eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
361-2

Die Undurchdringlichkeit der Zeichen

2013
Chris Bezzel
Die Undurchdringlichkeit der Zeichen Chris Bezzel Der Aufsatz versucht, dem ästhetischen Prinzip abstrakter und konkreter Kunst am Beispiel der internationalen Bewegung der Konkreten Poesie und der Visuellen Poesie seit den 50er Jahren und am Beispiel des Werks von Cy Twombly näherzukommen. Was Twombly betrifft: Die berechtigte Bewunderung für ihn ist größer als unsere Fähigkeit, Begriffe für sein Werk zu finden. Schon Roland Barthes hat in seinem kleinen Buch über ihn viel wortreicher als gedankenreich geschrieben. Folgende These soll plausibel gemacht werden: Die ästhetische Revolution nach 1900 zeigt sich bei näherer Betrachtung als konsequente Fortsetzung mit neuen Mitteln -, ohne dadurch ihren revolutionären Charakter/ Kern zu verlieren. Neue Kunst ist Kunst, die zeigt, nicht beschreibt. Sie zieht die Konsequenz aus der Erkenntnis, daß der Glaube an die Beschreibbarkeit der Welt ein Irrglaube ist. Mit Lyotard kann man sagen: In dieser neuen Kunst spielt „Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares an“, sie verweigert sich „dem Trost der guten Formen“, die Künstler arbeiten, sagt er etwas kryptisch, „um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird.“ (Lyotard 1990: 47f.) Bereits 1960 hat der heutige Nobelpreisträger Günter Graß, der während der Verfemung der „entarteten Kunst“ aufgewachsen ist und sich noch 1985 in einer Rede vehement gegen die abstrakte Kunst gewandt hat (FAZ: P.Bahners), bereits hochgelobt für seine 1959 erschienene „Blechtrommel“, auf einem Schriftstellerkongreß in Berlin (Sektion „Lyrik“) , an dem auch Franz Mon und Helmut Heißenbüttel teilnahmen, die avantgardistischen/ experimentellen/ konkreten Dichter als „Labordichter“ abgewertet (AKZENTE 1/ 1961)). Er knüpfte damit in negativer Bedeutung an Benn an, der 1954 in seiner „Ausdruckswelt“ positiv vom „Laboratorium der Worte“ gesprochen hatte. Zu einem von Franz Mon vorgetragenen Gedicht sagte Graß, es erinnere ihn an das Kinderspiel, etwa das Wort „Blumenkohl“ 20 mal hintereinander zu sprechen, wodurch es jeden Sinn verliert (Ebd.). Trotz Graß und den später folgenden Schmähungen der sogenannt Engagierten Literatur blühte die Konkrete Poesie in den 6oer Jahren in Deutschland erst richtig auf, einige Autoren, z.B. Helmut Heißenbüttel, viel später Ernst Jandl, wurden neben der Wiener Gruppe marktfähig. Die Konkrete Poesie scheiterte nach etwa 10 Jahren auf dem Markt nicht so sehr durch die Anfeindungen der sog. „engagierten Literatur“, von der heute keine Rede mehr ist, als vielmehr am Unverständnis des Publikums. George Braque hat gesagt: „Kunst ist dazu da, um zu verwirren.“ So gesehen hatte die Konkrete Poesie großen Erfolg, bevor sie öffentlich ad acta gelegt wurde (d.h. die Autoren keine Verlage mehr fanden). An der marktgängigen Literatur heute ist nichts Verwirrendes zu bemerken. Seit längerem scheinen wir es mit dem Ende der Lyrik zu tun zu haben, obwohl es noch viele jüngere konkrete Autoren gibt (z.B. Franz Josef Czernin, Margret Kreidl). Die wenigen, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Chris Bezzel 62 ernst zu nehmenden (eher traditionellen) jüngeren Autoren sind durch die Schule der Konkreten gegangen (Ulrike Draesner, Marion Poschmann). Die Konkrete Poesie hat die Kunstrevolution seit 1900 und die neue Weltkunst seit den 40er Jahren aufgenommen und poetisch fruchtbar gemacht. Es zeichnet die spätbürgerliche Gesellschaft aus, daß sie Hermetismus (etwa die des späten Celan) eher toleriert als vermeintlichen Formalismus oder sogar eine ironisch-spielerische Haltung zur Welt. Daß die konkrete Poesie dennoch, wenn überhaupt, nur für das Bildungsbürgertum zugänglich ist, stellt ein anderes Problem dar. Wie die abstrakte Kunst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zieht die Konkrete Poesie die ästhetische Konsequenz aus der Katastrophe der zwei Weltkriege, aber ebenso aus der Entwicklung der abendländischen Dichtung seit der Sappho. Während sich die traditionelle Literatur seit dem 19. Jahrhundert bis heute dem Abbildfetischismus wie dem Psychologismus verschrieben hat, setzt die Konkrete Poesie den Konkretismus, die Sinnlichkeit der Lyrik mit neuen Mitteln fort. Eine der Bedeutungen des Beiworts „konkret“ meint die sprachliche Materialität. Diese betont, überbetont