eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2013
363-4

Lady Welby über Zeichen und Bedeutung, über Kontext und Interpretation

2013
H. Walter Schmitz
1 Die folgenden Ausführungen sind eine grobe Skizze der Ergebnisse eines Teils meiner umfangreichen Studien zur Geschichte der Signifik (vgl. auch Schmitz 1983; 1984; 1985a). Die zu diesem Zwecke erforderlichen Archivstudien in Kanada, England und den Niederlanden wurden mir durch eine finanzielle Unterstützung von Seiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht, der ich dafür danken möchte. (Eine erste Version des Victoria Lady Welby (1837-1912) Lady Welby über Zeichen und Bedeutung, über Kontext und Interpretation H. Walter Schmitz And let us see that our interpretation is really scientific, that is, stands every test which we can learn to apply (Welby 1906: 4). Die großen und weitgreifenden philosophischen Diskurse über Hermeneutik haben in den letzten Jahren eine zunehmende Neigung gezeigt, über einige Grundlagenfragen von Bedeutung und Interpretation so hinwegzusehen, als wären sie hinreichend geklärt, um stillschweigend vorausgesetzt oder mit allgemeinen Verweisen abgehandelt werden zu können. Dabei scheint jedoch der generelle Dissens schon durch die abstrakten Traktate hindurch, wenn über Verstehen und Interpretation in Alltagsgesprächen gesprochen wird, und er wird umso offensichtlicher, je weiter man sich von dieser primären Situation und Erfahrung zwischenmenschlicher Verständigung entfernt und schließlich über das Verstehen historischer Texte mit langer Rezeptionsgeschichte handelt. 1 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen H. Walter Schmitz 194 vorliegenden Textes wurde vorgetragen und diskutiert auf dem IV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V., München 1984.) 2 Zu Lady Welby und ihrem zeichentheoretischen Ansatz vgl. Eschbach (1983), Hardwick (1977) und Schmitz (1983; 1985a). Darüber hinaus hat sich zwar auch E. Walther (1983) mit der Signifik Lady Welbys und ihrer Nachfolger in der signifischen Bewegung in den Niederlanden befasst, doch lassen ihre Ausführungen nicht einmal ein hinreichendes Verständnis der drei Artikel von Lady Welby und Mannoury erkennen, auf die sie sich dabei bezieht. Derartige Schnellgriffe in die Wissenschaftsgeschichte müssen letztlich Fehlgriffe bleiben. Walther bezieht sich nämlich ausschließlich auf Artikel aus den 1890er Jahren (Welby 1893; 1896), also einer Zeit, in der Lady Welby noch gar keine nähere Bestimmung der Signifik und der zentralen zeichentheoretischen Termini erreicht hatte. Nicht zuletzt deswegen können die „Mängel und Fehler, Naivitäten und Fehlinterpretationen“, die Walther (1983: 411) Lady Welby zuschreibt, nur einem vorgeworfen werden, nämlich Elisabeth Walther. Die Entstehungsgeschichte der Signifik Victoria Lady Welbys (1837-1912) ist eines der Beispiele für eine Gedankenentwicklung in umgekehrter Richtung. Denn Lady Welbys Ausgangspunkt zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind theoretische und methodologische Probleme, auf die sie in ihrem Bemühen um eine zeitgemäße Bibelinterpretation stößt, und die Auseinandersetzung damit führt sie schließlich im Laufe von 15 Jahren zur Erörterung von Grundlagenfragen zeichentheoretischer Natur. 2 Denn bei der Wahl und Begründung ihres Verfahrens der Bibelinterpretation erkennt sie, dass man sich nicht auf das scheinbar klare und einfache „‚plain, common-sense meaning‘“ (Welby 1883: 44) von Äußerungen oder Texten verlassen kann, da sie oft irreführend sind wie überhaupt viele überkommene Worte der Sprache und ihr Gebrauch. Wird nun die ohnehin unzulängliche Sprache, so wie sie uns zur Verfügung steht, verwendet, um über das Nicht-Menschliche, das Göttliche, zu sprechen, dann wird umso deutlicher, wie eng mit Worten und sprachlichen Bildern tradierte Vorstellungen verbunden werden, die schon unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand widersprechen und erst recht einer angemessenen Sicht des Göttlichen im Wege stehen. Aus diesem Grunde, so Lady Welby, können einige der größten Wahrheiten auch nicht durch menschliche Worte ausgedrückt werden, es sei denn durch das Mittel der Paradoxie. Deshalb gehöre zu der dem Menschen abverlangten Schulung nicht nur die Wahlmöglichkeit im Handlungsbereich, sondern ebenfalls die auf dem Gebiet der Interpretation: „[…] that there should be test, alternative meaning, choice of readings, progress in discernment, alike in nature-revelation and word-revelation, as there is choice of good and evil“ (Welby 1883: 314; Hervorh. im Original). Es kann daher keine endgültige Interpretation der Bibel geben, sondern nur immer neue und zeitgemäße wie zeitgebundene Annäherungen, in denen das, was wir mit solchen Worten zu meinen pflegen, durchbrochen werden muss, um zu dem zu gelangen, was als Bedeutung intendiert sein könnte (1883: 166f., 44). Folglich sind Wahrheiten immer nur gemäß den in einer Epoche gegebenen Erkenntnismöglichkeiten erreichbar und durch die vorhandenen Darstellungs- und Ausdrucksmittel formulierbar (1883: 104). Mit diesen Überlegungen sind zugleich die Arbeitsschwerpunkte der folgenden Jahre vorgegeben: Sprach- und Terminologiekritik, die zentrale zeichentheoretische Frage „What is Meaning? “ (vgl. Welby 1903), verbunden mit dem Problem der Zeicheninterpretation, und schließlich das kommunikationsethische Erfordernis einer Schulung in Zeichengebrauch und Zeicheninterpretation. Zudem wird vor diesem Hintergrund verständlich, dass sich Lady Welby bis auf eine Textstelle (Welby 1897: 43) stets nur mit zweistelligen Zeichenrelationen innerhalb ihrer Signifik befasst, nämlich den Beziehungen des Zeichens zu „sense“, „meaning“ und „significance“. 1902 bestimmt sie den Gegenstandsbereich der Signifik ent- Lady Welby über Zeichen und Bedeutung, über Kontext und Interpretation 195 3 Aus einem Brief Lady Welbys an Alfred Sidgwick von August 29th. 1908; er befindet sich in der Welby Collection der York University Archives, Downsview, Ont., Kanada. sprechend: „Significs treats of the relation of the sign in the widest sense to each of these [sense, meaning, significance; HWS]“ (Welby, Stout & Baldwin 1902). Und über „sense“, „meaning“ und „significance“ heißt es dort: „It will be seen that the reference of the first is mainly verbal (or rather SENSAL, q.v.), of the second volitional, and of the third moral (…)“ (ibid.). Die Besonderheit von Lady Welbys Verwendung des Terminus sense liegt darin, dass abweichend vom Alltagssprachgebrauch, aber auch anderes als im wissenschaftlichen Bereich (etwa „Sinn” bei Frege), bei ihr stets die Etymologie dieses Ausdrucks und damit sein umfassendstes Bedeutungsfeld mitgedacht werden. Ihr „sense“-Begriff ist im Wesentlichen organismisch. Evolutionstheoretisch ist Anpassung die Bedingung von Erfahrung, und „sense“ ist das typische Mittel der Anpassung. Daher ist für Lady Welby „sense in all ‚senses‘ of the word“ (1903: 27) der passende Terminus für das, was den Wert von Erfahrung in diesem Leben und auf diesem Planeten ausmacht. Trotz der Ausdifferenzierung von Sinn beim Menschen in spezielle Sinne mit ihren stark variierenden Reaktionstypen bleibt „sense“ ein „organic response to an environment“ (Welby 1911a: 79), also weitgehend eine Funktion des Instinkts bzw. der unmittelbaren spontanen Reaktion. Der Wert der Erfahrung besteht also in der Art der organischen Reaktion auf einen Reiz, die zugleich eine durch die Physiologie der menschlichen Sinne geprägte Interpretation bzw. „Übersetzung“ des Reizes ist. In diesem Zusammenhang ist relevant, dass Lady Welby „value“ auch dann in diesem Sinne versteht, wenn sie vom „value of ‚experience‘“ (1903: 27) oder, bezogen auf „sense“, „meaning“ und „significance“, von „expression-values“ (1911a: 79) spricht. Nach dieser allgemeinen