eJournals Kodikas/Code 36/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
361-2

Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere

2013
Dieter Mersch
1 Vgl. auch Heidegger 2009: 3ff. Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere. Einige Überlegungen zur Ästhetik der Avantgarden Dieter Mersch 1. Tautologien und Paradoxien „Die einzige Sache, die sich über Kunst sagen lässt, ist, dass sie eine Sache ist. Kunst ist Kunst als Kunst, alles andere ist alles andere“, schreibt Ad Reinhardt programmatisch in seinem Manifest Art-as-Art (1998: 994). Die Serie von Tautologien sperrt sich jeder Theoretisierung von Kunst. Sie verweigert ihr ihre Bestimmung. Nicht einmal wird ein Attribut hinzugefügt, um Kunst von ‚Nicht-Kunst‘ abzugrenzen, auch wenn gleichsam eine unsichtbare Schnittlinie dadurch gezogen wird, dass ‚Kunst als Kunst‘ von ‚allem anderen‘ unterschieden wird. ‚Alles andere‘ als ‚alles andere‘ bleibt dabei allerdings ebenso unbestimmt wie die Identifizierung von Kunst mit Kunst. Ad Reinhardt bricht auf diese Weise mit der klassischen ‚Logik‘ des Begriffs, jenem Verfahren der ‚De-Finition‘, der Grenzziehung, das die verschiedenen Traditionen der Philosophie seit der Antike ersonnen haben, um einem Ausdruck einen eindeutigen Sinn zu verleihen. Omnis determinatio est negatio: Die Grenze ist eine Funktion der Negativität, die den Unterschied und damit den Begriff und seine Bestimmung erst konstituiert. Hegel hatte sie dreifach markiert: Als Negation von Sein, von ‚Einem‘ gegenüber ‚Anderem‘ sowie von ‚Diesem‘ gegenüber ‚Jenem‘ (1986: 82ff.). 1 Der dreifache Zug erzeugt eine dreifache Differenz, einmal zwischen Sein und Nichts, sodann zwischen ‚Etwas‘ und ‚etwas anderem‘ sowie schließlich zwischen verschiedenen Einzelheiten. Ersteres entspricht einem unbestimmten Allgemeinen, das Mittlere dem bestimmten Allgemeinen und letzteres der Unterscheidung zwischen zwei Entitäten. Jedes Mal aber ist die Identität vorausgesetzt wie gleichermaßen der kontradiktorische Sinn des Negativen, sein genauso binäres wie exklusives Schema, das gemäß des ‚Satzes vom Widerspruch‘ und des ‚Tertium non datur‘ nur die Alternativen entweder des einen oder des Anderen zulässt. Ad Reinhardt unterläuft die klare und distinkte Rationalität der Dichotomien, indem er zwischen der Kunst und ihrem Anderen eine Kluft, einen Abgrund klaffen lässt, deren Breite und Tiefe unbekannt bleibt. Bleibt die Ordnung des ‚Entweder-oder‘ diskret, indem dessen Scheidelinie lückenlos aneinandergrenzt und sein dichter Rand gleichsam den Abstand ‚scharf‘ werden lässt, scheinen ‚Kunst‘ und ‚Anderes‘ bei Reinhardt andere Regionen zu bewohnen, die einander nicht berühren. Dann kann das Wissen über ‚Anderes‘ sowenig zur Kennzeichnung dessen dienen, ‚was‘ Kunst ‚ist‘, wie die Rede über Kunst sie von Nicht-Kunst oder Unkunst K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter Mersch 8 zu separieren vermag. Setzen solche Manöver immer schon eine positive Bestimmung des Ästhetischen wie Anästhetischen voraus, deren Gegensatz den Blick auf ihr jeweils Heteronomens schärft, reißt sie Ad Reinhardt derart weit auseinander, dass eine Beziehung zwischen ihnen unmöglich erscheint. Alle Spekulation über Kunst wie über ‚Nicht-Kunst‘ wird dann sinnlos, weil das Eine mit dem Anderen nichts zu tun hat; doch besteht das Paradox darin, dass weiterhin von Kunst gesprochen wird. Das Paradox ist nicht nur ein Mittel zur Ambiguierung, der Verflüssigung von Oppositionen, sondern auch der Aussetzung ihrer Anerkennung, der Öffnung und des ‚Sprungs heraus‘, der sich ihrem ‚Grund‘, ihrer ratio nicht länger fügt. Ad Reinhardt forciert es noch, indem er nicht nur jede Brücke zwischen den Gegensätzen zerschlägt und damit Übergänge verunmöglicht, sondern gleichzeitig beide Seiten in einer Serie von Tautologien untergehen lässt, die jegliche Kohärenz ihrer Begriffe, ihre Identität wie ebenfalls ihre ‚Als‘-Funktion destruiert. Auf ihre Weise entspricht damit die ‚Aktion‘ Ad Reinhardts - und seine Intervention kann nicht anders als ein performativer Akt, als eine ‚Unter-Brechung‘ des Kunstdiskurses selbst aufgefasst werden - jener Fluxus-Aktion, im Verlauf derer Josef Beuys ‚einem toten Hasen die Bilder erklärte‘. Die Performance von 1965 in der Wuppertaler Galerie Parnass fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt; gedrängt vor den Fenstern vermochte das Publikum einzig einen Einblick ‚von außen‘ erhaschen, ohne ein Wort der ‚Erklärungen‘ Beuys’ zu verstehen. Auch Beuys handelte von ‚der Kunst‘, allerdings mit den Mitteln von Kunst, als Kunst gegen Kunst, die hier im Medium des Ereignisses sowohl die Ausstellung als Ort ihrer Präsentation als auch das Ausgestellte, die Bilder und deren Kritik desavouierte und damit sowohl die Ordnungen des Ästhetischen als auch deren Diskursivität sprengte. Kunst und ‚ihre Theorie‘ ist eine Sache von Kunst - darum blieben ihre Betrachter, ihre Verfechter wie Bewunderer und Theoretiker ausgeschlossen; es ging auch nicht eigentlich um die Bilder und deren Erläuterung, sondern um den ‚Künstler‘ als einem Gezeichneten, als Leidender mit Goldmaske und einem ‚toten Hasen‘ auf dem Arm, jenem doppelten Emblem der Kunst nach Beuys, das als ‚hakenschlagendes‘ Tier, das sich bewegt, indem es lauter ‚Sprünge‘ vollbringt, ‚aufs Haar‘ dem Künstler gleicht, der sich listig immer schon ‚woanders‘ befindet, ohne ihn an einem Platz, an einer feste Stelle oder Lokalität dingfest machen zu können. Als traditionelle Figur des ‚Gezeichneten‘, des Genies oder der Ausnahmeerscheinung selbst tot, vermag der Künstler vielmehr nur mehr dem ‚toten Hasen‘ seine Reverenz zu erweisen, ihn als Gewesenes liebkosen und in das ‚Neue‘ der Kunst, deren eigener ‚Winkelzüge‘ einführen, welche vom Großteil der zeitgenössischen Kritik als unverständlich verworfen wurde, indem sie bezeichnenderweise ihrerseits auf einen ‚toten Hasen‘, nämlich den Dürer-Hasen als Inbegriff und Maßstab künstlerischer Akkuratesse und Schönheit verwies. Dem ‚toten Hasen die Bilder erklären‘ gleicht dann entsprechend der vergeblichen Geste, der auf diese Weise totgesagten Kunst im geflüsterten Ton einer unhörbaren Rede noch einmal die Referenz zu erweisen und ihr ein Recht als Kunst zuzusprechen. Beuys vermochte darum, sie nur zu retten, indem er ihr im geschlossenen Raum der Galerie eine paradoxe Stätte zuwies, die sie von vornherein gegen jede ‚Kritik‘ wie gegen ihr Publikum immunisierte. Kunst bewahrt ihr Künstlerisches, indem sie konsequent aus der Kunst selbst austritt. 