eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
363-4

Für eine Semiotik des Artefakts

2013
Önay Sözer
* Dieser Aufsatz ist eine fortentwickelte und ergänzte Fassung der Seiten 32-45 aus meinem Buch Leere und Fülle. Ein Essay in phänomenologischer Semiotik, Muenchen: Fink 1987. Für eine Semiotik des Artefakts * Önay Sözer The starting-point of this article is the definition of linguistic phenomena by Roman Jakobson as “an artefact made for aims of language”, which brings together the real and the fictional aspects. Following the implications of this definition, the phenomenological-semiotic problems of “whole and parts” and “double articulation” are developed with regards to language, mythology and works of art as genuine artefacts. The general framework for all this subject-matter is the phenomenological horizon-consciousness which separates and combines the perceived reality with the potentialities of the unseen. 1 Für eine Theorie des Artefakts Was ist eigentlich Sprache? Ist sie eine Fiktion oder ein reales Wesen? Aber vielleicht gibt es noch ein Drittes? Elmar Holenstein antwortet: Sprachliche Phänomene sind weder fiktional noch real im metaphysischen Sinn, sondern real in einem konzeptualistischen Sinn, sei es als partiell wenigstens introspektiv/ intuitiv zugängliche internalisierte Grammatik, sei es als neurologisch erforschbarer Kode, nach dem Gehirnprozesse ablaufen (Holenstein 1981: 201). Die Gehirnprozesse des Menschen gehören schon zu seiner natürlichen Seite (die neurologisch erforschbar ist); die intuitiv erfaßbare Seite ist aber nicht mehr Natur (als bloße Natur), obwohl sie sich allerdings in Gehirnprozessen erfassen läßt. Wir wollen hier das Folgende annehmen: Die Einheit der beiden Seiten der Sprache, d.h. der natürlichen und der intuitiven, besteht in ihrem Charakter als ein Artefakt, durch den sich das Reale und das Fiktive gegenseitig ergänzen. R. Jakobson hat auf einige wesentliche Züge dieses wichtigen Begriffs schon hingewiesen, aber ihn nicht weiterentwickelt. Seiner Auffassung nach soll er der umfassendste Begriff sein, den wir überhaupt von dem sprachlichen Phänomen haben können: All the constituents of the speech sound in its diverse phases from emission to the use and interpretation by the speaker and listener have to be examined and delinuted with all the technical contrivances at our present disposal and with a consistent attention to the linguistic functions fullfilled by any component of the sound, because the whole of the speech sound is an artefact made for the aims of language (Jakobson & Waugh 1979: 233). “The whole of the speech sound” ist demzufolge weder ein metaphysisches Ganzes (das ist von vornherein klar) noch eine nur „regulative Idee“ im Kantischen Sinne, um die Sprachfor- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Önay Sözer 312 schung kontinuierlich und ergänzend weiter zu führen. Die Sprache als Sprachlaut ist etwas Gemachtes, Künstliches, und in diesem Sinne ist sie wirklich. Als ein ge-machtes Ganzes spiegelt sie sich in ihren Teilen wider, die alle in concreto erforschbar sind. Mit anderen Worten: Es besteht eine wechselseitige Entsprechung zwischen dem sprachlichen Ganzen und seinen Teilen (eine Entsprechung, die nicht als eine einfache Symmetrie verstanden werden darf, wie es sich noch zeigen wird). Das Ganze des Sprachlautes (immer im Verhältnis auf seinen Teilen) zu erforschen ist für die Phonologie schon ein unendliches Programm, dem es um viele noch zu entdeckende Einzelheiten geht, wie es auch in dem obigen Zitat von R. Jakobson sichtbar wird. Für die Semiotik aber muß man dieses Programm in eine sachgemäße Einheit bringen. Der Focus auf die Semiotik bedeutet gleichzeitig eine ergänzende Bewertung der sprachwissenschaftlichen Fachthematik und ermöglicht einen internen Vergleich der Zeichensysteme. Dadurch kann die Semiotik zur Bestimmung des ganzen Phänomens „Kultur“ beitragen (da das, was wir „Kultur“ nennen, sich im Ganzen mit dem Zeichengebrauch deckt). Anders gesagt: Die Sprache ist nicht der einzige Artefakt: alle möglichen Zeichen und Zeichensysteme sind im Grunde genommen Artefakte, die sich nach der Weise ihres Gemachtwerdens voneinander unterscheiden. Es gibt also innere Grenzen im Rahmen des Begriffs Artefakt, sie bezeichnen die Unterschiede von Zeichensystemen; aber es gibt auch eine äußere Grenze des Artefakts als die Grenze des Gesamtwesens des Kulturellen gegenüber der Natur. Diese Grenze ist jedoch sowohl eine Trennungsals auch eine Verbindungslinie zwischen Natur und Kultur. So ist die Sprache zwar eine kulturelle Schöpfung, aber sie funktioniert auch als ein Ausdruck der natürlichen Emotionen. Wir wollen also den Begriff Artefakt, den Jakobson zunächst für den Sprachlaut bzw. die Sprache gebrauchte, auf alle möglichen Zeichensysteme ausdehnen und gleichzeitig den Sprachlaut selbst primär nach seiner Zeichenfunktion als etwas zum Bezeichnen Gemachtes definieren. Das Ganze des „Semeions“ ist ein Artefakt, also ein Produkt des menschlichen Machens, eine selbst-gemachte Welt, die sich als eine Kulturtotalität darstellt und sich zugleich mit den anderen Sphären, nämlich der der (Natur-)Objekte und der der Gedanken in Verbindung setzt. Eine Theorie des Artefakts muß sich immer im Hinblick auf diese Totalität mit den einzelnen Artefakten beschäftigen, alle Zeichen als Produkte eines „Machens“ und im Prozeß des „Machens“ betrachten; Artefakte sind so in einem Resultate und Vorgänge, Entwürfe und Relikte usw. Bleiben wir zunächst bei der Sprache. Was bedeutet der Sprachlaut als ein Artefakt? Der Sprachlaut begrenzt sich zunächst gegenüber den nicht sprachlichen Lauten wie Geräusche, tierische Stimmen usw., und zwar in allen seinen Erscheinungen als etwas qualitativ Verschiedenes. „The idea of ‘gross, raw’ phonic matter, ‘amorphous substance’ is a fiction. Discrete articulated sounds did not exist before language, and it is pointless and perverse to consider such ‘phonic stuff’ without reference to its linguistic utilization” (Jakobson & Waugh 1979: 29). Jakobson weist darauf hin, daß sowohl die alten indischen Sprachlehren als auch Thomas von Aquin diese wichtige artifizielle Seite des Sprachlauts betont haben. Ebenso hatte Hegel die Aufmerksamkeit auf die Eigenart des artikulierten Tons gegenüber der bloß kundgebenden Funktion der Sprache gelenkt: „Der Ton“ ist schon „die erfüllte Äußerung der sich kundgebenden Innerlichkeit. Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter artikulierende Ton, die Rede und ihr System, die Sprache“ aber „gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres als ihr unmittelbares Dasein, überhaupt eine Existenz, die im Reiche des Vorstellens gilt“ (Hegel 1969: 369f.). Die Auffassung der Sprache im ganzen als ein Artefakt, als Sprungbrett für ein höheres Dasein und ihre Auszeichnung vor den natürlichen Lautphänomenen hat ihre wissenschaftliche Begründung in der modernen Für eine Semiotik des Artefakts 313 1 Der Bericht über diese Untersuchung enthält eine lange Liste dieser verschiedenen Gehöreindrücke, die von Klingeln und Geräuschen bis zu tierischen und menschlichen Schreien und zu „Lachen als Weinen“ aufsteigt. 2 Nicolas Ruwet betont die Modellhaftigkeit dieser Verhältnisse, trotz ihrer unbeschränkten Verschiedenheit eine Ansicht, die durchaus mit dem oben Gesagten zu vereinbaren ist: „A vrai dire, la reconnaissance du caractère relationnel des traits distinctifs n’implique pas nécessairement qu’un seul type de relation-l’opposition binaire-ait cours parmi eux. Théoriquement, d’autre types de relations sont possibles. Mais, d’abord, l’opposition binaire est le type le plus simple de relation, et est donc particuliêrement apte à être utilisée dans un système on la seule fonction des relations est de distinquer, de maintenir les termes différents (Ruwet 1963: 14). Neurologie gefunden; die sogenannte Split-Brain-Theorie bestätigt heute, daß die beiden Gehirnhälften unabhängig voneinander verschiedene kognitive Funktionen verwirklichen können. Die linke Gehirnhälfte ist für das Sprachverstehen und das Sprechen, die rechte Gehirnhälfte für andere Aktivitäten wie räumliche Vorstellungen, Emotionen, aber auch für nicht-sprachliche Gehöreindrücke dominant. Eine neuere russische Untersuchung hat gezeigt: „Untersuchungspersonen mit zeitweise inaktivierter rechter Gehirnhälfte waren hilflos angesichts einer Folge unterschiedener Gehöreindrücke, die vollkommen unterscheidbar waren, solange diese Gehirnhälfte ihre Aktivität aufrechterhielt“ (zitiert von Jakobson 1981: 25). 1 Diese Untersuchung führt deutlich vor Augen, daß der sprachliche Artefakt zunächst formal-ontologisch dieses Ganze des Sprachlauts ist im Unterschied zum nicht-sprachlichen, nicht-artikulierten Laut. Wenn wir nach dem bestimmten Inhalt des Sprachlauts fragen, müssen wir eine dreistellige Unterscheidung machen: der Laut selber ist das Substratum, das Phonem ist der funktionale Aspekt dieses Substratums; und schließlich geben uns die distinktiven Eigenschaften, in die jedes Phonem prinzipiell zerlegbar ist, die letzten nicht mehr analysierbaren Bausteine des Sprachlauts an die Hand (Jakobson 1978: 37). Das Phonem steht gleichzeitig in zwei Verhältnissen, es bezieht sich auf das Lautsubstratum und auf seine eigenen distinktiven Eigenschaften. Das erste Verhältnis beschreibt Jakobson in folgender Weise: The phoneme is not identified with the sound, yet nor is it external; it is necessarily present in the sound, being both inherent in it and superposed upon it: it is what remains invariant behind the variations (ibid.: 85). Also: das Phonem stellt selbst eine Verdoppelung dar. Es ist seinem Lautsubstratum inhärent, aber gleichzeitig überlagert (superposed) es auch sein Lautsubstratum. Es ist das Invariante in dem Laut und auf diese Weise grenzt es ihn von anderen aus und zugleich setzt es ihn in ein Netz von oppositionellen Verhältnissen. Die Zerlegbarkeit des Phonems in die Bündel der distinktiven Eigenschaften läßt es an einer bestimmten Relationalität teilnehmen. Die Theorie der distinktiven Eigenschaften, die zuerst im Prager-Kreis erarbeitet, später aber von Jakobson systematisiert wurde, bestätigt, daß es insgesamt zwölf relationelle (oppositionelle) Eigenschaften gibt, die als solche den phonologischen Grundbau aller Sprachen der Welt ausmachen: Sie können wieder in Sonoritäts- und Tonalitätseigenschaften unterschieden werden (Jakobson 1971 a: 484-486). Das Ganze dieser oppositionellen Verhältnisse, die jedoch noch nicht vollständig erschöpft sind, gibt uns auch die Ganzheit des sprachlichen Artefakts. 2 Es ist natürlich nicht so, daß jede Sprache auf der Welt alle diese Oppositionen besitzt. Sie bilden nur das allgemeinste Reservoir, aus dem jede Sprache ihre Selektionen macht. Dieses Reservoir ist ein universaler Artefakt, innerhalb dessen es besondere Artefakte gibt: einzelne Sprachen, die mit ihren vielfältigen Verwirklichungen von der Alltagssprache bis zur Literatur reichen. Önay Sözer 314 Das semiotisch-teleonomische Machen, das den sprachlichen Artefakt zustande bringt, hat seine eigene Wert-Skala. So schreibt Jakobson: „It is not the acoustic phenomenon in itself which enables us to subdivide the speech chain into distinctive elements; only the linguistic value of the phenomenon can do this“ (ibid.: 10). Diesen linguistischen Wert wollen wir hier als einen sozial-heuristischen definieren. Dies bedeutet zunächst, daß die Sprache nach ihrem feinen, komplizierten Bau der Lautverhältnisse als ein Resultat der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit verstanden werden soll. Die Gesamtheit der Lautreaktionen des Menschen ist im Grunde genommen ein kommunikativer, intersubjektiver