, die voll und ganz zulasten des Singulären, Sinnlichen und Spontanen geht, kann schließlich keine Rede sein. Eine solche Betrachtungsweise ist nicht zuletzt deshalb zweifelhaft, weil durch die Umgehung des Singulären, Diskontinuierlichen und Spontanen keinerlei Handhabe für die Beantwortung der weiter oben als maßgeblich für das peircesche Philosophieren hervorgehobenen Frage Wie ist Semiose möglich? vorhanden wäre. An dieser Stelle lässt sich nun ein weiteres - in seinen Grundzügen bereits im Vorkapitel angedeutetes - Fazit ziehen: Die progressivistische Leitmotivik des Pragmatismus besitzt eine aisthetische Grundlage. Obwohl einerseits feststeht, dass dem Allgemeinen und Bestimmten durch das Ziel einer kontinuierlichen Zunahme „konkreter Vernünftigkeit“ (Peirce 1970: 278, CP 5.3) große Bedeutsamkeit verliehen wird, liegt andererseits gleichermaßen auf der Hand, dass aisthetische Faktoren des Singulären und Unbestimmten sowohl die Basis als auch die Notwendigkeit zur kontinuierlichen Weiterbestimmung des semiotisch vermittelten Selbst- und Weltverhältnisses markieren. Eine logizistische, am Moment der Erfahrung vorbeigehende Interpretation des semiotischen Pragmatismus greift insofern zu kurz. Denn dass das Zeichen von Peirce bekanntlich als eine Einheit beschrieben wird, die stets auf andere Zeichen verweist, welche selbst wiederum die Interpretation weiterer Zeichenbezüge animiert (cf. etwa Peirce 1998 a: 423), gründet keineswegs auf einem ausschließlich abstrakten logischen Bedingungsgefüge, welches von empirischen Einflussgrößen gänzlich unberührt ist; vielmehr basiert das berühmte Prinzip der unendlichen Semiose auf der Beobachtung, wonach die zeichenvermittelte Ordnung der Dinge angesichts der ebenso stetigen wie sprunghaften Variation des epistemologischen Erfahrungsfeldes fortwährend modifiziert werden muss, wobei zu betonen ist, dass eben diese Variation über die überraschte Konfrontation mit unvorhergesehenen epistemischen Bruchstellen immer auch sinnlich erfahren wird. Der Reiz des den Gang der Gewohnheit unterbrechenden Zweifels provoziert zweifellos einen intellektuellen Prozess. Zugleich ist er jedoch das Resultat eines aisthetisch fundierten Empfindungsgeschehens. Inwiefern sind Zusammenhänge wie diese nun von ästhetischer Relevanz? Lassen sich die aisthetischen Elemente des pragmatistischen Prozessdenkens ebenfalls ästhetisch fruchtbar machen? Kritische Stimmen mögen einwenden, dass diese Frage aufgrund der Tatsache, dass Peirce sich kaum zur Ästhetik äußerte, schon von Grund auf abwegig ist. In der Tat bezeichnete sich Peirce bisweilen als einen „vollständig[en] Ignorant[en] in der Ästhetik“ (Peirce 1991: 73, CP 5.111). Allerdings: Selbst wenn man davon absieht, dass die Ästhetik in Peirce’ Spätphilosophie die Basis seiner Ethik bildet, die ihrerseits als Grundlage der Semiotik fungiert (cf. ebd.: 86ff., CP 5.129ff.), lässt sich aus diesem Sachverhalt keine generelle ästhetische Unempfindlichkeit des peirceschen Pragmatismus ableiten. Gegen eine solche Interpretation hat unter anderem schon Jeffrey Barnouw argumentiert, nach dessen Auffassung der Ursprung des peirceschen Pragmatismus in Schillers Briefen über die ästhetische Eriehung des Menschen aufzufinden ist (cf. Barnouw 1988). Barnouw zufolge dient Peirce’ ästhetische Grundlegung seines Pragmatismus primär der Etablierung eines Empfindungsvermögens, durch welches ein Handlungssubjekt dazu in die Lage versetzt wird, eine möglichst stark ausgeprägte Kontrolle über die denkbaren Konsequenzen seines Handelns zu gewinnen. Die Ästhetik ist sonach zuvorderst „a discipline governing the deliberate formation of habits of feeling which should inform our responses, our readiness to act in particular ways given particular circumstances“ (ebd.: 609). Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 85 24 Zur These vom schillerschen Ursprung des peirceschen Pragmatismus cf. kritisch Lefebvre 2007: 341f., Anm. 5. Unabhängig von der Frage, ob Peirce seinen Pragmatismus tatsächlich im Ausgang der schillerschen Ästhetik konzipiert hat, 24 lässt sich diese Lesart durch einige Selbstaussagen stützen. So heißt es etwa in einem (von Barnouw ebenfalls zitierten) Manuskript aus dem Jahre 1906: „If conduct is to be thoroughly deliberate, the ideal must be a habit of feeling which has grown up under the influence of a course of self-criticisms and of heterocriticism; and the theory of the deliberate formation of such habits of feeling is what ought to be meant by esthetics“ (Peirce 1998 b: 377f.; Hervor. im Original). Die Ästhetik ist demnach sozusagen Teil eines Abrichtungsgeschehens: Ein Handlungssubjekt soll mit ihrer Hilfe ein Gespür für die praktischen Konsequenzen seines Tuns entwickeln. Oder anders gesagt: Es soll ein Gefühl für jene Wirkungen seines Handelns gewinnen, die mit den Prämissen einer deliberativen, selbstkontrollierten Lebensführung im Einklang stehen. Die Ästhetik liefert der Ethik auf diese Weise zum einen die Grundlage; zum anderen verleiht sie der Praktizierung der pragmatischen Maxime, in deren Zentrum die Vergegenwärtigung denkbarer Konsequenzen steht, einen sinnlichen Charakter. Eröffnet wird durch Barnouws Erörterungen eine philologische bzw. exegetische Perspektive auf die peircesche Konzeption des Ästhetischen. Sie rekonstruiert, welche Bedeutung Peirce dem Begriff der Ästhetik in seinem pragmatistischen Theoriegebäude zuweist. In den Vordergrund rückt damit allerdings nur eine von vielen weiteren Möglichkeiten, Peirce’ Philosophie des Pragmatismus unter ästhetischen Gesichtspunkten zu reflektieren. Im nun folgenden Abschlusskapitel wird sich mit dem Versuch befasst, auf Basis des peirceschen semiotischen Pragmatismus einen produktiven Transfer zur ästhetischen Theorie zu bewerkstelligen. Grundlegend sind dafür einige Überlegungen des Kunsthistorikers Richard Shiff, in denen die Zeichenkunst Cy Twomblys peirceanisch gedeutet werden. 4. Cy Twombly und der ästhetische Reichtum des Zufalls Über die Kunst Cy Twomblys ist erschöpfend viel geschrieben worden. In diesem Kapitel soll sich daher gar nicht erst darum bemüht werden, der Twombly-Forschung durch eine systematische Deutung seines künstlerischen Schaffens eine weitere Fußnote hinzuzufügen. Stattdessen werden sich die nachstehenden Überlegungen auf eine Interpretation stützen, die der Kunsthistoriker Richard Shiff in einem Aufsatz mit der Überschrift „Eine lebendige Hand“ über die Rolle von Ereignis und Zufall im zeichnerischen Werk Twomblys unterbreitet hat (cf. Shiff 2012). Dieser Aufsatz ist im vorliegenden Diskussionsrahmen vor allem deshalb von großem Interesse, weil in ihm charakteristische Merkmale der ästhetischen Praxis Twomblys unter peirceschen Gesichtspunkten reflektiert werden. Ihren Ausgangspunkt finden Shiffs Darlegungen in einer Reihe von zumeist unbetitelten Bildern, die sich mit Roland Barthes - dem wohl prominentesten Kommentator Twomblys, der