eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Bukarest, Oktober 1924: Ilarie Voronca (1903-1946) und Victor Brauner (1903-1966) lancieren die Zeitschrift '75 HP' im Namen der "unique groupe d'avantgarde de Roumanie". Diese Publikation wird sofort beachtet. Holländische, französische und deutsche Avantgarden antworten enthusiastisch, Kurt Schwitters schickt gar seine besten Wünsche mit einem "joli dada" Gruss und der Aussicht einer engen Zusammenarbeit mit 'Merz'. '75 HP' gelingt es zu überraschen, nationale und internationale Reaktionen zu provozieren. Diese Aufmerksamkeit verdankt die Zeitschrift – so meine Arbeitshypothese – nicht allein ihrem selbstbewussten Auftreten als Manifest der rumänischen Avantgarde, sondern auch wesentlich ihrer Ausdrucksform, ihrer Ausdruckskraft. Die aussergewöhnliche Wirkung dieser ersten und einzigen Nummer von '75 HP' ist das Ergebnis eines künstlerischen Prozesses, der die Grenzen bekannter Genres und traditioneller Gestaltungsweisen überschreitet, um "neue Wahrnehmungsfreiräume" zu eröffnen. Dass die Auffassung semiotischer Ordnungen und die Behandlung der Zeichen dabei eine zentrale Rolle spielen, soll im Folgenden gezeigt werden.
2013
361-2

Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution: Ilarie Voronca und Victor Brauner

2013
Christina Vogel
1 75 HP, Bukarest, Oktober 1924 (Reprint jeanmichelplace, Paris, 1993, mit einem Vorwort von Marina Vanci- Perahim). 2 75 HP, Ibid., Vorwort von Marina Vanci-Perahim, S. 7-8. 3 Vgl. Klaus Peter Dencker, Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart, Berlin/ New York, De Gruyter, 2011, S. 727. Unsere Ausführungen verdanken diesem Werk viele Einsichten, Anregungen und Denkanstösse. Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution: Ilarie Voronca und Victor Brauner Christina Vogel In the middle of the 20’s Ilarie Voronca and Victor Brauner invent jointly the term “pictopoezia”, but not in a standard manner. Neither poetry nor image, the word-creation is understood as a programmatic manifesto, to exceed the limits of the arts and to undermine the differences of expression. Subversive and constructive, the gesture of the avant-garde artists is clearly reflected in the one and only issue of the journal 75 HP: the magazine calls into question the conventional concept of the sign, which is radically changed in the pursuit of a new form of synthesis. Bukarest, Oktober 1924: Ilarie Voronca (1903-1946) und Victor Brauner (1903-1966) lancieren die Zeitschrift 75 HP im Namen der „unique groupe d’avantgarde de Roumanie“. 1 Diese Publikation wird sofort beachtet. Holländische, französische und deutsche Avantgarden antworten enthusiastisch, Kurt Schwitters schickt gar seine besten Wünsche mit einem „joli dada“ Gruss und der Aussicht einer engen Zusammenarbeit mit Merz. 2 75 HP gelingt es zu überraschen, nationale und internationale Reaktionen zu provozieren. Diese Aufmerksamkeit verdankt die Zeitschrift - so meine Arbeitshypothese - nicht allein ihrem selbstbewussten Auftreten als Manifest der rumänischen Avantgarde, sondern auch wesentlich ihrer Ausdrucksform, ihrer Ausdruckskraft. Die aussergewöhnliche Wirkung dieser ersten und einzigen Nummer von 75 HP ist das Ergebnis eines künstlerischen Prozesses, der die Grenzen bekannter Genres und traditioneller Gestaltungsweisen überschreitet, um „neue Wahrnehmungsfreiräume“ 3 zu eröffnen. Dass die Auffassung semiotischer Ordnungen und die Behandlung der Zeichen dabei eine zentrale Rolle spielen, soll im Folgenden gezeigt werden. