eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2013
363-4

Hermann Paul und die Sprachphilosophie

2013
Clemens Knobloch
1 Anmerkung d. Redaktion (EHL): Der folgende Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 7.1 (1997): 121-142. Er wurde hier aufgrund seiner Bedeutung für das Thema dieses Heftes und zur Weiterführung der Diskussion noch einmal aufgenommen. Hermann Paul (1846-1921) Hermann Paul und die Sprachphilosophie Clemens Knobloch 1 Das Problem Hermann Paul, der unbestechliche Empiriker, hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur Sprachphilosophie. 1 Er war zwar der führende theoretische Kopf der Junggrammatiker, aber seine ‚Prinzipien der Sprachgeschichte‘ sind mehr aus der erfolgreichen Praxis der Sprachforschung abgeleitet als aus sprachphilosophischer Reflexion. Indessen gilt auch für die strengen Empiriker, was Friedrich Engels den Naturwissenschaftlern seiner Zeit ins Stammbuch geschrieben hat: Sie … mögen sich stellen, wie sie wollen, sie werden von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einer schlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von einer Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften beruht (Engels 1971: 203). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Clemens Knobloch 258 2 Psychologismus und Historismus findet man u.a. bei Amirova et al. (1980), Empirismus bei Jankowsky (1972) und Koerner (1972), Atomismus, Historismus, Positivismus bei Helbig (1970); die Liste läßt sich beliebig verlängern. 3 Die Siglen, nach denen ich Pauls Arbeiten zitiere, sind in der Bibliographie entschlüsselt. Ich untersuche also in den folgenden Abschnitten nicht die (über jeden Zweifel erhabene) Praxis des Sprachforschers Hermann Paul, sondern zuerst die Vorstellungen, die er selbst sich von dieser Praxis gemacht hat. Beides ist natürlich nicht völlig unabhängig voneinander, die philosophischen Schranken markieren gleichzeitig Grenzen für Pauls erfolgreiche Praxis, und man kann Delbrück und Helbig (1970: 15) nur bedingt zustimmen, wenn sie den enormen Fortschritt der Sprachforschung in der junggrammatischen Epoche darauf zurückführen, daß die Abkehr von sprachphilosophischen Fragen der Empirie den Weg erst frei gemacht hätte. An Ismen fehlt es nicht zur Kennzeichnung der Paul’schen Position: Historismus, Positivismus, Individualismus, Atomismus, Psychologismus werden genannt, und all das hat seine Richtigkeit. 2 Wie aber die verschiedenen Faktoren in der Architektonik von Pauls Theorie ineinandergreifen, das ist selten oder nie untersucht worden. Man kennt Pauls Affinität zur Psychologie Herbarts, seine dezidierte Gegnerschaft zum Völkerpsychologie-Gedanken (Steinthal und Wundt), sein Mißtrauen gegen Abstraktionen und elegant entworfene, in sich geschlossene Theoriesysteme, seine Kritik am Naturalismus Schleichers. Aber wie all das mit Pauls Selbstverständnis als Sprachforscher zusammenhängt, ist nicht deutlich. Pauls nüchterne und strenge Denkweise tritt besonders deutlich zutage in der erbitterten Kontroverse mit dem brillanten und phantasievollen Scherer. Pauls Temperament war dem Effektvollen, dem Spekulativen, der ‚Lösung um jeden Preis‘ immer entgegen (vgl. Reis 1978), er war ein unversöhnlicher Gegner von wissenschaftlicher Rhetorik, und das bis zu einem Grade, daß er seinen Zeitgenossen schablonenhaft und starr vorkommen mußte. All das ist in Marga Reis’ (1978) vorzüglicher Studie nachzulesen, und es klingt dort auch die psychologische Vermutung an, daß Paul Mühe hatte, seine eigenen spekulativen Neigungen im Zaum zu halten. Was über Pauls sprachphilosophische Position ermittelt ist, hat den Mangel, daß es fast immer den ‚Prinzipien der Sprachgeschichte‘ (PS 3 ) entnommen wird. Es ist dies aber ein typisches „Ergebnisbuch“ (Bühler 1934: 6), und andere Arbeiten Pauls sind in puncto Selbstverständnis ergiebiger, so seine Beiträge zum (von ihm selbst herausgegebenen) Grundriss der germanischen Philologie, seine Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften (AMG) und seine Rede Über Völkerpsychologie (VP). Wie wichtig Paul die Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie seiner Zeit genommen hat, erhellt aus der fast grotesk anmutenden Tatsache, daß er in einer vierseitigen Vita, verfaßt kurz vor seinem Tod, den ganzen letzten Abschnitt seiner Gegnerschaft zu Wilhelm Wundt widmet (V, 498). Pauls philosophisches Denken kreist um das psychophysische Problem. Als Zweig der Kulturwissenschaft handelt die Sprachforschung von beidem: sie hat die physischen Zeugnisse der Sprechtätigkeit