auch für Shiff eine wichtige Bezugsquelle ist - als ein „Anspielungsfeld der Schrift“ Mark A. Halawa 86 Abb. 1 Abb. 2 Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 87 25 Man denke an die vielen Bildtitel, die sich auf antike Götternamen (z.B. Mars, Apollo) beziehen, oder an Twomblys schriftspielartige ‚Rezitationen‘ von Rilke-Gedichten (cf. hierzu Shiff 2012: 239ff.). (Barthes 1990: 166; Hervorh. im Original) begreifen lassen (Abb. 1, 2). Im Medium des Graphismus wird hier etwa auf die Kritzelei oder die Zeichnung angespielt, wobei dies zumeist in einer derart unterbestimmten Form geschieht, dass eine eindeutige Kategorisierung unter einen der genannten Begriffe kaum durchführbar ist. Barthes ist ohne Weiteres darin zuzustimmen, dass Twomblys Kunst in eindrucksvoller Art und Weise dazu in der Lage ist, „die Materie als ein Faktum […] auftreten zu lassen“ (ebd.: 188). Eines der elementarsten Ziele einer performativen Ästhetik findet sich hier geradezu paradigmatisch verkörpert. Vor Augen geführt wird in Twomblys Kunst indes nicht alleine die materielle Faktizität des ästhetischen Objekts; in den Fokus wird zugleich die performative sowie körperliche Basis des Graphismus gerückt, kurz: die grafische Spur eines gestischen Geschehens (cf. ebd.: 166ff.). Geht es nach Shiff, so lässt sich Twomblys Zeichenkunst zudem als ein Anspielungsfeld des sich stets im Schatten des Regelhaften aufhaltenden Tychismus betrachten. Was in Twomblys Bildern zum Vorschein kommt, ist für ihn zuvorderst die „zufällige[…] Zusammenführung von Formen und Ereignissen“ (Shiff 2012: 230). Shiff verweist in diesem Zusammenhang auf Roland Barthes, der der ästhetischen Praxis Twomblys bekanntermaßen bereits eine tychistische Qualität attestiert hatte. Unter Verweis auf den Begriff „Tyche“ notiert Barthes: „Den Bildern von Twombly scheint immer eine gewisse Macht des Zufalls, eine Geglücktheit anzuhaften. Daß das Werk eigentlich das Resultat eines sorgfältigen Kalküls ist, spielt hier keine Rolle. Was zählt, ist der Zufallstreffer oder, um es subtiler auszudrücken […]: die Inspiration, jene schöpferische Kraft, die gleichsam das Glück des Zufalls ist.“ (Barthes 1990: 191; Hervorh. im Original). Dass Twomblys Werk durch seine zahlreichen mythologischen oder literarischen Bezüge 25 offenkundig nicht im strengen Sinne des Wortes durch und durch zufallsbedingt ist, ist für Barthes allenfalls von sekundärem Interesse. Relevant ist neben der angeführten „Inspiration“ vor allem der zufallsgeprägte „Eindruck des Hingeworfenen“ (ebd.), den Twomblys Bilder erwecken: „Das Material wirkt [in Twomblys Bildern; M.A.H.] wie auf die Leinwand geworfen, und werfen ist ein Akt, der gleichzeitig eine anfängliche Entschlossenheit und eine letztliche Unentschiedenheit birgt: Beim Werfen weiß ich, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich hervorbringe.“ (ebd.; Hervorh. im Original) In der Tat erwecken viele von Twomblys Bildern den Eindruck, als seien sie das Resultat eines Schaffensprozesses, den der Künstler selbst nicht vollständig unter Kontrolle hatte. Selbst dort, wo sich repetitive Bewegungsmuster ausmachen lassen, setzen sich abrupte ‚Ausreißer‘ und Unregelmäßigkeiten ins Bild, die den Eindruck einer souverän geordneten Darstellung unterlaufen (Abb. 1). Noch in den regelmäßigsten grafischen Formationen scheint nichts feinsäuberlich oder endgültig fixiert zu sein, sondern im Gegenteil einem ebenso permanenten wie ungleichmäßigen