2. Schwarze und andere Quadrate Die Haltung kompromissloser Verweigerung wie ebenso der Prozess einer anhaltenden Paradoxalisierung bildet einen Grundzug der Kunst des 20. Jahrhundert. Sie gehören zu den Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 9 bevorzugten Strategien der Avantgarden. Ihre Ästhetik kann mithin als eine negative charakterisiert werden - negativ nicht in dem Sinne, dass sich das Ästhetische verbirgt, sondern als Negation der Tradition in allen Formen, die zugleich einen ‚anderen Anfang‘ der Kunst zu setzen versucht. Das gilt für die frühen Avantgarden mit ihren Manifesten und Proklamationen der Preisgabe und Zerstörung der Vergangenheit wie im gleichen Sinne für die zweite und dritte Phase avantgardistischer Ikonoklastik: der Ästhetik des Erhabenen und des Exzesses im abstrakten Expressionismus und den großen roten oder schwarzen Bildtafeln eines Barnett Newman oder Ad Reinhardt einerseits wie auch der Ästhetik der Performativität und des Ereignisses andererseits, die das ‚Werk‘ überhaupt abzuschaffen und durch eine ‚Arbeit‘ der Körper, der Praxis der ‚Präsenz‘ zu ersetzen trachteten (cf. Mersch: 2002a: 188ff). Dabei demonstrierte sich die Rigorosität der Verwerfung bereits anhand einer der ersten Antrittsgebärden des Avantgardismus, mit welcher er zu Beginn des Jahrhunderts die Bühne betrat und die zugleich zu dessen radikalsten Manifestationen gezählt werden kann: Kasimir Malewitschs Schwarzen Quadrat auf weißem Grund von 1915. Malewitsch, der lediglich von einem „Viereck“ sprach, bezeichnete es selbst als „eine völlig nackte Ikone ohne Rahmen (…), die Ikone meiner Zeit“ (cf. Néret 2007: 49). Sie muss gleichzeitig als Anti-Ikone gelesen werden. Seine Findung dauerte über Jahre: Malewitsch, noch vor 1912 an den großen französischen Vorbildern wie Paul Cézanne, den Fauves oder Ferdinand Léger orientiert, träumte in der Zeit zwischen 1913 und 15 von einer ‚universellen Malerei‘, die er zunächst unter den Titel eines ‚transmentalen Realismus‘, dann eines ‚Alogismus‘ stellte, um schließlich zum eigentlichen ‚Suprematismus‘ vorzudringen, dessen ‚Höhepunkt‘ darin bestand, keinerlei Steigerung mehr zu dulden: Dem ‚schwarzen Quadrat‘ kann nichts hinzugefügt oder abgezogen werden, es ist sich selbst. Darum entfaltet es nichts als seine Kenosis, eine Leere ohne Form, Farbe und Figur, der später allenfalls eine Variation aus Dreiecken, Kreisen oder Kreuzen in den elementaren Grundfarben Weiß, Schwarz, Rot, Gelb und Blau hinzugefügt wurde. Was sich als Anklang an eine theologische Bildtradition liest, erzählt jedoch tatsächlich die Geschichte einer fortschreitenden Zerlegung und Abstraktion, die in der Entkleidung der Struktur der Bildlichkeit des Bildes selbst gipfelte: Malewitschs Kunst folgt der Spur einer Analytik, deren Ziel, wie er in seiner kleinen Schrift Von Cézanne zum Suprematismus formulierte, in die „Pulverisierung“ der Gegenstände durch die vollständige Auflösung in ihre Grundelemente mündete (cf. Néret 2007: 41). Es handelte sich also um ein Bild über Bildlichkeit, um ein Meta-Bild im Sinne Tom Mitchells (1994: 45ff.), das sich gerade dadurch behauptet, dass es auf absolute Distanz zu jeder Form von Gestalt oder Darstellung, von Repräsentation oder Figuralität geht, um schließlich mit den Mitteln des Bildes im Bildlichen selbst zu einer anderen Art von Bildlichkeit zu gelangen. Ihr Endpunkt und eigentliche Verwirklichung als Schwarzes Quadrat, das in Ansätzen schon 1913 im Rahmen der Arbeiten am Bühnenbild der Oper Sieg über die Sinne von Michail Wassiljewitsch Matjuschin auftauchte (cf. Néret 2007: 38), dort aber noch zweckhaft eingebunden war, bildete Malewitschs eigentliche Obsession, die ihm nach eigenem Bekunden tagelange Schlaflosigkeit bescherte, doch wird das Quadrat erst 1915 in der Ausstellung Null-Zehn: 0,10 zusammen mit anderen suprematistischen Bildern ausgestellt, schräg platziert in der Ecke des Raumes, dort, wo der geweihte Ort der Ikone war, vor der man sich bekreuzigte. Dabei ist das Quadrat keineswegs symbolisch oder als Zeichen zu verstehen, wie man meinen könnte, denn weder steht es für etwas anderes, noch verkörpert es einen Akt, eine Allegorie, die auf eine Idee ‚dahinter‘ verweise, sondern es ersetzt, wie Malewitsch selbst bemerkt, das klassische göttliche Dreieck als Ursprung der Symbolik der Welt: Als Bedingung jeder Symbolisierung bleibt es darum der Symbolisierung fremd. „Die Moderne kann Dieter Mersch 10 2 Analog hat Roland Barthes (2006) den Begriff verwendet. schwerlich an dem antiken Dreieck festhalten“, lautet die entsprechende Notiz Malewitschs, „denn ihr gegenwärtiges Leben ist viereckig“ (cf. Néret 2007: 50). Man darf diese Bemerkung nicht zu leicht nehmen: Fußt das Symbol nach der Semiotik von Charles Sanders Peirce auf einer ursprünglich dreistelligen Relation, hat C.G. Jung demgegenüber die Dreistelligkeit als „männlich“ klassifiziert, der das Weibliche als Vierstelligkeit hinzugefügt werden muss, weil es die Triplizität durch das Moment ihrer Materialität vervollständige. Das Symbolische werde folglich in Richtung einer Irreduzibilität der Existenz überschritten. Entsprechend bedeutet das Schwarze Quadrat keine Figur, kein Emblem, vielmehr berührt es sich mit Pavel Florenskijs Auffassung einer ‚Autarkie‘ des Ikonischen, das allein ist, ohne über sich hinauszuweisen (1989: 57). In der Tat erscheint es in diesem Sinne für Malewitsch als ‚dringlich‘, als notwendig und Zielpunkt seiner gesamten malerischen Bemühungen oder Urszene dessen, was er als ‚Suprematismus‘ bezeichnete, denn es bildet den äußersten Punkt einer Negativität der Bildlichkeit, die jenen über Jahrhunderte überlieferten Platonismus treffen sollte, der das Bild stets auf seinen Gehalt, seine bloße Ab-Bildlichkeit reduzierte. Stattdessen besagt es nichts, zeigt nichts, sondern hat sich, wie Malewitsch betonte, „selbst zum Ziel“ (cf. Néret 2007: 61). Gewiss sieht man immer ‚etwas‘, wenn man ein Bild betrachtet, wie man gleichfalls ‚auf etwas‘ schaut, auf einen Gegenstand, ein „Bild-Objekt“, wie Edmund Husserl sagte, als ob sich das Bild einzig in dem erfüllen würde, was es jeweils zur Schau stellt, ‚ansichtig‘ macht oder dem Blick darbietet. Dieser Weise ikonischer Verführung, die selbstverständlich zu sein scheint, setzt Malewitsch eine elementare visuelle Paradoxie entgegen. Sie gleicht der Vexierung. Denn unklar