eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
361-2

Konstruktiver Dekonstruktivismus: Die Merz-Kunst von Kurt Schwitters

2013
Peter Rusterholz
Konstruktiver Dekonstruktivismus: Die Merz-Kunst von Kurt Schwitters Peter Rusterholz Kurt Schwitters works certainly are to see in relation of Dadaism and Constructivism, but his Merz-Kunst is marked by different modes of deconstruction and re-creation of traditions. This study describes Schwitters phases of transformations of the materials in art, gives a semiotical analysis of possibilities of perceptions and interpetations on the basis of two characteristic examples: of the Sternenbild (Merzbild 25 A) and of the prose writing Horizontale Geschichte as artworks and as historical documents. Kurt Schwitters ist unbestreitbar ein avantgardistischer Exponent der Moderne. Seine Bilder wie seine Texte bezeugen den praktischen wie den prinzipiellen Bruch mit den klassischromantischen und den realistisch-naturalistischen Traditionen, wie er sich in den späten Zwanziger- und den frühen Dreißigerjahren ereignete. Zwar wurde seine Wirkung durch die nazistische Kulturpolitik der „entarteten Kunst“ erstickt, erlebte aber nach 1945 eine umso bedeutendere Nachwirkung und Anerkennung. Dieter Mersch hat in seinen Vorlesungen zur Kunst der Gegenwart - Kunst und Medium - Merkmale der Kunst der Avantgarde genannt: 1. die Destruktion der Tradition, 2. die Selbstreferentialität der Praxis durch Metareflexion und 3. Die Paradoxalität ihrer künstlerischen Anstrengungen (Mersch 2011: 11-14). Er betont zu Recht, dass die Dekonstruktion traditioneller Begriffe der Kunst und der Ästhetik nicht weniger nachhaltig und einschneidend gewesen sei, als seinerzeit der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. In beiden Phasen der grundlegenden Veränderung ist die Kunst nicht isolierter Schauplatz, sondern Teil eines umfassenden Geschehens, das schließlich alle Bereiche des kulturellen Lebens, der Künste der Wissenschaften und der Politik umfasst. Die genannten Faktoren lassen sich alle leicht in den Texten und Bildern von Schwitters nachweisen. Freilich sind sie in verschiedenen Phasen seines Wirkens zu differenzieren. In der Frühphase der Merzlyrik und der Merzbilder und in experimentellen Texten im Gefolge der Dadaisten scheinen die traditionskritischen Elemente radikaler Negation dominant. Später, in den phantastischen Grotesken und Märchen-Kontrafakturen, zeigen sich nicht nur Aspekte des Traditionsbruchs, sondern auch Momente sicher nicht ungebrochener Rekonstruktion. Seine Äußerungen über sein Schaffen sind oft widersprüchlich und verraten eine durchgehende Ambivalenz, ein Oszillieren zwischen dem eigenen Fühlen, Denken und Wollen. Auch seine Zeichnungen und Bilder verraten unterschiedliche Relationen zur Tradition. Eine Serie seiner Zeichnungen von 1918 dokumentiert seinen Weg zur Abstraktion. Die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Peter Rusterholz 34 1 Siehe dazu Nündel 5. Aufl. 2004: 21-33, Kapitel Kurt Merz Schwitters. norwegischen Landschaftsbilder der Dreißiger- und Vierzigerjahre verraten sowohl die formale Schulung durch die Phasen der Abstraktion als auch die konkrete Anregung durch die ihn umgebende Landschaft. In einem Brief vom 24. Juli 1937 an Katherine S. Dreier, die ihn in Amerika bekannt gemacht hatte, schreibt er, dass „ein neues, sachliches, leidenschaftsloses Studium der Natur, verbunden mit der Wiedergabe der Resultate im Bilde, nicht nur erlaubt, sondern neben der abstrakten Gestaltung wichtig“ sei. (Schulz und Frehner 2011, 7). Den Lautgedichten, den Merzbildern, den Assemblagen eignet aber ein gegenüber der traditionellen Kunst eindeutig völlig differenter Zeichencharakter. Es geht hier vorerst nicht um Signifikanten, die durch die Differenz zu anderen Signifikanten auf eine codierte Bedeutung oder auf einen zu erschließenden Sinn verweisen. Hier wird die Materialität eines Zeichenträgers - in der Begrifflichkeit von Peirce eines representamens - betont, es bedeutet vorerst nur sich selbst, seine Laut- oder graphische Gestalt, seine Materialität. Nicht die mimesis des Wirklichen, nicht die bewusste Intention, sondern das zufällig Gefundene, das phantastisch Eingefallene steht am Anfang der Genese der Bilder und Texte. 