Versuch, sich in seiner Umwelt zu orientieren. Dem Objekt- und Weltbezug dieser Orientierung entspricht die heuristische, erfinderische Selbstbezogenheit der Sprache, die sich primär nach den Regeln eines kaleidoskopischen Lautspiels erklären läßt (dieses Lautspiel kann man letztlich auf die immer neuen Kombinationen der Kopplungen von distinktiven Eigenschaften zurückführen). Diese Heuristik hat keine direkte methodologische Funktion innerhalb der Wissenschaften, sondern sie liegt ihnen zugrunde: Wir finden hier eine anonyme Heuristik am Werke, die als Basis und eigentlicher Wegweiser allen Sprachwandels gilt. Worauf wir hingewiesen werden, sind diejenigen Punkte, in denen „parole“ und „langue“ wahrhaft zur Deckung kommen. Dies findet in vielen sprachlichen Erscheinungen statt, zu denen Archaismen und Neologismen, Schüttelreime und stilistische Variationen u.s.w. gehören. Von diesem teleonomisch-heuristischen Standpunkt aus erscheint die Sprache gleichzeitig als etwas Gemachtes und auch als ein Sich-Machendes: Es ist ein Produkt, das sich selber produziert. Produkt und Selbst-Produkt sind die beiden Pole der oben genannten Selbstbezogenheit. 2 Ein Ganzes in seinen Teilen? Betrachten wir die innere Struktur des sprachlichen Artefakts näher. Jakobson legt Gewicht auf die Relativität der sprachlichen Teil-/ Ganzes-Verhältnisse: „From a realistic standpoint language cannot be interpreted as a whole, isolated and hermetically sealed, but it must be simultaneously viewed both as a whole and as a part“ (Jakobson 1971 b: 282). Nehmen wir als Ausgangspunkt das Wort: Es ist ein Ganzes, das aus Phonemen aufgebaut ist. Es resultiert aus zwei Artikulationen, die in der Wort- und Phonemebene geschehen. Bei jedem Wort, das wir aussprechen, schaffen wir eine Sinneinheit aus den an sich nicht direkt sinntragenden Elementen. Man hat in der linguistischen Theorie diese Struktur des Wortes die doppelte Artikulation genannt. Der Begriff geht auf das Mittelalter zurück; in neuerer Zeit wurde er von D. Bubrix, André Martinet und R. Jakobson weiter entwickelt. Die erste Artikulation (der Phoneme) ist sinndeterminierend, die zweite (des Phonems) dagegen sinndiskriminierend. Nach Jakobson sind die sinndiskriminierenden Elemente nicht sinnlos, sie „bedeuten“ („signifying“) etwas, aber in einer negativen Weise: Sie unterscheiden die Wortbedeutungen voneinander (cf. Jakobson 1978: 67). Wir können jetzt nach dem Modell der doppelten Artikulation den sprachlichen Artefakt besser und näher definieren: Sprachlicher Artefakt ist das sprachliche Zeichen (zweite Artikulation), das durch die Vermittlung anderer Zeichen (erste Artikulation) gemacht worden ist. Jakobson sieht nun das ganze Phänomen der doppelten Artikulation beim sprachlichen Artefakt in einem sehr breiten anthropologischen und kulturellen Zusammenhang: We may connect three universals among the exclusively human achievements: 1) manufacture of tools to build tools: 2) rise of phonemic, purely distinctive elements, deprived of their own Für eine Semiotik des Artefakts 315 meaning but used to build meaningful units, namely morphemes and words; 3) incest taboo, conclusively interpreted by anthropologists […] as the indispensable precondition for a wider exchange of mates and thereby for an expansion of kinship and for a consequent build-up of economic, co-operative, and defensive alliances. As a matter of fact, all of these three innovations introduce pure auxiliaries, secondary tools necessary for the foundation of human society with its material, verbal and spiritual culture. An abstract mediate principle lies in the idea of secondary tools, and the emergence of all of their three aspects must have been the cardinal step from animality toward the thoroughly human mind (Jakobson 1970: 58f.). Nach der Jakobsonischen Grundthese hat also ein abstraktes, vermittelndes Prinzip, das wir der doppelten Artikulation der Sprache verdanken, den Weg für weitere kulturelle Leistungen bereitet. Nun erst tauchten die Regeln auf, „die den Inzest definieren und verbieten und die Exogamie einführen“, und es entwickelte und verbreitete sich die Werkzeugherstellung. Beide Phänomene können nach dem Modell der doppelten Artikulation verständlich gemacht werden: Durch das Inzest-Verbot wurden die Söhne und die Töchter einer bestimmten Familie freigesetzt und gleichzeitig autorisiert (erste Artikulation), um neue exogamische Familien aufzubauen (zweite Artikulation). Die Herstellung von Werkzeugen, die ihrerseits neue Werkzeuge herstellen, erfolgt nach demselben Modell. Daß diese neuen Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben auch auf die Sprache zurückwirkten, braucht man nicht besonders zu erwähnen. - Nun innerhalb dieser universellen (und auch wechselseitigen) Analogie hat der sprachliche Artefakt eben ein Charakteristikum, das ihm eigen ist: So fungieren die Phoneme gleichsam als Werkzeuge zur Darstellung neuer Werkzeuge und sind doch ebenso die Bausteine dieser Werkzeuge. Diese doppelte Stellung der Phoneme zu den Wörtern und die daher entstehende enge Beziehung der beiden macht den sprachlichen Artefakt zu dem, was er ist (auch aus diesem Grund verdoppelt sich die Sprache in ein Gemachtes und ein Sich-Selbst-Machendes). Dieser selbst-vermittelnde Bau des sprachlichen Artefakts spezifiziert sich in seinen Teil- und Ganzes-Verhältnissen: Der Begriff „Zeichen an Zeichen“ (Jakobson) weist uns auf ein Ganzes hin, das primär an seinen Teilen liegt. In der semiotischen Beziehung von Phonemen (als Teilen) und Wortganzes kann man also das Ganze nicht als eine logische Voraussetzung der Teile sehen (im Gegensatz zu den traditionellen, metaphysischen Teil-Ganzes-Verhältnissen): umgekehrt sind hier vielmehr die Teile Voraussetzungen für das Ganze. Dies verdanken die Teile ihrem doppelten Charakter des Vermittelns und des Teilnehmens (siehe oben). Jeder Teil fügt ein Stück hinzu auf dem Wege des Sich-Vermittelns. Dieser Aspekt kann ein neues Licht auf die Diskussion über die Begriffe „Fragment“ und „Totalität“ werfen, die in der letzten Zeit von den französischen Philosophen z.B. Derrida, Foucault und Blanchot geführt worden ist. Unter diesem veränderten Gesichtspunkt läßt sich der Bezug der Teile auf das Ganze als eine wechselseitige Desubstantialisierung verstehen. Es ist eine merkwürdige Tatsache, wie man sich bei der Aussprache eines Wortes (natürlich spontan) um die Einheit des Morphems, aber zugleich um die deutliche Wiedergabe jedes einzelnen Phonems bemüht. Dieses Zergliedern, das in der Aussprache stattfindet, ist nur die andere Seite des lautlichen Aufbauens der Wörter. Im Hinblick auf dieses Faktum kann man wohl von einem neutralisierten Zwischengebiet sprechen, in dem sich die Destruktion und die Rekonstruktion einander annähern und ähneln. Ein analoges Modell finden wir schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte, und zwar bei der Beschreibung des kanaanäischen Ritus, dessen Ursprung ca. bis zum dritten Jahrtausend zurückkehrt. Die Jungfrau Anath vollzieht, nachdem sie ihren Bruder Môt ermordet hat, mit der Leiche, die dann den Sturmgott Baal verkörpert, den folgenden Ritus: Önay Sözer 316 Sie ergriff Môt, den Sohn des El: Mit dem Schwerte zerschnitt sie ihn, mit dem Siebe worfelte sie ihn, Im Feuer verbrannte sie ihn, in der Mühle mahlte sie ihn. Ins Feld säte sie ihn, Damit die Vögel ihren Teil essen sollten, damit sie den Samen zerstören sollten. Albright erklärt diese mythische Handlung auf folgende Weise: In keiner anderen Mythologie wird der Körper eines Gottes so ausdrücklich dem Korn gleichgesetzt, das nacheinander geschnitten und gedroschen, geworfelt, als Brot gebacken und zu Mehl gemahlen (die falsche Reihenfolge wird durch die Handlung geboten) und schließlich als Korn in das Feld gesät wird. Dieser Ritus hatte nicht zum Zweck, Môt wieder zu beleben, sondern sollte durch sympathetische Wirkung Baal ins Leben zurückrufen. Da diese Vorstellungen so fließend und wandelbar sind, wäre es jedoch wohl möglich, Môt auch als eine Form des Adonis aufzufassen (Albright 1949: 233f.). Also, was Anath mit der Leiche ihres Bruders macht, ist eine Art des Fruchtbarkeitsritus, der erst das vorgegebene Material zergliedert, um es wieder zusammenzubringen und neu zu beleben. Wenn diese überraschende Einheit der Destruktion mit der Rekonstruktion eine sehr große Ähnlichkeit mit dem oben beschriebenen kinästhetischen Aspekt des Sprechens hat, so darf dies kein bloßer Zufall sein. Die einzelnen Körner funktionieren als Instrumente für Instrumente. Sie werden kultiviert, um daraus das Nahrungsinstrument Brot zu machen: Dies ist die Vorstellung, die diesem Mythos zugrunde liegt. Die vorausgesetzte Wirkung der Teile nur als Teile über das Ganze - nach dem Modell der Sprache - hatte die Gedanken der Menschheit bewusst oder unbewusst von Anfang an beschäftigt. Auf diesem Weg, den uns Jakobson gezeigt hat, nämlich durch viele Vergleiche mit Beispielen aus dem anthropologischen Bereich, können wir den sprachlichen Artefakt immer besser kennenlernen: Er wächst in einer vor-dialektischen Spannung der Teile zum Ganzen auf. Weder Teile noch Ganzes lassen sich je substantialisieren, aber sie spiegeln einander wider. Hinter der doppelten Artikulation, die die Kernstruktur dieser Verhältnisse ausmacht, steht ein weiterer Zusammenhang, nämlich der von Satz- und Textebene: Die Konstruktion der Rede fängt zunächst mit minimalen Einheiten an; sie geht aber von Phonem zu Wörtern, von Wörtern zu Sätzen, von Sätzen zu anderen größeren Redeteilen (in der Schrift wird sie zu Absätzen, von Absätzen geht sie zu der Einheit des Textes selbst). In dieser Hierarchie der Rede sind die konstituierenden Teile diskontinuierliche Elemente (wie z.B. Phoneme), aus denen letzten Endes die kontinuierlichen größeren Einheiten zustande gebracht werden. Analog zum biologischen Modell nennt Jakobson jede dieser höheren hierarchischen Ebenen im Vergleich mit den niedrigeren Ebenen „Integron“. (So ist z.B. ein Morphem ein „Integron“ der Phoneme und ebenfalls selber integriert in die Struktur eines anderen Integrons, nämlich des Wortes, und das Wort wiederum fügt sich in die Struktur des Satzes): Both biologists and linguists have observed an impressive set of attributes common to life and language since the latter’s consecutive emergence. These two information-carrying and goaldirected systems imply the presence of messages and of an underlying code […]. Their principle of gradual integration governs the structure of the two codes. Both of them equally display a hierarchy of discontinous units. As the biologist (André Jacob) points out, each of these units, labeled “integron” is built by assembling integrons of the level below it and takes part in the construction of an integron of the level above […]. Among all the informationcarrying systems, the genetic code is the only one which shares with the verbal a sequential arrangement of discrete subunits in language and nucleotides (or ‘nucleic letters’) in the genetic code - which by themselves are devoid of inherent meaning but serve to build minimal units endowed with their own, intrinsic meaning (Jakobson & Waugh 1979: 65f.). Für eine Semiotik des Artefakts 317 Diese Betrachtung der Beziehung von kleineren Integrons auf die größeren geht von unten nach oben. Es gibt aber auch eine umgekehrte Richtung von oben nach unten, durch die die kontextuellen Redeeinheiten und endlich die ganze Kommunikation als eine maximale Einheit auf die kleineren Einheiten Einfluß üben. Auch für diesen Fall beruft sich Jakobson auf den Biologen Jacob: „The interaction of constituent parts underlies ‘the organization of the whole’ and […] the integration confers upon the