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Christina Vogel 24 1. Text & Bild Das Erscheinungsbild des Titelblattes von 75 HP ist ganz Programm: Zahlen, Buchstaben und abstrakte Figuren, intensive Farben und klare Formen bestimmen gleichzeitig seine komplexe Ausdrucksqualität. Wir sehen reine Farben - rot, gelb, schwarz auf weissem Grund - und frei gestaltete geometrische Flächen, entziffern die Zahl(en) 75 und lesen die unauflöslich verbundenen Lettern HP. Numerische sowie alphabetische Zeichen und grafische Elemente formen zusammen eine bildhafte Konstellation, deren Wahrnehmung den Lesevorgang verräumlicht. Zu lesen gibt es weder Worte noch Sätze, mit der - bedeutsamen - Ausnahme des Titels der Komposition und des Namens von deren Schöpfer. Construct¸ie: Victor Brauner steht in fetten, schwarzen Lettern am rechten unteren Rand des Deckblattes. Signatur und Titel unterstreichen den konstruktivistischen Charakter der Zeitschrift. Wer diese in die Hand nimmt, ist von Anbeginn Betrachter und Leser. Das auffällig kolorierte und klar strukturierte Textbild setzt einen Rezeptionsprozess in Gang, der verschiedene semiotische Systeme simultan vergegenwärtigt. Das Neben- und Miteinander der Zeichensysteme bewirkt den Austausch ihrer Funktionen. Die Zahlen und Buchstaben des Titelblattes von 75 HP verstehen sich in erster Linie als Strukturelemente, als Bildeinheiten, und sind Teil der visuellen Gestalt: das beinahe Quadrat ist in 4 Flächen unterteilt, deren Elemente sich berühren, jedoch nicht überschneiden oder mischen. Die obere linke Fläche wird aus den schwarzen Zahlzeichen 75, die rechte obere Fläche aus dem roten Buchstabenpaar HP gebildet. Während die Farbe Gelb in der oberen Hälfte der Komposition nicht präsent ist, bildet sie in der unteren zusammen mit Schwarz und Rot eine abstrakte figurale Textfläche. Numerische, alphabetische, geometrische Zeichen sind komplementär angeordnet und formen ein Textganzes, welches sein Konstruktionsprinzip - das auf klaren Verhältnissen beruhende Zusammenwirken von Bild, Zahl und Schrift - manifestiert und im selben Moment die Frage nach seiner Bedeutung offen lässt. Die Zeitschrift blockiert das konventionelle Leseverständnis des Rezipienten und fordert ihn auf, in einen Text-Raum einzutreten, in dem Gestalt und Sinn der Zeichen in einer neuartigen semiotischen Praxis integriert werden. Obgleich das Sprachmaterial - einzelne Buchstaben, Wörter, Sätze, Textsegmente unterschiedlicher Länge - auf den folgenden Seiten an Präsenz gewinnt, begünstigt 75 HP das Raumerlebnis. Durch die Vermeidung eines linearen Schriftbildes und den Wechsel der Schriftrichtung innerhalb begrenzter Textblöcke wird der Betrachter/ Leser gezwungen, die Revue immer wieder zu drehen. Anstelle der passiven Wahrnehmung der Seite als Rahmen und Fläche tritt die Erfahrung eines Textraumes, der verschiedene, von einander getrennte Parcours erlaubt und an einen produktiven Rezipienten appelliert. Die notwendige Manipula- Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution 25 4 Stéphane Mallarmé, „Un Coup de Dés jamais n'abolira le Hasard“, in: ders., Œuvres complètes, Paris, Gallimard, La Pléiade, 1945, S. 457-477; „Un Coup de Dés“ wurde 1897 in der Revue Cosmopolis publiziert. Siehe dazu meinen Beitrag „Die Krise des Verses: Paradigma der Sprach- und Gesellschaftskritik Mallarmés“, in: Reinhard Kacianka & Peter V. Zima (ed.), Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen/ Basel, A. Francke Verlag, 2004, S. 87-104. tion der Zeitschrift, die gewendet und auf den Kopf gestellt werden muss, bedingt den physischen Kontakt mit dem Material der Zeitschrift. Der Sinn für das Papier wird geschärft und dadurch auch jener für die typografischen und farblichen Charakteristika der unterschiedlich gestalteten Text- und Bildeinheiten. Auffallend ist, dass der Titel 75 HP - er kann natürlich als H(orse) P(ower) entschlüsselt werden - innerhalb der Zeitschrift leitmotivartig immer wieder erscheint und neben weiteren