bleibt zunächst - insbesondere dann, wenn man sich auf den Titel Viereck beschränkt -, ob es sich um ein ‚schwarzes Quadrat auf weißem Grund‘ oder um einen ‚weißen Rahmen auf schwarzem Grund‘ handelt: Später hat Josef Albers diese einfache Ambiguität unter Anspielung auf Malewitsch in seinen über 1000 Hommages to the Square (seit 1949) dadurch ausbuchstabiert, dass er sie in eine komplexe Schachtelung aus unterschiedlichen Farben brachte, so, dass sich mal eine Serie von Rahmungen, mal eine Übereinanderlagerung verschiedenartiger Quadrate sehen ließ. Zudem hatte Malewitsch weitere „Quadrate“ präsentiert, darunter ein Schwarzes und rotes Quadrat (um 1920) sowie Weiß auf Weiß, das allgemein unter der Bezeichnung Weißes Quadrat auf weißem Grund (1917) geführt wird. Sie alle fungieren nicht als Prototypen geometrischer Figuren, auf die sich die Malerei reduzieren ließe, auch nicht als reine, elementare Formen, aus denen alle anderen Formen abgeleitet werden könnten, sodass wir es letztlich mit einem formalistischen Programm zu tun bekämen, vielmehr gleichen sie verschiedenen ‚Nullpunkten‘ der Malerei im Sinne ihrer absoluten Verweigerung 2 - und damit als bedingungslose Opposition zur klassischen Bildphilosophie von Platon bis Kant, Fichte oder Hegel. Gleichzeitig brechen sie zu vollkommen anderen Ufern auf. Das Neue liegt nicht im Horizont einer Darstellung oder Abbildlichkeit, sondern die Schwärze, die es ausstellt und die die bisherige Bildlichkeit des Bildes gleich einem ‚Schwarzen Loch‘ verschlingt, einer ‚Dichtigkeit‘ oder Opazität, die den Blick abgleiten lässt. Das Bild wird so, wie man sagen könnte, zu einem ‚Nichtbild‘, einer reinen Anziehung der Aufmerksamkeit, worin sich das Auge verliert, das im selben Maße auch ‚anblickt‘, ‚angeht‘ und den Blick nicht loslässt. Die Vexierung oder Zweideutigkeit, die es zwischen ‚schwarzem Quadrat‘ und ‚weißem Rand‘ entfesselt, überträgt sich dann auf das Sehen selbst: Gleichzeitigkeit seiner Abweisung wie Fesselung, denn man kann sich von der Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 11 Magie des Schwarzen Quadrats schwerlich lossagen - es scheint den Blick, im Augenblick wie es ihm ‚nichts‘ zu sehen gibt, einzusaugen, um ihn an einem unbestimmten, vielleicht sogar unendlichen Punkt umzukehren und auf den Betrachter selbst zurückzuwerfen. Spricht Florenskij angesichts der Ikone, die immer noch die Figur auszeichnet, von einer „umgekehrten Perspektive“, die der Umstülpung des Blickpunkts gleichkommt, um, nach einem Ausdruck von Roland Barthes, den Betrachtenden zu „punktieren“ (1989), so bildet das Schwarze Quadrat dessen ultimative Realisation: Eine ‚Kehre‘ des Bildlichen selbst, das wie das Negativ einer Fotografie wirkt, das Schwärze zeigt, aber Weiße meint. Genau darin manifestiert sich die Geste seines Avantgardismus: Die absolute Tautologie des Quadrats, welche nennt, was sie zeigt, ist identisch mit der absoluten Paradoxie, die, indem sie nichts zeigt, die Transzendenz selbst bezeugt, um mich als Betrachter am Ort ihrer Unendlichkeit selbst zu ‚stellen‘. 3. ‚Mit allem Schluss machen‘ Etwas Ähnliches geschieht, beinahe zur gleichen Zeit, im Dadaismus, allerdings mit ganz anderer ästhetischer Verve. Sein Gründungsakt im Züricher Club Voltaire 1916 entfacht ein Feuerwerk aus Spott, Ironie und beißendem Sarkasmus. „Dada ist eine neue Kunstrichtung“, heißt es im Eröffnungsmanifest von Hugo Ball: „Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand etwas davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird.“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 121) Und in einem Manifest von Paul Dermée heißt es: „Dada ist weder eine literarische Schule noch eine ästhetische Doktrin“: „Dada ärgert sich über die, die ‚KUNST‘, ‚SCHÖNHEIT‘, ‚WAHRHEIT‘ mit Großbuchstaben schreiben und aus ihnen dem Menschen überlegene Wesen machen. (…) Dada entkleidet uns der dicken Dreckschicht, die sich seit einigen Jahrhunderten auf uns gelegt hat. Dada zerstört und begnügt sich damit. Dada möge uns helfen, mit allem Schluss zu machen.“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 193f.) Von neuem sind wir mit einer künstlerischen Negativität konfrontiert, sie sich zur Paradoxie steigert, denn ‚mit allem Schluss‘ zu machen erzeugt den gleichen Selbstwiderspruch, wie ‚an allem‘ zu zweifeln: Ebenso wie universelle Skepsis impliziert, sich selbst verwerfen zu müssen und damit gerade nicht mehr zu zweifeln, bedeutet ein allgemeines ‚Schlußmachen‘ auch mit dem Schlussmachen aufzuhören, folglich ‚weiterzumachen‘. Indessen führen Selbstwidersprüche allein im Rahmen von Logik und Rationalität zu Fehlschlüssen oder Unsinnigkeiten; hier handelt es sich im Gegenzug um bewusst inszenierte Paradoxien und Unsinnsvolten, um zu einer Rationalitätskritik zu gelangen, die in eine ähnliche Richtung weist, wie Malewitschs Bildkritik. Denn die dadaistische Liebe zum Unsinn meint in erster Linie eine Liebe zum Nicht-Sinn, zum „Jenseits“ des Sinns - und damit gleichfalls zu einer Kenosis, einer Leere oder einem Stillstand, worin ein ‚Anderes‘ des Sinns aufscheint. Das beginnt schon mit dem Wort ‚Dada‘. Dem Lexikon entnommen bedeutet es, wie Hugo Balls Eröffnungsmanifest ergänzt, im Französischen ‚Steckenpferd‘, im Deutschen ‚Rutsch mir den Buckel‘ herunter, im Rumänischen: ‚Ja Sie haben recht‘ usw. (cf. Asholt, Fähnders 1995: 121) „Dada bedeutet nichts“, heißt es denn auch bei Tristan Tzara, es sei vielmehr „ein Wort, das die Ideen hetzt“, eine im selben Maße destruktive Kraft wie „vergnügliche Maschine“, die weder „etwas“ intendiere noch ein Ziel habe außer der Diktatur des Sinns, der Tyrannei des ‚Sagen-wollens‘ zu entkommen und in das Reich eines ‚Sinn-Außen‘, eines radikal Asignifikanten zu gelangen. Tristan Tzara fügt deshalb hinzu: Dieter Mersch 12 Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen Prinzipien bin. (…) Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, dass man mit einem einzigen frischen Sprung entgegengesetzte Handlungen gleichzeitig begehen kann; ich bin gegen die Handlung für den fortgesetzten Widerspruch. (cf. Asholt, Fähnders 1995: 150) Und, in der gesteigerten Form eines Gebets, einer Litanei: Jedes Erzeugnis des Ekels, das Negation der Familie zu werden vermag, ist Dada; Protest mit den Fäusten, seines ganzen Wesens in Zerstörungshandlung: Dada (…); Vernichtung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen der Schöpfung: Dada; jeder Hierarchie