unzähliger Individuen als Materiatur, und diese Erzeugnisse werden hervorgebracht von psychischen Ursachen, sie sind deren Wirkungen. Psychische Vorgänge kann aber jeder nur unmittelbar an seiner eigenen Seele beobachten, die Fremdbeobachtung hat immer nur ihre physischen Wirkungen (M, 155). Das ist für Paul nicht nur das Dilemma der Philologie, sondern auch das der alltäglichen sprachlichen Verständigung: alle Wechselwirkung zwischen Individuen bedarf der physischen Vermittlung durch ‚bewegte Luftschichten‘ (vgl. VP, 364). Hermann Paul und die Sprachphilosophie 259 Das kausale Erschließen psychischer Ursachen aus vorliegenden physischen Wirkungen - das ist für Paul die Generalformel der Philologie, und alles hängt für ihn davon ab, daß die psychischen Erscheinungen untereinander und mit ihren physischen Wirkungen in gesetzmäßigen Kausalzusammenhängen stehen. Wo dies nicht der Fall, da ist Wissenschaft für Paul nicht möglich (und natürlich auch keine wirkliche sprachliche Verständigung). Das zeitbedingte Rohe an diesem Verständnis von Kulturwissenschaft brauche ich nicht herauszustellen. Man fühlt sich stark erinnert an das Zerrbild des Gesellschaftswissenschaftlers, der die Uhr durch die psychischen Vorgänge im Uhrmacher und nicht durch die Funktion der Zeitmessung erklärt. Die Sprachdaten geben Zeugnis von der Gruppierung der Erfahrungen in der Einzelseele (AMG, 4), und diese hat der Sprachforscher aufzudecken. Hier ist eine stille Affinität Pauls zu seinem großen Widersacher Wundt, der ja gleichfalls die Sprachdaten als Zeugnisse für einen streng gleichsinnigen Vorstellungsverlauf beim Sprecher interpretiert (vgl. Knobloch 1984). Während die Völkerpsychologen einen ethnisch vorgeprägten Zusammenhang und Aufbau der ‚Einzelseelen‘ annehmen, kennt Paul nur eine natürliche Übereinstimmung der Individuen in geistiger und leiblicher Organisation (VP, 364). Die hat seine Theorie auch bitter nötig, weil die Sprache als aktiv formendes Organ des geistigen Lebens für ihn nicht in Betracht kommt: die Sprachlaute fügen den Vorstellungsinhalten nichts hinzu, sie setzen diese als fertig geformte voraus; höchstens Neukombinationen vorhandener Vorstellungen können sie veranlassen (AMG, 27). Das ist eine dezidierte Gegenposition zu Humboldt und seinen Anhängern. Weil alle Sprachzeugnisse immer nur hinweisen auf das Seelenleben des sie hervorbringenden Individuums, drängt alles bei Paul zur Berücksichtigung des Sprechverkehrs der Individuen untereinander. Er allein stellt eine (relative) Übereinstimmung der Sprecher her. Bei den Völkerpsychologen hingegen wird die Kommunikation aus durchsichtigen Gründen ignoriert: sie hat eigentlich keine Funktion, weil die Sprecher in der vorausgesetzten ‚Volksseele‘ immer schon verständigt sind. Diese Berücksichtigung des Sprechverkehrs hat Paul als seine Leistung immer stark herausgestellt. Alle Probleme der Sprachwissenschaft brauchen „genaue Beobachtung des Hergangs bei dem wechselseitigen Verkehr zwischen den verschiedenen Individuen“ (VP, 366). Es ist dies ein Zug, der ihn mit Philipp Wegener verbindet. Die theoretischen Folgen dieser Konstellation sind zwiespältig. Sie führt einmal dazu, daß das Soziale an der Sprache als ein Appendix ihrer individualpsychologischen Fundierung eigens abgeleitet werden muß (vgl. Bühler 1934: 3f). Die wirkliche Verständigung erscheint als movens der Sprachgeschichte und ist doch von den individualpsychologischen Voraussetzungen her eigentlich gar nicht möglich, weil keine Monade aus ihrer Käseglocke herauskann: Es ist also nicht möglich, durch die Sprache Vorstellungselemente in die Seele des Hörenden einzuführen, die nicht schon vorher in derselben gewesen sind (VP, 367). Die doppelte Einordnung der Sprache in die Psychologie und in die Gesellschaftswissenschaft führt in den ‚Prinzipien‘ zu einem unvermittelten Nebeneinander beider Seiten, verbunden sind sie nur durch den ominösen Satz: Etwas anders stellt sich die Aufgabe der Prinzipienlehre von folgendem Gesichtspunkt dar. Die Kulturwissenschaft ist immer Gesellschaftswissenschaft (PS, 7). Clemens Knobloch 260 4 Wer das also für eine Erkenntnis des ebenso modischen wie modernen Konstruktivismus hält, der mag sich bei Paul über das ehrwürdige Alter dieser Topoi ins Bild setzen. 5 Ich erinnere an Pauls berühmtes dictum, wonach es eine andere als die historische Erforschung der Sprache nicht geben könne. 