sie vielleicht manchmal in ihrer Opposition gegen den bürgerlichen Mimetismus und Subjektivismus, die Phantasmen des Expressionismus, des Utopismus wie des Faschismus, aber auch des dogmatischen „Sozialistischen Realismus“. Wenn man zurecht Sprachkritik als den Kern der Konkreten Poesie bezeichnet, meint man dabei nicht nur die Kritik der Ideologien, sondern des poetischen Schreibens aus dem poietischen Umgang mit der Sprache, die Ablehnung des Glaubens an die Proposition als logische „wahre“ Aussage und die Zurückweisung des rein instrumentellen Sprachausdrucks, der Sprache als bloßes Gedankentransportmittel (letztlich die Kritik des semiotischen Referentialismus). Doch hält sie das Prinzip der emphatischen Kunst bei. Das Lautgedicht ist aufzufassen als ein Komplement zur traditionellen Lyrik - wie die „dunkle Materie“ zur sichtbaren gehört. Das klassische Zeichen ist subjektiv, mimetisch, idealistisch. Das Zeichen der Konkreten Poesie ist antisubjektiv, antimimetisch, sprachrealistisch. Die beiden Dichtungsweisen treffen sich nicht in der Intention, aber in der zentralen Rolle der Form. Der springende Punkt dabei ist die Dimension der Materialität. Ich will zeigen, daß die Entwicklung zu einer neuen Form und Rolle der Materialität führt, wozu ich den Begriff der Undurchdringlichkeit (der Zeichen) verwende. Dieser Begriff stammt von Proust, der an einer unauffälligen Stelle schreibt: „In einer Sprache, die wir verstehen, haben wir die Undurchdringlichkeit der Laute durch die Transparenz der Gedanken ersetzt. Aber eine Sprache, die wir nicht kennen, ist wie ein verschlossener Palast …“ (Proust 1979: 766f.) Dichtung ist - ich bitte Herder um Verzeihung - eine Art „Fremdsprache“, und sie bleibt es in gewisser Weise, auch wenn sie verstanden und genossen wird. Es bleibt bei einer, nun allerdings faszinierenden Undurchdringlichkeit der Zeichen, und das in der modernen Kunst, der abstrakten Malerei wie der Konkreten Poesie umso mehr, als der geistige Gehalt nicht ablösbar vom Werk, vom Ort der Artikulation ist. Ich gehe davon aus, daß man, mit einer gewissen Distanz, von einer Einheit der europäischen Dichtung seit der altgriechischen Lyrik sprechen kann. Was in der Malerei evident ist, nämlich die Konsequenz der Entwicklung, z.B. vom Impressionismus bis zur informellen Kunst, ist für die Dichtung vom Dadaismus bis zur Konkreten Poesie nicht so klar zu sehen. Aber man schmälert ihre Verdienste nicht, wenn man mit Wagenknecht feststellt: „Sie hält fest am Begriff der Kunst und hat die Poesie emphatisch erneuert.“ (Wagenknecht 1971: 10). Der Dualismus gegenständlich/ abstrakt wird auf höherer Ebene aufgehoben wie der Dualismus traditionelle/ konkrete Dichtung. Dichtung, die den Namen verdient, ist „konkret“. Die Die Undurchdringlichkeit der Zeichen 63 Gedichte der gesamten europäischen Tradition sind nicht paraphrasierbar im genauen Sinn. Und in der Malerei ist die Strichführung nicht variierbar. Es kommt auf den genauen Wortlaut bzw. die genaue Form an. Die Artikulationsgestalt bestimmt die Bedeutungen essentiell, das Gedicht lebt als wiederholbare Artikulation. Artikulation ist eine physiologische Verbindung des zeichengebrauchenden Menschen mit der physischen Welt. Distanziert ausgedrückt, könnte man sagen: Dichtung ist eine ästhetische Ausarbeitung, Verlängerung, Transposition dieses Prozesses (Rezitation und Theater gehören dazu). Artikulation bedeutet in der Dichtung, über die phonetische Artikulation wie die geistig-semantische im Sinn von Humboldt hinaus, das Ansetzen am Nullpunkt der Sprache, d.h. beim Schweigen. Jedes Wort, jeder Laut ist hier Setzung, materiell-lautliche (oder graphische) Setzung. Diese Setzung entspringt subjektivem Impuls, ist konkreter als der traditionelle „Einfall“, der bereits einen ganzen Textinhalt meint, sie ist subjektiv; aber sie ist nicht subjektivistisch, denn sie geht nicht aus von einer (abstrakten) Ich-Setzung, sie ist spontane Entäußerung, Affirmation eines Materials, das von überall her kommen kann. Sie ist also keine semantische Benennung, kein Name im üblichen Sinn. Franz Mon hat 1959 in seinem ersten Buch „artikulationen“ einen empirischen Begriff von Artikulation entwickelt, er hat den idealistischen Artikulationsbegriff von Humboldt materialisiert: „sprechen, das sich zur poesie umkehrt, ist ein versuch, des selbstverständlichsten, das unter den komplizierten und aufreibenden arbeiten der sprache vergessen wurde, habhaft zu werden. poesie geht darin nicht auf, aber sie fahndet danach, sie braucht die primitive materiale erfahrung.