1. Die drei Phasen der Genese der Merz-Kunst Der Name ist scheinbar zufällig gefunden worden, ist aber so reich an möglichen Bezügen, dass der Zufall gleich als glücklicher Einfall erscheint. Schwitters hat 1918 aus einer Anzeige der KOMMERZ- UND PRIVATBANK die zweite Silbe KOM-MERZ herausgeschnitten und aufgeklebt auf die Collage, die sein erstes Merz-Bild werden sollte (Hervorh. Autor). Die Genese des Namens entspricht dem Verfahren, das er fortan entwickelt und im „Katalog 20“, datiert am 4.3.1927, beschreibt: Dieses Wort MERZ war durch Abstimmen gegen die anderen Bildteile selbst Bildteil geworden, und so mußte es dort stehen. Sie können es verstehen, daß ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZbild nannte, wie ich ein Bild mit »und« das und-Bild und ein Bild mit »Arbeiter« das Arbeiterbild nannte. Nun suchte ich, als ich zum ersten Male diese geklebten und genagelten Bilder im Sturm in Berlin ausstellte, einen Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht einreihen konnte in alte Begriffe, wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder sonstwie. Ich nannte nun all meine Bilder als Gattung nach dem charakteristischen Bilde MERZbilder. Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung, denn seit 1917 dichte ich, und endlich auf all meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ (Schwitters 2005, 5: 252/ 53). 1 Das MERZ-Bild wird nicht nur zum Namen der neuen Gattung, sondern zur Bezeichnung des Künstlers und seiner Erfahrung der Kunst und des Lebens. Konstruktiver Dekonstruktivismus 35 2. Die Findung des Materials Im Prinzip kann alles, was sich in der Welt oder in den Kulturen des Alltags oder der Künste findet, Material für Merz-Kunst sein. „Dabei ist es unwesentlich“, wie er in seinem Text Die Merzmalerei (1919) sagt, ob die verwendeten Materialien schon für irgend welchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien (Schwitters 2005, 5: 37). Zwar ist das Finden im Prinzip zufällig. Schwitters berichtet darüber aber mit solcher Begeisterung und mit selten erlahmender Intensität, dass die Frage zumindest erlaubt und offen bleibt, ob nicht schon das Suchen von unbewussten Motiven und dem Willen zur Gestaltung getrieben sei. Jedenfalls wird der Abfall der Welt zum Material seiner Kunst. 3. Das Entformeln der Materialien Das Gefundene wird von den Form- und Funktionskontexten seiner Herkunft isoliert und durch zusätzliche Bearbeitung verfremdet, durch Zerteilen, Verbiegen, Überdecken und Übermalen. Schon diese Vorbereitungen schaffen aber nur schon durch die Art und Weise ihrer Behandlung und durch ihre Arrangements, ihre Kombination Möglichkeiten neuer künstlerischer Gestaltung. 4. Die Phase der Wertung In Die Bedeutung des Merzgedankens in der ganzen Welt (1923) bestimmt er sein Verständnis von Wertung im Kontext der Merzbilder: Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile auf einander beziehen, gegeneinander gewertet sind. […] Das einzig Wichtige im Gemälde ist der Ton, die Couleur. Das einzige Material dafür ist die Farbe. Alles im Bilde entsteht durch die Farbe. Hell und Dunkel sind Werte der Couleur. Linien sind Grenzen von verschiedenen Couleuren. […] Alles Unwichtige stört die Konsequenz des Wichtigen. Daher muß ein konsequentes Bild abstrakt sein. Nur Wertung der Farbe. Wie das Farbmaterial entstanden ist, bleibt gleichgültig beim Bilde. Wichtig ist nur, daß durch Wertung aller Farben untereinander das für das Kunstwerk charakteristische Gleichgewicht entsteht. […] Was das verwendete Material vor seiner Verwendung im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleichgültig, wenn es nur im Kunstwerk seine künstlerische Bedeutung durch Wertung empfangen hat (Schwitters 2005, 5: 133/ 34). Die „entformelten“ Fragmente werden zu Konstrukten einer neuen Ordnung, einer ästhetischen Komposition von Gegensätzen der Materialien, der Linien, der Flächen, der Farben, der Peter Rusterholz 36 Lenkung unserer Wahrnehmung durch die Bildstruktur, die vorerst nichts als sich selbst zu bedeuten scheint, jedenfalls dann, wenn wir eine bestimmte Aussage erwarten. Schwitters Theorie formuliert Maximen abstrakter Kunst, die Prinzipien des Konstruktivismus entsprechen. Schwitters wird auch häufig in diesem Kontext genannt, hat dessen Werke und Theorien gut gekannt und nähert sich ihnen nach den wichtigsten Jahren der „Merzkunst“ (1919-23) noch mehr an. Er blieb allen avantgardistischen Strömungen offen, aber immer ohne sich festzulegen, selbst dem Dadaismus gegenüber eine eigene Position behauptend. 