whole new structural properties“ (ibid.: 67). Diese wechselseitigen Einflüsse lassen sich mit dem Grundschema „Integration / Individualisierung“ beschreiben. Schon H.J. Pos machte auf diesen Punkt aufmerksam: Une analyse approfondie de l’entente intersubjective montrerait comment la langue à coté d’autres valeurs sociales, morales et culturelles constitue le véhicule et l’expression d’une réalité spirituelle qui enveloppe les individus, … sans rien déroger à l’individualité de chacun (Pos 1939: 76f.). Für Jakobson stehen aber das Individuum und das integrierende Ganze in einer noch engeren Beziehung: „let us repeat that there is not autonomy without integration and no integration without autonomy“ (Jakobson & Waugh 1979: 234). Für die Sprache heißt das, daß die größeren Redeteile einen freieren Spielraum für die kleineren Einheiten ermöglichen: In der untersten Ebene ist alles obligatorisch, determiniert, aber in einem größeren Zusammenhang kann man sich freier verhalten (Satzbau, Bau der Absätze usw.): Der individualisierte Stil verwirklicht sich nur auf dieser Ebene. Der menschliche Dialog, aber auch die Variabilität des Codes innerhalb des Dialogs sind in dieser Hinsicht die größten „Integrons“ und setzen erst den sprachlichen Artefakt in das Netz von dialektischen Verhältnissen: In unterschiedlichen Selbstanpassungen an den Gesprächspartner (in sprachlichen Konformismen) und in verschiedenen Graden wechselseitiger Zurückweisungen (in sprachlichen Nonkonformismen) unterziehen wir unseren Code einer maximalen Variabilität, einer Unbeständigkeit zugleich in Raum und Zeit. Hierin sehe ich die Untrennbarkeit von Invarianz und Variabilität. Diese These stellt sich mir dar als die conditio sine qua non der wissenschaftlichen Analyse von Hegels Dialektik bis zu den Wissenschaften des heutigen Tages, insbesondere der Sprachwissenschaft (Jakobsons 1984: 11). Das größte Integron ist also das Leben (oder die menschliche Gesellschaft, die Kultur), das Platz schafft für immer größere Integrationen seiner Bauelemente. Die Dialektik muß dann als die Dialektik der Sprache und des Lebens verstanden werden. Fassen wir zusammen: Ich hatte oben im Zusammenhang der doppelten Artikulation die kleineren Sprachteile als wirkliche Voraussetzungen des Ganzen angesehen. Dieser Gedanke hatte schon den Keim einer dialektischen Interpretation in sich. Sie wird ausgefaltet und wird damit verständlicher, wenn man den sprachlichen Artefakt in den umfassenderen Zusammenhang der dialektischen Verhältnisse zwischen ihm und dem „Leben“ selber setzt. Diese grundlegende innere Spannung der Teile determiniert das Ganze des sprachlichen Artefakts nur insoweit, als dieser Artefakt zu neuen Integrationen Anlaß geben kann. Integration und Autonomie stehen nicht nur in einer Wechselbeziehung, sondern sind auch ineinander gewoben und deswegen entwickeln sie sich auseinander. Das Leben geht über den sprachlichen Artefakt und das diesbezügliche „Machen“ hinaus, insoweit es in ihm beinhaltet wird. Das Leben geht nur unter der Bedingung über den sprachlichen Artefakt (und sein „Machen“) hinaus, daß es in ihm impliziert ist. Önay Sözer 318 3 Nicht-Sprachliche Artefakte und ihre „Umfunktionierung“ Nachdem wir den sprachlichen Artefakt als ein Zeichen, das selber „an Zeichen“ liegt, definiert und seine Teil-Ganzes-Verhältnisse skizzenhaft festgelegt haben, bleibt uns noch ein Problem übrig, mit dem wir uns jetzt kurz beschäftigen wollen. Ist die sogenannte doppelte Artikulation ein gemeinsamer Zug aller Zeichen, sprachlicher und nicht-sprachlicher, oder ist sie nur den sprachlichen Zeichen eigen? Diese Frage ist für unseren Standpunkt von besonderer Wichtigkeit, da wir die ganze menschliche Kultur als einen Artefakt betrachten wollen. Jakobson vertritt die These, daß die doppelte Artikulation ausschließlich ein Charakteristikum der Sprache sei, obwohl er den breiteren anthropologischen Rahmen dieses sprachlichen Faktums sehr wohl in Betracht zieht. In der neueren semiotischen Literatur, die sich mit dem Phänomen der doppelten Artikulation beschäftigt, können wir drei von Jakobson abweichende Haupttendenzen unterscheiden. Sie werden repräsentiert von Claude Lévi- Strauss, Umberto Eco und Elmar Holenstein: a) Claude Lévi-Strauss, der das Problem nicht direkt mit seinem semiotischen Interesse, sondern vielmehr von dem anthropologischen Standpunkt der Mythenanalyse aus behandelt, behauptet, daß auch die nicht-sprachlichen Zeichen die Strukturiertheit der doppelten Artikulation aufweisen. Im Hinblick darauf analysiert er Malerei, Mythen und Musik. Bei der Malerei funktioniert die einfache Ordnung der Formen und Farben als eine erste Artikulation, die dann die zweite Artikulation des stilistischen Kodes ermöglicht: L’organisation des formes et des couleurs au sein de l’expérience sensible … joue, pour ces arts, le role de premier niveau d’articulation du réel. ‚Grace à lui seulement, ils sont en mesure d’introduire une second articulation, qui consiste dans le choix et l’arrangement des unités, et dans leur interpretation conformément aux imperatifs d’une technique, d’un style et d’une maniere: c’est à dire en les transposant selon les regles d’une code, caractéristique d’un artiste ou d’une societé (Lévi-Strauss 1964: 28). Gegenüber der Malerei (bzw. der Sprache) gehen die Mythen und in einem noch höheren Grad die Musik über die doppelte Artikulation hinaus (ibid.: 23, 26). Die elementaren Teile des mythischen Diskurses sind mit den Phonemen vergleichbar: Obwohl jene aus Wörtern und Sätzen bestehen, haben sie in sich keine „Bedeutung“, sie sind nur dazu da, um für die Welt, die Gesellschaft und Geschichte einen Sinn zu schaffen. Les unités élémentaires du discours mythique consistent, certes, en mots et en phrases, mais qui, dans cet usage particulier et sans vouloir pousser trop loin l’analogie, seraient