und sozialen Formel (…): Dada; jeder Gegenstand, alle Gegenstände, die Gefühle der Dunkelheiten; die Erscheinungen und der genaue Stoß paralleler Linien sind Kampfesmittel: Dada; Vernichtung des Gedächtnisses: Dada; Vernichtung der Archäologie: Dada; Vernichtung der Propheten: Dada; Vernichtung der Zukunft: Dada (…). Freiheit: Dada, Dada, Dada, aufheulen der verkrampften Farben, Verschlingung der Gegensätze und aller Widersprüche, der Grotesken und der Inkonsequenzen: Das Leben. (cf. Asholt, Fähnders 1995: 155) Der Affront mit den Mitteln eines scheinbar überbordenden Nihilismus, welcher lediglich vorgibt, die ‚An-Archien‘ des ‚Lebens‘ zu bedeuten, zielt indessen über die Grenzen des Ästhetischen hinaus auf einen Umsturz im künstlerischen Ethos selbst. „Wer von Dada nur seine possenhafte Phantastik beschreibt“, heißt es folglich bei Jean Arp, „und nicht sein Wesen, nicht in seine überzeitliche Realität eindringt, wird von Dada ein wertloses Bruchstück geben.“ (1995: 20) Denn Dada, so auch Hans Richter gleichsam als ‚Chronist‘ des Dadaismus, „hatte keine einheitlichen formalen Kennzeichen wie andere Stile, aber es hatte eine neue künstlerische Ethik.“ (1973: 8) Sein Lockvogel ist die Boshaftigkeit, die Parodie, jene zersetzende Kraft des Gelächters (Richter 1973: 66), das ebenfalls aus Friedrich Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft entgegenschallt und dem Michael Bachtin in Rabelais und seine Welt ein philosophisches Denkmal gesetzt hat: Umsturz der Verhältnisse durch eine Praxis der Inversion, die sich gegen jedes ihrer Merkmale kehrt, um das Gesetz und die überlieferte Ordnung im Wortsinne zu ‚revoltieren‘: „Inzwischen haben wir uns besser besonnen“, notierte Nietzsche in der Götzen-Dämmerung: „Wir glauben heute kein Wort mehr von dem Allen.“ (1999: 90) Entsprechend heißt es in einem von Edgar Varèse, Tristan Tzara, Francis Picabia, Marcel Duchamp und Louis Aragon unterzeichneten Manifest: „Dada siebt alles durch ein neues Netz. Dada ist jene Bitterkeit, die ihr Lachen auf alles prallen läßt, was in unserer Sprache, in unserem Gehirn und unserer Gewohnheit bisher gemacht, bestätigt und vergessen wurde.“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 225) Scheinbar Produkt einer grenzenlosen Clowneske, die sich über alle Konventionen hinwegzusetzen wagt, verkündet der Dadaismus jedoch im Gegenteil das „primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 146), den „Ohne-Sinn“, wie Jean Arp betonte, der hier vor allem bedeutet: der Bruch mit Rationalität, Technik und Wissenschaft, d.h. mit dem Ganzen der modernen Kultur. Deswegen inszenieren die grotesken Szenarien des Dadaismus im letzten Sinne eine Kulturrevolution - ihr Ziel ist keine Destruktion um der Destruktion willen, sondern eine ‚Dekonstruktion‘. Wie das Partikel ‚kon‘, das vor allem von Jacques Derrida ins Herz der Destruktion eingeschleust wurde, die Gleichzeitigkeit der Bewegung eines Ab- und Aufbaus anzeigt - und damit der Heideggerschen ‚Destruktion‘ der Metaphysik, die hier im Ästhetischen ihre Parallele findet, allererst ihre Prägung verleiht -, beinhalten die kritischen Manöver des Dadaismus neben ihrer Negativität zugleich einen positiven Impuls. Auf dessen Bahn lenkt Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 13 3 Zur Wiedergewinnung der Materialität in der Kunst des 20. Jahrhunderts, vgl. insbesondere Monika Wagner, 2001: 17-24, sowie vom Vf. 2012: 21-49. eine Bemerkung Walter Benjamins aus seinem Kunstwerkaufsatz, worin es heißt, dass die Dadaisten, (a)uf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke (…) viel weniger Gewicht (legten) als auf ihre Unverwertbarkeit (…). Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind Wortsalat, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. (Benjamin 1976: 43 Was Benjamin derart aufspießt und im Prinzip des „Unverwertbaren“ festhält, weist auf die Weigerung, am Verbrauch, dem Konsum und dem Grundsatz ökonomischer Verwertbarkeit teilzunehmen und durch Verwendung von Reststoffen, Zeitungsfetzen oder - wie in Kurt Schwitters Merzbildern, die dem Kommerz ausdrücklich entgegen gesetzt waren - in der Gosse aufgelesenes Material wie Fahrscheine, Knöpfe, Garnspulen oder Draht zu unterlaufen. Der Passus verträgt sich unmittelbar mit einer Bemerkung Jean Arps, worin Dada mit der Sinnlosigkeit der „Natur“ verglichen wird, indem jedem Ding „sein() wesentliche(r) Platz“ zurückerstattet wird: „Dada ist moralisch wie die Natur.“ (1995, 50) Augenscheinlich gehören das „Unverwertbare“ Benjamins und die „Moral“ der Natur zusammen: Sie treffen sich im Materialhaften. Jenseits des Symbolischen, jenseits der Verdopplung der Spiele der Vernunft enthüllt der Dadaismus durch die schier unerschöpfliche Erfindung von immer neuen Paradoxien das ‚Andere‘ des Sinns und der Vernunft, nämlich die aus dem Reich der Zeichen exilierte Materialität: „Dada will die Benutzung des neuen Materials in der Malerei“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 147), postuliert denn auch eines der Gründungsmanifeste des Dadaismus von 1918, an deren Verfassung Hugo Ball, Jean Arp und Tristan Tzara ebenso beteiligt waren wie Marcel Janco, Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann. Das Neue an Dada ist folglich, die klassischen Oppositionen zwischen Stoff und Form, zwischen Material und Bedeutung ein wenig aufzulockern, zu zerdehnen, um ihre Klüfte weiter aufbrechen zu lassen und der seit Jahrhunderten verdrängten Stofflichkeit erneut zu ihrem Recht zu verhelfen. 