5. Dadaismus und Merz-Kunst Schwitters sieht hier in Theorie und Praxis nicht nur Analogien zum Dadaismus, sondern auch Differenzen. Im Gegensatz zum Dadaismus, der sich als radikale Negation der Kunst inszeniert, ist Schwitters Dada und Anti-Dada zugleich. Nach einem Zeugnis Hans Richters war Dada gegen, Schwitters aber, so Richter, „war absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst“ (Hervorh. im Original, Nündel 2004: 36). In seiner Schrift dada complet 1 setzt Schwitters dem reinen, dem konsequenten Dadaismus sein eigenes Konzept der Kunst entgegen: „Urdada war,“ schreibt er und fährt dann in plakativem Fettdruck weiter „REAKTION auf KUNST und REAKTION auf STIL- LOSIGKEIT.“ Mir ist wichtig festzustellen, daß dada aus Reaktion auf Kunst Nichtkunst mit Bewußtsein sein wollte (Hervorh. im Original).“ Deshalb zerstöre dada die „künstlerische Form durch wahlloses Nebeneinanderstellen, Kunst aber forme „durch Wertung der Teile“ (Schwitters 2005, 5: 149). Dada sei damit nicht entwertet, bekennt er in Tran 50, und würdigt die Bewegung, „die sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit zu heilen, indem sie die Diagnose stellt“. (Schwitters 2005, 5, 179) Den Kunstgelehrten, die Dada als überlebt betrachten und fragen: „Wer sollen solche Leute nach dada etwa sein? “ gibt er die Antwort: „Ich z.B. […], obgleich ich Merz bin, lebe, male, dichte, obgleich ich Gegner von dadá bin, muß ich doch zugeben, daß dadá lebt und bediene ich mich zeitweise dieses Mittels“ (Schwitters 2005, 5, 180). Er sieht sich als Nachfolger mit gemeinsamen Gegnern und als konstruktiver Opponent, der mit seiner Merz-Kunst eine andere Kunst, nicht nur durch Negation, sondern durch Wertung neu schaffen will. 6. Interpretationsprobleme der Merz-Kunst Schwitters Merz-Kunst rechnet vorerst mit dem Choc des Missverstehens. Wer nur flüchtig hinsieht, ist in Gefahr, sie entweder kurzschlüssig auf eine Bedeutung oder einen Sinn zu reduzieren oder als baren Unsinn zu verkennen. Es ist wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, das Bild und seine Wahrnehmung durch uns bewusst zu erfahren. Die Bildhaftigkeit des Bildes zeigt sich nur denen, die seine Wirkungen als Prozess der Wahrnehmung erfahren, die nicht vergessen, dass sowohl für Texte wie für Bilder Morgensterns Zeilen gelten: „Was wohl ist es ungesehen, ein uns völlig fremd Ge- Konstruktiver Dekonstruktivismus 37 2 Aus: Galgenlieder. Der Meilenstein, Strophen 2 und 3: Seltsam ist und schier zum Lachen, daß es diesen Text nicht gibt, wenn es keinem Blick beliebt, ihn durch sich zum Text zu machen. Und noch weiter vorgestellt: Was wohl ist er - ungesehen? Ein uns völlig fremd Geschehen. Erst das Auge schafft die Welt. 3 Siehe dazu: Bredekamp 2010. Er gibt in seiner Theorie des Bildakts die folgende Definition: „Reziprok zum Sprechakt liegt die Problemstellung des Bildakts darin, welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei der Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen. Im Sinne dieser Frage soll unter dem Bildakt eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln verstanden werden, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht (Bredekamp: 2010, 52). Georges Didi-Huberman beginnt seine Beiträge Zur Metapsychologie des Bildes mit den Sätzen: „Was wir sehen gewinnt in unseren Augen leben und Bedeutung nur durch das, was uns anblickt, uns betrifft [Im französischen Original: „Ce que nous voyons, ce qui nous regarde“]. Dennoch ist die Spaltung, die in uns das, was wir sehen, von dem trennt, was uns anblickt, unausweichlich. Man sollte daher noch einmal von dem Paradox ausgehen, wonach der Akt des Sehens sich nur vollzieht, indem er sich zweiteilt.“ Er konkretisiert dies mit einem Satz aus James Joyce’ Ulysses: „ Schließ deine Augen und schau! “ (Didi-Huberman 1999: 11) schehen! Erst das Auge schafft die Welt! “ (Morgenstern: 1956, 194) 2 Allerdings gibt es auch verschiedene Arten und Weisen des Sehens. Wertung kann sehr verschieden verstanden werden, je nachdem wir uns auf die unmittelbare Wahrnehmung, auf die Materialität des Bildes konzentrieren oder auf die mentale Vorstellung, die das Bild evoziert. Je nachdem betrachten wir das Bild als abstrakte Form, als Komposition von Farb- und Flächenkontrasten oder als ikonisches Zeichen mit indirektem referentiellem Bezug auf außerbildliche Aspekte, auf Aspekte historischer Wirklichkeit. Wissen wir schon, was wir sehen, wenn wir die Oberflächen des Bildes beschreiben? Sehen wir das Bild nur als Objekt unseres Sehens oder gilt im Sinne Didi-Hubermans: „Was wir sehen, blickt uns an“? (Didi-Huberman 1999: 11-18) Wird ein Bild nicht als still gestellte Ansicht, sondern in tieferem Sinne erst durch die Erfahrungen der Wechselwirkungen zwischen Bild und Betrachtenden, durch die Erkenntnis des Bildakts im Sinne Horst Bredekamps verständlich (Bredekamp 2010)? 