“ (31f.) Bildhaftigkeit, „anschaulichkeit“ (ib.) ist nur eine der Qualitäten von Poesie, und nur in der mimetischen Kunst kann sich der sog. geistige Gehalt ablösen von der sinnlichen Form. Als wiederholbare Artikulation erhebt sich sozusagen das verstandene traditionelle Gedicht oder das Gemälde in die Höhe des individuellen sog. Geistes: Den „Gehalt“ eines Goethe- oder eines Rilke-Gedichts kann ich präsent haben, ohne den Wortlaut zitieren zu können. Bei der Lyrik vom Dadaismus bis zur Konkreten Poesie ist das nicht mehr der Fall, ebensowenig wie bei der abstrakten Malerei, z.B. bei Cy Twombly. Die alte Redensart „Das muß man gesehen haben“, bekommt eine neue Dimension, Abbildungen etwa der großformatigen Bilder von Twombly sind ungenügend für das Verständnis. Die visuelle Poesie, aber auch die akustische Dichtung sind durch ihre verschiedenen Verfahren, vor allem die Permutation und die Collage, nur noch sozusagen „am Ort“ (auf der Druckseite) zu studieren. Das große Verdienst Saussures ist die Begründung einer stringenten Sprachwissenschaft durch seine nicht-repräsentationistische Zeichentheorie. Saussure zögert, den Begriff des „signe“ für die Doppelheit Signifikat - Signifikant zu verwenden, weil sein arbiträrer Zeichenbegriff nichts mehr mit dem der Tradition bis zurück zu Aristoteles zu tun hat. Es war legitim, daß er quasi-mentalistisch einen staubfreien und körperlosen Zeichenbegriff postuliert hat, der den paradoxen „Mechanismus der Sprache“ (Saussure), die Tatsache, daß die Sprache kein „Wesen“ (Saussure 1997: 414) besitzt, beschreiben kann. Der Signifikant ist als „image acoustique“ nur mental, und er bildet mit dem Signifikat die Doppelexistenz des Zeichens (signe). Über dieser großen Leistung wurde, angefangen bei den Herausgebern des „Cours“, de facto vernachlässigt, was die Dialektik von langue und parole zu nennen ist. Daher kommt es, daß man mit Erstaunen im Nachlaß Saussures konkretisierende Sätze liest wie: Ein Wort „verwirklicht“ seine „‚Existenz‘ … durch eine Kombination von Mundhöhlen-Tatsachen [‚faits buccaux‘] mit einer mentalen Operation, welche zu einer ganz anderen Ordnung gehört …“ (F 414) Chris Bezzel 64 Saussure denkt (mit der Dialektik von langue und parole) etwas, das man „volles Zeichen“ nennen kann. Das bedeutet: In jeder mündlichen Kommunikation spielt die Materialität des Wortes, die Lautung, die initiale Rolle, angefangen bei der Stimme und ihren Qualitäten. Die „Kombination“ wirkt sich umso deutlicher aus, je weniger das „Sprechen“ rein informatorisch bestimmt wird: - im entspannten Gespräch - im mimetischen Verhalten (z.B. im Parodieren anderer) - in Sprachkritik (phonetisch-lexikalisch) - in Wortspiel und Witz Materialität ist die Basis des linguistischen Zeichens. Wie immer die Phoneme einer Sprache gebildet werden, sie müssen hörbar sein. Im routinierten oder automatisierten Sprechen wird die akustische Materialität jedoch kaum gefühlt, im Schrifttext ersetzt durch eine graphische. Saussure hat das volle Zeichen gedacht, aber nicht klar genug ausgedrückt. Beim vollen Zeichen geht es um den langue und parole einenden „Sinn“ der Wörter, Sätze, Texte. Und in diesem Gesamtsinn steckt die zunächst subjektiv empfundene Gestik des Klangs, sowohl der Färbung als auch der artikulatorischen Progression (Ich sage Gestik, um den Begriff „Bedeutung“ zu vermeiden). Wendet man Saussures Theorie auf die Dichtung an, ist zu sagen: In der Dichtung handelt es sich nicht nur, wie in der Alltagssprache, um das in der parole performierte Zeichen, sondern zur poetischen Kommunikation (zum Text) gehört die Beachtung, die Einplanung, die Instrumentierung von Lautbedeutung, die nicht metaphysisch, sondern artikulatorisch einerseits, andrerseits durch innerassoziative Erfahrungen begründet ist. Bekanntlich wußten schon Marx und Engels: „Der ‚Geist‘ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie „behaftet“ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt.“ (MEW 3: 30) Für die Alltagssprache gilt das insofern nur eingeschränkt, als wir durch alltäglich häufige Paraphrasierung den materiellen Wortlaut relativieren (Wieviel Uhr ist es? versus Kannst du mir die Zeit sagen? ). In der Dichtung dagegen kommt es unaufhebbar auf den genauen Wortlaut, den „vesten Buchstab“ (nach Hölderlin) an. Ein nur gedachtes Gedicht kann kein Gedicht sein. Das volle ästhetische Zeichen lebt nur im Artikulationsprozeß und durch ihn. Man kann auch von einer Balance der phonetischen, syntaktischen und semantischen Komponente sprechen. Schon durch die Theorie von Roman Jakobson wurde klar, daß die „poetische Funktion“ keineswegs auf die hergebrachte Dichtung beschränkt, sondern in quasi verdünnter Form ein alltägliches Phänomen ist, und nicht erst, wenn ein Kind z.B. ein Mühlenerlebnis wiedergibt mit der Artikulation „Räder rumdrehn gehn sehn“. Die abstrakte Kunst wie die Konkrete Poesie realisiert in ungegenständlicher, aber sinnlicher Form das volle Zeichen der klassischen Lyrik, von der Sappho bis zu Celan. Noch immer geht es um die Balance der drei linguistischen Komponenten, der phonetischen, der semantischen und der pragmatischen, jetzt aber ohne die Fiktion der Referenz im alten Sinne, im Bewußtsein der Materialität des Zeichens. Die entscheidend vom Dadaismus beeinflußte Konkrete Poesie seit den 50er Jahren (des letzten Jahrhunderts) sehe ich als Fortsetzung der Bemühung um das volle Zeichen auf neuer Stufenleiter, nämlich der materiellen. Die Undurchdringlichkeit der Zeichen 65 Der Schwierigkeitsgrad, aber auch die Übermacht der Merkantilisierung wie der sogenannten engagierten Literatur führten gesellschaftlich schon in den 80er Jahren zur Ausgrenzung der Konkreten Poesie, die heute nahezu unbekannt ist. Die gesamte marktgängige Literatur betreibt Entmaterialisierung. Unserer „konsumistisch“ genannten Ära entspricht - nach Agamben - der abstrakte Verbrauch statt des Gebrauchs und Genusses. In jeder sprachlichen Äußerung spielen die sog. Konnotationen eine wichtige Rolle. Dichtung geht darüber hinaus. Ihre artikulatorischen Verfahren (Lautwiederholungen und -differenzen usw.) produzieren je Text eigene poetische Notationen. Die sognannten „Klangfärbungen“ sind konstitutiv, sie sind nicht die beliebige Folge der gerade zur Aussage gewählten Wörter, Wortwahl und Wortklang bilden eine Dialektik, Wort und Gedanke, Laut und Sinn bestimmen sich gegenseitig. Die Folge ist, daß es keine Alleinherrschaft des sog. „Themas“ gibt. Eher ist die Klanglichkeit der Sprache die Basis. Man könnte sagen: Gedichte als volle Zeichen zu verstehen und zu genießen, heißt: sie wie Lautgedichte zu verstehen, was nicht heißt, nur ihren Klang zu hören. Das Lautgedicht arbeitet mit freien Lautgesten, die aber nicht identisch sind mit Onomatopoiien. Die Kunst seit 1900 und noch einmal spektakulär die abstrakte Kunst stellt eine revolutionäre Erweiterung im Sinne einer universellen ästhetischen Funktion dar. Im selben Geist arbeitet die formbewußte Konkrete Dichtung. In einem anschaulichen Satz von Franz Mon drückt sich die metasubjektivistische Tendenz der Konkreten Poesie deutlich aus: „Ich befinde mich in einem Kraftfeld von vielem.“ (AKZENTE 1/ 1961 ). Entscheidend für die Lyrik vor ihrem Ende ist die unbegriffliche Bedeutung. Sie wird erzeugt - durch den Klang - durch die Metaphorik - durch die Bildlichkeit der Benennungssprache selbst, die textuell überdeterminiert/ inszeniert wird. Das Erbe des „Abendlands“ ist emphatische Kunst. Emphatisch heißt nicht pathetisch, nicht sentimental, nicht peinlich. Abendländische Lyrik (seit der Sappho) ist substanziell Bedeutung in hörbarer Form, nicht nur rhythmisierte sprachliche Information. Sie ist Bedeutungs- Musik. Ihre Mimesis liegt nicht in der Abbildung, einem Verhältnis von Zeichen zur Realität, sondern in der „Aufführung“, der Wiederholung der Artikulation des Autors, der Rezitation oder (geschichtlich später) dem leisen, aber akustisch vollzogenen Lesen. Beim im 19. Jahrhundert berühmtesten deutschen Gedicht, Goethes „Wandrers Nachtlied“ ist z.B. der semantische Gehalt leicht paraphrasierbar, unlyrisch und banal. Es kommt nicht nur auf die versteckte symbolische Bedeutung (Todesdrohung) an, sondern auch auf den genauen, auch vokalsymbolischen Artikulationsablauf (via Zunge-Mund-Motorik als begleitender Parallelismus zum beschriebenen Außengeschehen) an. Hölderlins „vester Buchstab“ meint weder die Schrift noch ein Dogma, sondern die wiederholbare Gültigkeit der exakten Lautform der Dichtung, eben die Undurchdringlichkeit, zu der die unsichtbare Harmonie im Sinne von Heraklits unsichtbarer „harmonia“ gehört. Prousts Bestimmung, daß ein Vers