konstanten Elementen - wie zum Beispiel der konsequenten Verwendung der Farben Schwarz und Rot - zur Kohärenz des visuellen Gesamteindrucks beiträgt. Das Sprachmaterial wird zum Bedeutungsträger (die Lettern fügen sich zu Worten, Satzteilen, diskursiven Aussagen und Proklamationen), erfüllt aber gleichzeitig seine bildstrukturierende Aufgabe und wird in seiner Materialität wahrgenommen. Die lineare Aufeinanderfolge der Textbausteine wird regelmässig unterbrochen durch die Präsenz von typografisch auffälligen Zeichen, die durch ihre Grösse, Farbe oder diagonale Disposition den Lesefluss variieren und zum simultanen Betrachten zwingen. In der Tradition des Coup de Dés von Stéphane Mallarmé 4 und europäischer Avantgardebewegungen - Futurismus, Kubismus, Dada, De Stijl - konstruieren der Maler Victor Brauner und der Dichter Ilarie Voronca ein Objekt, das die Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten, die zu Beginn der 20iger Jahre in Rumänien noch sehr traditionsbewusst sind, stört und problematisiert. 75 HP aktualisiert eine Form von Kommunikation, welche nicht die Vermischung, vielmehr die Synthese von verbaler und visueller semiotischer Praxis anstrebt. 2. Konstruktion & Integration Im Vergleich mit Dada - mitbegründet von den Rumänen Tristan Tzara und Marcel Janco - überrascht 75 HP durch seine konstruktiv-schöpferische Textarbeit. Obschon die „normale“ Rezeptionsbewegung durch das Fehlen der üblichen grammatikalischen, syntaktischen und semantischen Ordnungen behindert wird, entdecken wir schnell die Rolle von Strukturprinzipien, die weder vorgegeben noch bekannt sind, sondern erst im Wahrnehmungsprozess aktiv werden. Wir lernen, innerhalb eines gemeinsamen Funktionsraums Beziehungen zwischen einzelnen Buchstabentypen, Wörtern, Sätzen, Ziffern, Farben, Figuren und Namen zu schaffen, lernen, Bild- und Schriftmaterial in neuartige Sinnzusammenhänge zu integrieren. Doch die sprachlichen Einheiten erklären oder übersetzen keinesfalls die optischen Elemente und diese sind nicht da, um jene zu illustrieren oder bildhaft darzustellen. Ilarie Voroncas Manifest „Aviograma“, das als Pendant zu Brauners „Construct ¸ie“ verstanden werden kann, ist das Ergebnis einer künstlerischen Handlung, die verstörend, nicht zerstörend wirkt, die konstruiert, nicht destruiert. Die roten Grossbuchstaben gliedern den Textraum, befreien die Lesebewegung von der sukzessiven Abfolge und lenken die Aufmerksamkeit auf einzelne Wörter. Analog der Plakatschrift gewinnen die farblich herausgestellten Lettern an Bedeutung: selbst wer des Rumänischen nicht mächtig ist, versteht wohl den Aufruf „INVENTEAZA“, entziffert die Christina Vogel 26 5 L E TÉLÉGRAPHE A TISSÉ DES ARCS - EN - CIEL EN FIL DE FER . Abkürzung TSF („Transmission Sans Fil“) und bemerkt die Präsenz der Städtenamen „Paris“, „Berlin“. Der programmatische Titel „AVIO GRAMA “ assoziert auseinanderliegende semantische Felder und verbindet so aufs engste die Welt der modernen Technik und des urbanen Milieus mit jener von Schrift und Sprache. In Anklang an die Auffassung der Griechen wird die Kunst des Lesens und Schreibens als téchne aufgefasst, wird die Grenze zwischen den Bereichen porös. Aviatik und Sprachlehre sind Formen von Können und Wissen, die sich anstatt auszuschliessen, wechselseitig ergänzen. Das Quasi-Manifest Ilarie Voroncas - es deklariert explizit, in einer paradoxen, sich selbst negierenden Weise anstelle eines Manifests zu stehen („IN LOC DE MANIFEST“) - drückt auf allen Ebenen die Beziehung der Künste aus: die Errungenschaften des technischen Fortschritts werden in poetisch gewagten Bildern evoziert - wie z. Bsp. „TELEGRAFUL A T¸ ESUT CURCUBEE DE SÂRMA“ 5 - und die Erfindungskraft als verbindende Energie beschworen. Im Telegrammstil proklamiert