eJournals Kodikas/Code 34/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Mit den Mitteln der Körper- und Kleidersprache nimmt Nick Walkers Graffito "Le Corancan" 2010 Stellung zur "loi anti-burqa" Frankreichs. Die mit einem Niqab verschleierten Tänzerinnen schwingen nach Art des French Cancan die Beine, wobei sie Dessous in den französischen Nationalfarben enthüllen. Die abgespreizten "naturnahen" Beine durchkreuzen die beiden opponierenden Kulturen. Integrieren oder negieren sie diese? Erweist sich die zur Schau gestellte Sexualität der Musliminnen als Bedrohung, oder liegt hier ein emanzipatorischer Akt der Entschleierung vor? – Nick Walker lässt die Zeichen tanzen. Er verkoppelt die elementaren Reiz-Reaktionsmuster des Geschlechtsverkehrs mit ideologischen Fragestellungen, und er lenkt dabei auch den Blick auf die Entstehung des Cancan zurück. Dieser mutierte vom anarchischen Volksvergnügen (das bis zu primitiven Stammestänzen zurück zu verfolgen ist) zum "infernalischen Schlussgalopp" in Offenbachs 'Orphée aux enfers' und dann zum voyeuristischen Amüsement des dekadenten Bourgeois im Moulin Rouge. – der Cancan hat mit dem Paradeschritt, der im Deutschen "Stechschritt" heißt, im Englischen aber "goose step", im Französischen "pas de l'oie" (beides bedeutet "Gänseschritt"), nicht nur das geschwungene gestreckte Bein gemeinsam, das die anatomisch bedingte Gangart der Gänse und Enten imitiert. Etymologisch rührt "Cancan" selber vermutlich vom kindersprachlichen "cancan" – für "canard" (frz. Ente) – her. Zwischen Monty Python-Komik, sexueller Konnotation und militärischer Ästhetik entfaltet die prostitutive Geste vor den Alpha-Männchen oder solchen, die sich dafür halten, nach wie vor ihre Wirkung.
2011
343-4

Le Corancan - Sprechende Beine

2011
Klaus H. Kiefer
Le Corancan - Sprechende Beine Klaus H. Kiefer (München) Mit den Mitteln der Körper- und Kleidersprache nimmt Nick Walkers Graffito Le Corancan 2010 Stellung zur “loi anti-burqa” Frankreichs. Die mit einem Niqab verschleierten Tänzerinnen schwingen nach Art des French Cancan die Beine, wobei sie Dessous in den französischen Nationalfarben enthüllen. Die abgespreizten “naturnahen” Beine durchkreuzen die beiden opponierenden Kulturen. Integrieren oder negieren sie diese? Erweist sich die zur Schau gestellte Sexualität der Musliminnen als Bedrohung, oder liegt hier ein emanzipatorischer Akt der Entschleierung vor? - Nick Walker lässt die Zeichen tanzen. Er verkoppelt die elementaren Reiz-Reaktionsmuster des Geschlechtsverkehrs mit ideologischen Fragestellungen, und er lenkt dabei auch den Blick auf die Entstehung des Cancan zurück. Dieser mutierte vom anarchischen Volksvergnügen (das bis zu primitiven Stammestänzen zurück zu verfolgen ist) zum “infernalischen Schlussgalopp” in Offenbachs Orphée aux enfers und dann zum voyeuristischen Amüsement des dekadenten Bourgeois im Moulin Rouge. - Der Cancan hat mit dem Paradeschritt, der im Deutschen “Stechschritt” heißt, im Englischen aber “goose step”, im Französischen “pas de l’oie” (beides bedeutet “Gänseschritt”), nicht nur das geschwungene gestreckte Bein gemeinsam, das die anatomisch bedingte Gangart der Gänse und Enten imitiert. Etymologisch rührt “Cancan” selber vermutlich vom kindersprachlichen “cancan” - für “canard” (frz. Ente) - her. Zwischen Monty Python-Komik, sexueller Konnotation und militärischer Ästhetik entfaltet die prostitutive Geste vor den Alpha-Männchen oder solchen, die sich dafür halten, nach wie vor ihre Wirkung. Using body and apparel language, Nick Walker’s graffito Le Corancan tackles the subject of “loi anti-burqa” in France in 2010. It shows women dancers masked with niqabs, swinging their legs in the French cancan fashion, displaying their underwear made of the French national flag colours. The splayed “natural” legs, stretching from either side of the focus, straddle the opposing cultures. Do they integrate or do they separate these? Is the visual sexuality of the Muslim ladies a threat or is it an emancipatory unveiling? - Nick Walker just lets the symbols dance. He couples the elementary stimulus-and-reaction pattern of sexual copulation with ideological questions, thus linking the mind to the origin of the cancan. This developed from anarchistic entertainment of the ordinary people (traceable to primitive tribal dances) to the “infernal