3 Deswegen die Einbeziehung des Sperrigen und Unbotmäßigen, der ‚Unfüglichkeit‘ der Materialien, der Kombination von „Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schlägen auf den Tisch oder auf leeren Kisten“, wie es wiederum Hans Richter ausgedrückt hat (1973: 17), und ihre Verfugung zu körperlichen Collagen ungeschlachter Ereignisse. Hugo Ball und Kurt Schwitters inspirierte diese Haltung zu ihren Lautgedichten, die die „Rauheit der Stimme“ (Roland Barthes), ihr „Fleisch“ (Merleau-Ponty) in ihrer Blöße zum Vorschein zu bringen suchten; gleiches gilt für Kurt Schwitters’ Materialreliefe, seine Assemblagen der Überraschung und Zufälligkeiten oder, als deren fernes Echo, die objets trouvés der Arte povera, Robert Rauschenbergs Combine Paintings, Edward Kienholz’ Environments bis hin zu Josef Beuys alchimistischen Verbindungen von Fett, Kupfer, Filz und Honig zu neuen energetischen Kraftwerken. Sie offenbaren die Ekstatik des Materials als Ereignis von Existenz im Sinne einer Ereignung des Nichtgemachten, Unverfügbaren. In ihr liegt die spezifische, von Richter apostrophierte „Ethik“ des Dadaismus. Mehr noch: Indem das verworfene Material den ‚Passagen‘ eines stets anderswo passierenden ‚Zu-Falls‘ entrissen wird, destituiert sich im gleichen Maße der Künstler als Autor und Subjekt eines Schaffensprozesses, der durch die Ausnahmefähigkeit seiner Kreativität immer wieder von neuem beglaubigt wird. Der Zufall besitzt keine Adresse, keine Originalität, die Dieter Mersch 14 4 Der Ausdruck „Unbewußtes“ meint hier nicht den psychoanalytischen Terminus, sondern ein Nichtintentionales. auf einen Urheber, einen Demiurgen oder „Werkmeister“ (Hegel) verwiese, sodass Künstler und Werk auseinander treten und die Kunst selbst ‚werklos‘ wird. Deshalb hat Richter die Entdeckung des Zufalls das „eigentliche Zentralerlebnis von Dada“, seinen schöpferischen „Kompaß“ genannt (1973: 52): Er disloziert das Künstlersubjekt und macht ihn zu einem Aufnehmenden oder Annehmenden, im Wortsinne zu einem aisthetikos. Nicht länger Autor oder Meister seiner actio, vielmehr ‚Hüter‘ einer passio, gleicht er einem Entdecker, einem Fahrenden wie ‚Er-Fahrenden‘, ausgestattet mit einer besonderen Empfänglichkeit für das ‚Andere‘, Nichtintentionale. „Das ‚Gesetz des Zufalls‘, welches alle Gesetze in sich begreift und uns umfaßt wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt, kann nur unter völliger Hingabe an das Unbewußte erlebt werden,“ vermerkt entsprechend Jean Arp: „Wir versuchten uns demütig der ‚reinen Wirklichkeit‘ zu nähern.“ (1995: 74) 4 Damit schließt sich der Kreis. Er verknüpft die Elemente stets widerständiger und unfüglicher Materialität mit der Unwillkürlichkeit des ‚Zu-Falls‘ als ‚Gabe‘ des Augenblicks und der Existenz und transformiert damit die Ordnung des Ästhetischen als einer Ordnung der Zeichen zu einer ‚Un-Ordnung‘ des im gleichen Maße Zu-Kommenden wie „Zuvorkommenden“ (Schelling). „Es handelte sich darum“, wie es auch Hans Richter fasste, die ursprüngliche Magie des Kunstwerkes wiederherzustellen und zu jener ursprünglichen Unmittelbarkeit zurückzufinden, die uns auf dem Wege über die Klassik der Lessing, Winckelmann und Goethe verlorengegangen war. Indem wir das Unbewußte, das im Zufall enthalten ist, direkt anriefen, suchten wir dem Kunstwerk Teile des Numinosen zurückzugeben, dessen Ausdruck Kunst seit Urzeiten gewesen ist (…). (1973: 59) 4. Seltsame Objekte Demgegenüber hat der Surrealismus einen gänzlich anderen Weg beschritten und die Ordnung der Zeichen selber angegriffen. Bekanntlich referierten die Surrealisten auf Sigmund Freud und die ‚Alogik‘ des Unbewussten als einem Ort bedingungsloser Produktivität. Der Übergang vom Dadaismus zum Surrealismus besteht in erster Linie in dieser Positionsverschiebung: von der Alterität des ‚Zu-Fall‘ zum ‚Imaginären‘ als der Kraftquelle des Schöpferischen, wie sie am Reinsten der ‚Sprache‘ des Traums zugesprochen wird. Die Verbindung hatte vor allem André Breton gezogen; sie lässt sich gleichfalls aber auch wahrnehmen - man denke an die Bilder Salvador Dalis, Max Ernsts und René Magrittes. „Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Gebiet des Traums gerichtet“, heißt es entsprechend im Ersten Manifest des Surrealismus Bretons: Es ist in der Tat völlig unzulässig, dass dieser beträchtliche Teil der psychischen Tätigkeit (bietet doch - zumindest von der Geburt des Menschen bis zu seinem Tode - das Denken keinerlei kontinuierliche Lösung, und ist doch die Summe der Traum-Momente, selbst wenn man nur den reinen Traum, den des Schlafes betrachtet, zeitlich gesehen nicht geringer als die Summe der Wirklichkeits-Momente, sagen wir einfach: der Momente des Wachseins), daß der Traum noch so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. (1977: 15) Dem Traum seine unerschöpflichen Bildsprachen entlocken - das ist die Aufgabe, die sich stellt, was insbesondere bedeutet, das analytische Verfahren der „freien Assoziation“ zum „eigentlichen Werkzeug“ der Poesie, ihrer „wahren“ Methodik zu erklären. Das Instrument Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 15 dazu bietet die écriture automatique, der „reine psychische Automatismus“, der nach Breton jenseits aller Zensur einer eifersüchtigen Rationalität die imaginative „Selbstschreibung“ besorgt (1977: 26), welche weniger der Evokation von Kontingenz, als der Vervielfältigung und Streuung des Sinns dient. Analog zum Dadaismus schafft also nicht der Künstler, sondern es schafft sich; aber wiederum anders als der dadaistische ‚Zu-Fall‘ gehorcht das ‚Es‘ den Exzessen des Triebs, den unberechenbaren Spielen seines Begehrens. Im Katalog zur Ausstellung Was ist Surrealismus von 1934 vermerkte daher Max Ernst: Als letzter Aberglaube (…) bleibt dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf die rein ‚passive‘ Rolle des Autors im Mechanismus der poetischen Inspiration mit allem Nachdruck bestand und jede ‚aktive‘ Kontrolle durch Vernunft, Moral oder ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte. Als Zuschauer kann er der Entstehung des Werkes beiwohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgültigkeit oder Leidenschaft verfolgen. (1998: 600) Und dennoch führt der Weg über den unbewussten psychischen Automatismus in die Irre, solange nicht die „Schreibung“ der écriture, ohne im engeren Sinne an eine Textproduktion zu denken, nicht auf jenen erweiterten Schriftbegriff appliziert wird, wie er sich in den strukturalistischen Zeichentheorien und besonders bei Derrida findet. Zeichen meint hier nicht die Signifikation als Prozess einer Symbolisation, sei sie zwei-, drei- oder vierstellig im Sinne der klassischen Repräsentationstheorie, Charles Sanders Peirce’ Semiotik oder Ferdinand de Saussures linguistische Semiologie gedacht, sondern als Signifikant, als Spur oder Marke (marque). Einen solchen Schriftbegriff hatte bereits Jacques Lacan vorgeprägt, dessen psychoanalytische Konzeption für die Surrealisten Weg weisender war als die Freuds. Danach funktioniert das Unbewusste „wie eine Sprache“ als reine Verkettung von Signifikanten, die nicht sprechen, indem sie etwas besagen wollen, sondern die sich dem Subjekt als libidinöse Markierung ‚unter-schieben‘ - denn es gibt „schlechterdings keinen Anspruch“, wie Lacan sich ausdrückte, „der nicht irgendwie durch die Engführungen des Signifikanten hindurch müßte“ (1975: 