eJournals Kodikas/Code 35/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2012
353-4

Françoise Delsarte und die deutsche Körperkulturbewegung

2012
Bernd Wedemeyer-Kolwe
François Delsarte und die deutsche Körperkulturbewegung Bernd Wedemeyer-Kolwe Delsarte and the German Physical Culture Movement. Delsarte’s basic idea that each emotional experience results in a certain physical movement influenced the German Physical Culture Movement via Delsarte’s epigones and followers beginning approximately in 1900. This heterogenous reform movement, which was mostly practiced in private commercial schools of physical culture rather than in associations, attempted to induce an extensive self-reform of the human being, leading to a reform of society. It ranks amongst the most influential life reform movements formed around 1900, and also included reform pedagogy and youth movements. This presentation will investigate the reception and the importance of Delsarte in these groups. 1 Einleitung „Unsere heiligste Aufgabe sollte es sein, die [Jugend, der Verfasser] gesund zu machen und zu erhalten; neben der edlen Blüte vornehmster Geistesbildung darf die des Leibes keineswegs verkümmern. Für die natürliche Schönheit eines ebenmäßigen, gesunden Körpers gilt es der Menschheit wieder die Augen zu öffnen, gegen Unnnatur und Zwang heißt es zu Felde zu ziehen. Glückliche Ehen und gesunde Kinder wird es dann geben, wie sie das Künstlerauge des Malers Fidus vorahnend geschaut und mit dem Stift so entzückend lebendig festgehalten hat. Wesen, die in all ihren Bewegungen einen wundervollen Rhythmus haben, deren Stellung und Haltung die Harmonie von Körper und Geist in jeder Bewegungsphase widerspiegeln, Wesen, die den Menschen erst zum Menschen machen. Eine edle Gymnastik wird daran ihren wesentlichen Anteil haben“ (Zepler 1906: 69). Dieses 1906 veröffentlichte kurzgefasste und außerordentlich typische körperpädagogische Reformprogramm stammt von der Gymnastiklehrerin Margarete Zepler, deren Vorbild unter anderem der französische Sänger, Spracherzieher und Bewegungspädagoge François Delsarte war. Es benennt alle Schlagworte und Denkfiguren, die ab etwa 1900 in allen wesentlichen weltanschaulichen Programmen der damals sehr einflussreichen Lebensreform- und Körperkulturbewegung in Deutschland enthalten waren: Harmonie von Körper, Geist und Seele, Ganzheitlichkeit und Rhythmus, Natur und Natürlichkeit, Körperschönheit und Gesundheit: kurz: die „Veredelung“ des Menschen (grundsätzlich Krabbe 1974). Es waren Werte und Normen, Mythen und Konstruktionen einer bürgerlichen Schicht, die die als unzumutbar empfundene Moderne - Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, gesellschaftliche Instabilität, Auflösung bisheriger Werte sowie soziale Ambivalenzen - mit K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Bernd Wedemeyer-Kolwe 314 einer antiurbanen rückwärtsgewandten Zivilisationskritik beantwortete. Zur Bewältigung dieser als krisenhaft empfundenen Zeit der ökonomischen und sozialen Instabilität, der politischen Ohnmacht und des Schwindens herkömmlicher religiöser Weltdeutungen entwarfen diese bürgerlichen Reformbewegungen eine neue Welt mit neuen Menschen (Hinweise in Kerbs & Reulecke 1998 und Wolbert 2001). In dieser neuen Welt, die am Ende einer kompletten Veränderung der Lebensumstände stehe, solle der Mensch eine „Persönlichkeitskultur“ entwickeln, die durch eine „Einheit von Körper, Seele und