3 7. Das Sternenbild. Merzbild 25 A Ich versuche das am Beispiel des Sternenbilds (1920) zu klären. Der Doppeltitel verweist schon auf die Zwischenstellung dieser Assemblage zwischen dem noch an expressionistische Kunst erinnernden Titel Sternenbild und der Strenge der sich dem Konstruktivismus nähernden Merz-Kunst, Merzbild 25 A. Schon der erste das Ganze umgreifende Blick wird unwillkürlich von unten, dem dunklen, unbeschrifteten Teil, nach oben, zum stärker gegliederten und mit Textfragmenten besetzten Teil nach links gezogen. 4 Zum Sternenbild und zur Deutungsproblematik verdanke ich wesentliche Anregungen Manfred Engel. Sein Fazit aber, als Grundprinzip von Schwitters Merzkunst die „karnevalisierende Collage“ zu bestimmen, scheint mir für viele Texte und manche Bilder zutreffend, aber gerade für das Sternenbild zu eng (Engel: 2006, 291). Wir sehen links außen den Deckel einer Blechdose, rechts davon, nicht ganz oben Nr. 732, evtl. die Nr. einer Postetikette, daneben eine kleine Fahrkarte, rechts zwei aufgenagelte Holzleisten, unter der größeren ein Drahtnetz, übermalte Papiere, eher dunkle Farbtöne, nur gelegentlich durch das helle aber kalte Licht auf einem Segment des Blechdeckels und grün leuchtenden Segmenten aufgehellt. Auffällig der mit Schnur gehaltene Kreis evtl. Kugel etwas links von der Mitte. Die Farb-, die Hell-Dunkel-Kontraste und die Aufteilung des Raumes der Assemblage durch die geklebten, gehämmerten und geschraubten Teile des Materials lassen die einzelnen Teile als sorgfältig komponiertes Ganzes erscheinen. Der beste Kenner von Schwitters Werk, Werner Schmalenbach, hat die Merzbilder von 1919-21 mit Bildern des Kubismus und mit Picasso und Braque verglichen und sie als „Schwitters’ eindrucksvollster Beitrag zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet (Schmalenbach 1965: 114). Im Arbeiterbild und im Sternenbild hätte die Zeit der ersten Nachkriegsjahre „ihren künstlerisch gültigsten Ausdruck gefunden.“ Die Schriftimplantate aber betrachtet er nur als sekundäre Relikte des zeitgeschichtlichen Kontexts (Schmalenbach 1965: 120). Sind sie aber nicht ebenso aussagekräftig wie die formalen Kontraste, gerade auch wegen ihres Fragmentcharakters? Entspricht nicht der Abfallcharakter der bildlichen Darstellung den Defekten der graphischen Aussage? Und verwandeln sich nicht beide im Bildakt? Der Blick der Betrachtenden folgt der Schnur und der größeren Holzleiste von unten nach oben, von den Flächen ohne Beschriftung zu den beschrifteten, zu Die Korrupt - Mathias - Offener Brief. Etwas links, über der dünnen Holzleiste liest man die Aufschrift Rast und beginnt weitere Schriftfragmente zu ergänzen. Damit werden keine eindeutigen Signifikate gesetzt, aber Assoziationsmöglichkeiten gegeben. Mathias kann ergänzt werden mit Ertzberger, Korrupt wird zu Korruption. Das bezieht sich auf den Finanzminister Mathias Ertzberger. Er wurde wegen seiner Finanzreform und weil er den Versailler Vertrag unterschrieben hatte von der politischen Rechten gehasst. Er verlor zu Unrecht einen Prozess gegen den früheren Bankier und Staatssekretär Karl Helferich, der ihn als korrupt verleumdet hatte und wurde 1926 von nationalistischen Freikorpsleuten ermordet. Oben links ist eichsk zu Reichskanzler zu ergänzen, unter dem Blechdeckel erkennt man, klein geschrieben: Erhöhung und Hungersnot. 4 Die Wortfragmente bilden keinen Text, aber sie verweisen nicht nur summarisch auf die Zeit der Genese des Bildes, sondern auf die historischen Symptone der Krise und des Scheiterns der Weimarer Republik. Jedes Bruchstück evoziert einen Aspekt der im Jahr der Entstehung dieses Bildes 1920 besonders akuten Krisen und Nöte der Weimarer Republik. Im Januar 1920 tritt der Versailler Vertrag in Kraft. Die Eisenbahnarbeiter streiken im Ruhrgebiet und in Schlesien. Im Februar gibt Adolf Hitler sein Parteiprogramm bekannt, im März kommt es zum Generalstreik, an dem sich 14 Millionen beteiligen, Reichskanzler und Reichsregierung treten zurück. Die Abfälle, aus denen des Merzbild entstand, scheinen auf die Krise einer zerfallenden Gesellschaft zu verweisen, sie entsprechen sich jedenfalls symbolisch, die Frage bleibt aber, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher ästhetischen Funktion. Schmalenbach betont mit guten Gründen die formalen Qualitäten des konkreten Werks und seine die Zeit überdauernde Qualität und verweist darauf, dass der Künstler sich selbst nicht als politischer Mensch verstanden habe, so dass die Schriftzeichen nur „das Gefühl einer bedrängenden Realität […] der ersten Nachkriegsjahre“ erzeugten. „Die Peter Rusterholz 38 Konstruktiver Dekonstruktivismus 39 Aus: Werner Schmalenbach: Kurt Schwitters. 