6 Über das prekäre Verhältnis von diachronischem Ziel und synchronischer Beschreibung von Sprachzuständen bei Paul (PSG, 29; BAgP, 2) vgl. Koerner (1972) und v.a. Reis (1978), die das Nebeneinander mehrerer Lesarten für ‚historisch‘, ‚geschichtlich‘ usw. in den Arbeiten Pauls analysiert. Vgl. hierzu auch Ruzicka (1977). 7 Im Bedeutungskapitel der PSG ist dieser Gebrauch von ‚usus‘ durchbrochen. Die usuelle Bedeutung eines Wortes gilt da durchaus als individueller Sprachbesitz, nicht als methodische Funktion; Reis (1978: 189) interpretiert die Schwierigkeiten mit Pauls gelegentlicher Hypostasierung des usus als einer selbständigen Macht, die ihrerseits die Sprechtätigkeit des Einzelnen beeinflusst. Der immer geforderte Schluß von den physischen Daten zu ihren psychischen Ursachen steht auch für Pauls methodisch begründete Wertschätzung einer Untersuchung der lebenden Sprachen: nur bei diesen ist auch die psychische Seite der Selbstbeobachtung unmittelbar gegeben. Alle historische Rekonstruktion ist insofern riskant, als sie auf der konstruktiven Ergänzung des Gegebenen durch Analogieschlüsse aus der Gegenwart beruht (M, 156). Denn alles, was wir beobachten, ist ex definitione gegenwärtig. 4 Man sieht hier schon: der Historismus Pauls beruht eigentlich auf der Voraussetzung, daß nichts sich wirklich ändert! Tritt also bei der Erforschung der jüngeren Sprachzustände die Selbsterfahrung des Forschers ein, so muß gerade für die Sprachgeschichte, um die es doch allein geht 5 , die wissenschaftliche Psychologie als Gesetzeswissenschaft in die Bresche springen. Sie bürgt für die Validität der gegenwärtig basierten Schlußfolgerungen des Sprachforschers auch für die vergangenen Sprachzustände. Das ist Pauls ausdrückliche Meinung, denn er beschränkt die Funktion der Psychologie auf die unabsichtlich in Bewegung gebrachten Änderungsprozesse, während man sich bei den absichtlich erzeugten sprachlichen Produkten durchaus auf den Nachvollzug in der eigenen Erfahrung verlassen könne (M, 158). Nur aus diesem Gedankengang heraus ist es zu verstehen, warum die zutiefst ahistorische Vorstellungsmechanik Herbarts zu den ersten Glaubenssätzen des Historikers Paul gehört. Deren Reiz beruht gerade darin, daß sie den Empiriker Paul mit dem Theoretiker Paul (eher gewaltsam) versöhnt. 6 Der Sprachusus eines Zeitpunktes, diese artifizielle Zusammenfassung des Forschers, wird gebildet aus unzähligen individuellen Sprachsystemen, die permanent in sich evolvieren. Auch das ist nur konsequent, verweist doch kein Sprachzeugnis an und für sich auf ‚die‘ Sprache, sondern nur auf einen individuellen Sprecher zu einem bestimmten Zeitpunkt. Auch die Gemeinsprache ist daher nur eine mehr oder minder konventionelle Zusammenfassung von Individualsprachen, eine methodische Fiktion (vgl. PS, 29 et pass.; Reis 1978: 184). 7 Diese theoretischen Annahmen bringen Paul in einen unlösbaren Widerspruch, den er sehr deutlich empfunden haben muß: die linguistisch-philologische Praxis führt, da notwendig gegenwärtig basiert (s.o.), nur insofern auf valide Schlüsse, als in den Einzelseelen alles gleich bleibt, der faktisch in permanenter Entwicklung begriffene Gegenstand dieser Praxis aber kann nur erklärt werden mit der Voraussetzung, daß nichts gleich bleibt in der Einzelseele. Die unmögliche Versöhnung beider Seiten hat die Prinzipienwissenschaft zu leisten: Ihr ist das schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine geschichtliche Entwicklung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten Gebilden? (PSG, 2). Hermann Paul und die Sprachphilosophie 261 8 Als Mitarbeiter in Steinthals und Lazarus’ Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft wird er meist umstandslos dieser Schule zugeordnet, er ist aber ein klarer und selbständiger Kopf. Paul hat die Mißachtung seiner philosophischen Bemühungen durch Tobler, Misteli und später auch Steinthal sehr gekränkt; vgl. PSG, 12, Anmerk. Unter den Rezensenten der ‚Prinzipien‘ haben einige den Bruch zwischen Theorie und Praxis durchaus bemerkt. So schreibt der feinsinnige (und von den Historiographen viel zu wenig zur Kenntnis genommene) Franz Misteli 8 im Anschluß an Ludwig Toblers Rezension der 1. Auflage von PSG (Tobler 1881): die einleitenden Begriffsbestimmungen hätten glücklicherweise keinen Einfluß auf den Fortgang der Darstellung (Misteli 1882: 399f.). Er prangert den naiven psychologischen Platonismus Pauls an, der einfach die wirklichen sprachlichen Erscheinungen verdoppelt und sie als psychische noch einmal setzt (ibid., 392f.). Pauls methodisches Selbst(miß-)verständnis trifft er genau mit dem scharfen Satz: Sein krankhaftes Verlangen, nur das Wirkliche in die Hände zu bekommen, läßt ihn das Allgemeine