Bestimmung der Beziehung zwischen Zeichen und „sense“ wird also einem Stimulus aus der Umgebung des Organismus, dem Zeichen, eine unmittelbare spontane Reaktion des Organismus als Wert (i.e. „Implication, indirect Reference, or intimate Response“) 3 zugeordnet. Daneben gibt es bei Lady Welby eine spezifischere Bestimmung aus kommunikativer Betrachtungsweise (cf. Ungeheuer 1970), in der „sense“ als Ausdruckswert sprachlicher oder nonverbaler Zeichen mitbestimmt ist durch die spezifische Verwendungsweise des Zeichens, also durch „the circumstances, state of mind, reference, ‚universe of discourse‘ belonging to it“ (Welby 1903: 5). Denn ein Wort als solches z.B. hat für Lady Welby nicht einen bestimmten Sinn, sondern es erhält seinen bestimmten Sinn nur durch seine Verwendung in einer konkreten Situation und in einem spezifischen Kontext. An Alfred Sidgwick schreibt sie darüber: 3 The ‘sense’ of a statement, rather the sense in which a statement is made (an important difference for Significs) is, I imagine, one which may, like Intention, be deliberately conveyed, but which also, unlike Intention, may be unconsciously and even unwillingly suggested. The sense in which one holds a given view may be called its mental direction, context, or environment: and perhaps few of us fully realise thus the full or special sense in which their expositions or contentions are taken by their readers or hearers. ‘It was plain what he meant’, says one: ‘Yes’, says another, ‘but he did not mean it in your sense. You forget that you are a Geologist and he is an Admiral’. The Geologist perhaps retorts, and this may start an interminable argument. In reading we don’t even get this chance of ‘clearing the air’ (Hervorh. im Original). Aus dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, wenn die Wahrheit einer Aussage nach Lady Welby vom Sinn abhängig ist, in dem sie gemacht wird, und nicht von formaler Genauigkeit H. Walter Schmitz 196 und Klarheit (Welby 1903: 120). Und verständlich wird nun auch, was Lady Welby an Russell (Nov. 14th. 1905) schreibt, wobei sie dessen bekanntes Beispiel aus „On Denoting“ (Russell 1905) aufgreift: „[…] in speaking of the ‘present King of France’ as bald, we intend to convey what is sheer mistake or sheer nonsense. That is, it is not meaningless (or purposeless) but senseless.“ (Hervorh. im Original) Oder in anderen Worten: Was wir mitzuteilen beabsichtigen, ist in keinem Sinne wahr, aber nicht bedeutungslos. „Sense“ ist also in der allgemeineren wie in der spezifischeren Bestimmung nach Lady Welby die zeichenvermittelte Bezugnahme auf die sinnlich erfahrbare Realität oder genauer: auf frühere, gegenwärtige oder potentiell machbare Erfahrung. Dabei ist Zeichen hier und auch sonst bei Lady Welby ganz allgemein ein Objekt, das für etwas anderes steht: „[…] a sign always stands for something“ (Welby 1903: 311). Über „meaning“ heißt es in Lady Welbys drittem Buch, in What is Meaning? (1903: 5): „The Meaning of a word is the intent which it is desired to convey - the intention of the user.“ Und an anderen Stellen wird „meaning“ als „volitional, intentional, purposive, rationally idealised sense“ (1903: 27) oder kurz als „intended sense“ (1903: 69) bezeichnet. In Lady Welbys Lexikonartikel über „Significs“ von 1911 heißt es dann: „But ‚Sense‘ ist not in itself purposive; whereas that is the main character of the word ‚Meaning,‘ which is properly reserved for the specific sense which it is intended to convey“ (1911a: 79; Hervorh. im Original). „Meaning“ wird also vornehmlich kommunikativ bestimmt als der „expression-value“ eines absichtlichen und willentlichen Zeichengebrauchs, dessen Wert in der Mitteilungsabsicht, in der Intention des Sprechers oder Schreibers besteht. Damit ist „meaning“ genauso wenig wie „sense“ identisch mit dem linguistischen Lexikoneintrag, es kommt nicht dem Wort als im Sprachschatz vorhandenen Zeichen