und aktualisiert Voronca eine Praxis, die zwar in der Tradition von Futurismus und Dadaismus steht - wir denken sofort an die „parole in libertà“ von Marinetti, an die Lautpoesie Hugo Balls (Voroncas Manifest endet mit den dynamisch-dialogisch gesetzten Lettern „FABE- MOL/ RE/ FABEMOL/ IN/ PIJAMA/ FOOTBALL“) oder an die ironischen, aleatorisch anmutenden Wortkombinationen eines Tristan Tzara -, die jedoch gleichzeitig eine betont konstruktive Synthese aller avantgardistischen Strömungen sowie die Integration von Leben, Kunst und Technik anstrebt. Das mehrsprachige „AVIO GRAMA “ verknüpft syntagmatische mit parataktischen und assoziativen Zeichenfolgen, aber es will nicht allein gelesen und betrachtet werden. Seine volle Wirkung entfaltet es erst im Augenblick, da es sich rhythmisch gesprochen in Raum und Zeit entfaltet und so in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Die Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution 27 6 Vgl. die letzte Seite von 75 HP, Bukarest, Oktober 1924. Sprachzeichen sind immer zugleich Laute, grafisch-räumliche Organisationselemente und Bedeutungsträger, sie gehören einer akustisch-musikalischen, einer visuellen und einer verbalen Semiotik an. Diese Ebenen bleiben unterschieden und sind doch solidarisch miteinander verknüpft. Jede ausschliessliche Reduktion auf nur eine Ebene verkennt die Tatsache, dass 75 HP der Versuch ist, die Grenzen sowohl der verschiedenen Sprachen (Rumänisch, Französisch, Deutsch werden simultan verwendet) wie auch der Zeichensysteme, Gattungen und Künste zu überwinden. Die einzelnen Bausteine von Voroncas „AVIO GRAMA “ sind befreit von der Funktion, Wirklichkeit mimetisch abzubilden, und verweisen doch über den Textraum hinaus auf eine Welt, die der Praxis des Manifestes nicht vorgelagert, sondern in die Zukunft projiziert ist. Obschon die Zeitschrift ein formal geschlossenes Text-Objekt ist und die erste Nummer ein Unikat bleibt, sprengt sie zum Schluss ihre Grenzen, indem sie im performativen Sprechakt der Annonce eine erst zu schaffende Wirklichkeit evoziert. 3. Virtualität & Aktualität Das Versprechen kündigt hic & nunc avantgardistische Aktivitäten an (Ausstellungen, Zeitschriften) und verleiht dem rein Virtuellen auf einer der letzten Seiten eine effektive Realität. Victor Brauner, Stéphane Roll, Miguel Donville werden von Bukarest über Paris und Barcelona den Elan der Avantgarde weitertragen. Das „AVIO GRAMA “ ist nicht allein eine provokative Streitschrift; darüber hinaus ist es „PRO-GRAMM“, weist über sich hinaus auf zukünftige Produktionen. Der projektive Elan ist wesentlich für das Selbstverständnis der Avantgarden, die mehr zu sein versprechen, als sie schon sind, die immer schon ein Mehr an unendlich vielen, noch unverwirklichten Möglichkeiten zu sein behaupten. Die avantgardistische Realität ist virtuell unbegrenzt. Im Sich-Entwerfen, Sich-Erfinden, im vorauseilenden Gestus aktualisiert sich eine Avantgarde, die immer schon anderswohin strebt und den Wirklichkeitsbereich ausweitet. Diese idealerweise ins Unendliche (mit dem Symbol bezeichnet), ja ins Utopische gesteigerte Erweiterung der Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen in Zeit und Raum steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zu einem Manifest, welches sich als Aktualisierung der „P ICTOPOÉSIE “ im Hier & Jetzt preist: „Pictopoésie triomphe sur tout enregistre tout réalise l'impossible“. 