plutot de l’ordre du phonème, comme unités dèpourvues de signification propre, mais permettant de produire des significations dans un système où elles s’opposent entre elles, et du fait même de cette opposition (Lévi-Strauss 1967: 16). Un mythe propose une grille, d´finissable seulement par ses règles de construction. Pour les participants à la culture dont relève le mythe, cette grille confère un sens, non au mythe luimeme, mais à tout le reste: c’est-à-dire aux images du monde, de la société et de son histoire dont les membres du groupe ont plus ou moins clairement conscience, ainsi que de interrogations que leur lancent ces divers objets (ibid.). Auch die Musik besteht aus einer ersten („le système d’intervalles“) und einer zweiten Artikulation („altération de cette discontinuité par compositeur sans révoquer son principe“). Der Endeffekt der musikalischen Bedeutung ist mit dem der Mythen vergleichbar; darüber hinaus hat er aber noch einen tieferen Sinn: Für eine Semiotik des Artefakts 319 Dans l’un et l’autre cas, on observe en effet la même inversion du rapport entre l’émetteur et le récepteur, puisque c’est, en fin de compte, le second qui se découvre signifié par le message du premier: la musique se vit en moi, je m’écoute à travers elle. Le mythe et l’œuvre musicale apparaissent ainsi comme des chefs d’orchestre dont les auditeurs sont les silencieux executants (ibid.: 24f.). Betrachten wir diese Interpretationen Lévi-Strauss’ von unserem Standpunkt her näher. Die These, daß in der Malerei die Farben - wie die Phoneme der Sprache - eine erste Artikulation bilden, bedarf vor allem einer Korrektur. Die Farben sind nicht etwas vom Menschen Gemachtes, ein Artefakt im Sinne der Phoneme, sondern sie sind zunächst etwas Natürliches. Der Maler findet die Farben oder ihre Grundelemente in der Natur selbst und gebraucht sie nach ästhetischen Zwecken, die er mit ihnen verfolgt. Sie gehören sozusagen primär nicht zur menschlichen Natur, aber der Mensch findet sie vor in der ihn umgebenden Natur. Dieser Grundunterschied zwischen Farben und Phonemen bedeutet jedoch nicht, daß die Farben keinen Zeichencharakter besitzen. Wir hatten oben mit Jakobson festgestellt, daß die oppositionellen Eigenschaften der Phoneme dem Lautsubstratum gleichzeitig inhärent seien und es überlagern. Für die Farben können wir jetzt sagen, daß ihre distinktiven Eigenschaften das Farbsubstratum nur überlagern, allerdings sind sie ihm nicht inhärent. Dieser Punkt läßt sich durch ein Faktum beweisen, das direkt die Malerei betrifft. Bei der Sprache ist die Stimmlage, Tonhöhe usw. des Sprechenden sekundär für die eigentliche Signifikation seiner Wörter. All dies kann sehr wohl aber zu einem Ausdrucksmittel im Theater werden, wenn man den Charakter der dramatischen Person betonen will. In der Malerei liegt gerade der gegenteilige Fall vor: Die materielle Seite der Farben, ihre Intensität, ihre Dichte usw. gehören dem Farbensubstratum selber, d.h. sie ist primär und steht deswegen in einer Einheit mit den Relationen der Farben untereinander, ist jedoch nicht identisch mit diesen. Die signifikative Form der Farben kann immer ihre materielle, stofflich-sensuelle Seite zur Schau stellen. Der Grund dafür besteht darin, daß das Farbsubstratum einen Spielraum bietet, der zwar von oppositionellen Eigenschaften freibleibt und sie doch unmittelbar bestimmt. In der Malerei lebt alles eigentlich von dieser elastischen Spannung zwischen dem Materiellen der Farben und ihren formmäßigen (oppositionellen) Qualitäten. Wir können unsere Kritik an Lévi-Strauss in folgender Weise ergänzen und verdeutlichen: Das eigentliche Modell für die Thesen von Lévi-Strauss über Malerei ist die gegenständliche Malerei, in der sich eine wahrhaft doppelte Artikulation verwirklicht. Der nicht-gegenständlichen Malerei fehlt dagegen nach Lévi-Strauss die erste Artikulation: On comprend alors pourquoi la peinture abstraite, et plus généralement toutes les écoles qui se proclament “non-figuratives” perdent le pouvoir de signifier: elles renoncent au premier niveau d’articulation et prétendent se contender du second pour subsister (ibid.: 29). Man kann die Sache vielmehr so sehen: Die erste Artikulation ist die relationelle Ordnung der Farben, die ein gemeinsamer “Kode” sowohl für gegenständliche als auch für nichtgegenständliche Malerei ausmacht. Die erste Artikulation besteht also darin, was der Maler aus der Natur macht und nicht, was er als Nachahmer der Natur macht. Die zweite Artikulation wären dann die gegenständlichen und die nicht-gegenständlichen Formen, die den eigentlichen Spielraum des künstlerischen Stils bilden. Gegenständlich oder nicht-gegenständlich zu sein ist also eine relative Sache: Es ist eine Funktionsweise der ersten Artikulation und steht im Dienste der zweiten, nämlich der stilistischen Form. Mit der Ablenkung unserer Aufmerksamkeit von den Gegenständen wird bei der abstrakten Malerei ein unmittelbares Zusammentreffen des stilistischen Zwecks mit den Farben - über reine Formen - Önay Sözer 320 3 Der Standpunkt des Artefakts verlangt, daß wir die doppelte Artikulation je nach Fall von neuem und ohne schematische Starrheit bis zu ihren Grenzen verfolgen müssen. Übrigens kann man die nicht-gegenständliche Malerei von der gegenständlichen nicht so scharf trennen, wofür sich viele Beispiele anführen ließen. Hier sei nur auf die Bilder von Paul Klee und Francis Bacon verwiesen, obwohl sie stilistisch ganz anders sind. ermöglicht. 