Geist“ gekennzeichnet sei und die den Körper als „heiligen Tempel“ auffasse. Durch diese Selbstreform - und dazu gehörte Körperkultur, naturnahes und gesundes Leben, soziale Autarkie, gemeinschaftliches ländliches Wohnen in kleinen Einheiten, „natürliche“ Erziehung und religiöse Erneuerung - sollten die „schweren sozialen Erschütterungen, die wir und die ganze Kulturwelt durchmachen“ verschwinden, die „ursprünglichen gesunden Verhältnissen“ zurückkehren und damit die soziale Frage gelöst werden: Körperkultur und Lebensreform als Mittel zur Veränderung der allgemeinen Lebensumstände (Zitate in Wedemeyer-Kolwe 2004: 13f.). 2 Der Körper und die Körperkulturbewegung Der Körper und seine Zurichtung, seine Bearbeitung mittels eines adäquaten Körpersystems war also einer der wesentlichen Voraussetzungen für die damaligen Reformbewegungen, ihre umfangreichen Programme erfolgreich umsetzen zu können und zukunftsfähig zu machen. Es gab etliche zeitgenössische Protagonisten, die damals auf der Suche nach einem entsprechend umfassenden Körperkultursystem waren, und je mehr selbsternannte Propheten sich darum kümmerten und Systeme entwarfen oder propagierten, desto unübersichtlicher wurde das Angebot und desto schärfer ging man untereinander in Konkurrenz. Zwar war man sich einig, was die Zutaten und Eigenschaften der neuen Körperkultur anging, aber die inflationäre Propaganda der immer gleichen Idealbegriffe - Natürlichkeit, Schönheit, Einheit von Körper und Geist, Rhythmus - erschwerte natürlich auch die Abgrenzung voneinander; schließlich wollte man diese neue Körperkultur nicht nur leben und dadurch die Welt ändern, man wollte sie auch verkaufen und musste davon existieren. Denn im Unterschied zur zeitgenössischen Turn- und Sportlandschaft in Deutschland, die über, durch Mitgliedsbeiträge finanzierte, gemeinnützige Vereine organisiert war, hatten die Körperkulturisten der Lebensreform private Institutionen gegründet - wie eben Körperkultur-, Gymnastik- und Ausdruckstanzschulen. Sie waren auf zahlende Kunden angewiesen und mussten sich auf dem Markt der Körperkulturen behaupten. Auch deshalb waren sie bestrebt, ihre Systeme schriftlich, mündlich und über Veranstaltungen zu individualisieren, möglichst weit zu verbreiten und auch ideologisch zu rechtfertigen: heute würde man dies „Alleinstellungsmerkmal“ nennen. Lebensreformerische Prophetie, finanzielle Erwägungen und Marktkonkurrenz schlossen sich auch schon um 1900 nicht aus (allgemein dazu Wedemeyer-Kolwe 2004). In diesen Rahmen gehört die Rezeption des Systems von François Delsarte in der deutschen Körperkultur- und Lebensreformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende. Rezeption deshalb - und das erschwert die ganze Sache noch - , weil den entsprechenden Epigonen des Delsarte-Systems keine Primäraussagen von Delsarte selbst vorlagen, sondern sie gefiltert waren über mindestens eine, wenn nicht gar zwei Generationen von Nachfolgern, die das ursprüngliche System, das zudem gar nicht für körperliche Ertüchtigung, sondern für die Musik- und Schauspielerziehung vorgesehen war, jeweils wieder verschieden rezipierten, interpretierten und an ihre jeweiligen Herkunftsräume und Ausbildungen und Bedürfnisse und François Delsarte und die deutsche Körperkulturbewegung 315 Möglichkeiten anpassten, nicht zuletzt beeinflusst von finanziellen und weltanschaulichen Erwägungen (Jeschke/ Vettermann 1992). 