2. Auflage München (Prestel) 1984. Vorsatzblatt und Angabe im Verzeichnis der Farbtafeln S. 394: Merzbild 25 A. Das Sternenbild. 1920. Assemblage. 104,5 x 79 cm Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Peter Rusterholz 40 vielen lesbaren Stellen aber verführen nicht zur Lektüre; derartig plakativ herausgehobene Wortfetzen werden unmittelbar optisch wahrgenommen, dringen ins Unterbewusstsein schneller als ins Bewusstsein“ (Schmalenbach 1984, 120). Da die Schriftfragmente in diesem Bild aber im Gegensatz zu zufällig erscheinenden Schriftimplantaten in anderen Collagen sehr eng miteinander verbunden sind, bleibt doch die Frage zu bedenken, ob nur die Verwandlung des fragmentierten Abfalls in die Qualität ästhetischer Zeichen oder auch eine tiefere Bedeutung der fragmentierten Schriftzeichen und ihrer Wandlung im ästhetischen Prozess zu reflektieren sei. Inwiefern Schwitters diese Verwandlung auch im Sinne eines gleichsam „mystischen“ Wandlungsprozesses gesehen hat, ist nicht mit Sicherheit zu belegen, wohl aber zu überlegen, wenn wir das Bild nicht nur als materielle Komposition, sondern als dialektischen Prozess der Abwertung und der Neuwertung betrachten. Seinem englischen Mäzen, dem Dichter, Philosophen und Kunstkritiker Sir Herbert Read (1893-1968), schrieb er, nachdem dieser ihn im englischen Exil in seiner Werkstatt besucht hatte, in einem Brief: Sie haben alles genau erfaßt und ausgezeichnet erklärt. Vor allem stimme ich Ihren Bemerkungen über das Mystische in meinem Werk zu, und was Sie über den “rejected stone“ geschrieben haben, drückt vollkommen meine Art zu fühlen und zu arbeiten aus (Nündel 2004: 115/ 16). Was Read mit der Anspielung auf den „rejected stone“ meinte, ist leichter zu erklären als der Bezug zwischen Schwitters Kunst und dem Mystischen. Read bezieht sich auf Psalm 118, 22: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Er bezieht das einerseits auf die Missachtung Schwitters in Deutschland und auf seine Bedeutung als Erneuerer der Kunst, anderseits aber auch auf das Grundprinzip von Schwitters Kunst, aus dem Nichtigen Wichtiges, aus dem Wertlosen Wertvolles zu gestalten. Schwitters Freunde Lothar Schreyer und Hans Arp haben sich intensiv mit Mystik beschäftig, Schwitters liebte es, Mystiker genannt zu werden. Schreyer berichtet von einer Rede des Merzkünstlers, in der es heißt: „[…] wir malen […] ein Bild - das Bild des Glaubens an die Wiederauferstehung, an die Heimholung der Dinge, an die Verkündigung der großen Ordnung, in der all das, was lebte und starb, ein Ding war und Dreck wurde, seinen drecklosen Ort finden wird“ (Darsow 2009: 330). Schwitters hat sich aber selbst nie direkt zur Mystik geäußert, nur in dem Sinne, als er Geist- und Geheimnisvolles mystisch nannte. Die Transformation der Zeichen der Dinge und der Wörter durch Kunst war ihm wichtig wegen einer Wandlung des Menschen und der Gesellschaft, aber nicht in dogmatisch religiösem oder ideologischem Sinn. Vielleicht können wir Schwitters Verständnis von mystischer Rede verstehen, wenn wir den letzten Abschnitt seiner Geschichte Das einfache Leben lesen: „Und nun werden Sie vielleicht lachen, wenn ich Ihnen sage, dass auch ich Ihnen nichts zu erzählen habe. Ich erzähle aber doch in der Hoffnung, daß Sie es verstehen werden, zwischen meinen Zeilen zu lesen“ (Schwitters 2005,3: 42). Schwitters war, wie auch Schmalenbach betont, kein direkt agitierender Autor. Aber seine fragmentierten Lettern aus der Zeitung sind auch nicht, wie Schmalenbach meint, bloße Dokumente einer korrumpierten Sprache und eines korrumpierten Geistes. Sie sind sorgfältig ausgewählt und komponiert. Sie sind wie das verwendete Material der Merz-Bilder und Assemblagen nicht mehr als Abfall, sondern als Seismogramm der Zeit und der Gesellschaft zu verstehen, das zwischen den Zeilen die Frage nach seinem utopischen Gegenbild stellt. Konstruktiver Dekonstruktivismus 41 5 Der tschechische Strukturalist Jan Mukarovsky bestimmt das Kunstwerk als ein Zeichensystem mit ästhetischer Funktion, das heißt als „dialektische Verneinung einer wirklichen Mitteilung“ (Mukarovski 1970: 96). Diese Negation einer direkt referentiellen Mitteilung kann kompensiert werden durch die Konstitution der ästhetischen Mitteilung im Bewusstsein des Rezipienten, der das nur per negationem vermittelte Kommunikationsangebot durch das Ins-Spiel bringen eigener Teilnahme positiviert und so erst das künstlerische Artefakt zum ästhetischen Objekt macht. 