final gallop” in Offenbach’s Orphée aux enfers and then to the voyeuristic amusement of the decadent bourgeois in the Moulin Rouge. - The most typical element of the cancan is what is known in German as the “Stechschritt” (literally: “stab step”), but “goose step” in English and “pas de l’oie” in French. The last two expressions both refer not only to the swinging of the stretched leg that imitates anatomically the pace of a goose and a duck but also indicate the etymological derivation from the French child word “cancan” - for “canard” (Fr. duck). As a mixture of Monty Python humour, sexual connotation and military aesthetics the prostituting gesture still causes excitement in front of an alpha male-audience - or one that considers itself as such. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 34 (2011) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Klaus H. Kiefer 274 Abb. 4: Héla Fattoumi: Manta Abb. 3: Niqabitch Abb. 1 Abb. 2: Nick Walker: Le Corancan 1. “Semiotische Liebesheirat” Eine “semiotische Liebesheirat” (Drees 2010: 11) zwischen Pop und Burka bzw. zwischen “Coran” und “Cancan” (Abb. 1) feierte November 2010 das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Ästhetisches Interesse, das “geschlossene Zeichen” 1 des islamischen Schleiers zu öffnen, bekundete nicht nur der britische Straßenkünstler Nick Walker (Abb. 2), 2 dessen bei einem Pariser Arbeitsbesuch entstandenes Graffito dem SZ-Bericht beigegeben war, sondern auch ein französisches Tandem, das sich “Niqabitch” nennt (Abb. 3), 3 oder die Tunesierin Héla Fattoumi, deren Entschleierungstanz, Manta, in Paris und Berlin zu sehen war (Abb. 4). 4 Der politische Kontext dieser Aktivitäten war die “loi anti-burqa”, die im Frühjahr 2011 in Frankreich in Kraft getreten ist. Doch will ich weder über Sinn oder Unsinn dieses “pädagogischen Gesetzes” handeln, noch die genannten Beispiele en détail interpretieren. Auch die Verwechslung von Burka und Niquab übergehe ich. 5 Ich konzentriere mich ganz auf Walkers überlebensgroßes, ca. 4 m breites Graffito am Quai de Valmy, das mit Hilfe von Schablonen gefertigt wurde, aus dem Blickwinkel der sog. Körpersprache. “Le Corancan” - Sprechende Beine 275 Abb. 5: Tiller Girls Abb. 6: Monty Python: Ministry of Silly Walks Da Graffiti, wie auch Walkers Werk, in der Regel nicht autorisiert und des Vandalismus verdächtig sind, bewahrt sie die photographische oder filmische Dokumentation sowie die Verbreitung im Netz vor ihrer meist baldigen Zerstörung. 6 Zu Le Corancan gibt es ein assoziationsreiches, auch musikalisch untermaltes Entstehungsvideo, das eigens interpretiert werden müsste (Wicks 2011). 7 Dieses Zusammenwirken von Internet und Graffiti, aber auch anderer Formen der Street Art, ist signifikant (Meier 2009). 2. Körper und Kulturen in Bewegung Gerade bei Walkers Graffito ist der Begriff der Körpersprache problematisch, denn zwei Drittel der weiblichen Körper sind ja bedeckt. In der Tat, mit Joanne Entwistle (2000: 6) zu sprechen: “The social world is a world of dressed bodies.” Obwohl der Schleier den weiblichen Körper der öffentlichen Kommunikation entziehen soll, 8 wie der Prophet es (angeblich) befahl, 9 treten Körper und Kleidung in ein rhetorisches Verhältnis: untereinander und in Bezug auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit. 10 Das, was gezeigt oder verhüllt wird, provoziert Aufmerksamkeit beim Gegenüber; klassisches Beispiel: das Décolleté. Aus dieser Sicht erscheinen Niqab und Burka nicht nur als befremdlich “overdressed”, sondern geradewegs als kommunikativer Affront in einer aufgeklärten Gesellschaft. 11 Nick Walker wiederum produziert einen doppelten Verfremdungseffekt, indem er die Kleiderordnung zweier Kulturen “durcheinander” bringt und Körperteile entblößt, die hier wie dort nur in ganz besonderen Fällen entblößt werden dürfen. (Umgekehrt gilt das natürlich auch für Verschleierung oder Maskierung.) Aber wenn auch Minirock, Hot Pants oder Stringtanga das weibliche Bein u.a.m. weitestgehend entblößen, so ist doch das hoch geschwungene nackte Bein - auch in der offenen Gesellschaft - dem Sport oder dem Tanz vorbehalten (Abb. 5). Ansonsten wirkt es komisch, wie es Monty Python erschöpfend demonstriert (Abb. 6). Im Frauenfußball stellt das allerschönste gestreckte Bein im übrigen nicht eine ästhetische Norm, sondern ein Foul dar. Klaus