187). Folglich bedeutet die Sprache des Unbewussten keinen Diskurs, sondern eine Rhetorik der Übertragung, die an sich schon dichterisch verfährt, und zwar so, dass ihr wesentliches Fundament auf Operationen basiert, die es erlauben, die rhetorischen Funktionen der Metapher und Metonymie mit den Prozeduren der „Verschiebung“ und „Verdichtung“ der „Traumarbeit“ bei Freud in Verbindung zu bringen (1961: 235ff, 255ff.). Im Gegensatz zum Dadaismus suchte der Surrealismus deshalb auch keine Steigerung des ‚Un-Sinns‘, ein Sinn- Anderes, indem die Prozesse der Signifikation durch Verweis auf ihre verdrängte Materialität oder die Effekte des Zufalls hintertrieben werden, vielmehr setzte er auf den Wider-Sinn, die Störung der Bedeutungen, den Riss in ihrem Gewebe, ihre Überziehung und Überzeichnung bis an die Grenzen, um ihre etablierten Netze in Bewegung zu bringen - sie der „Kontrolle durch die Vernunft“ (1977: 26), wie Breton hinzusetzte, zu entziehen. Das Mittel dazu bildet die Findung und Erfindung ‚konträrer Konfigurationen‘. Sie reformulieren das Prinzip der freien Imagination auf dem Gebiet der Sprache, indem sie die Kontrastierung, die Kontradiktion und den ‚Gegen-Satz‘ als wesentlichen Motor eines Neu- und Anderssagens ausweisen. Es geht also nicht um die „Wiedereinsetzung der Rechte des Imaginären“, wie Breton sagte (1977: 15), sondern um die Reinstantiierung des Rhetorischen als Ort des Poetischen, so allerdings, dass dessen maßgebliche Energien in den Katachresen, den chiastischen Verstrickungen oder anderer paradoxer Konstellationen zu suchen sind. Ja, Dieter Mersch 16 5 Vgl. zur Interpretation der Bilder Magrittes auch vom Vf. 2002b: 295ff. sowie Böhme 1999: 47ff. man kann sogar sagen, dass der Surrealismus das Absurde, den Widersinn und die Paradoxie als die eigentliche Triebstruktur der Sprache aufdeckte und zu einem der mächtigsten Sprengsätze gegen die angestammten Ordnungen des Symbolischen weiterentwickelte. Das lässt sich vielleicht am Entschiedensten bei René Magritte, bei Bildern wie La clef des songes (1927-30), L’usage de parole (1927, 28), Les six éléments (1928) oder auch Le masque vide (1928), in deren Umkreis ebenfalls die berühmte Serie Ceci n’est pas une pipe (1928-1966) mit ihrer Folge La trahison des images (1948) und Les deux mystères (1966) gehört, ablesen. 5 „Rappel à l’ordre“ lautete eine Schrift mit Aufsätzen Jean Cocteaus, die 1926 in Paris erschien und sich mit den damaligen Tendenzen der Kunst auseinandersetzte: „Ruf zur Ordnung“, der vielleicht mehr noch ein Ruf zur Unordnung war, ein Appell an die Wucherungen, den Überschuss der Phantasmen, deren wichtigster Niederschlag die Ästhetik Magrittes darstellte. Dessen kleine Schrift aus Bild-Text-Aphorismen mit dem Titel Les mots et les images, die 1929 in der Zeitschrift La Révolution Surréaliste erschien, verfährt jedenfalls kongenial mit Cocteau: Die lakonischen, in knappem Stil gehaltenen Sentenzen bergen nichts weniger als eine komplette Kunst- und Zeichentheorie der Worte und Bilder. Nicht nur reflektieren sie deren Verhältnis, indem sie mal nebeneinander her laufen, sich mal widersprechen oder das Gegenteil voneinander aussagen lassen, sondern sie stellen überhaupt die Frage nach der Medialität der Zeichen, ihrer intermedialen Relationen zueinander sowie ihrer Referentialität, in der bezeichnenderweise der Topos der Wirklichkeit als Bezugspunkt nicht vorkommt. So zeigt der erste Aphorismus paradigmatisch auf ein Blatt, das auch ein ‚Blatt Papier‘ darstellen könnte, das mit dem ‚Namen‘ „le canon“ versehen ist - im Doppelsinn der „Kanone“ wie auch der „Regel“, des „Kanons“, durch den eine Stabilität des Sinns erst entsteht, der hier allerdings gleichzeitig zersetzt und aufgelöst wird. Das Verhältnis beider, des Dings und des Worts, wie Saussure es gelehrt hat, ist „arbiträr“ (1967: 77) - was würde geschehen, wenn man einer Sache einen anderen Namen erteilte und auf diese Weise die Struktur des Symbolischen durcheinander brächte? Müsste nicht auf eine einzige Substitution eine Reihe anderer folgen, um noch Verständlichkeit zu wahren und eine Verständigung zu garantieren? Nichts verbürgt oder legitimiert den ‚Kanon‘, wie auch die Beziehungen zwischen Worten und Bildern offen und jederzeit ‚verrückbar‘ erscheint - denn was wäre ein poetischer Prozess anderes, als sie beständig auf neue Weise zu lösen und wieder aneinander zu binden? Die Poetik der Welt beruht doch gerade darauf, dass wir uns nicht an eine beglaubigte Ordnung, eine gültige oder unabhängige Instanz oder ein „transzendentales Signifikat“ (Derrida) halten, sondern es immer nur mit Möglichkeiten zu tun haben, die beständig von Neuem besetzt, umarrangiert oder anders gesponnen werden können: Denn „Verweise verweisen auf Verweise“, wie es bei Derrida (1974: 511) heißt; „(d)as Supplement ist immer das Supplement eines Supplements“ (1974: 521), sein „Spiel (…) ist immer indefinit“ (1974: 511), sodass sich sein ‚Grund‘ zuletzt im Bodenlosen verliert. Deswegen spricht Magritte statt von ‚Verbindungen‘ zwischen den Zeichen, die stets noch ihre ‚Verbindlichkeit‘ konnotieren, zurückhaltender von ihrer „Begegnung“ (rencontre). In Satz 4 von Les mots et les images heißt es: „Ein Gegenstand begegnet (rencontre) seinem Bild, ein Gegenstand begegnet (rencontre) seinem Namen. Es kommt vor, daß Bild und Name dieses Gegenstandes sich begegnen (se rencontrent).“ (1985: 37) Das ‚Vorkommen‘, wie genauso die Begegnung, signalisieren etwas, das passiert - ein zufälliges Zusammentreffen ohne Grund und Dominanz: Das Wort regiert dabei nicht das Bild, sowenig wie das Bild das Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 17 6 Foucault (1974), dem der Maler nach der Lektüre von dessen Les mot et les choses einige Proben seiner Arbeiten geschickt hatte, unterscheidet allein sieben verschiedene Lektüren der Paradoxie, unter denen die hier angedeutete nicht einmal vorkommt. Wort beherrscht, vielmehr gleicht ihr Verhältnis sowohl der Freudschen wie der Saussureschen „Assoziation“: Nichtmotivierter Konnex, wie das Paar Signifikant/ Signifikat, dessen Assoziiertheit gleichwohl immer neue und unerwartete Zusammenhänge zu stiften vermag. Andere Weisen der Begegnung sind der Zusammenstoß, die Trennung und ‚Entbindung‘: Die Worte und die Bilder gehen gelegentliche ‚Affären‘ ein, sie treffen aufeinander, stören oder ignorieren sich. So kann ein Wort, wie in Satz 1, ein Bild bezeichnen oder sich zu ihm