6 Schwitters liest Hannover von hinten: „re-von-nah“, siehe dazu Nündel 2004: 18. Damit ist keine eindeutige Deutung gegeben, aber durch die Negation konventioneller Bedeutungsbildung zwingt das Merz-Bild uns zu ständiger Veränderung der Interpretanten und der Objektbildungen und funktioniert als ästhetisches Zeichen im Sinne des tschechischen Semiotikers Muka ovský, der das Zeichensystem der Kunst als „dialektische Verneinung einer wirklichen Mitteilung“ betrachtet (Muka ovský 1970: 96). 5 Den Rezipienten bleibt dann die Chance, durch ihre Erfahrung der Form das ästhetische Objekt zu konkretisieren. Wenn wir die Kunst der Moderne als eine historische Zäsur betrachten, die nicht weniger bedeutend und wirkungsvoll ist als der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, der Zeit der Genese jener Grundsätze, die nun verworfen werden, so gilt dies in besonderem Maße für die Genese der Zentralperspektive und ihr Verschwinden. Ihre Bestimmungen werden in der modernen Kunst weitgehend ignoriert, die dreidimensionale Darstellung durch eine zweidimensionale wie in den Merz-Bildern oder durch eine polyperspektivische wie im alle Künste umgreifenden Merz-Gesamtkunstwerk ersetzt. Eines der interessantesten Prosastücke von Schwitters in diesem Kontext ist seine Horizontale Geschichte. 8. Horizontale Geschichte (1926) Schwitters zählt sie zu den interessantesten seiner Zeitungsgrotesken (Schwitters 2005,5: 255). Die Groteske als paradoxe Kategorie der Entfremdung und der Re-Kreation ist naturgemäß eine bevorzugte Form des dekonstruktiven Konstruktivisten. Die Definition des Grotesken von Peter Fuss, der das Groteske als „Dekomposition, Permutation und modifizierte Rekombination der symbolischen Ordnungsstrukturen einer Kultur bestimmt“, könnte als Prinzip der Genese von Schwitters Kunst betrachtet werden (Fuss 2001: 152). Schwitters Horizontale Geschichte spielt in Revon, also in einem durch Schwitters Kunstrevolution verwandelten, aber an seine Heimatstadt Hannover erinnernden Raum (Schwitters 2005, 2: 260-265). 6 Der Erzähler berichtet von einer wichtigen Entdeckung und Erfindung von „weittragender Bedeutung“ (260). Der experimentierende Forscher Prof. Wichterig hatte ein Opernglas in ein Gefäß mit Salzsäure fallen lassen, mit dem er Gegenstände, er meint den Horizont, zu sich heranholen oder von sich entfernen, er meint „objektiv beobachten“ konnte. Er ließ es in Salzsäure fallen, es löst sich auf, er füllt die Fernglaslösung in Flaschen und entdeckt, „daß ein mit dieser Lösung betropfter Gegenstand plötzlich eine absolute Größe bekommt.“ Nah- und Fernperspektive werden eins, der Perspektivismus ist aufgelöst. „Um ihnen die Sache ganz klar zu machen,“ wendet sich der rhetorisch gewandte Erzähler direkt an sein Publikum: erinnere ich daran, daß wir in einer Scheinwelt der Perspektive leben. Nehmen sie zwei gleich große Literflaschen, stellen sie beide nebeneinander in die Fensterbank, so erscheinen beide Peter Rusterholz 42 gleich groß. Wenn Sie aber eine von den beiden Flaschen hinaustragen in den Garten und auf eine Ruhebank setzen, und betrachten beide vom Zimmer aus, so erscheint die Flasche draußen klein neben der großen in der Fensterbank (Schwitters 2005, 2: 261). Er schließt, ohne die unterschiedlichen Distanzen von Sehepunkt und Gegenstand in den unterschiedlichen Fällen zu beachten, generalisierend: „ Das nennt man Perspektive, ist aber Schwindel.“ (261) Richtig wäre, perspektivisches Sehen kann, muss aber nicht täuschen. Sie ist notwendige, aber ohne Berücksichtigung der Entfernung von Sehepunkt und Objekt nicht hinreichendes Medium der Erkenntnis. Offensichtlich aber tendiert der Professor zur Negation der Relativität und postuliert einen Ort der absoluten Größe: die „Rednertribüne des Reichstages in Berlin.“ Diese sei, „wie die Versuche mit der Opernglaslösung beweisen, die Stelle, wo alle Gegenstände am größten sind, gewissermaßen der Mittelpunkt der Welt.