3 Dies ist ein Punkt, den Lévi-Strauss anscheinend nicht gut gesehen hat. Den wichtigeren Beitrag Lévi-Strauss’ zu einer Theorie des Artefaktes stellen seine Erörterungen über die Mythen und die Musik dar. Wie wir oben gesagt haben, transzendieren Mythen und Musik nach Lévi-Strauss die doppelte Artikulation, d.h. beide schaffen eine Bedeutung, die über sich selbst hinausgeht. Mit anderen Worten: Beide bringen aus sich selbst eine neue, umfassendere Einheit hervor, die sie einschließt und gewissermaßen aufhebt. Ihre Einheit ist nicht in ihnen selbst, sondern in einem anderen: Aber deswegen sind sie nicht weniger Artefakte, vielmehr repräsentieren sie eine besondere Art des Artefaktes. Die Mythen und die Musik sind solche Artefakte, deren Teil-Ganzes Verhältnisse Anlaß zu einem jeweils noch umfassenderen Ganzen geben können, dem sie auf den ersten Blick nicht anzugehören scheinen. Ein bestimmtes Selbst-Transzendieren gehört also zu ihren Teil-Ganzes Verhältnissen. Dieses Selbst-Transzendieren aber ist niemals vollständig oder erschöpfend. Das heißt: Mythen und Musik scheinen mit einem Widerspruch behaftet zu sein. Einerseits bleiben sie in sich unvollendet (weil ihre eigentliche Bedeutung nicht in ihnen, sondern in der Natur oder im gesellschaftlichen Leben liegt), andererseits bildet diese neue Bedeutungseinheit als das mytho-musikalisch interpretierte Leben selbst schon einen Teil des Artefakts. Diese zweite Seite ist wichtiger als die erste, weil dadurch das Leben selbst gemacht wird. Der Fall der Musik ist in dieser Hinsicht beispielhaft: Eine Melodie, die ich an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt zusammen mit einer Freundin gehört habe, nimmt bei einem zweiten, einsamen Hören an einem anderen Ort alle diese früheren Rezeptionsbestimmungen (Ort-, Zeit- und Person-) in sich auf. Es ist nicht eine lebendige Erinnerung, die jetzt geschieht, sondern eine Vergegenwärtigung, die sich am „Körper“ des musikalischen Werkes verwirklicht. Es ist eine Reproduktion des Vergangenen in der Form eines mytho-musikalischen Artefakts, eine Reproduktion, die den Unterschied zwischen ihr und der ursprünglichen Erfahrung aufhebt und uns noch stärker als irgendeine Gegenwart affiziert. b) Umberto Eco ist vielleicht einer der ersten Autoren (zusammen mit Luis Prieto), der auf das Problem der doppelten Artikulation von einem semiotischen Standpunkt her eingeht. Er kritisiert zunächst die Annahme von Claude Lévi-Strauss, die besagt, daß es keine Sprache gibt, die nicht auf einer doppelten Artikulation beruht. Gegen eine solche Dogmatisierung der doppelten Artikulation macht Eco den folgenden theoretischen Vorschlag: Es wird eine doppelte methodische Unterscheidung nötig: 1) Der Name „Sprache“ wird dem Code der verbalen Sprache vorbehalten, bei denen das Vorhandensein der doppelten Gliederung außer Zweifel steht. 2) Die anderen Zeichensysteme werden als „Codes“ betrachtet und man muß nachprüfen, ob es nicht Codes mit mehreren Gliederungen gibt (Eco 1972: 235). Eco’s These, daß es „Codes“ gibt, deren „Gliederungsebenen austauschbar sind“ und seine Beispiele der Umfunktionierung von sinndiskriminierenden in sinndeterminierende Zeichen (die Spielkarten) sowie die Beweglichkeit der Gliederung (die militärischen Rangabzeichen) sind einleuchtend (ibid.: 239). Allerdings muß man sich bei der Freilegung der nicht-doppeltartikulierten Zeichen noch kritischer verhalten und in dem Fall, wo man eine doppelte Für eine Semiotik des Artefakts 321 Artikulation sicher ausschließen kann, die diesem Zeichentypus eigenen Regelmäßigkeiten genauer erforschen. c) In Bezug auf das genannte Problem nimmt Holenstein eine Position zwischen Lévi- Strauss und Eco ein: einerseits ergänzt er die Liste der doppelten Artikulationen mit Hinweis auf die doppelte Artikulation in der Schriftsprache, andererseits betont er die Umfunktionierung bei den Zeichen. Anders als Eco radikalisiert er die Umfunktionierung und erhebt sie zu einem allgemeinen Prinzip, wenn er schreibt: „Umfunktionalsierung und Plurifunktionalität sind eine universale, nicht nur semiotische, sondern ontologische Möglichkeit“ (Holenstein 1980: 323). Davon ausgehend, daß „durchaus ein Buchstabensystem möglich ist, dessen lautdeterminierende Eigenschaften zerlegt werden können“, analysiert er beispielsweise die standardisierten Druckschriften (Schablonenschrift des Bauhäuslers Josef Alberts), die vorderasiatischen Vorformen der Schrift und die elektronischen Leuchtschriften (cf. Holenstein 1980: 326ff.). Seine interessante These über die Umfunktionierung lautet: Bei den meisten außersprachlichen Zeichensystemen mit doppelter Artikulation sind die Zeichen der zweiten Gliederung metaphorisch gebrauchte Zeichen einer ersten Gliederung: Ursprünglich sinndeterminierende Zeichen werden in sinndiskriminierende Zeichen umfunktioniert (ibid.: 319). Diese These verdient besondere Aufmerksamkeit auch im Hinblick auf den Begriff des sprachlichen Artefakts. Holensteins Paradebeispiel für die Umfunktionierung sind die Busziffern. Der Bus Nr. 23 hat weder etwas Gemeinsames mit den Bussen, deren erste Ziffer ebenfalls eine 2 ist, noch mit jenen, deren zweite Ziffer eine 3 ist. […] Zeichen, die in ihrem ursprünglichen Gebrauch eine bedeutungsdeterminierende Funktion haben, erhalten sekundär, in einem anderen Zeichensystem, eine bloß bedeutungsunterscheidende Funktion (ibid.: 321). Allerdings tritt der umgekehrte Fall, nämlich die Umfunktionierung der bedeutungsunterscheidenden Zeichen in die bedeutungsdeterminierenden vielleicht häufiger auf. Alle Abkürzungen, die eigentlich als Ideogramme funktionieren, gehören dazu: „usw.“, „ca.“, „ff.