zu, sondern es ist allein der Sinn, den ein Kommunikator in einer konkreten Kommunikationssituation unter Verwendung eines Wortes oder allgemein einer Äußerung mitzuteilen die Absicht hat. „Meaning“ eines verwendeten Zeichens ist aber nicht identisch mit dem Sinn, in dem das Zeichen verwendet wird, und „meaning“ einer Äußerung kann auch nicht auf die Summe der Sinne reduziert werden, in denen die einzelnen Zeichen, aus denen die Äußerung zusammengesetzt ist, verwendet werden. Denn die Intention des Sprechers umfasst mehr, als in noch so vielen Worten geäußert werden könnte. Eine Äußerung im Sinne des Sprechers zu verstehen bildet erst die Grundlage für die interpretatorische Konstruktion der mit dieser Äußerung verbundenen Mitteilungsabsicht. „Meaning“ kommt jedoch nicht nur in kommunikativer Absicht geäußerten Worten zu, sondern jeglichem Geschehen, in dem man wie in Handlungen einen Willen oder eine Intention am Werke sehen kann. Der dritte Ausdruckswert von Zeichen, „significance“, wird von Lady Welby in folgender Weise bestimmt: „As including sense and meaning but transcending them in range, and covering the far-reaching consequence, implication, ultimate result or outcome of some event or experience, the term ‚Significance‘ is usefully applied“ (1911a: 79). Nach diesen Bestimmungsstücken von „significance“ besteht dieser „expression-value“ in jeder Art von durch den Hörer oder Leser erschließbaren Konsequenzen aus den verstandenen Zeichen, unabhängig davon, ob der Sprecher oder Autor diese Konsequenzen vorhersah, beabsichtigte, nachträglich erkannte oder nicht. Denn dass „significance“ „sense“ und „meaning“ einschließt, kann eigentlich nur heißen, dass die Schlussfolgerungen und Wertungen des Hörers/ Lesers bei dem ermittelten „sense“ und beim unterstellten „meaning“ ansetzen. Denn für den Hörer z.B. hat der geäußerte Laut des Sprechers nur Wert als Zeichen, und dieser Wert Lady Welby über Zeichen und Bedeutung, über Kontext und Interpretation 197 ist ihm als „sense“ oder „meaning“ gegeben. In diesem Sinne ist auch „significance“ so wie „sense“ und „meaning“ vor allem kommunikativ bestimmt. Daneben aber gibt es vornehmlich in Lady Welbys späteren Schriften eine allgemeinere Verwendung das Ausdrucks „significance“, die nicht mehr notwendigerweise „sense“ und „meaning“ einschließt. In diesem Sinne kommt „significance“ jedem Zeichen qua Zeichen zu und steht somit für die prinzipielle Möglichkeit und Notwendigkeit von Zeicheninterpretation überhaupt. Denn jeglicher Impuls und Eindruck, jede Erscheinung und jeder Stimulus für Aufmerksamkeit und Handlung hat in diesem allgemeinen Sinne für den Menschen einen verweisenden oder zumindest indikativen oder implikativen Wert und ist daher als Zeichen aufzufassen, dem als Wert „significance“ beizumessen ist (cf. Welby 1977: 182f.). Will man Lady Welbys zeichentheoretische Termini zu denen aus anderen zeichentheoretischen Ansätzen in Beziehung setzen, so kann man darauf hinweisen, dass der Triade „sense“, „meaning“, „significance“ in der niederländischen Signifik die Unterscheidung zwischen „indikativen“, „volitionalen“ und „emotionalen“ Bedeutungselementen weitgehend entspricht (cf. Schmitz 1984b). Peirce ist selbst die Ähnlichkeit zwischen „sense“ bei Lady Welby und seinem „immediate interpretant“ sowie eine etwas begrenztere Entsprechung zwischen „significance“ und seinem „final interpretant“ aufgefallen, während sich „meaning“ und sein „dynamical interpretant“ in ihrer Bestimmung erheblich unterscheiden (cf. Peirce & Welby 1977: 109-111). Im Gegensatz zu anderen zeichentheoretischen Ansätzen - und hier ist Peirce einzuschließen - geht Lady Welby allerdings nicht von Definitionen einer Klasse von Objekten aus, die als Zeichen begriffen werden sollen, um dann die Beziehungen zu untersuchen, in die solche Objekte oder Zeichen mit jeweils bestimmten Merkmalen eintreten können. Sie beginnt