gesellen, wie es sich auch von ihm abkehren kann; es kann außerdem im Bild sein oder umgekehrt durch einen Teil des Bild verdeckt werden - ebenso wie die Worte Bildelemente überschreiben oder selbst zum Bildelement werden können und dabei Zustimmung oder Ablehnung erfahren wie in Ceci n’est pas une pipe. Das Pfeifenbild, auf die Magritte zeitlebens immer wieder zurückgekommen ist, erscheint hier in der Tat als Schlüssel, weil es den gesamten verhandelten Reflexionsprozess anhand einer elementaren Paradoxie durchdekliniert. Denn die Zeichnung präsentiert, was die Schrift verneint: Beide scheinen einander Lügen zu strafen. Und doch erkennt man den Widerspruch nur, wenn man das Bild als Pfeife erkennt und der Kalligraphie des Satzes eine Richtigkeit zuschreibt - andernfalls handelt es sich lediglich um konträre oder zufällig sich am gleichen Platz befindliche Aussagen. Das Bild induziert demnach einen Kommentar, der weit über das Spiel der Oppositionen hinausgeht: Weniger spiegeln oder reiben sich Zeichnung und Text aneinander, als dass sie vielmehr die klassische Hegemonie der Worte über die Bilder ‚dekonstruieren‘, jenes unbesehene Vorurteil, dass die Sprache über das Bild herrscht, wie es Platon philosophisch begründete und es die Ikonoklasmen der Spätantike und der frühen Neuzeit religionspolitisch fortsetzten. Ihnen wird das Schlagende der Bilder entgegengesetzt, denn der Blick empfängt zunächst das Bild der Pfeife, um erst im zweiten Augenblick durch die Behauptung Ceci n’est pas une pipe irritiert zu werden. Mithin entsteht ein schwer auslotbares symbolisches Feld, das in sich im ununterbrochenen Zwiespalt hält, welchem Medium Glauben zu schenken ist und welchem nicht. Der Konflikt ist nicht lösbar; er verbleibt in der Schwebe einer fortwährenden Changierung, aus der es kein Entrinnen gibt. 6 Buchstäblich lässt damit die Paradoxalisierung eine Lücke zwischen den Zeichen entstehen, die ihr konventionelles Band lockert, um die vermeintliche Selbstverständlichkeit ihrer Hierarchisierung unter Reflexion zu stellen. 5. Ästhetik der Paradoxalisierung Die Paradoxie, das ist die These der lediglich beispielhaft vorgehenden Überlegungen, bildet so das zentrale Reflexionsmedium avantgardistischer Ästhetiken. Unter ‚avantgardistischen Ästhetiken‘ seien dabei die Verfahren der Künste selber verstanden, denn die Kunst - als eine Praxis - wird hier argumentierend. Sie unterhält gleichsam einen ‚Diskurs‘ mit sich selbst. Avantgardismus - das meint keine Stilrichtung unter anderen künstlerischen Stilen, sondern einen Fluchtpunkt, eine Krisis, ein Durch- und Übergang zu einem anderen Begriff von Kunst, eine andere Bestimmung des Ästhetischen, die den ‚Ausgang aus der Kunst‘, d.h. die Auseinandersetzung mit ihr als Kunst voraussetzt. Diese Auseinandersetzung kann nur in Bezug auf ihre Geschichte formuliert werden. Folglich erweist sich ihr ‚Ausbruch‘, ihre Flucht als Dieter Mersch 18 7 „Das Paradoxon hat die phantastische Eigenschaft, etwas aufzulösen und in einen Nicht-Zustand zu versetzen. Aus dem Nichts heraus ergibt sich dann ein neuer Impuls, der einen neuen Beginn setzt.“ Vgl. Beuys 1994: 144. ein Austritt aus ihrer Geschichtlichkeit entlang jener Kategorien, die die bis dahin überlieferten Räume des Ästhetischen konstituierten - Begriffe wie ‚Darstellung‘, ‚Einbildungskraft‘ ‚das Schöne‘, ‚Werk‘, ‚Originalität‘, ‚Genie‘, ‚Freiheit‘ sowie, bezogen auf die ‚Objekte‘ der bildenden Kunst, ‚Form‘, ‚Linie‘, ‚Farbe‘, ‚Gestalt‘, ‚Sujet‘, ‚Komposition‘ oder ‚Materialität‘ und ‚Grund‘ usw., deren Legitimität mit künstlerischen Mitteln systematisch in Zweifel gezogen werden. Sie reagierten, wie es Jean-François Lyotard treffend aus Anlass der von ihm mitorganisierten Ausstellung Immaterialitäten 1985 in Paris formulierte, auf die Auflösung des Malermetiers, indem sie sich auf eine Suche begaben, die um die Frage kreiste: ‚Was ist Malerei‘? Die zur Ausübung des Metiers gehörenden Konditionen wurden eine nach der anderen auf die Probe und in Frage gestellt: Lokalfarbe, Linearperspektive, Wiedergabequalität der Farbtöne, Rahmung, Formate, Grundierung, Medium, Werkzeug, Ausstellungsort, und viele anderen Bedingungen wurden von den verschiedenen Avantgarden anschaulich hinterfragt (1985 : 97). Wie ist dies möglich - und vor allem: wie geschieht eine solche Verhandlung von Kunst in Kunst, wie die Reflexion über Kunst im Medium der Künste selbst? Aus den vorangestellten Exempeln lassen sich drei Hauptmerkmale extrahieren: Negativität, Selbsteferentialität und Paradoxalisierung. Sie konturieren das Selbstverständnis der Ästhetik der Avantgarden. Alle drei gehören zusammen und können nicht voneinander getrennt untersucht werden, verweisen doch negative Referenzen selbst schon formal auf die Konstruierbarkeit von Paradoxien, die freilich gerade nicht unter Verbot oder Ausschluss gestellt werden, sondern als „Nicht- Zustände“ (Beuys) und Orte einer Befreiung die Möglichkeiten des Neuen heraufzubeschwören vermögen. 7 Begonnen sei mit dem Gesichtspunkt der Negativität. Von Anfang an inszenierte der Avantgardismus der 1910er und 20er Jahre das Pathos des Umsturzes. Tomaso Marinetti, als einer ihrer ersten Wortführer, pries die „fiebrige Schlaflosigkeit“, den „Kampf“: „Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.“ Und weiter: „Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt (…). Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und Akademien jeder Art zerstören.“ (cf. Asholt, Fähnders 1995: 4f.) Die ästhetische Arbeit, das Futur, das der Futurismus sich selbst auf die Fahnen schrieb, erweist sich in dieser Hinsicht als die Arbeit einer ‚Destruktion‘, die allerdings, folgt man der Heideggerschen Wendung dieses Ausdrucks, sich nicht im Werk einer rücksichtslosen Niederreißung erschöpft, sondern in der hartnäckigen Beseitigung der Bestände der Tradition und ihrer impliziten Vorurteile. Heidegger bezog sie auf die Strukturen der Metaphysik, die als Grundlagen philosophischer Ästhetik auch in die Künste lebendig bleiben und sie konditionieren. Avantgardismus bedeutet dann die ‚Entschränkung‘ der Macht und Gültigkeit vergangener Kunst-Metaphysiken, im Besonderen der klassischen und romantischen Künste. „Nieder mit dem Mondschein“ lautete eine seiner Parolen. Alle Avantgarden verachteten das Gewesene: der Futurismus, der davon spricht, die Museen zu schwemmen, nicht weniger als der Dadaismus mit seiner Lust, alles und sogar noch das Verwerfen zu