Vibrieren zu unterliegen. Der Blick findet kaum einen festen Ruhepunkt oder ein klar definiertes Zentrum, auf das er sich konzentrieren könnte. Vielmehr verharrt er in dauernder Unruhe. Hin und wieder mag er zwar auf eine gegenständliche Kontur oder ein klar zu entzifferndes Wort treffen, doch geschieht dies nicht selten Mark A. Halawa 88 inmitten eines schier unübersichtlichen und überaus chaotisch anmutenden Liniengewirrs. Unter anderem aus diesem Grund schreibt Shiff (2012: 232), dass „[e]in von Twombly gezeichnetes Bild nur schwer zu bestimmen und nur mühevoll zu erinnern“ sei. In der Tat lässt sich fragen: Wie soll etwas begrifflich fixiert werden, wenn der Gegenstand des zu entwickelnden Begriffs permanent im Fluss zu sein scheint und die durch ihn angedeuteten medialen Register (Schrift, Zeichnung, Kritzelei) permanent spielerisch unterlaufen werden? Wie lässt sich bestimmen, was maßgeblich unterbestimmt ist? Ähnlich wie Barthes nähert sich Shiff dieser Frage durch eine weitgehend aisthetische Interpretation der twomblyschen Zeichenpraxis. In den Vordergrund wird die Performativität der bildschaffenden gestischen Aktivität sowie die damit verbundene Wirkung in der Rezeptionssituation gerückt. Entsprechend untersucht Shiff das bildnerische Schaffen Twomblys nicht im Ausgang von Begrifflichkeiten, die im Kern auf das Moment der symbolischen Repräsentation bezogen sind. Stattdessen zielen seine theoretischen Erwägungen auf Aspekte der aisthetischen Präsenz und Wirkung. So ist Twomblys charakteristische Linienführung in Shiffs Augen in der Hauptsache das Zeugnis eines ereignishaften und emotionsgeladenen grafischen Geschehens. Twomblys Linienführung, schreibt Shiff, ist „etwas, das ‚geschieht‘ […], ein Gefühl - eine fließende Emotion, ein zufallsbedingtes Ereignis“ (ebd.: 232). Nicht der Darstellungsaspekt des Bildes stünde demzufolge im Zentrum, sondern die widerspenstige Ereignishaftigkeit und emotionale Vitalität des Linienzugs selbst. Es wären hiernach also in erster Linie die grafischen Spuren einer ebenso fließenden wie durch eruptive Brüche gekennzeichneten Erfahrung, die in Twomblys Zeichenbildern vor Augen geführt werden. Zur Unterstützung dieser These zitiert Shiff Twombly höchstselbst, der in einem Interview einst sagte: „Es ist eher so, als würde ich eine Erfahrung statt ein Bild machen“ (zit. nach ebd.). Wie sowohl Barthes als auch Shiff betonen, besteht ein maßgebliches Merkmal der twomblyschen Kunst darin, das bildbetrachtende Rezeptionssubjekt dazu einzuladen, das grafische Erfahrungsleben Twomblys selbst nachzuvollziehen. Wer sich mit Twomblys Bildern auseinandersetzt, so berichtet Barthes im Anschluss an eigene grafische Selbstversuche, vermag „sozusagen in die Fußstapfen der Hand“ (Barthes 1990: 178; Hervorh. im Original) des Künstlers zu treten (cf. Shiff 2012: 248). Die Performativität und Vitalität des twomblyschen Linienzuges würde sich auf diese Weise auf das Subjekt der Bildwahrnehmung übertragen. Auch die Erfahrung des Rezeptionssubjekts wäre insofern hochgradig ‚lebendig‘, fließend und durch die ständige Konfrontation mit grafischen Diskontinuitäten tychisch. Aus einem pragmatistischen Blickwinkel ergeben sich aus alldem vor allem zwei bemerkenswerte Konsequenzen: Auf der einen Seite stellt Twomblys Kunst in vortrefflicher Weise den ästhetischen Reichtum heraus, den eine Erfahrung gewinnt, sobald sie in der Konfrontation mit aisthetischen Wirkgrößen des Spontanen und