“. Ein anderer interessanter Fall ist die Umwandlung der sinndiskriminierenden Zeichenteile in sinndeterminierende Zeichen. In dem Film „Das Weekend“ von J.L. Godard kommt ein Zwischentitel vor, gerade inmitten einer Szene, wo die Hauptheldin ihrem Mann von einer „analen Vergewaltigung“ erzählt: Analyse An diesem Wortspiel sehen wir, wie die sinndiskriminierenden Teile a, n, a, l des Wortes Analyse durch Silbentrennung eine sinndeterminierende Funktion haben können. Der Kontext der Szene ermöglicht Godard diese umfunktionierende Analyse des Wortes „Analyse“. Aufgrund solcher Beispiele von Wortspielen läßt es sich leicht einsehen, daß der Blickpunktwechsel des Sprechenden (der in der phänomenologischen Linguistik unter dem Titel „Beobachter als ein Teil seiner Beobachtung“ befaßt wird) diese Umfunktionierungen bestimmt. Es ist sogar der Blickpunkt, der entscheidet, ob die Teile der sinndeterminierenden Elemente wieder sinndeterminierend oder bloß sinndiskriminierend gebraucht werden können. Das altchinesische Spiel Tangram, das sich bereits in der Zeit von 740 bis 330 v. Chr. nachweisen läßt, ist ein bemerkenswertes Beispiel für den Blickpunktwechsel durch die Umfunktionierung (es ist auch deswegen wichtig, weil es uns auf die Umfunktionierungs- Önay Sözer 322 problematik in der Bildebene hinführt). Bei diesem Beispiel geht es darum, 7 geometrische Teile zu einem interpretierbaren Ganzen (ein Haus, eine Menschenfigur, ein Vogel usw.) zusammenzusetzen (cf. Elffers 1976: 22, 8). Diese Teile sind für sich genommen nicht sinnlos: Sie sind ein Dreieck, ein Parallelogram, ein Rechteck usw. Sie sind von einem ersten Blickpunkt aus (d.h. vor dem Kombinieren) als volle sinndeterminierende Elemente gegeben. Aber wenn wir einmal mit ihnen neue gegenständliche Figuren zusammensetzen wollen, sind sie in dem Augenblick ihres Sinnes beraubt worden: Sie funktionieren als sinndiskriminierende Elemente für neue sinndeterminierende Ganze. Sie haben insoweit eine sinndiskriminierende Funktion, da jeder Teil gleichzeitig z.B. zum Kopf, zu den Füßen usw. für unterschiedliche Vogelschemata werden kann. Die menschliche Phantasie wird aus dem Grunde sehr stark herausgefordert, weil sie eine Serie von Sinnverwandlungen ausprobieren muß, um den adäquaten Sinn einer Figur herauszufinden. Eine Untersuchung der sogenannten Kollagentechnik der modernen Malerei unter der Berücksichtigung ihrer Vielfalt wäre in dieser Hinsicht auch sehr lohnenswert. In den meisten Fällen können die beliebig ausgeschnittenen, unselbständigen Teile aus anderen Bildern innerhalb des Kollagenbildes als selbständige, oft abstraktive Teile gebraucht werden. Die sinndeterminierenden Teile der benutzten Bilder sind in ihrer originellen Funktion beeinträchtigt. Was in diesem Zusammenhang als Beeinträchtigung erscheint, ermöglicht aber in dem veränderten Zusammenhang das Kombinieren. Dieser Übergang bleibt gewissermaßen durchsichtig, und zwar so, daß die sinndiskriminierenden (Farben) und sinndeterminierenden Elemente (gegenständliche oder nicht-gegenständliche Formen) der entstehenden Teile den Anschein erwecken, sich gegenseitig frei zu lassen und sich zugleich auf eine ungewohnte Weise zu verbinden. Durch beliebige Cut-Ups werden die sinndeterminierenden Elemente des früheren Bildes zunächst auf ihre sinndiskriminierenden Elemente zurückgeführt: Aber diese lassen sich im Rahmen des neuen abstrakten Bildes in die sinndeterminierenden Elemente umfunktionieren. Die Umfunktionierungsweise bei der Kollagetechnik ist also derjenigen der Tangrambilder sehr ähnlich: Beide beruhen auf demselben Prinzip. Allerdings ist die Montage kein Phänomen, das ausschließlich die Kunst der Moderne charakterisiert. Neben Film und Photographie, bei denen die Montage als ein Hauptverfahren auftritt, wird auch von der Malerei behauptet, daß sie von Anfang an eine Montage- oder Kollagekunst gewesen sei. Alle diese Beispiele ergänzen und bestätigen die von Holenstein zu einem interpretativen Prinzip erhobene Umfunktionierung von Zeichen. Aber sie zeigen ebenfalls, daß die Umfunktionierung noch elastischer und von einer größeren Variabilität ist, als man auf den ersten Blick denken könnte. Die allgemeine Regel für diese Elastizität liegt darin, daß ein Zeichen nie ein Zeichen bloß für sich ist, sondern immer auf dem Hintergrund anderer Zeichen sinnhaft wird: Es sind metaphorische Zeichen, durchaus auch in dem Sinn, daß ihre ursprüngliche Bedeutung je nach Sensibilität und Einstellung mehr oder weniger latent mitschwingt, ähnlich wie bei der Übertragung von Löwe auf Achilles nicht nur ausschlaggebende Tapferkeit, sondern auch die übrigen Bedeutungskomponenten assoziiert werden. Es ist in diesen Beispielen einer doppelten Artikulation also nicht so, daß (wie in der Lautsprache) Werkzeuge zur Etablierung anderer Werkzeuge hergestellt werden. Vielmehr werden Werkzeuge, die […] bereits vorgegeben sind, umfunktioniert […] unter latenter Bewussterhaltung ihrer ursprünglichen Funktion (Holenstein 1980: 321). Im Unterschied zu „Zeichen an Zeichen“ (der doppelten Artikulation) wollen wir die Produkte der Umfunktionierung Zeichen aus Zeichen nennen. Dieser Zeichentypus setzt schon die Existenz des Typus Zeichen an Zeichen voraus und relativiert ihn gleichzeitig. Dadurch Für eine Semiotik des Artefakts 323 aber bekommt der sprachliche Artefakt eine neue Dimension. Unter diesem Gesichtspunkt besteht der sprachliche Artefakt nicht nur aus vertikal-hierarchischen Einheiten und dessen Teilen, sondern diese Einheiten haben darüber hinaus horizontale Extensionen oder Erweiterungen, die ihnen neben ihrer eigentlichen Bedeutung auch eine Hintergrundbedeutung geben können. Mit anderen Worten: Den vertikalen Einheiten wird eine horizontale Bedeutung eingeimpft. Es entstehen sprachliche Artefakte, die sich mit den anderen sprachlichen Artefakten kreuzen und spielerisch leicht ineinander übergehen. Das Universum der Artefakte vollendet sich nach diesen zwei sich ergänzenden Dimensionen. Literatur Albright, William Foxwell 1949: Von der Steinzeit zum Christentum. Monotheismus und geschichtliches Werden, Bern: Francke Autorenkollektiv (ed.) 1939: Études phonologiques dédiées à la mémoire de M. le Prince N.S. Trubetzkoy (= Travaux du Cercle linguistique de Prague 8), Praha: Jednota Eco, Umberto 1972: Einführung in die Semiotik, München: Fink Elffers, Joost 1976: Tangram. 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