“ Dies ist für Wichterig der universale Sehepunkt: Stellt man sich auf diesen Punkt, so sieht man, wie nach allen Seiten bis in die graue Ferne alles stetig kleiner und kleiner wird. Geht man nun bis zum Horizonte, so erscheint dahinter noch ein kleinerer Horizont und so weiter. Schon in den Vororten von Berlin ist alles sehr klein, in den Provinzen noch viel kleiner, in Paris, Moskau und London winzig, und in New York kann ein echter Berliner einen Wolkenkratzer mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmen (261). Was an sich unsinnig erscheint, ist nach den Voraussetzungen des Textes richtig, da der „echte Berliner“ Größe in konkreter wie in übertragener Bedeutung nur vom genannten Mittelpunkt der Welt aus sehen kann. Zwar berücksichtigt der Erzähler den Einwand, dass, was von Berlin aus klein erscheine, am entfernten Ort größer erscheinen könne, doch das wird als Irrtum zurückgewiesen mit der Begründung: „Wichterigs Erfindung wirft alle Hypothesen über Perspektiven glatt um“ (262). Er spielt vorerst mit der Möglichkeit grotesker Textlogik und Konsequenz, mit der realen Trennung von absoluter Größe einer Person und der durch die Entfernung vom Sehepunkt geschrumpften Größe ihrer Umgebung: Würde z.B. ein Reichstagsabgeordneter in seiner normalen [= absoluten] Größe nach Friedenau versetzt, so würde er mit einem Schritt vom Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau bis zur Kaiserallee, Haltestelle Ecke Stubenrauchstraße schreiten, so groß ist er in Friedenau, und wenn es auch nur ein mittlerer Abgeordneter gewesen wäre. Sein Hacken würde die Breite der ganzen Kaiserallee einnehmen, und unter seinem Fußtritt würden10 Autos, 100 Personen, 4 Hunde und ein Apfelsinenkarren zugrunde gehen. Die vierstöckigen Häuser würden ihm bis an die Knöchel reichen, und das Geschrei der zertretenen Personen würde er erst nach 3 Minuten hören, wegen der Entfernung seines Ohres von unten (262). Der Erzähler lässt den Riesen weiter schreiten, bis Deutschland unter seinem Fußtritt verwüstet wird, beim nächsten Schritt die Insel England versinkt und beim dritten Tritt „Nord- und Südamerika, einschließlich Brasilien, Panama und Alaska.“ Das alles sei nicht nur Hypothese, das habe die Erfindung des Herrn Prof. Wichterig gelehrt und durch die Wirkung der Wichterigschen Lösung belegt. Diese Wirkung wird nun mit einem weitere Dimensionen eröffnenden Beispiel belegt. Ein zufällig auf seinen Stiefel gefallener Tropfen Opernglaslösung verleiht dem Stiefel absolute Größe. Da aber nur der Stiefel, nicht aber der Träger des Stiefels absolute Größe besitzt, verändert sich die Größe des Stiefelträgers perspektivisch, je nach der Nähe oder Entfernung vom Reichstag: Wichterig erkennt vorerst diesen Zusammenhang nicht und experimentiert weiter mit Flaschen, vorerst mit einer leeren ungewaschenen Flasche, in der Opernglaslösung gewesen war. Er bemerkt, dass sie wie sein Stiefel wächst, wenn er sich vom Labor entfernt und wieder auf gewöhnliche Größe schrumpft, wenn sie sich wieder im Labor befindet. Er sucht Konstruktiver Dekonstruktivismus 43 7 Eine Untersuchung verschiedener Formen des Perspektivismus und ihrer grotesken Verfremdung in den Texten und Bildern von Schwitters wäre ein lohnendes Desiderat der Forschung. Siehe dazu die für Theorie, Methodik und praktische Analytik grundlegende Arbeit über Perspektivität im visuellen, kognitiven und sprachlichen Bereich von Wilhelm Köller (2004). nach dem, wie er es nennt, Strahlensystem, das diese merkwürdige Veränderung an seiner Flasche verursachte und stellt schließlich einwandfrei „den Reichstag als Zentrum dieser Strahlen fest, die er horizontale Strahlen nannte, weil sie fast über seinen Horizont gingen.“ Stolz reinigt er seine Flaschen, um seine Erkenntnisse zehn überregionalen Kapazitäten vorzuführen: nichts geschieht und er erkennt endlich, was uns der Erzähler schon längst verraten hatte. Jeder mit Opernglaslösung betupfte Gegenstand wird absolut und das heißt, er wird an scheinbarer Größe zunehmen in dem Maße wie er sich der Rednertribüne des Reichstags nähert oder von ihr entfernt. Das geht natürlich nicht nur fast über Wichterigs, sondern über jeden Horizont. Die Lesenden haben natürlich Eulenspiegels logisch-rhetorische Kunst, den konkreten und den metaphorischen Gebrauch der Sprache in virtuoser Manier zu wechseln und aufeinander zu beziehen, bemerkt, auch Denkfehler festgestellt, wie z.B., dass es einen Horizont, zu dem man hingehen könnte, gar nicht gibt. Sie erkennen auch, dass es unmöglich ist, die Relativität perspektivischer Darstellung zu überwinden, es sei denn, es werde ein Sehepunkt gesetzt, von dem aus sich die absolute Größe ergeben würde. Perspektive ist nicht Schwindel, sondern Bedingung der Möglichkeit unserer Wahrnehmung. Die Erzählstruktur dieses Texts, die Erzählung der Experimente und Versuchsvoraussetzungen Wichterigs durch einen den Lesenden ansprechenden Erzähler ermöglicht, dass der Text sich zwar von Wichterig beeindruckt zeigt, sich aber auch von ihm distanziert und