zum Erdichteten und die zufällige Einzelheit zum wahren Objekt verschieben … Paul glaube nur nicht, daß er dem Wirklichen nähergekommen sei, wenn er von ‚einzelnen‘ Vorstellungen oder Sprechbewegungen redet, … (ibid., 385 bzw. 387). Faktisch läßt sich Pauls strenger Anspruch (glücklicherweise! ) nicht einlösen: das einfache Konstatieren eines sprachlichen Faktums schließt die Allgemeinheit und Gesellschaftlichkeit desselben ein. Zusammengefaßt für den Freund der griffigen Formeln: Pauls Philosophie ist idealistisch und mechanistisch, sie behandelt das Psychische überall als Ursache des Physischen. Sie ist nominalistisch, ihr gilt nur das einzelne Sinnending als wahr. Es handelt sich, kurz gesagt, um eine „schlechte Modephilosophie“, sie ist ungeeignet, eine kulturwissenschaftliche Praxis wirklich anzuleiten und entstanden aus dem Wunsch, eine erfolgreiche wissenschaftliche Praxis mit strengen Kausalitätskriterien auszuschmücken. Wenn Paul seine eigene Arbeit so gesehen hat, dann hat er sie falsch gesehen. Nach diesem gleichermaßen summarischen und kritischen Durchgang durch Pauls methodisch-philosophisches Selbstverständnis nun einige Bemerkungen über sein Verhältnis zu den Sprachphilosophen der Zeit. 2 Paul und Steinthal Daß er „besondere Anregung von Steinthal empfing“ in seinem knapp einjährigen Berliner Studium 1866/ 7, schreibt Paul selbst in seiner Vita (V, 495). Er läßt freilich keinen Zweifel daran, daß er dessen Völkerpsychologie (ganz wie die Wundt’sche) entschieden ablehnt (vgl. PSG, 8ff; V, 363ff). In Temperament und Denkweise liegen Welten zwischen Paul und Steinthal: „Paul ist kein Philosoph und Dialektiker wie Steinthal, er überspitzt nichts“, schreibt Arens ( 2 1969: 347). In der Tat tut man sich schwer, in Pauls Werk die Spuren der ‚Anregung‘ zu finden, die von Steinthal ausgegangen sein soll. Als einziger Posten von einigem Gewicht bleibt der Umstand, daß es Steinthal war, der Paul mit Herbarts Psychologie vertraut gemacht hat. Doch sehen wir zunächst, wie Paul selbst sein Verhältnis zu Steinthal auffaßt. Über sich und seine junggrammatischen Mitstreiter schreibt er: Clemens Knobloch 262 9 Der Vorwurf gegen Paul, er wolle offenbar die ‚Mechanisierung der Methoden‘, hat auch aus dieser Sicht eine gewisse Berechtigung; vgl. Reis (1978: 163ff.). Das Ringen nach einer festen Methode für die in so reichem Maße geübte historische Forschung, der Streit um die dabei anzuwendenden Grundsätze nötigte dazu, auf die allgemeinen Grundbedingungen der Sprachentwicklung zurückzugehen. Dies geschah im Anschluss an die psychologische Sprachbetrachtung Steinthals. Es galt, dieselbe in enge Verbindung mit den Erfahrungen der Detailforschung zu setzen. Eine Zusammenfassung der Resultate, die sich aus dieser Verbindung ergaben, habe ich in den ‚Prinzipien der Sprachgeschichte‘ versucht (GGP, 123f.). Dies ist eine verblüffende Selbstinterpretation für jeden, der beide Autoren kennt. Überhaupt ist die Darstellung Steinthals in GGP (S. 117ff.) erstaunlich positiv. Lediglich die fehlende Verbindung zur Einzelforschung wird bemängelt, so daß, wenigstens in Pauls Selbststilisierung, ein direkter Weg von Steinthals psychologischer Sprachauffassung zu Pauls ‚Prinzipien‘ zu führen scheint. Welchen Gebrauch macht nun aber Steinthal und welchen macht Paul von der Herbart’schen Psychologie? Daß Steinthal nicht einfach ein Herbartianer war, ist bekannt (vgl. Bumann 1965/ 6). Gerade in der Sprachauffassung unterscheidet er sich radikal von Herbart (vgl. Misteli 1880). In Steinthals sprachphilosophischem Cocktail (einer explosiven Mischung übrigens aus romantisch-idealistischen und mechanisch-materialistischen Gedanken) ist Herbart nur ein Ingrediens unter vielen. Namentlich die völkerpsychologischen Weiterungen sind mit Herbarts Zweisubstanzenlehre nur schwer vereinbar: die Seele ist eine einfache Substanz, die ihre Vorstellungen, angeregt durch äußere Substanzen zwar, aber im ganzen doch autonom bildet. Für eine ‚Volksseele‘ oder einen ‚Volksgeist‘ ist da nirgends Platz, und Paul verteidigt allenthalben die individualistische und mechanistische Intention Herbarts gegen Steinthals romantische Gedanken. Daß er die Unvereinbarkeit von Herbarts Seelenmechanik und romantischer Völkerpsychologie dargetan habe, rühmt schon Wundt an ihm. Der Reiz, der für beide von der Psychologie Herbarts ausgeht, ist ihr (vermeintlicher) empirisch-antispekulativer Charakter. Sie wollte keine philosophische Vermögenslehre mehr sein, sondern empirische Erfahrungswissenschaft von den bewussten und nichtbewußten Vorstellungen. So verstanden bildet sie in Pauls Gedankenbau den Eckstein, während sie bei Steinthal eher zur Fassade gehört. Und so unterscheidet sich auch Pauls Anwendung der mechanischen Psychologie diametral von Steinthals: sie hat für ihn den Charakter einer strengen methodischen Vorschrift, nach der psychische Entsprechungen zum sprachlichen Material konstruiert und untereinander verbunden werden. 