der „Leib einer Idee“ (1979: 1309) sei, meint nicht die pure Verkörperung von Gedanken, was nur Onomatopoiie wäre. Vielmehr entstehen aus den zunächst ja arbiträr gegebenen, Sprachklängen durch die poetische Textarbeit neue Bedeutungen, die als Konnotationen zu bezeichnen eine unzulässige Verkürzung wäre. Es sind poetische Notationen. Lyrik ist nicht der Versuch, schöne Gedanken schön auszudrücken, sondern der Impuls, aus Sprachklängen neue Bedeutungen herauszuarbeiten. Chris Bezzel 66 Bei dem offenen Artikulationstext „aus was du wirst“ von Franz Mon (Mon, Anhang) ist der Titel wohl sehr weit und metaphorisch aufzufassen, der artikulatorische Vollzug des Textes ergibt eine komplexe und rätselhafte phonetische Gestalt. Das visuelle Gedicht von Timm Ulrichs (Ullrich, Anhang) veranschaulicht eine Dialektik von Ordnung und Unordnung mit typographischen Mitteln, indem es zeigt, daß die Vorsilbe unin Unordnung bereits im Wort „Ordnung“ enthalten ist. Was emphatisch Gedicht hieß, findet offensichtlich mit Rilke und Celan seinen Abschluß, bei Benn wäre schon von einer nostalgischen Reprise zu sprechen. Hans Arps Lyrik folgt bereits einer offenen Textvorstellung. Das reduktionistische späte Gedicht von Brecht (zum Beispiel „Radwechsel“) oder Günter Eichs erste Nachkriegsgedichte (zum Beispiel „Inventar“) drücken als neue Form die historische Krise und den Versuch eines Neuanfangs aus. Die anti-subjektivistische Dekonstruktion war unerläßlich. Solche Gedichte sind Vorformen der konkreten Poesie. In der Konkreten Poesie vereinigt sich der antitraditionalistische Reduktionismus mit den Innovationen der abstrakten Kunst, was verstärkt wird durch einen neuen Sprachbegriff (plus Textbegriff), der von der Arbitrarität des Zeichens à la Saussure ausgeht, was eine doppelte Arbitrarität bedeutet: die des Zeichens zur Objektwelt und die des Signifikanten zum Signifikat. Ebenso geht die Konkrete Poesie von der grundsätzlich überindividuellen Kollektivität von Sprache als parole aus. Weit entfernt, die semantische Signifikation der Wörter zu leugnen, aktiviert die konkrete Poesie vielmehr die Relation von Signifikant und Signifikat, indem sie (wie die klassische Dichtung) mit dem Wortklang, der unbegrifflichen Ausdrucksbedeutung arbeitet und die Verselbständigung des konzeptuellen Signifikats relativiert. Die Konkrete Poesie geht aus kultur- und ideologiekritischen Gründen zum Nullpunkt der Sprache, der sprachlichen Artikulation zurück, ja zum Vorsprachlichen (und in der visuellen Kunst zur Schrift). Was Syntax heißt, ist für sie offen und kann es sein, weil sie zugleich von der Textualität der sprachlichen Äußerung ausgeht. Aus dem sprachpragmatischen Realismus folgt die konstitutive Einsicht in die Intertextualität. Auf das starke Bewußtsein von Intertextualität geht die Rolle des Zitats (des direkten wie des indirekten) zurück, und die Collage orchestriert die Intertextualität. Helmut Heißenbüttel spricht von „einer Tendenz zum authentischen Material“ in der Literatur des 20. Jahrhunderts als Konsequenz aus Joyce, Proust, Stein und Kafka, hinter die kein reflektierter Autor zurückfallen könne. Die Konkrete Poesie geht davon aus, daß jedes Wort, jeder Satz, jeder Text Intertext ist, was bedeutet, daß die sprachliche „Kreativität“, von der Chomsky ausging, stark zu relativieren ist. Die Konkrete Poesie sieht also nicht vom Sprachgebrauch ab, vielmehr leugnet sie (wie Saussure), daß es die Sprache im luftleeren Raum gibt. Sprache ist zwar als langue nach Saussure ein relativ zu einer Zeit verfestigtes System; aber sie verdankt sich grundsätzlich und immer nur der parole, dem gesellschaftlichen Sprechen. Die Sprache ist der Sprach-„Bestand“, aber immer nur einer Gegenwart oder einer verlebendigten Vergangenheit. Proust hat die Intertextualität im Alltagsleben literarisch schlagend und einfach formuliert: „Ein großer Teil von dem, was wir sagen, (ist) nur Wiederholung eines bereits vorhandenen Textes.