6 75 HP vollzieht die Vision der „pictopoésie“, ohne diese aber ein für alle Male definieren zu Christina Vogel 28 wollen. Victor Brauner und Ilarie Voronca setzen ihr synthetisches Prinzip um und produzieren ein Text-Objekt, das schon verwirklichte und erst zu entdeckende avantgardistische Produktionen und Kunstwerke in Einklang zu bringen sucht, das geschlossen konstruiert ist und doch offen bleibt für unendlich viele virtuelle Bezüge. Die simultan präsenten Zeichen verweisen zwar innerhalb der Zeitschrift aufeinander und bilden ganzheitliche optische, lautliche, sprachliche Gebilde, aber sie beziehen immer auch das Abwesende mit ein, (noch) nicht realisierte, mögliche Ausdruckswelten, die Sinn machen könnten für Produzenten und Rezipienten. Während das Sprach-, Bild- und Lautmaterial bewusst gemacht wird, lebt dieses zugleich dank des Gegensatzes zum Immateriellen, zum grafisch und sprachlich Ausgesparten. Die Lücken und Leerstellen sind Zeichen für das nicht Gezeigte, das nicht Gesagte, für diejenigen Dimensionen, die den Rahmen der Zeichen überschreiten. Für die Vertreter der rumänischen Avantgarde ist die schöpferische Tätigkeit weder Zweck noch purer Selbstzweck, reduziert sich weder auf pragmatisch-utilitaristische Funktionen noch auf autoreferentielle Spielereien. Sie ist zugleich Arbeit am Material und Suche nach dem sinnlich Nicht-Wahrnehmbaren, ist Erweiterung der Realität. Die Zeichen sind einerseits Linien, Farben und Formen, transportieren Bedeutungen, andererseits sind sie Spuren des Surrealen, des geistigen Elans und transponieren in einen Bereich, der nicht mehr logisch-rational in einem einzigen semiotischen System gefasst werden kann. 4. Analyse & Synthese 75 HP experimentiert mit analytischen und synthetischen Zeichenprozessen. Bald zerfallen die Zeichensysteme in ihre kleinsten Einzelteile, bald werden die Bausteine zusammengefügt und in unterschiedliche semiotische Ordnungen integriert. Insofern wundert es kaum, dass Collage- und Montageverfahren fester Bestandteil der Zeitschrift sind. Die zentrale Deklaration „ PICTOPOEZIA NU E PICTURA / PICTOPOEZIA NU E POEZIE / PICTO - POEZIA E PICTOPOEZIE “ figuriert in schwarzen und roten Lettern unterhalb einer Komposition, die alle in der Zeitschrift verwendeten visuellen und verbalen Elemente vereinigt. Die PICTOPOEZIE ist nicht Dichtung, sie ist aber auch nicht bildende Kunst, Malerei; vielmehr produziert sie eine Bildtextur, die dank übereinander gelagerter, mehrfarbiger geometrischer Flächen und Bänder eine räumliche Tiefen- und Sogwirkung erzeugt. Die mehrdirektional ausgerichteten Buchstarben, Wörter, Zahlen und Satzzeichen sind weniger da, entziffert und gelesen zu werden (obschon das durchaus geschehen kann und soll), sie rhythmisieren vielmehr das vielschichtige, multilinguale Text- Objekt. Aus einer neuen Verkettung und Anordnung einzelner Textbausteine entsteht ein Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution 29 7 Dieter Mersch sieht in der „Verweigerung der Frage nach dem Sinn“ den typischen Gestus von Dada, insbesondere von Tristan Tzara; vgl. ders., Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2002, S. 253. 8 Siehe die vorletzte Seite von 75 HP, Bukarest, Oktober 1924. 9 Die rumänische Avantgarde, speziell das Manifest 75 HP von 1924, lässt sich mit den Begriffen, die Dieter Mersch für den Surrealismus bemüht, deshalb nicht treffend beschreiben. In: Ders., Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2002, S. 260-266. erstaunlich einheitliches Gebilde, das durch seine formale Gliederung, seine warme Farbpalette und kolorierten Textfragmente die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und von neuem suggeriert die vertikal eingezeichnete Nummer 5721 eine zeitliche Dimension, welche den begrenzten Rahmen der ersten und einzigen Ausgabe von 75 HP sprengt. Die Namen des Malers Victor Brauner und des Poeten Ilarie Voronca unterstreichen die Zusammenarbeit der Künstler, die Synthese der Gattungen und Ausdrucksmittel, den Willen, nationale Grenzen zu überschreiten, um Teil der internationalen Avantgarde zu werden. Bild- und Spracharbeit sind dezidiert konstruktiv und binden die Zeichen, die heterogen und zufällig ausgewählt wirken, in eine Konstellation, welche die Trennbarkeit der optischen, lautlichen, sprachlichen Wahrnehmungsweisen aufhebt. 