9 Steinthal dagegen trägt sie breit und umständlich vor als Theorie der Seele, die an irgend einem Punkt mechanisch-reflexhaft Sprachlaute hervorbringt (vgl. Steinthal 2 1881). Man kann getrost vermuten, daß Paul sich dem harschen Urteil Delbrücks über Steinthals sprachtheoretische Arbeiten angeschlossen hätte. Delbrück schreibt, daß diese „nur bestimmt waren, gewissen allgemeinen Ideen zur Erläuterung zu dienen“ (Delbrück 1901: 2). In diesem hingeworfenen Satz liegt das ganze empirische Pathos der Junggrammatiker. Etwas Schlimmeres kann man über einen Sprachforscher nicht sagen. Was Paul weiterhin angezogen haben könnte an der Herbart’schen Lehre (Steinthal aber eher abgestoßen), ist ihr strenger und nüchterner Intellektualismus - und der Umstand, daß auch Herbart genötigt war, den unaufhörlichen Wechsel der Vorstellungen mit wenigen unveränderlichen Regeln zu beschreiben. Hermann Paul und die Sprachphilosophie 263 Warum aber fühlt sich Paul nach eigenem Zeugnis den Auffassungen Steinthals verbunden, wenn es nicht Herbarts Psychologie (und schon gar nicht seine Sprachauffassung) ist, die als Bindeglied dienen kann? Ich glaube, daß es Steinthals Theorie des geisteswissenschaftlichen und philologischen Verstehens, seine Lehre von den Formen der Interpretation (vgl. Bumann 1965/ 6: 48ff.) war, in der Paul seine eigene Praxis wiederzuerkennen glaubte. Hier stehen beide Forscher einander am nächsten, und was Paul als Methodenlehre im ‚Grundriss der germanischen Philologie‘ vorträgt (M), das hat viele Bezüge zur Interpretationslehre Steinthals: Ziel der Verstehensprozeduren ist die Reproduktion der Vorstellungsreihen des Produzenten; vom alltäglichen Verstehen unterscheidet sich das philologische, indem es das einzelne Datum verbindet mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Seele und des Bewußtseins; Interpretationsbedarf entsteht dadurch, daß die vom Produzenten gemachten Voraussetzungen bei Rezipienten späterer Tage nicht mehr zutreffen. Last but not least dürfte es Paul gefallen haben, daß Steinthal in der grammatischen Interpretation der Sprachdaten den vornehmsten und eigentlichen zentralen Teil der philologischen Praxis gesehen hat. In der Zusammenfassung Bumanns: Die grammatische Interpretation bildet die Grundlage für alle weitere philologische Interpretation. Sie deutet den geschriebenen Sprachlaut, d.h. sie entziffert den Sinn der Rede, soweit er im Worte, den Sprachelementen an sich liegt (Bumann 1965/ 6: 50). Der Praktiker Hermann Paul begründet die germanistische Linguistik als eigenständiges, von der Deutung der Literaturdenkmäler abgesetztes Fach (vgl. Reis 1978: 160). Der Theoretiker Hermann Paul möchte der Linguistik eine literaturwissenschaftliche Methodologie vorschreiben. 3 Paul und Wundt Ein gutes Wort über Wundt findet man nirgends in den Schriften Hermann Pauls. Als empirischer Sprachforscher ganz ohne selbständige Bedeutung, war Wundt aber zweifellos ein scharfsinniger Kenner der Philosophie (vgl. Arnold 1980, Ungeheuer 1984). Mit den Junggrammatikern war er schon in den achtziger Jahren über die ‚Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze‘ aneinandergeraten (vgl. Jankowsky 1972: 216ff.). Als im Jahre 1900 die ersten beiden, der Sprache gewidmeten Bände seiner ‚Völkerpsychologie‘ erschienen, da fand dieses Werk bei den Indogermanisten eine recht freundliche Aufnahme (vgl. Delbrück 1901, Sütterlin 1902). Die Gründe dafür können hier nicht untersucht werden, aber immerhin mochte Paul glauben, daß sein Prinzipienbuch in der Gunst des Publikums verdrängt werden könnte. Pauls Einwände gegen den Wundt’schen Standpunkt sind bekannt. Sie betreffen die Rolle der Analogie, die Völkerpsychologie und vor allen Dingen die bei Wundt völlig vernachlässigte Hörer- und Kommunikationsperspektive. All das kann man nachlesen in der Einleitung zur 4. Auflage der PSG. Da es hier jedoch nur um Paul geht, behandele ich von den unzähligen Querelen zwischen beiden Forschern nur eine, bei der mir zentrale Schwierigkeiten des Paul’schen Denkens getroffen zu sein scheinen. In dem Aufsatz ‚Der Einzelne und die Volksgemeinschaft‘ (zitiert nach Wundt 2 1921: 53ff.) handelt Wundt vom Individualismus in der Sprachwissenschaft und im besonderen von Hermann Paul. Sehr feinsinnig legt er die Wurzeln des Paul’schen Denkens in dessen philologischer Ausbildung und Praxis frei. Jeder philologische Interpret neige dazu, die Arbeit, die er selbst Clemens Knobloch 264 10 Was jeweils als ‚erfolgreich‘ gilt, ist natürlich eine Frage der gesellschaftlichen Wertung. 