sozusagen von der anderen Seite und konzentriert sich auf das Problem der Bedeutung, also auf Fragen der Interpretation und der kommunikativen Verwendung von Zeichen, und das in Verfolgung theoretischer und praktischer Absichten. Hierin liegen das Besondere und das eigentliche Verdienst ihrer Überlegungen. Lady Welbys zeichentheoretischer Beitrag zum Problem der Interpretation ist durchgängig eng verknüpft mit ihren sprachtheoretischen oder sprachphilosophischen Auffassungen, die von gleichrangiger Bedeutung sind, und sie führen uns auch zu ihren Betrachtungen über Funktionen des Kontextes im Interpretationsprozess. Lady Welbys Sprachkritik ist seit Beginn der 1880er Jahre eine Kritik überkommener Formen des Sprachgebrauchs, soweit sie sich als Begrenzungen und Einengungen von Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnissen erweisen oder mit Bedeutungen, Vorstellungen oder Assoziationen verbunden sind, die vor dem Hintergrund der jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse oder nach den Ergebnissen signifischer Analysen unhaltbar geworden sind. Sprachkritik und das Aufbrechen sprachlicher Rigidität sind zudem deswegen notwendig, weil die vorgegebene Sprache das Denken beeinflusst und manchmal sogar paralysiert (cf. Welby 1911b: 37). Daraus darf allerdings nicht gefolgert werden, Lady Welby unterstelle einen Stabilismus der Beziehung zwischen Zeichen und deren Bedeutungen, die dazu auch noch fest umgrenzt und determiniert wären. Sie verwendet vielmehr stets eine organische Analogie für Sprache und betont die Plastizität und Flexibilität der Sprache, soweit sie ihr gegeben erscheint, und fordert sie, wo sie durch Formen der Sprachverwendung und inadäquater Sprachbetrachtung verlorengegangen ist. Plastizität ist ihr eine notwendige Qualität der Sprache, wenn diese ein geeignetes Mittel bleiben soll, die Vielfalt sich ändernder Erfahrungen in ständig wechselnden Situationen aus der Perspektive unterschiedlichster Individuen zum Ausdruck zu bringen. Worte teilen zudem das Leben der Gesellschaft, zu deren Sprache sie gehören, und müssen sich daher hinsichtlich ihrer Bedeutungen dem Wandel des Erkenntnisstandes dieser Gesell- H. Walter Schmitz 198 4 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der These von der durchgängigen Tropisierung der natürlichen Sprachen vgl. Ungeheuer (1980a; 1980b: 370; 1981) und Schmitz (1985b). schaft anpassen können. Plastizität ist somit erforderlich, wenn Sprache ein taugliches Mittel der Erkenntnis und der Mitteilung sein soll; und sie ist schließlich auch die Bedingung der Möglichkeit der Adaptation sprachlicher Zeichen und ihrer Verwendung an verschiedenartigste und veränderte Ziele und Zwecke. Von dieser Auffassung, die wohl als mobilistische Konzeption der Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung zu kennzeichnen ist, wird auch Lady Welbys Beurteilung von Ambiguitäten in der Sprache geprägt: Ambiguitäten sind zunächst einmal positiver Bestandteil einer jeden Sprache und machen einen Teil ihrer Anpassungsfähigkeit aus; negativ vermögen sich nur solche Ambiguitäten auszuwirken, die durch die mangelnde Einsicht der Kommunikationspartner in die unumgehbaren kommunikativen Gesetzmäßigkeiten entstehen oder nicht behoben werden können (Welby 1896: 194f.; 1903: 74-76). Dass weder die Konstruktion internationaler Hilfssprachen noch die Definition aller oder der wichtigsten Ausdrücke einer Sprache Ambiguitäten überhaupt oder in einer sinnvollen Weise beheben können, hat Lady Welby dabei sehr klar erkannt und herausgestellt (Welby 1896: 194). Eine weitere wesentliche These Lady Welbys ist die von der durchgehenden Tropisierung der Sprache, das heißt, aufgrund der Beobachtung der Verwendung und der Notwendigkeit von Figuren und Tropen in den natürlichen Sprachen sieht sie die lexiko-semantischen Grundrelationen der Sprache als dieselben an wie die, die im üblicherweise der Rhetorik zugeschlagenen Gebiet der Tropik vorausgesetzt werden. 