“ (IIX 2891) Eine Definition der Konkreten Poesie lautet: „Concrete poem (sic) communicates its own structure: structure-content. Concrete poem is an object in an by itself, not an interpreter of exterior objects…Its material word (sound, visual form, semantical charge)“ (Campos, A./ Pignatari/ Campos, H. 1958). Die Undurchdringlichkeit der Zeichen 67 Darüber hinaus entsteht m.E. gerade durch eine Dialektik von Inhalt und Form auf höherer Stufe eben die Undurchdringlichkeit der Zeichen, eine Materialität, die mehr als krude Materie ist. Im deutschen Sprachraum entstand die Konkrete Poesie um 1950. Sie wurde von der Wiener Gruppe zum Programm erhoben. Kritik der gerade geltenden Tradition ist häufig mit der Wiederaufnahme einer früheren Tradition verbunden. Im Fall der Konkreten Poesie war das bekanntlich der Rückgriff auf den nach seiner Verwerfung durch den Nationalsozialismus verschollenen Dadaismus. Es ging aber nicht nur um eine Art literaturgeschichtlicher „Wiedergutmachung“, sondern um Kritik an der spezifischen Art der Fortsetzung des Expressionismus und/ oder dem Rückfall ins 19. Jahrhundert (Beispiel: Josef Weinheber). Insofern kann man sagen: Die Basis der Konkreten Poesie ist Kritik an allen großen Worten und Phrasen, auch denen der mehr oder weniger expressionistischen der Nachkriegsdichtung, in der Dichter wie Günter Eich eine Ausnahme waren. Die Konkrete Poesie, von der sog. Engagierten Literatur als l’art pour l’art verschrieen und mit dem Verdikt „unpolitisch“ versehen, was in den 70er und 80er Jahren „reaktionär“ hieß, hat in ihren genuinen Produktionen eine politische Funktion, die bei ihrem radikalen Sprachbegriff ansetzt und sie der Sprachlenkung entzieht. Günter Eich hat sich in seiner „Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises“ bereits 1959 klar dazu geäußert. Die konkrete Poesie ist, gerade in ihrem Experimentalcharakter, auch kritisch gegen positivistische Wissenschaft im Interesse der Macht. Tragisch-ironischerweise stand hinter der Argumentation der Gegner in den 60er bis 80er Jahren in Deutschland, selbst oder grade bei Linken, unbewußt die Nazi-Ideologie des Kampfes gegen die sog. „entarteten Kunst“, wozu man wissen muß, daß die erst sehr langsam in den 50er Jahren in Deutschland wieder rezipierte abstrakte Kunst heiß umstritten war. In Nürnberg z.B. gab es erst 1955 eine erste Kandinsky-Ausstellung, an der sich die sogenannten Geister schieden. Obwohl es eine Reihe jüngerer Autoren der Konkreten Poesie gibt, ist diese Literatur heute fast unbekannt. Der Grund waren weniger die Kampagnen der sogenannten „Engagierten“ und der Traditionalisten bis zu Reich-Ranicki als der Schwierigkeitsgrad der experimentellen oder Konkreten Poesie (einschließlich der Visuellen Poesie). Die Collage wie die Montage haben als Basis den Zufall, das zufällige Zusammentreffen des Unterschiedlichsten. Collage hat prinzipiell mit der Grundbefindlichkeit unseres Lebens zu tun, sie ist ein Versuch, sie zur Geltung zu bringen und zu bearbeiten. Eine Funktion der Collage ist es, die Zerrissenheit des modernen und heutigen Lebens aufzuheben in ästhetischen Genuß. Montage und Collage betreiben eine Poetisierung durch asyntaktische Fügungen. Diese Poetisierung der A-Syntax ist nicht beliebig, sondern folgt jeweils textimanenten Regeln. Die Funktion der Collage seit Schwitters ist verwirrend vielfältig: - lustvolle Destruktion - Gesellschaftskritik durch Sinnzerstörung - Traditionskritik - Lebenskritik - Ästhetisierung des Zufalls. Realitätsgehalt (durchaus im Sinne von Mimesis) zeigt sich bei der Collage im „surfing“, d.h. dem der technisch-sozialen heutigen Realität entsprechenden Gleiten und Drübergleiten, dem Chris Bezzel 68 wir beim Zeitungslesen (lustvoll) oder beim Lesezwang heterogener Werbeschriften in den städtischen Straßen ausgesetzt sind. Trotz der Klarheit des Grundprinzips und trotz ihrem Ruf bei den Gegnern ist die Konkrete Poesie, auch die deutschsprachige, keine enge Bewegung, sondern vielgestaltig als akustische, visuelle und gemischte. Die frühen einengenden Definitionen etwa von Eugen Gomringer setzten sich nicht durch. Die Unterschiede zwischen Ernst Jandl und Franz Mon, zwischen Oskar Pastior und Claus Bremern, zwischen Gerhard Rühm und Reinhard Prießnitz sind erheblich, zu schweigen von der heute schreibenden jüngeren Generation (wie Franzobel, Franz Josef Chernin; Margret Kreidl u.a.). Und Helmut Heißenbüttel, der mit seinen „Textbüchern“ (1 - 6) am bekanntesten wurde, steht - trotz seiner begleitenden theoretischen Texte, reflektiert zwischen den Fronten und propagierte eine „offene Literatur“. Der ästhetische Bezug der Konkreten Poesie zur modernen Malerei läßt sich an vielen Malern zeigen, aber bei dem Amerikaner Cy Twombly stößt man auf einen Kern. Indem Twombly in den Bildern der 50er und 60er Jahre eine große