3 Die Delsarte-Rezeption in der Körperkulturbewegung Die erste Körperkultur-Generation der Delsarte-Anhänger zwischen 1885 und 1910 entnahm von dem bereits 1871 verstorbenen Delsarte die - offenbar nie schriftlich exakt niedergelegte - Grundidee, da s s jedes seelische Erlebnis eine bestimmte Körperbewegung nach sich zöge; eine Idee, die auf der schon damals in bürgerlichen Kreisen äußerst beliebten kulturellen Konstruktion einer angeblichen Einheit von Körper, Geist und Seele basierte. Verkürzt gesagt, handelte es sich um die Annahme, dass der Mensch unbewusst bestrebt sei, stets die Balance zwischen Fliehkraft und Anziehungskraft zu halten, wobei Delsarte über Spannungs-, Lockerungs- und Entspannungsübungen Pendants zu diesen Kräften entwarf. Aufgrund seiner Zusatzüberlegung, der Mensch übersetze seine seelischen Zustände in entsprechende Bewegungen, ging Delsarte davon aus, dass dies in der Schauspielkunst zu authentischen Darstellungsweisen führen könne. Diese metaphysischen Überlegungen brachten Delsarte angeblich dazu, buddhistische Elemente aufzugreifen, die über die Asienrezeption des späten 19. Jahrhunderts weite Verbreitung in der westlichen bürgerlichen und intellektuellen Welt gefunden hatten und äußerst zeittypisch waren. Sogenannte „natürliche“ Körperbewegungen als Basis und nichtchristliche spirituelle Ideen als Überbau: M it diesen beiden ausgezeichnet rezipierbaren, weil interpretatorisch äußerst dehnbaren Grundelementen konnte das Delsarte- System relativ leicht Eingang finden in die gerade auf derartige Grundvoraussetzungen fußende Körperkulturbewegung (Jeschke/ Vettermann 1992). Die Ideen von Delsarte wurden zuerst von seinem amerikanischen Schüler Steele Mackaye und dessen Epigonin Genevieve Stebbins aufgegriffen, und sie entwickelten daraus ihre gymnastischen Systeme. Damit verlor das Delsarte-System seine Authentizität, und es entstanden fast sofort interpretatorische Übersetzungen unter gleichzeitiger Beibehaltung der entsprechenden Grundbegriffe wie Rhythmus, Ganzheitlichkeit, Harmonie und Gesundheit. Während Mackaye dabei den Körper so trainieren wollte, dass er jedes seelisches Erlebnis sofort körperlich umsetzen konnte (Günther 1980 sowie Toepfer 1997), schuf Stebbins unter Hinzuziehung der schwedischen Heilgymnastik daraus ein Trainingssystem namens Ästhetische Gymnastik, mit dem sich sozial besser gestellte Frauen nicht nur graziöser bewegen, sondern ihren Alltag durch das neue Körperbewusstsein auch besser bewältigen konnten. Stebbins ’ Hausgymnastiksystem umfasste dabei noch Atemübungen und bezog auch Autosuggestion mit ein. So bestand ein Beitrag dieses Systems in der Herausbildung eines weiblichen Körperbewusstseins in Nordamerikas Oberschicht, deren Frauen mit Körperfeindlichkeit, Korsett und engen Moralvorstellungen aufgewachsen waren. Ein anderer Beitrag war der Einbezug der amerikanischen „physical culture“-Bewegung, die die Leistungsfähigkeit des Körpers als Voraussetzung für Erfolg und Glück betrachtete (Günther 1971: 35 sowie Günther 1980: 571f.). Damit waren zwei Elemente, die für die deutsche Rhythmische Gymnastik und zum Teil auch für den frühen Ausdruckstanz immanent waren, hier bereits von vornherein angelegt: Die Delsartik bzw. die Nachfolgesysteme waren zumindest in den Anfängen zweifellos eine Luxusangelegenheit für die bürgerlichen Schichten und es gab - aufgrund der speziellen Art der Übungen - einen ausgesprochen hohen Frauenanteil, der selbst innerhalb der Bewegung mitunter als störend