4 Zwar sind aus ihrer Sicht zahlreiche Verwendungen von Tropen, Figuren und Vergleichen als irreführend, ungeeignet oder dem Erkenntnisstand der Wissenschaften widersprechend zu kritisieren, doch sie erkennt ihre Unumgehbarkeit, ihren bedeutenden Einfluss auf den diachronen und synchronen Wandel der Zeichen und ihre wesentliche Funktion im Prozess der Erkenntnisgewinnung (cf. Welby 1903: 34, 157; 1907: 399; 1911b: 13, 32). Dass darüber hinaus Analogien ebenfalls unumgehbar sind, erläutert Lady Welby mit folgendem Hinweis: […] the only method we have for most of our mental work, involved indeed in its primary presupposition, i.e. the likeness between our reader’s mind and our own. This we have to assume though we cannot prove it, or our writing becomes an absolute waste. No one can even controvert this statement, giving reasons for dissent, without the use of analogy (Welby 1903: 24f.). Wie aber soll angesichts dieser Auffassung von Sprache und der Konzeption eines grundsätzlichen Mobilismus bezüglich der Beziehung zwischen Zeichen und ihren Bedeutungen zwischenmenschliche Verständigung möglich werden? Welche Mittel stehen zur Verfügung, „sense“ und „meaning“ einer konkreten Äußerung näher zu bestimmen? Im Gespräch werden hierzu Situation, Begleitumstände der Rede, Intonation, Gestik, Mimik etc. und der Kontext genutzt. All dies sind Mittel des Testens von Annahmen und Interpretationen. Und so wie die fundamentale Analogie, die unterstellte „likeness between our reader’s mind and our own“ getestet und etabliert wird anhand ihrer Wirkungsweise und ihrer Ergebnisse, nämlich dem Verständigungsprozess und den resultierenden Modifikationen der Ziele, Auffassungen und Handlungen des anderen, so müssen ebenfalls die Brauchbarkeit anderer Analogien und der tropischen Ausdrücke, aber auch unsere Interpretationen getestet werden. Durchaus im pragmatistischen Sinne fordert Lady Welby einen „test by result“, „result on a living mind“ (1903: 120f.). Lady Welby über Zeichen und Bedeutung, über Kontext und Interpretation 199 5 „meaning“ ist hier im Sinne des zeichentheoretischen Terminus sense zu verstehen. Lady Welby hat selbst verschiedentlich auf die Ambiguität des Ausdrucks meaning im Englischen hingewiesen: In Fällen wie diesen hier wird der Ausdruck in der Bedeutung von „sense“ verwendet, in anderen hat er die Bedeutung von „intention“. Gleiches gilt vom Verb to mean. 6 Dieses Beispiel entstammt dem Buch „Bildgesegnet und bildverflucht“ von Jürgen Nieraad (1977: 3). Während in Gesprächen Rückfragen und Paraphrasen sowie außersprachliche Handlungszusammenhänge als Testmittel zur Verfügung stehen, sind wir bei der Interpretation von Texten allein auf den Text selbst angewiesen. Analog der Anpassung des Organismus an seine Umgebung versteht Lady Welby das wechselseitige Anpassungsverhältnis zwischen Wort und Kontext, durch das die jeweilige Bedeutung des einzelnen Wortes ebenso bestimmt werde wie die des Kontextes: But in any case it [context] is coercive: so much so that surely it would be wise to say that a certain word (with perhaps some few exceptions) has but a certain core of meaning, 5 from which indeed its variations in value must start. This of course is the condition of dictionary definition, which however itself leaves something to be desired. And above all it seems almost invariably forgotten that while we do, if we think of these things at all, make some allowance for the power of its context over the meaning 4 of a word, we rarely if ever make allowance for the power of a leading word in a sentence, a paragraph, a chapter on its context: although this corresponds to the influence of a ‚shibboleth‘ or partycry on a group of persons who are banded together in support of some ‚cause‘ (1901: 191; Hervorh. im Original). Da die Wirkung des Kontextes auf das einzelne Wort weithin unbestritten ist, möchte ich nur für die immer noch zu wenig beachteten Einflüsse des einzelnen Wortes auf den Kontext ein Beispiel geben: Der Satz von W. Benjamin „Die Quellen fließen nach Herzenslust, und wo sie sich zum Strome […] vereinigen, da tun sich schön tracierte Böschungen auf, zwischen denen er, so weit das Auge reicht, voll dahinströmt“ wird zu einer breit angelegten Metapher, wenn man, dem Original folgend, hinter „zum Strome“ die hier zunächst ausgelassenen Worte „der Überlieferung“ wieder einfügt. 