11 Zu der schier endlosen Diskussion um Synchronie und Diachronie bei Paul vgl. die vorzüglichen Bemerkungen in Reis (1978: 173ff.). zum Verständnis einer geistigen Schöpfung aufwenden muß, auch dem Produzenten dieser Schöpfung zu unterschieben: Zu dem, fast könnte man sagen, berufsmäßigen Intellektualismus des Philologen gesellt sich als dessen natürliche Ergänzung ein meistens stark ausgeprägter Individualismus, der durch die Beschäftigung mit geistigen Schöpfungen, die wirklich individuellen Ursprungs sind, noch mehr befestigt wird (Wundt 1921: 55). Wundt trifft hier sehr genau die Selbsttäuschung des Methodologen Paul, der ja in der Tat seine eigene Interpretation der Dinge dem Erzeuger eines sprachlichen Gebildes als ‚Vorstellungsverlauf‘ unterstellt. Die Rezeption von Sprachzeichen gilt für identisch mit dem Nachvollzug der Vorstellungen, die zu ihrer Produktion geführt haben, und zwar im Prinzip die alltagsweltliche und die wissenschaftliche Rezeption. Die philologische Methode Pauls schlägt um in eine linguistische Ontologie; in seinem Selbstverständnis verhält sich die Sache freilich umgekehrt, und die Methode erscheint als Resultat der Ontologie, als diktiert von der Beschaffenheit des Gegenstandes. Das ist übrigens in der Geschichte der Linguistik eine ganz alltägliche, beinahe allgegenwärtige Erscheinung. Der immer prekäre ontologische Status ‚einer‘ oder ‚der‘ Sprache verführt dazu, die anderweitig motivierte Methodologie der Sprachforschung auch als Ontologie auszubauen und auszugeben. Wer z.B. die Sprache logisch behandelt, der macht sie zum ‚Ausdruck des Denkens‘ und hat damit seine Behandlungsweise bestens gerechtfertigt. Die Methodologie ihrerseits orientiert sich an ‚erfolgreichen‘ 10 Nachbardisziplinen mit ontologisch weniger prekären Gegenständen, und auch hier hat Wundt die Verfahrensweise Pauls fein beobachtet. Es ist bekannt, daß Paul (ebenso wie Steinthal) ein entschiedener Gegner des Naturalismus und Darwinismus Schleichers gewesen ist, der (National-)Sprachen als evolvierende, mutierende und aussterbende Naturorganismen verstand (vgl. Arens 2 1969: 337ff.). Unter den Historiographen ist es lediglich Koerner (1976: 699), der einmal den junggrammatischen Ansatz als eine bloße Fortsetzung und Erweiterung des Schleicher’schen Paradigmas bezeichnet. 11 Wer hat Recht? Nun, wie so oft, beide ein wenig. Paul hat zwar die Hypostasierung der Nationalsprachen als selbständiger Organismen gänzlich aufgegeben, sie sind ihm ja nur Konstrukte des Forschers, aber er hat nicht aufgehört, bei Darwin und den Darwinisten Anleihen zu machen. Ganz offen und gerade heraus tut er das in der Frage der Sprachspaltung, so sich „die Analogien aus der Entwicklung der organischen Natur aufdrängen“ (PSG, 37). Er schreibt dann weiter: Wollen wir diese Parallele ein wenig verfolgen, so kann es nur in der Weise geschehen, dass wir die Sprache des einzelnen, also die Gesamtheit der Sprachmittel über die er verfügt, dem tierischen oder pflanzlichen Individuum gleich setzen, die Dialekte, Sprachen, Sprachfamilien etc. den Arten, Gattungen, Klassen des Tier- und Pflanzenreichs (ibid.). Hier ist es also der individuelle Sprachbesitz, der dem Kampf ums Dasein in Gestalt des Sprechverkehrs ausgesetzt wird. Was sich bewährt im Sprechverkehr, wird usus, und die Hermann Paul und die Sprachphilosophie 265 12 Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, daß ich für Wundt und gegen Paul Partei ergreife in einem alten Streit. Ich halte Wundts ausdruckspsychologische und parallelistische Sprachauffassung für unbedeutend und zutiefst steril, während Paul gerade durch seine Widersprüche ungemein anregend ist. Wundt hatte jedoch immer einen klaren Blick für die philosophischen Schwächen seiner Widersacher, und das mache ich mir hier zunutze. Intensität des sprachlichen Kontaktes der Individuen bestimmt den Grad der Übereinstimmung ihrer Individualsprachen. Paul vergleicht sogar ausdrücklich die von ihm angenommenen ‚Individualsprachen‘ mit der Auflösung des starren Artenbegriffes bei den Darwinianern: Der große Umschwung, welchen die Zoologie in der neusten Zeit durchgemacht hat, beruht zum guten Teile