Menge von graffiti-artigen Schraffuren auf eine riesige Malfläche setzt, scheint er Realität abzubilden, eben die international sichtbaren Kritzeleien. In Wirklichkeit fingiert er das nur. Aber die Faszination bleibt bestehen, das Werk bedeutet im Detail „nichts“. Es handelt sich um eine ästhetische Spannung zwischen Komposition und Zufall, action painting und banalisierender Setzung, Aufladung des Nicht-Bedeutenden. Evident bei Twombly ist die Trivialität der Spuren, Strichgruppen oder Farbflecken. Mit dem sogenannten „abstrakten Expressionismus“ hat das nichts mehr zu tun, die Wirkung kommt nicht von einzelnen Flecken oder Strichen. Das Rätsel bei ihm ist die neuartige Bild- Form. Scheinbar gibt es bei ihm keine Komposition. In Wirklichkeit geht es um eine neue Kompositionsform: die Wiederholung ähnlicher oder gleichartiger Strichbündel oder Kritzeleien, was ein immer neues Ansetzen impliziert.Wie beim angeblichen „Wortsalat“ konkreter Gedichte geht es bei Twombly um die jeweilige Zueinander-Ordnung der für sich trivialen Nicht-Zeichen als Gesamtheit. Mit Klees berühmtem Satz „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ gesprochen: Alte Kunst gibt zwar Sichtbares wieder, als Kunst aber macht sie daran etwas sichtbar. Bei Twombly liegt die Undurchdringlichkeit der Zeichen in ihrer Bedeutungslosigkeit und darin, daß sich nicht einfach von einer schönen Komposition dieses Bedeutungslosen sprechen läßt. Das erinnert u.a. an Lautgedichte, insofern auch die Kritzeleien gestische „Artikulationen“ sind. Bei Twombly geht es um mehr als das einfache oder direkte Verstehen. Wie ein Gedicht zu verstehen nicht ohne die Wiederholung des phonetisch-akustischen Artikulationsprozesses möglich ist - reine Gedankenlyrik ist keine Lyrik -, muß man bei Twombly das Bild quasi nach-artikulieren, um ein Ganzes des Verstehens zu erreichen. Das Gesamtzeichen wird dadurch erst volles Zeichen. Man re-konstruiert das Ganze -, wie in der Konkreten Poesie. Dadurch entsteht in neuer Form Aura (etwa bei den Bildern im „Hamburger Bahnhof“ in Berlin). Die Zeichen und Nicht-Zeichen des Bildes „The Italians“ von Cy Twombly (Illustration 1, 1961) bleiben Gekritzel, bis sie integral als „Ereignis“, d.h. ihre komponierte Setzung als exemplarisches Zeigen verstanden werden. Dabei hat das Gekritzel offensichtlich keine provokatorische Funktion, sondern schützt das Werk vor der Verfügbarkeit, der Vereinnahmung und der vorschnellen Wertzuschreibung. Die erste Wirkung ist die eines ready made (als Mauergraphismus). Es handelt sich um eine Steigerung dessen, was Komposition heißt: Die Undurchdringlichkeit der Zeichen 69 Da „Harmonie“ in der heutigen Welt nicht mehr möglich ist, ist eine höhere Komplexität nötig. Woher die Faszination beim Gesamtwerk von Twombly kommt, ist schwer zu sagen; auch Roland Barthes erklärt es in seinem kleinen Buch (Barthes 1983) nicht schlüssig. Für Barthes gilt zurecht: „the artist is…a performer of gestures by definiton.“ (Twombly 2005) Dieser Künstler zeigt die Geste, den „Duktus“ selbst: „Es geht nicht darum, das Produkt zu sehen, zu denken, zu kosten, sondern die Bewegung, die es dazu gebracht hat, wiederzusehen, zu identifizieren, oder gar zu genießen.“ (16f.) Der Strich von Twombly ist nach Barthes „unnachahmlich“, weil er „die Inschrift und das Auswischen, die Kindheit und die Kultur, das Abschweifen und die Erfindung verbindet.“ (Barthes 1983: 20) Nach Barthes transzendiert das ganze Werk von Twombly die „Unterscheidung zwischen dem Produkt und der Produktion“ (29). Durch „Gekritzel“, durch den „Fleck“ und durch „das Geschmier“ lasse Twombly „die Materie als ein Faktum (pragma) erscheinen“ (67ff.). Barthes bringt Twombly ahnungslos ganz richtig in die Nähe der Konkreten Poesie durch seine irrtümliche Behauptung, „das Unglück des Schriftstellers“ sei es, „daß ihm die Graffiti untersagt sind.