6 Das Wort Überlieferung determiniert in diesem Falle also die Bedeutung des gesamten übrigen Satzes in hohem Grade. Doch wie stark die gegenseitige Determination von Wort und Kontext auch sein mag, die Wechselwirkung zwischen ihnen und die zwischen dem ganzen Text und seinen verschieden umfangreichen Teilen geben uns doch nie eine endgültige Sicherheit der gefundenen Interpretation. Jede Interpretation ist hypothetisch! „It serves us for working purposes, but that is all. Yet even so its credentials are better than any ‚Foundations‘ could be, as they vindicate themselves by results. The working test is pre-eminently that which applies to language“ (Welby 1896: 198). Dass dem so sein muss, ergibt sich für Lady Welby auch daraus, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht nur von Verwendungskontext und Situation abhängt, sondern zugleich von einer Reihe rein subjektiver Prozesse auf seiten des Zeichenverwenders: seinen Aufmerksamkeitsschwankungen, seinen Schlussfolgerungen und Assoziationen, seinen von ihm hergestellten Bezügen zur Erinnerung und den gegenwärtigen Umständen und seinen spezifischen Neigungen, diese statt jener Zeichen zu gebrauchen (Welby 1893: 512f.). Seine eigenen Gedanken anderen mitzuteilen wird damit ebenso zu einem besonderen Problem wie die Interpretation der Mitteilungen anderer. Die semantische Veränderbarkeit der Zeichen erlaubt es zwar überhaupt erst, die vorgegebene Sprache mit ihrem begrenzten Zeicheninventar zur Kommunikation individueller Gedanken, Gefühle etc. zu verwenden, doch sie führt gleichzeitig zur Unmöglichkeit, einander vollständig zu verstehen. Zu diesem Ergebnis hatte schon H. Walter Schmitz 200 7 Ähnlich äußerte sich Lady Welby an verschiedenen anderen Stellen; vgl. z. B. Welby (1896: 196f.; 1931: 273f.). - Die Aufgabe der Signifik bestand nach Lady Welby darin, wenn schon nicht zu einer Lösung der Probleme zwischenmenschlicher Verständigung, so doch wenigstens zu ihrer Verringerung beizutragen. Shadworth H. Hodgson, den ersten Präsidenten der Aristotelian Society, die Lektüre von What is Meaning? geführt, und Lady Welby antwortete ihm: „If we did not agree to differ - if we insisted on a monotony of mechanical duplication of view - we should mentally sink back into the primitive cell-form“ (Welby 1931: 74; Hervorh. im Original). 7 Diese Grundlagenfragen bezüglich Bedeutung und Interpretation, für deren Behandlung Lady Welby „Significs“ als eine neue Wissenschaft, eine Grundlagenwissenschaft (vgl. Eschbach 1983), institutionalisiert sehen wollte, sind die Fragen, von denen ich eingangs behauptete, dass die jüngeren Arbeiten zur philosophischen Hermeneutik sie zu übergehen und als beantwortet vorauszusetzen tendieren. Die gegenwärtige Hermeneutik bedarf der ständigen Rückbesinnung auf die Probleme des Zeichengebrauchs und der Interpretation in den prinzipiell primären Situationen alltäglicher Kommunikation; ebenso wie Lady Welby, als sie vor gut 130 Jahren Probleme einer zeitgemäßen Bibelinterpretation zu lösen versuchte. Illustration Aquarell von 1862 (ca. 17 cm x 13 cm), von Edward Richard Taylor (1838-1912); im Besitz der Welby-Familie (http: / / www2.hawaii.edu/ ~ztomasze/ cis702/ enrich1.html) Literatur Eschbach, Achim 1983: „Significs as a Fundamental Science“, in: Welby, Victoria Lady 1983: What is Meaning? 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