auf der Erkenntnis, dass nichts reale Existenz hat als die einzelnen Individuen, dass die Arten, Gattungen, Klassen nichts sind als Zusammenfassungen und Sonderungen des menschlichen Verstandes, die je nach Willkür verschieden ausfallen können … Auf eine entsprechende Grundlage müssen wir uns auch bei der Beurteilung der Dialektunterschiede stellen. Wir müssen eigentlich so viele Sprachen unterscheiden als es Individuen gibt (PSG, 37). So nützlich diese Analogie für die Dialektforschung, so falsch ist das darwinistische Bild, unter das sie gefasst ist. Wundt merkt genüsslich an: wo fände sich etwa in der Tierwelt ein Beispiel dafür, daß stammesfremde Arten, ähnlich stammesfremden Sprachen, sich mischen, oder daß ein Individuum dem andern durch Nachahmung ähnlich wird? (Wundt 1921: 79). Pauls philologische Methode nötigt ihn, die Verschiedenheit des individuellen Sprachbesitzes (die er in seinen Zeugnissen ja immer wieder belegt findet) zur Norm und die Übereinstimmung zur riskanten Ausnahme zu machen. Mit Darwin’schen Argumenten ist dieses Verfahren freilich nicht zu rechtfertigen, denn auch die Darwinianer haben ja bloß für die Diachronie die strikte Trennung der Arten aufgelöst, nicht ihren synchronen Zusammenhang. Von praktischem Nutzen ist Pauls Maxime in der Dialektforschung insofern, als sie methodische Skepsis, sorgfältige Prüfung der Daten, vorsichtige Schlussfolgerungen nahe legt. Ob es aber für sachhaltig gelten kann, von starken Unterschieden des individuellen Sprachbesitzes auszugehen, ist selbst wieder eine historische Frage. Denn Individualisierung des sprachlichen Ausdrucks setzt naturgemäß eine differenzierte und hochentwickelte Gesellschaft voraus, sie steht keinesfalls am Anfang der historischen Entwicklung, wo Paul sie hinsetzt: „Auch hier verallgemeinert daher die Hypothese der Individualsprache vereinzelte Erscheinungen einer späten Kultur, um sie dann in eine beliebig vergangene Zeit zu projizieren“ (Wundt 1921: 77). Und wieder ist man angekommen im Paul’schen Hauptwiderspruch: daß sich alles bewegen muß und doch nichts sich bewegen darf. 12 4 Schluß Es ist der bewundernswert sichere Blick für die Tatsachen des Sprachlebens, der Paul vor den Fallstricken seiner eigenen Methodologie bewahrt hat. Gerade sein Grundwiderspruch gestattet ihm aber auch Sprung und Perspektivenwechsel, und darum findet man neben der Fülle von sprachgeschichtlichen Einzelbefunden in den ‚Prinzipien‘ auch die Kapitel, wo von der Sprache im Singular gehandelt wird, oder, in Bühlers bilderreicher Sprache: wo Heraklit unter die Eleaten geht (Bühler 1934: 4); über die syntaktischen Grundverhältnisse, über Clemens Knobloch 266 13 Selbstverständlich hat Wegener auch seinerseits für die ‚Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens‘ die 1. Aufl. der Paul’schen Prinzipien mit Gewinn verwendet. usuelle und okkasionelle Bedeutung, über die Wortarten und über die Sparsamkeit im Ausdruck. Hier ist das Prinzip der Individualsprache und der singulären Interpretation einzelner Daten rasch vergessen. Das unvermittelte Nebeneinander von historisch-psychologisierender und synchronisch-sprachtechnischer Sichtweise ist oft nachgerade zum (fruchtbaren) Widerspruch gesteigert. Ein bekanntes Beispiel: in der Behandlung des grammatischen Genus gibt Paul zunächst die seit Grimm bekannte, aber auch vor ihm schon gängige Variante, der grammatische Geschlechtsunterschied habe seinen Ursprung im natürlichen der Lebewesen, welcher dann qua Phantasie und Analogie auf andere Bereiche übertragen werde und sich sprachlich befestige (PSG, 263f.; vgl. hierzu Jellinek 1906). Dann aber schaltet er um zu einer sprachtechnischen Auffassung des Genus als einer Anaphorisierungshilfe qua Kongruenz: Das sprachliche Mittel, woran wir jetzt das grammatische Geschlecht eines Substantivums erkennen, ist die Kongruenz, in welcher mit demselben einerseits Attribut und Prädikat, andererseits ein stellvertretendes Programm steht. Die Entstehung des grammatischen Geschlechtes steht daher im engsten Zusammenhang mit der Entstehung eines wandelbaren Adjektivums und Pronomens. … Am stellvertretenden Pron. hat sich wahrscheinlich das grammatische Geschlecht am frühesten entwickelt, gerade so wie es sich an demselben da, wo es teilweise untergegangen ist, also z.B. im Engl., am längsten erhält (PSG, 264f.). Das ist eine völlig andere Optik, die sich hier geltend macht, eine funktionalistische, an der Leistung der grammatischen Erscheinung orientierte. Ganz ähnlich gespalten sind die Dinge wenige Seiten weiter, bei der ‚Verschiebung der syntaktischen Gliederung‘, und in den ‚syntaktischen Grundverhältnissen‘, welche die Basis abgeben für das 16. Kapitel von PSG. Zuerst wird das ‚psychologische Subjekt‘ definiert als „die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschließt“ (PSG, 124). Die funktionale Zweigliedrigkeit einer jeden sprachlichen Äußerung wird einfach in den Kopf des Sprechers projiziert. Dann aber ist das ‚psychologische Subjekt‘ auch die ‚Vorstellungsmasse‘ in der kommunikativen Themarolle, und das ist doch etwas anderes. Der Widerspruch zwischen beiden Lesarten wird ein wenig gewaltsam eliminiert: auch wo das Thema in der linearen Redekette nachgeschoben wird, wo es an die zweite Stelle rückt, war es doch zuerst im Bewußtsein des Sprechenden (das kann man natürlich nicht widerlegen! ) und der Prädikatsbegriff hat sich nur ordnungswidrigerweise in den Vordergrund gedrängt (PSG, 127). Man findet dessen Spuren gleich in den syntaktischen Abschnitten der PSG (die ja in der ersten Auflage noch weitgehend fehlen), aber auch im Bedeutungswandel: die ganze Liste derjenigen Faktoren, die eine abstrakt-usuelle Bedeutung zum konkreten Sachbezug des einzelnen Verwendungsfalles (zur ‚okkasionellen‘ Bedeutung also) individualisieren, stammt, so wie sie da steht (PSG, 78ff.), von Wegener. 13 So ist Pauls sprachphilosophische Position allenthalben voller Widersprüche. Gewiß hat er seine Leitgedanken nicht restlos zu Ende gedacht, aber nirgends verstellen sie ihm den Blick in die Sprachwirklichkeit. Darum kann man die ‚Prinzipien‘ noch heute mit Gewinn lesen, während der sprachphilosophisch subtilere Wundt heute nur noch den Historiographen etwas zu sagen hat. Hermann Paul und die Sprachphilosophie 267 Coseriu schreibt über Johann Werner Meiner, den bedeutenden Universalgrammatiker des 18. Jahrhunderts: er sei, wie viele seiner Zunft, ein schlechter Philosoph, aber ein genialer Grammatiker gewesen (vgl. Coseriu 1972 II: 168). So verhält es sich auch mit Hermann Paul. Wer aber mit Brecht’scher List über den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis hinausmöchte, der kann auch sagen: Pauls linguistische Praxis beweist, daß er ein guter Philosoph war, seine Philosophie war praktisch und seine Praxis philosophisch (vgl. Brecht 1965: 40). Wundts Philosophie hingegen war unpraktisch und ist darum zu recht vergessen. Literatur I Zitierte Arbeiten Hermann Pauls VP = Über Völkerpsychologie, in: Süddeutsche Monatshefte, November 1910 (Rede gehalten beim Stiftungsfest der Universität München am 25. Juni 1910) BAgP = Begriff und Aufgabe der germanischen Philologie, in: Grundriss der germanischen Philologie, Bd. 1, hrsgg. von H. Paul, Strassburg 1891, S. 1-8 M = Methodenlehre, ibid. S. 152-237 GGP = Geschichte der germanischen Philologie, ibid. S. 109-151 PSG = Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle a.S. 4 1909 ( 1 1880, 2 1886, 3 1898, 5 1920) V = Mein Leben, in: PBB 46 / 1922, S. 495-500 AMG = Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaften, Berlin und Leipzig 1920 II Sonstige Literatur Arens, Hans 2 1969: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, München: Karl Alber 1969 Arnold, Alfred 1980: Wilhelm Wundt. Sein philosophisches System, Berlin: Akademie Verlag Amirova, T.A. et al. 1980: Abriß der Geschichte der Linguistik, Leipzig: VEB Bibliograph. Institut Brecht, Bertolt 1965: Me-ti. Buch der Wendungen, Frankfurt: Suhrkamp Bühler, Karl 1934: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer Bumann, Waltraud 1965/ 6: Die Sprachtheorie Heymann Steinthals, Meisenheim a. Gl.: Anton Hain Coseriu, Eugenio 1972: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Teil II, Von Leibniz bis Rousseau, Tübingen: Gunter Narr Delbrück, Berthold 1901: Grundfragen der Sprachforschung, mit Rücksicht auf W. Wundts Sprachpsychologie erörtert, Strassburg: Karl Trübner Engels, Friedrich 6 1971: Die Dialektik der Natur, Berlin: Dietzverlag Helbig, Gerhard 1970: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft, Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie Jankowsky, Kurt R. 1972: The Neogrammarians, The Hague / Paris: Mouton Jellinek, Max Hermann 1906: „Zur Geschichte einiger grammatischer Theorien und Begriffe“, in: Indogermanische Forschungen 19 (1906): 272-316 Knobloch, Clemens 1984: „Sprache und Denken bei Wundt, Paul und Marty“, in: Historiographia Linguistica 11.3 (1984): 413-448 Koerner, E.F.K. [Konrad] 1972: „Hermann Paul und Synchronic Linguistics“, in: Lingua 29.3 (1972) Koerner, E.F.K. 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