Unregelmäßigen geradezu stoßartig aus dem Korsett des Gleichförmigen und Homogenen herausgerissen wird. Interessant ist, dass dieser Effekt in Twomblys Kunst häufig gerade dort eintritt, wo dessen Linienführung augenscheinlich von einem regelhaft-repetitiven Muster getragen wird, welches dem grafischen Geschehen eine synechistische Tendenz zu verleihen scheint (Abb. 1). Der Keim des Lebendigen, Inhomogenen und Tychischen befindet sich praktisch inmitten desjenigen, was regelhaft und weitgehend homogen anmutet. Eben daraus ergibt sich nach Shiff auf der anderen Seite ein infiniter Prozesscharakter der twomblyschen Kunst. Shiff betrachtet die von Twombly geschaffenen ästhetischen Objekte im Rekurs auf Peirce’ Tychismus-Konzept als „seltsam belebte Stücke Materie“, die aufgrund ihrer „Unregelmäßigkeiten“ eine „ereignishafte Natur“ unter Beweis stellen würden (ebd.: Ästhetische Erfahrung als Schule der Semiotik 89 26 Zur Idee einer ästhetischen Grundlegung des Pragmatismus cf. Shusterman 2000, der allerdings kaum auf Peirce eingeht, sondern vornehmlich im Ausgang von Dewey argumentiert. 241). Infolgedessen sei es für Twomblys Kunstobjekte typisch, „keine Gewohnheiten“ (ebd.) - pragmatistisch gesprochen: habits - aufzuweisen. Rezeptionsästhetisch führt dieser Befund zu dem Umstand, dass auch das Rezeptionssubjekt des twomblyschen Schaffens keinerlei Basis für die Ausbildung von festen Wahrnehmungs- und Deutungsschemata besitzt. Die Rezeption kann durch den Mangel an habitformierenden Anknüpfungspunkten niemals dauerhaft zur Ruhe kommen. Sie mag wohl abgebrochen werden können, doch kann sie nie zu einem definitiven Abschluss gelangen. Stets kommt es durch die Konfrontation mit „gelegentliche[n] Lücken und Entgleisungen“ (Peirce, zit. nach ebd.) innerhalb des ästhetischen Erfahrungsfeldes zu einer Fortsetzung des semiotisch getragenen Gangs der Forschung. Twomblys Kunst inszeniert aus dieser Perspektive sodann die tychistische Grundlage einer auf Dauer gestellten Semiosis. Stellvertretend für weite Teile der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts lässt sie sich damit - freilich nicht nur, aber doch in besonderem Maße - als eine Schule der Semiotik interpretieren. Die im Alltag häufig kaum eigens wahrgenommene aisthetische Fundierung semiosischer Prozesse macht sie mit den Mitteln einer performativen Ästhetik erlebbar. Unter dem Gesichtspunkt eines semiotischen Pragmatismus wird auf diese Weise schließlich ein bedeutsames Potenzial von Kunst sichtbar: Indem Kunst das Tor zur Begegnung mit Anderem, Verschiedenem oder Fremdem öffnet, klärt sie über die aisthetischen Bedingungen der Möglichkeit einer kontinuierlichen Entgrenzung des Wahrnehmens auf. Über die zu berücksichtigenden Elemente des pragmatistischen Prozessdenkens gibt die Reflexion auf die ästhetische Erfahrung folglich in besonderer Weise Auskunft. Kurz: Die Ästhetik bildet für eine pragmatistische Prozessphilosophie ein maßgebliches Scharnier. 