empfunden wurde. So bedauerte schon die Delsarte-Epigonin Hedwig Kallmeyer um 1910, dass die Gymnastiksysteme für Bernd Wedemeyer-Kolwe 316 Männer nicht attraktiv waren , und plante immer wieder, „das System auch für Männer zu bearbeiten“ (Die Schönheit 1910/ 11, 388f.). Aus dieser amerikanischen Delsartik um Mackaye und Stebbins entwickelten sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte dann die weiteren hauptsächlichen Zweige der mitteleuropäischen Rhythmischen Gymnastik und zum Teil auch des Ausdruckstanzes. Dabei transportierten die Ärztin Bess Mensendieck, die eingangs erwähnte Gymnastiklehrerin Margaret e Zepler und die Stebbins-Schüler in Hedwig Kallmeyer die amerikanische Delsartik, die ja aus Frankreich importiert worden war, - in wiederum individuell abgewandelter Form - wieder zurück nach Mitteleuropa, so dass wir es hier im Grunde mit einer geographischen Doppelrezeption zu tun haben. Margarete Zepler veröffentlichte, wie oben erwähnt, 1906 ihr Buch „Erziehung zur Körperschönheit“ und verknüpfte darin die Delsartik mit der schwedischen Gymnastik und de n englischen „Calisthenics“. Dabei hatte sie das Delsarte-System, wie sie angab, „teils selbst gesehen, teils aus Gesprächen kennen gelernt, teils hier und da verstreut in ausländischen Zeitschriften gefunden“ (Zepler 1906: 40). Sie vermengte dann medizinischhygienische Körpererziehung mit ästhetischen Komponenten , d. h. sie lehrte Alltagsbewegungen wie etwa das „richtige“ Aufstehen und Setzen, vermittelte Spannungs-, Halte- und Entspannungsübungen, lehrte Atemübungen und gab aber auch das vom Bürgertum geforderte ästhetisch-anmutige Bewegungskonzept für Frauen und Mädchen weiter. Der Schwerpunkt von Bess Mensendieck, die bei Stebbins das Delsarte-System gelernt hatte, lag dabei weniger auf Ästhetik und gar nicht auf den musikalischen Elementen, sondern auf Gesundheit und physischer Unabhängigkeit. Auch sie vermittelte Spannungs-, Entspannungs- und Atemübungen, die sie statisch oder mit untergliederten langsamen Bewegungsabläufen, also mit krankengymnastischen Elementen, verband. Für Mensendieck war ein schöner weiblicher Körper immer und zuerst ein kraftvoller Körper (Mensendieck 1912). Ihr System wurde unter dem Begriff „mensendiecken“ sehr populär. Spötter wie der völkische Satiriker Wilhelm Stapel schrieben in den 20er Jahren etliche Glossen auf diese weibliche Körperkultur: „Hulda geht mensendiecken“, nannte er etwa eine entsprechende Satire (Stapel 1939). Mensendieck selbst hatte etliche Nachfolgerinnen, die wiederum Gymnastikschulen eröffneten und ihre dort gelehrten Systeme weiterentwickelten und in veränderte Kontexte stellten. So nannten die Pädagoginnen Louise Langgaard, die Anthroposophin war, und Hedwig von Rhoden ihr System „Künstlerische Gymnastik“ und lehrten es in der 1919 gegründeten Frauensiedlung Loheland, die noch heute als ländliche Weiterbildungsstätte besteht. Und die Mensendieck-Lehrerin Dorothee Günther verknüpfte die von Mensendieck übernommenen Delsarte-Elemente mit den Musik-, Gymnastik- und Ausdruckstanzsystemen von Emile Jaques-Dalcroze und Rudolf von Laban zu einer metaphysisch orientierten Bewegungskunst, wobei sie später noch in Kontakt mit Carl Orff und der Tanzpädagogin Maja Lex kam (Wedemeyer-Kolwe 2004: 68f.). Eine dritte Stebbins-Schülerin schließlich, Hedwig Kallmeyer, ging ebenfalls über das Stebbins-System hinaus und integrierte Musik und ästhetisch-künstlerische Elemente in ihre, wie sie es nannte, „Künstlerische Gymnastik“ und gab dieses System an nachfolgende Gymnastiklehrerinnen der 1920er Jahre weiter. Typisch für die gesamte ambivalente Delsarte-Rezeption war dabei ihre 1910 notierte Behauptung: „(Ich) arbeitete […] Teile dieses Systems auf Grund meiner Erfahrungen […] um“, das „Ganze jedoch (ist) völlig im Sinne der Begründerin.