75 HP ist das Ergebnis eines semiotischen Prozesses, der die normierten symbolischen Ordnungen ausser Kraft setzt, der die Arbitrarität der Zeichen im Verhältnis zur Welt offenlegt, die Darstellungsfunktion hinterfragt, der sich aber keinesfalls der „Frage nach dem Sinn“ verweigert. 7 Beschreibbar mit Begriffen einer semiotischen Phänomenologie wird der Akt der Bedeutungsgebung - dank einer synästhetischen Perzeption und Kommunikation, welche Augen, Ohren, Hände, ja den ganzen Körper anspricht - sinnlich erfahren; zugleich wirken die Zeichen keineswegs frei und beliebig, sondern beziehen sich wiederholt in vergleichbaren Verhältnissen aufeinander. Die Farben schwarz, gelb und rot, die abstrakten Figuren, die dominanten Zahlenkombination 75 und Lettern HP sowie die Signaturen von Victor Brauner und Ilarie Voronca strukturieren leitmotivartig das Text-Objekt und setzen einen hermeneutischen Prozess in Gang, der als ästhetisches Manifest der rumänischen Avantgarde verstanden werden kann. 1924 bezieht sich diese explizit auf Kubismus, Futurismus, Expressionismus, auf Dada und Surrealismus, indem das formale Vokabular, die provokativ-ironischen Gesten und politisch-ästhetischen Überzeugungen dieser Strömungen in die Revue integriert werden. Diese Zusammenschau der verschiedenen Kunstauffassungen vollzieht sich in der Zeitschrift. 75 HP ist, was sie deklariert: Synthese. Sie artikuliert neben-, mit- und übereinander, eine Position, die im Verweis auf die europäischen Avantgarden - DER STURM, DISK, L'ESPRIT NOUVEAU, MECANO, MERZ, STAVBA, ZENTI u.a. 8 - aber auch in Ablehnung von traditionellen Werken und Kunstrichtungen immer schon über diese hinausgeht und das verkündigt, was reine Emergenz ist. Was schon instituiert ist, wird zitiert, jedoch zugleich verwandelt in einem Prozess, der immerfort bricht mit dem Realisierten. Die gewohnten semiotischen Systeme werden nicht negiert, sondern entgrenzt durch neuartige Bezüge, die in erster Linie zwischen und nicht innerhalb von ihnen ausprobiert werden. 9 5. Intermedial & international Inter-national, inter-lingual, inter-medial ist 75 HP; Victor Brauner und Ilarie Voronca verbinden Malerei und Dichtung, Bild und Text, fremdes und bekanntes Sprachmaterial, Christina Vogel 30 10 Vgl. dazu den Artikel von Rosenthal Victor und Visetti Yves-Marie, „Expression et sémiose pour une phénoménologie sémiotique“, in: Collège International de Philosophie, Rue Descartes, 2010/ 4, n° 70, p. 24-60, im Internet unter: http: / / www.cairn.info/ revue-rue-descartes-2010-4-page-24.htm[8.9.11]. 11 Voronca schreibt über die Kunst Brauners in einem der längsten Texte in 75 HP: „D-l Victor Brauner nu va îmbra ca niciodata academisme. In atitudine s¸i privire în linie s¸i culoare D-l Victor Brauner poarta fulger. De opera lui, imbecilii vor trebui sa se apropie cu paratra znet.“ 12 Zu Victor Brauners Kunst, siehe Dorothee Höfert, „Victor Brauner. Wanderer zwischen den Welten“, in: Magie und Verwandlung. Der Surrealismus von Victor Brauner (1903-1966), Ausstellungskatalog, Karlsruhe, EnBW, 1999, S. 17-31. Sehen, Lesen, Fühlen und Verstehen. Der Ort, an dem sie kreativ kollaborieren, ist keine trennende Grenze, vielmehr ein Zwischenraum, wo semiotische und hermeneutische Prozesse zum wechselseitigen Austausch provoziert werden. 