verwerfen, oder der Surrealismus, indem er die vorhandenen Ökonomien der Zeichen zu verwirren suchte, um der Zirkulation des Sinns zu entraten, sie zu zäsurieren, um in sie neue Schnitte einzufügen und sie zu einem Anderen hin zu verschieben. Es handelt sich also, mit einem Wort, um eine Kulturrevolution, die nicht allein für die Kunst gilt, die gleichwohl an ihr einen wesentlich Anteil hatte - denn erinnert sei daran, dass sich Anfang des vorigen Jahrhunderts ähnliche Kunst ist Kunst als Kunst - alles andere ist alles andere 19 Bewegungen auf nahezu allen Gebieten des kulturellen Lebens vollzogen und die Mathematik, die Naturwissenschaften genauso erfassten, wie die Literatur, die Architektur oder Musik und Philosophie. Diese Arbeit der Verneinung, die Negation von Kunst in Kunst und mit Kunst, ihrer Verwerfung als Kunst, die im Als bereits ihre historische Definition mit auflöst, bedeutet, dass Kunst zugleich etwas anderes wird - anderes als ihre eigene Geschichtlichkeit, die die Geschichte des Werks, der Darstellung, der Form, des Kompositorischen und der Schönheit ist: Sie wird vielmehr Kunst über Kunst, Kunst, die sich auf sich selbst bezieht, die sich mit sich in einem permanenten Streit (polemos) befindet. Gewiss war Kunst immer auch Kunst ‚über‘ Kunst, und ebenso gewiss gehört Reflexivität zu einem ihrer grundlegenden Attribute, doch wird nunmehr die Kunst selbstreferentiell; sie bezieht sich nicht mehr auf etwas, einen Gegenstand oder ein Sujet; sie adressiert nicht länger das Objekt, die Figur oder eine Gestalt, sie genügt sich auch nicht in der Thematisierung des Entwurfs, der Landschaftlichkeit einer Landschaft, der Nacktheit oder einer Stimmung, sondern sie verweist ausschließlich auf sich selbst. Ihr einziger noch verbleibender Gegenstand ist darum die Kunst, ihre Bedingung und ihre Differenz zu Anderem, zur Nicht-Kunst wie zur Ästhetizität des Ästhetischen, zu ihrem gesellschaftlichen Status, ihrer Relevanz oder ihrem Verhältnis zum Technischen, zur Praxis und vieles mehr. Wir haben es demnach nicht eigentlich mehr mit Kunst zu tun, die ihrem eigenen Milieu entstammt, um von etwas anderem zu handeln, dem sie eine Sichtbarkeit verleiht, sondern mit einer Metakunst, die die Grenzen zwischen dem Bildnerischen, dem Medialen und dem Theoretischen, das über Jahrhunderte an das Medium der Sprache gebunden war, einreißt und durchlässig macht. Deswegen lassen sich die Künste der Avantgarden nicht von einer Theorie der Avantgarden trennen - ihre Ästhetiken sind in gewisser Weise ihre eigenen ‚Theorien‘ (und hier tendiert der Sinn von theoria als einem System zu theorein als einer Praxis). Indessen haben alle selbstreferentiellen Systeme das Vertrackte an sich, dass sie, gepaart mit einer Negation, die Tendenz besitzen, sich in Selbstwidersprüche zu verwickeln. Sie neigen zur Produktion von Paradoxien. An dieser Stelle verkoppeln sich die beiden ersten Merkmale des Avantgardismus mit dem letzteren: Die Bewegung der Negation als Medium von Reflexion verknüpft sich mit der gleichzeitigen Bewegung einer Selbstreflexion als Verneinung von Kunst-als-Kunst, um sich schließlich im perennierenden Prozess einer abgründigen Paradoxalisierung von sich loszureißen. Sie überschreitet sich selbst: die Abstraktion reicht nicht aus, sie muss vielmehr durch den Abstrakten Expressionismus, den Minimalismus, das Informel überholt werden, diese wiederum durch die Erweiterung des Dadaismus im Happening, der Performance bis hin zu den Transformationen des Surrealismus im Environment, der Installation oder den vielfältigen Erforschungen der Körper, des Raumes und der Bilder im Video und den sogenannten ‚Medienkünsten‘. Die Dynamik der Avantgarden findet darin ihre Akzelleration, ihren permanenten Richtungswechsel und ihre Ziellosigkeit. Überdies besitzen Paradoxien eine doppelte Kontur. Ihnen kommt sowohl eine regressive wie eine progressive Seite zu. Ihre Regressivität betrifft ihre ‚Logik‘: Sie markiert das Scheitern der Aussage, die Unmöglichkeit des Satzes, soweit die Falle des Selbstwiderspruchs dessen Sinn ins Sinnlose abstürzen lässt. Ihre Ausmerzung nach den Regeln des principium contradictionis und des tertium non datur erscheint darum nur konsequent, schließt aber die Sprache in deren Gesetze ein und verhängt über sie die graue Indifferenz der Tautologie. Sie bedeutet darum gerade keine kenotische Befreiung. Ihre Leere wäre hingegen allererst die Bedingung für die Aufschließung einer Alterität. Alle avantgadistische Kunst verfährt in diesem Sinne kenotisch. Erst dann nämlich kann die Paradoxie ihre progressive Dieter Mersch 20 8 Zur Kraft der Katachrese vgl. vom Vf. 2002: 28ff., sowie 2004: 81-114. Wirkung entfalten. Sie öffnet gleichsam den erstarrten Strukturen ein Fenster, bewirkt deren „katachretische Drift“ 8 und ermöglicht so nach einem fruchtbaren Aperçu Stanislaw Jerzy Lecs ihr „Sesam öffne dich - ich möchte hinaus! “ (2007: 10) Solche Aufschließungen geschehen dabei im ‚Zwischenraum‘ der Zeichen. Deshalb kann es auch keine ‚Semiotik‘ des Paradoxen geben, denn das Paradox befindet sich immer jenseits der ‚Zeichen‘; es ereignet sich in ihnen und mit ihnen, aber nicht selbst als Zeichen. Die Fähigkeit des Paradoxons erfüllt sich vielmehr in der Hervorlockung, der Herausforderung solcher Ereignisse. Man kann daher sagen, dass der Fortgang der avantgardistischen Künste der Kraft und Permanenz ihrer Ereignung geschuldet ist. Sie gleicht einem Sprung ins Außen, in eine andere Region oder Seinsweise, einer metabasis eis allo genos, die jenen ‚anderen Anfang‘ zu bewältigen sucht, von dem bereits zu Anfang die Rede war und im Verlauf dessen alles Bekannte, Vertraute oder Gewöhnliche entrückt und ins buchstäblich ‚Un-gewöhnliche‘, ins „Ungeheure“, wie es Heidegger im Ursprung des Kunstwerks ausgedrückt hat (1972: 24), kippt - dorthin, wo nichts mehr ‚geheuer‘, nichts mehr vertraut oder selbstverständlich erscheint. Deshalb die Unverständlichkeit, die genauso lustvollen wie sardonischen Provokationen der Avantgarden, wie korrespondierend dazu die Abwehr und wütenden Proteste, die ihnen von ihren Kritikern entgegengehalten wurden, um sie ihrerseits als „Unkunst“, als Gegenteil von Kunst zu denunzieren - und denen Beuys in seiner Aktion Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt von 1965 unter expliziter Aussperrung der Unkundigen wiederum ironisch den Spiegel vorhielt. 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