“ (Die Schönheit 1910/ 11: 388f. sowie auch Kallmeyer 1970: 19f.). Eine weitere wichtige, von Genevieve Stebbins beeinflusste Persönlichkeit war der Schweizer Musikpädagoge É mile Jaques-Dalcroze, der in seinem Institut in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden - einem der wesentlichen frühen Zentren der Reformpädagogik und François Delsarte und die deutsche Körperkulturbewegung 317 Lebensreform - ab 1910 mit seinen Klassen seine Idee umsetzte, Musik durch Körperbewegungen darstellen zu lassen. Er verband damit seiner Ansicht nach Rhythmus und Bewegung, Geist und Körper: der Geist äußere sich rhythmisch-körperhaft, und der Körper vergeistige durch den Rhythmus; also auch hier wieder die wesentlichen Stichworte der Bewegung. Seine Lehre und sein Institut waren von enormer Bedeutung: Hier lernten spätere bekannte Ausdruckstänzerinnen und -tänzer und Gymnastiker wie Suzanne Perrottet, Rudolf von Laban, Rudolf Bode, Mary Wigman, Grete Wiesenthal oder Hilde Senf. Sie gaben das System Dalcroze - und damit auch Elemente der Delsartik -, mit je eigens ergänzten Anschauungen und Bewegungsformen an ihre Schülerinnen und Schüler weiter und formten es dadurch wieder um (zum Ganzen Oberzaucher-Schüller 1992 sowie Wedemeyer-Kolwe 2004). Auch die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan schließlich war von Delsarte beeinflusst worden. Ihre Tänze waren als Gegenpol zum Ballett konzipiert und setzten auf einen freien, angeblich natürlichen Ausdruck, der keine harten eckigen Bewegungen kannte, sondern fließende rhythmische Akzente hervorbrachte. In ihrer Schule lehrten sie und ihre Schwester Gymnastik und Tanz, denen man deutlich Elemente des gymnastischen Systems von Stebbins und Delsarte anmerkte; auch Isadora Duncans Ziel war es, Empfindungen durch Bewegung auszudrücken. Mit ihren Barfußtänzen und mit der von ihr und ihren Schülerinnen getragenen antikisierenden Kleidung setzte sie das Naturpostulat der Reformbewegungen und die zeitgenössische Antikenrezeption in anschauliche und vom Bürgertum leicht erkennbare Bilder um (Oberzaucher-Schüller 1992: 224f. und Wedemeyer-Kolwe 2004: 69f.). 4 Schluss Im Zuge der amerikanischen Delsarte-Rezeption entstand damit, wie gezeigt, eine Unmenge an verschiedensten Nachfolgeströmungen mit einer Anzahl von Epigonen, die dieses bereits veränderte Delsarte-System ganz unterschiedlich aufnahmen und mit anderen zeitgleichen heterogenen Einflüssen in der Körperkulturbewegung - sei es nun Ausdruckstanz oder Rhythmische Gymnastik - kombinierten und zusätzlich ihre eigenen Spezialausbildungen mit einfließen ließen. Dabei bezeichneten sich etliche der Epigonen ausdrücklich als legitime Nachfolger des in der Körperkulturbewegung nun anerkannten und einflussreichen Delsarte, zum Teil natürlich auch aus taktischen und finanziellen Erwägungen: Zum einen suggeriert der Rückgriff auf wichtige Vorbilder immer auch Kontinuität und Seriosität, zum anderen war es angesichts des wachsenden konkurrierendes Marktes der zahllosen freien Schulen für Ausdruckstanz und Rhythmische Gymnastik wichtig, sich