“ (22) Von Schwitters bis Franz Mon, von Jandl bis Heißenbüttel wird in der Konkreten Poesie der Artikulationsprozeß selbst gezeigt. Dagegen verweist Barthes mit dem lateinischen Begriff des „Raren“ als dem, was Zwischenräume aufweist, mit Recht auf das Phänomen des Raums in dieser Malerei (73). Die Rationalität verläßt Barthes, wenn er, schon schwärmerisch, dem Werk von Twombly „das Mediterrane“ (81) zuspricht (Twombly hat auf der Insel Procida gelebt). Und die Behauptung, seine Kunst sei „eine Kunst des Schocks vielmehr als der Gewalt“ ist nicht nachvollziehbar, da ja grade das Dramatische anderer sog. „amerikanischer Expressionisten“ nicht vorliegt. Richtig fragt Barthes: „Wie ist es möglich, einen Strich zu machen, der nicht dumm ist? “ (31) und nennt Twomblys Kunst „einen unablässigen Sieg über die Dummheit der Striche“. (92) Die konkrete Poesie ratifiziert das Ende der strikten Gattungsgrenzen (seit Joyce, Virginia Woolf, Gertrude Stein). Lange vor der linguistischen Pragmatik der 70er Jahre verwendete sie den Begriff „Text“ für poetische Äußerungen. Auch das impliziert den Material-Begriff, denn in der Collage- und Montagetechnik der konkreten Poesie gibt es keine ausgeschlossenen Sprachbereiche, „Register“ mehr. Das setzt die Einsicht in die Funktion des Zitats voraus, Sprache als überindividuell und grundsätzlich intertextuell, als „Stimmen“, die nicht mehr identifizierbar zu sein brauchen. Die Undurchdringlichkeit der ästhetischen Zeichen führt und soll führen zu eben der Faszination, die den Genuß eines Kunstwerks ausmacht. In gewisser Weise bleibt auch das verstandene Kunstwerk eine „Fremdsprache“. Es ist von einem Ende der Lyrik zu sprechen. Der Tod der Lyrik hat viele Ursachen. Nach zwei Weltkriegen und dem Völkermord mußte Schluß sein mit dem „Rühmen“ und dem Pathos, auch dem expressionistischen. (Das zeigt in Deutschand die sog. Kahlschagliteratur, vgl. Günter Eich.) Dazu kam eine Entmythologisierung und Entsakralisierung der konstitutiv aufgeklärten, aber noch rest-religiösen Dichtung der Tradition, bei der es sich eben doch um eine Art Ritual handelt. Die Lyrik fiel informatorischer und konsumistischer Trivialisierung zum Opfer, wo es nicht gelang, die notwendige Rationalität poiietisch-dialektisch aufzuheben, wie es die Konkrete Poesie seit dem Dadaismus tut, indem sie mit der Banalität arbeitet. Die radikale Zeichenverkürzung ist ein Mittel gegen leeres Pathos und jede Form der Ideologisierung (Innerlichkeit). Neue Gedichte, die den Namen „Lyrik“ verdienen, sind m.E. nicht mehr mit der alten Kategorie „des Lyrischen“ beschreibbar. Ein Beispiel wäre Daniel Falb (Falb 2009). Chris Bezzel 70 Vielleicht ist es so: Die Konkrete Poesie hat seit dem Dadaismus zu einer großen Verstärkung des Sprachspielerischen im Sinne einer ideologiekritischen Lockerungsübung geführt. Insofern war sie durchaus im Sprachlichen nicht unproblematisch beteiligt an der heutigen Situation der raffiniert-verspielten Wirtschaftswerbung, deren Betrugscharakter gleich bleibt. Die Wirtschaftswerbung hat sich in der westlichen Wohlstandsgesellschaft vieler Mittel der Konkreten Poesie bemächtigt, während die Konkrete Poesie selbst dabei ist, unbekannt zu werden. Die Dialektik besteht hier darin, daß man trotz unerfreulicher sogenannter „Spaßgesellschaft“ dennoch nicht deren Vorzug der Abschaffung repressiver Ideologien unterbewerten darf. Die „Undurchdringlichkeit der Laute“, von der Proust bei fremdsprachlichen Äußerungen, die wir nicht verstehen, spricht, besteht in der Poesie - so können wir jetzt sagen - in dem, was James Joyce in „Finnegans Wake“ als Forderung so formuliert hat: „[to] begin again to make soundsense and sensesound kin again.“ (Joyce 1965: 121) Bibliographie Barthes, Roland 1983: Cy Twombly, Berlin Campos, Augusto de / Pignatari, Decio / Campos, Haroldo de 1958: "Plan pilota para poesia concreta", in: Noigrandes 4. Falb, Daniel 2009: Bancor. Gedichte. Idstein Gomringer, Eugen (Hg.) 1972: konkrete poesie. deutschsprachige autoren, stuttgart. Heißenbüttel, Helmut 1971: "Anmerkungen zur konkreten Poesie", in: Konkrete Poesie I, TEXT + KRITIK, 25, 19-21. Joyce, James 1965: Finnegans Wake, New York Mon, Franz 1959: artikulationen. Pfullingen Mon, Franz 1961: An einer Stelle die Gleichgültigkeit durchbrechen. In: AKZENTE 1/ 1961 Proust, Marcel 1979: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt/ Main Saussure, Ferdinand de 1997 : Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß, Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr, Frankfurt Twombly, Cy 1992: In: Bastian, Heiner (Hg.): Catalogue raisonné of the paintings, vol. II, München Twombly, Cy 2005: Fifty Years of Works on Paper, Munich Wagenknecht, Christian 1971: Proteus und Permutation. Spielarten einer poetischen Spielart, in: TEXT + KRITIK 30, S. 1-10 Williams, Emmett (Hg.) 1967: An Anthology of Concrete Poetry. Something Else Press, New York, Villefranche, Frankfurt.