26 In diesem Kontext fällt auf, dass Shiff in seiner peirceschen Twombly-Interpretation mit keiner Silbe auf John Dewey eingeht. Dies ist deshalb ein wenig verwunderlich, weil Dewey den pragmatistischen Appell an eine Sensibilität für die plötzlichen Unwägbarkeiten des Erfahrens weitaus stärker als Peirce in einen ästhetischen Zusammenhang stellt. Eine fließende, gelebte Erfahrung ist für Dewey immer auch eine ästhetische Erfahrung. Besteht eine Wahrnehmung überwiegend in einem „kalte[n] und farblose[n] Wiedererkennen dessen, was bereits vorhanden ist“, so ist sie nach Deweys Ansicht „ihrem Wesen nach nicht gleichzeitig ästhetisch“ (Dewey 1988: 61). Bloßes „Wiedererkennen“, schreibt Dewey in seinem ästhetischen Hauptwerk Kunst als Erfahrung, „bedeutet Wahrnehmung, die zum Stillstand kommt, bevor sie die Gelegenheit zur freien Entfaltung findet“ (ebd.: 66). Ein derartiges Wahrnehmen ist für Dewey stereotyp, „faul und untätig“ (ebd.: 67) und in letzter Konsequenz starr und leblos. „Der Punkt maximaler Wahrnehmbarkeit“, notiert Dewey an anderem Ort, „ist dort erreicht, wo die Spannung und die unbestimmte Potentialität am größten sind; der Punkt der größten Unruhe ist auch der Punkt der größten Helligkeit; er ist lebendig, aber nicht klar; drohender, drängender Ausdruck des Bevorstehenden, aber nicht definiert, bis man ihn geregelt hat und er aufgehört hat, unmittelbar im Brennpunkt zu stehen“ (Dewey 2007: 330). Eben solche Punkte „maximaler Wahrnehmbarkeit“ wie auch der „größten Unruhe“ versucht der Pragmatismus systematisch aufzuspüren. Nur wo es Unruhe und Spannungen gibt, kann es aus einer pragmatistischen Perspektive Räume des Wachstums geben. Wie Richard Shiff zeigt, bietet die Kunst Twomblys hierzu instruktive Anknüpfungspunkte. Sie Mark A. Halawa 90 hört durch ihre tychistische Qualität niemals damit auf, Anlässe für semiosisch zu bewältigende Zustände des Zweifels zu geben. Eben diese Einsicht scheint Shiff zugrunde zu legen, wenn er davon berichtet, dass er zögere, bei der Betrachtung von Twomblys Kunst „eine fixe Logik zur Anwendung zu bringen. Vielmehr scheint es mir so, dass sich meine Sinne und mein Geist selbständig machen müssen, dass meine natürliche Beziehung zu Twomblys Kunst erfahrungsbezogen und in fließendem Sinne tychisch zu sein hat und dass es insofern ebenso möglich wie wahrscheinlich ist, mit jedem Blick eine neue Bedeutung aufscheinen zu sehen.“ (Shiff 2012: 232) Mit Blick auf die eingangs geschilderte zeichenkritische Tendenz innerhalb der zeitgenössischen ästhetischen Theorie lässt sich sodann abschließend festhalten: Gerade weil sich speziell unter den Voraussetzungen avantgardistischer Kunstpraktiken nicht ohne Weiteres ein hermeneutischer Übergriff auf die Kunst bewerkstelligen lässt, können wir auf eindrucksvolle Art und Weise über die aisthetischen Kraftzentren des Geistes und Erfahrens belehrt werden. Die ästhetische Erfahrung mag zu einer Aussetzung oder zu einer Blockierung des Sinns führen; das bedeutet aber nicht, dass sie damit auch notwendig zu einer Aussetzung oder Blockierung der Semiose führt. Literaturverzeichnis Apel, Karl-Otto 1975: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag Aristoteles 1995: Nikomachische Ethik, nach der Übersetzung von Eugen Rolfes, bearbeitet von Günther Bien, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 3, Hamburg: Felix Meiner Verlag Ayer, A.J. 1978: „Introduction“, in: William James: Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking / The Meaning of Truth. A Sequel to Pragmatism, Cambridge, Mass./ London: Harvard University Press, S. vii-xxx Barnouw, Jeffrey 1988: „‚Aesthetic‘ for Schiller and Peirce: A Neglected Origin of Pragmatism“, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 49, No. 4, S. 607-632 Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. 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Halawa (eds.): Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 228-248, hier: S. 237