erfolgreich zu positionieren und sich gegenüber Konkurrenten abzugrenzen (verschiedene Beispiele in Arps-Aubert 2010: 122f. oder Dore-Jacobs-Schule 1994). Die Protagonisten dieser Körperkulturbewegung vermittelten diese Positionen dann in ihren Gymnastikanleitungsbüchern und Zeitschriften und in Werbebroschüren und Kleinanzeigen einschlägiger Reformperiodika (biographische Beispiele in Steinaecker 2000). Auch aus diesem Grund ist es vielfach unmöglich, zwischen Werbung und Wahrheit zu unterscheiden, denn gerade diese kommerziell ausgerichtete Eigenliteratur ist stark geprägt von subjektiven, tendenziellen und hagiographischen Angaben und Äußerungen, die nur sehr schwer auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbar sind. Im Endeffekt allerdings kommt es auch gar nicht so sehr darauf an, zu analysieren, wer von wem genau beeinflusst wurde und wer der angeblich tatsächliche legitime Nachfolger wichtiger Systembauer ist, sondern eigentlich eher darauf, mit welchen rhetorischen Mitteln und argumentativen Kniffen innerhalb der Körperkulturbewegung historische Kontinuitäten - Bernd Wedemeyer-Kolwe 318 auch in Bezug auf Delsarte - konstruiert wurden, um die eigene Position abzusichern, sich wirkungsmächtig in Szene zu setzen und die eigenen Körperkultursysteme auch in den nächsten Jahrzehnten erfolgreich weiter zu tradieren. Literatur Arps-Aubert, Edith von 2010: Das Arbeitskonzept von Elsa Gindler (1885-1961) dargestellt im Rahmen der Gymnastik der Reformpädagogik, Hamburg: Dr. Kovac Bünner, Gertrud & Günther, Helmut (ed.) 1971: Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung, Stuttgart: Klett Die Schönheit 1910/ 11: Die Schönheit. Die moderne illustrierte Zeitschrift, 8. Jg., 1910/ 11 Dore-Jacobs-Schule (ed.) 1994: Für Dore Jacobs. 1884-1994, Essen: Klartext Günther, Helmut 1971: Historische Grundlinien der deutschen Rhythmusbewegung, in: Bünner & Günther (ed.) 1971: 33-69. Günther, Helmut 1980: Gymnastik- und Tanzbestrebungen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Ueberhorst (ed.) 1980: 569-593. Jesc h ke, Claudia & Gabi Vettermann 1992: François Delsarte, in: Oberzaucher-Schüller (ed.) 1992: 15-24 Kallmeyer, Hede 1970: Heilkraft durch Atem und Bewegung. Erfahrungen eines Lebens für die Gymnastik, Heidelberg: Haug Kerbs, Diethart & Reulecke, Jürgen (ed.) 1998: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Hammer Krabbe, Wolfgang 1974: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Mensendieck, Bess 5 1912: Körperkultur der Frau. Praktisch hygienische und praktisch ästhetische Winke, München: Bruckmann Oberzaucher-Schüller, Gunhild (ed.) 1994: Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Florian Noetzel Stapel, Wilhelm 1939: Stapeleien, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt Steinaecker, Karoline von 2000: Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien, München: Urban & Fischer Toepfer, Karl 1997: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in Germany Body Culture 1910-1935, Berkeley: University of California Press Ueberhorst, Horst (ed.) 1980: Geschichte der Leibesübungen. Band 3/ 1, Berlin: Bartels & Wernitz Wedemeyer-Kolwe, Bernd 2004: „Der Neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg: Königshausen & Neumann Wolbert, Klaus et al (ed.) 2001: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt: Häußer Zepler, Margarete N. 1906: Erziehung zur Körperschönheit, Turnen und Tanz, Berlin: Brandstetter