10 Während die Zeichnungen, Drucke, Radierungen und Bilder von Victor Brauner, Marcel Ianco, M.H. Maxy organische und geometrische Formen, figurative und abstrakte Elemente, Schwarz-Weiss und pure Farben miteinander artikulieren, verwenden Ilarie Voronca, Ion Vinea, Stéphane Roll, Miguel Donville und F. Brunea die Sprache bald spielerisch, bald ernst, poetisch und prosaisch. Trotz der Vielfalt der kombinierten Zeichen wirkt ihr Manifest aber ganzheitlich, denn die Künstler setzen die gestalterischen Mittel systematisch und symmetrisch ein, so dass Korrespondenzen sich ereignen können. Zugleich wagen sie Verknüpfungen von Ausdrucksformen, die nicht vorhersehbar sind und plötzliche Sinnzusammenhänge aufblitzen lassen. Die Metaphern von Blitz und Donner, die Voronca mit Vorliebe braucht, um Brauners Kunst zu charakterisieren, sagt in Worten, was deren Wirkung zu sein verspricht. 11 75 HP verlangt von seinen Betrachtern/ Lesern nicht ein total neues, aber ein erweitertes Wahrnehmungsvermögen, das Sichtbares und Lesbares eigenständig und doch simultan rezipiert. Wir sollen die Beziehungen der visuellen und sprachlichen Einheiten begreifen, sollen die sich gegenseitig durchdringenden Funktionen der Zeichenordnungen auf uns wirken lassen und auslegen, dabei aber nicht einfach vermischen, um deren Komplementarität nicht zu verkennen. Dieses erweiterte Sehen/ Lesen kann retrospektiv verstanden werden als Vorbereitung auf die Begegnungen mit den späteren Arbeiten Victor Brauners und anderer Avantgardekünstler. Experimentiert Brauner 1924 vorwiegend mit konstruktiv-abstrakten Ausdrucksformen, so findet er in den kommenden Jahren, in der Auseinandersetzung mit Alberto Giacometti, Yves Tanguy und André Breton, zu einer figurativen Bildsprache, die den surrealistischen Vorstellungen nahe steht: rätselhafte Misch- und androgyne Doppelwesen zeigen, dass auch er „die Tiefen unbewussten, traumhaften und chaotischen Erlebens“ 12 zu ergründen sucht, um diese schöpferisch fruchtbar zu machen. Brauner wird eine persönliche Bildersymbolik entwickeln, die seinen Werken eine mystisch-magische Wirkkraft verleihen. 1924 jedoch proklamiert 75 HP vorerst die Notwendigkeit, den Wahrnehmungsfreiraum auszudehnen durch gestalterische Formfindungsprozesse, welche die Trennwände zwischen den semiotischen Systemen und hermeneutischen Modellen durchlässig machen. Das bedeutet keineswegs, dass sich diese reduzieren, gegenseitig ersetzen lassen oder überflüssig machen. Text und Bild sagen nicht einfach dasselbe auf unterschiedliche Art und Weise. Sie explorieren Handlungs- und Empfindungsspielräume, die Sinnmöglichkeiten zugleich konzeptuell und konkret, abstrakt und figurativ zu entdecken und zu erzeugen versprechen. Die rumänische Avantgarde der 20iger Jahre im Zeichen der piktopoetischen Revolution 31 Bibliographie Dencker, Klaus Peter 2011: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart, Berlin/ New York: De Gruyter. Dauphin, Christophe 2011: Ilarie Voronca. Le poète intégral, Cordes sur Ciel: Éd. Rafael de Surtis. Höfert, Dorothee 1999: „Victor Brauner. Wanderer zwischen den Welten“, in: Magie und Verwandlung. Der Surrealismus von Victor Brauner [1903-1966], Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung vom 5.10.-12.12.1999, Karlsruhe: EnBW, 17-31. Kacianka, Reinhard & Zima, Peter V. (ed.) 2004: Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen/ Basel: A. Francke Verlag. Mersch, Dieter 2002: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ois¸teanu, Andrei 2011: The Romanian Avant-garde and Visual Poetry, im Internet unter http: / / www.corpse.org/ index.php? option [17.8.11] Pop, Ion 2006: La Réhabilitation du rêve. Une anthologie de l'Avant-garde roumaine, Maurice Nadeau/ EST-Samuel Tastet Éditeur. Rosenthal, Victor & Visetti, Yves-Marie 2010: „Expression et sémiose pour une phénoménologie sémiotique“, in: Rue Descartes, 2010/ 4, n o 70, 24-60, im Internet unter: http: / / www.cairn.info/ revue-rue-descartes-2010-4-page- 24.htm [8.9.11]