die Genese seiner eigenen Fiktionalität zeigt. Schwitters Texte werden oft nur als Unsinnstexte gelesen. Gewiss ist Scherzen und Lachen über den komischen Professor nicht verboten, sondern durchaus im Sinne des Erfinders. Gewiss aber scheint mir auch, dieser Wahnsinn hat nicht nur Methode, sondern auch einen tieferen Sinn im Kontext des Bruchs der Moderne mit den Traditionen, von dem wir ausgegangen sind. Sie erinnern sich der These Merschs: Der Übergang von der klassischromantischen Kunsttradition zur Moderne sei nicht weniger nachhaltig und einschneidend gewesen als seinerzeit der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance und dass daran nicht nur die Kunst ihren Anteil habe, sondern dass dieser alle Bereiche des Lebens umfasse. Die Begriffe Perspektive und Perspektivität sind dabei deshalb von besonderem Interesse, weil sie nicht nur den Bereich der Optik und der künstlerischen Darstellung betreffen, sondern sich auch auf die Modi der Wahrnehmung, des Denkens und des Sprechens beziehen. Deshalb kann der Perspektivitätsbegriff als anthropologischer Grundbegriff betrachtet werden. 7 Die dem Mittelalter gemäße Perspektive ist die theologische Sehweise, die durch das immanent Sichtbare auf das transzendent Unsichtbare, durch das Significans auf das Significatum hindurchsieht. Die in der Renaissance entwickelte zentralperspektivische Darstellung zeigt die Welt aus dem Blickwinkel eines bestimmten Betrachters mit bestimmtem Horizont und Fluchtpunkt. Das wahrnehmende Subjekt wird zur Ordnungsinstanz. Goethe hatte die perspektivischen Gesetze als Wahrnehmungswie als Denkformen gelobt, „die mit so großem Sinn als Richtigkeit die Welt auf das Auge des Menschen und seinen Standpunkt beziehen und dadurch möglich machen, dass jedes verworrene Gedränge von Gegenständen in ein reines ruhiges Bild verwandelt werden kann“(Goethe 1960: 477). Sie erkennen umgehend, inwiefern dieses Idealbild eines Perspektivismus durch den verwirrenden Polyperspektivismus von Schwitters Text negiert, parodiert und verkehrt wird. Das Denken Nietzsches und Peter Rusterholz 44 Freuds stellt die Einheit eines Ich in Frage, das große Ich-Bild von Schwitters zeigt keine Einheit, sondern Fragmente. Die Versuche, die sich immer mehr spezialisierenden Wissenschaften in einem einheitlichen Weltbild zu integrieren, scheitern. Ein Jahr nach Schwitters Text erscheint Heisenbergs Theorie der Unschärferelation mit ihrer These, dass schon das Beobachten des Beobachters das Objekt der Beobachtung verändern würde. Noch die witzigste Idee, dass die Rednertribüne des Reichtags der Ort der absoluten Größe sein könnte, wirkt erschreckend und bekommt als Zeitzeichen historische Brisanz beim Gedanken, dass wenig später ein einzelner Mann auf dieser Tribüne die absolute Größe bestimmen und beanspruchen konnte. Nietzsche spricht in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen (4) von den Notzeiten des Menschen, in denen er sich nicht wahrhaft mitteilen könne: „ bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen faßt und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie miteinander sich zu verständigen suchen, erfaßt sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe“ (Nietzsche 1954: 387/ 88). Bibliographie Bredekamp, Horst 2010: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin: Suhrkamp Darsow, Götz Lothar 2009: „Apokalypse als Narrenspiel: Kurt Schwitters und die Mystik“, in: Bru, Sascha, Baetens, Jan, Hjartarson, Benedikt et al. 2009: Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent (= European Avant-Garde and Modernism Studies), Berlin: De Gruyter, 328-341 Didi-Huberman, Georges 1999: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. München: Fink Engel, Manfred 2006: „Collage als Karnevalisierung“, in: May, Markus, Rudke, Tanja (eds.) : Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann, Heidelberg: Winter, 271-295 Fuss, Peter 2001: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln: Böhlau Goethe, Johann Wolfgang, Schrimpf, Joachim (ed.) 4. Aufl. 1960: Maximen und Reflexionen, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe Bd.12, Hamburg: Christian Wegner Köller, Wilhelm 2004: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin: De Gruyter Nietzsche, Friedrich, 1954: Unzeitgemäße Betrachtungen, viertes Stück, Schlechta, Karl (ed.), in: Friedrich Nietzsche. Werke in zwei Bänden. Bd. I, München: Carl Hanser Mersch, Dieter 2002: Kunst und Medium. Zwei Vorlesungen (Gestalt und Diskurs Bd. 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