H. Kiefer 276 Abb. 8: Gustave Doré: Vision des “Galop infernal” Abb. 7: Werbung für Renault (Teil 1) 3. Mimesis Bei Walkers Graffito handelt es sich um die bildliche Nachahmung einer konkreten Handlung, die wir dank einiger Indices auch begrifflich identifizieren könnten, selbst wenn uns der Titel nicht weiterhülfe. Das hoch geschwungene Bein ist Kennzeichen des Cancan (Price 1998), 12 wobei dieser tänzerischen Figur selber eine elementare Bedeutung innewohnt, über die noch zu sprechen ist. Körpersprachliche Zeichen generieren sich aus dem natürlichen Repertoire bzw. figurativen Potential der Bewegungen, zu denen die menschliche Anatomie fähig ist. 13 Den anthropologischen Grundbedingungen erlegt die jeweilige Kultur, die Epoche und der Tanzstil gewisse, und sehr unterschiedliche, Formen auf, die in der Regel auch vestimentäre Codes einschließen (Abb. 7). 14 So ist z.B. beim Cancan das Schwingen der Beine mit einem Heben und Wedeln des Rockes verbunden, 15 was wiederum Einblicke in die weibliche Anatomie ermöglichte, denn die Damen trugen im 19. Jahrhundert keine oder im Schritt offene Unterwäsche (Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg 2011: 38, 58 u.ö.). Man hielt das für hygienischer; Hosen galten zudem als maskulin. Dank des “galop infernal”, der den Abschluss von Jacques Offenbachs Orphée aux enfers bildet (Abb. 8), 16 wurde der Cancan als Bühnenschautanz ritualisiert, zu allererst vom Moulin Rouge, dem bekannten Pariser Variété, und diesen tänzerischen Topos zitiert auch Nick Walker. Er hat auch mehr übernommen, entweder aus erster Hand, dem seit 2009 gespielten Programm des Moulin Rouge, Féerie, oder aber aus dem französischen Fernsehen, France 2, wo anlässlich des 120-jährigen Jubiläums ein Ausschnitt aus eben diesem Programm gezeigt wurde (Abb. 9). “Le Corancan” - Sprechende Beine 277 Abb. 10: Toulouse-Lautrec: Plakat Abb. 9: Moulin Rouge: Féerie Abb. 11 Man sieht nun auch, woher aller Wahrscheinlichkeit nach 17 die Farbgebung zumindest der Unterröcke der Corancancaneuses stammt; es sind die französischen Nationalfarben, die nota bene “liberté” (weiß), “égalité” (blau) und “fraternité” (rot) bedeuten. Anders als Toulouse- Lautrec (Abb. 10) wirbt Nick Walker nun keineswegs für das Moulin Rouge und eine der größten Cancan-Tänzerinnen seiner Zeit, La Goulue, sondern er erfindet ein Kostüm, das es in Wirklichkeit so nie gegeben hat. Dieses vestimentäre “Mischwesen” 18 demonstriert einen “clash of civilizations” (Huntington 1996), der sich ikonographisch aus drei Provenienzen speist: Der Niqab gehört der islamischen Kultur zu, die hochgehobenen Röcke, jedenfalls durch ihren trikoloren Innendekor der “civilisation française”, und die mit Strapsen und Schuhen nur spärlich kultivierten Beine - deren Farbe Silvio Berlusconi als “bronzato” bezeichnen würde - opponieren als Natur den beiden gegensätzlichen Kulturen, genauer: sie durchkreuzen sie. Man kann die Strukturanalyse noch weiter treiben als Roland Barthes (1964: 214f.), um ihn selbst zu zitieren: “L’homme structural prend le réel, le décompose, puis le recompose; c’est en apparence fort peu de chose […].”Man kommt auch über die nonverbale “Textgrammatik” Hartwig Kalverkämpers (2003: 276ff.) hinaus, die noch relativ statisch wirkt, indem man Körper und Kleid mit Hilfe der von Hans Glinz schon 1952 entwickelten “Proben” (s. Gornik 2003: 817f.) dynamisiert. Die “Verschiebeprobe” macht deutlich, dass das Heben des Rocks und das Schwingen der Beine bedeutungstragend sind. Die Austauschprobe betont die Signifikanz der Trikolore. Niqab könnte zwar mit Burka getauscht, aber nicht weggelassen werden. Völlige Entkleidung der Tänzerinnen wäre Striptease, aber kein Cancan. Sie wäre auch nicht Mode, wie es der Modedesigner Hussein Chalayan in seiner Frühling/ Sommer-Modeschau 1998 provokativparadox gestaltet hat (Abb. 11). Klaus H. Kiefer 278 Usw. Was die Wahrnehmung in einem “prägnanten Moment” (Goethe MA 4.2: 78ff.) erfasst, 19 erscheint nunmehr als Aussage bzw. als Bündel ikonischer Aussagen, 20 die einer Diskussion unterzogen werden können. Der Hermeneutiker nennt es ein “Gespräch” (Gadamer 1965). 4. Cancan? Damit komme ich zur Titelfrage meines Vortrags: Können Beine sprechen? Hat es 2006 in der Berliner Kunstbibliothek eine Ausstellung zum Thema “Sprechende Hände” (Evers 2006) gegeben, so ist die “Sprache” von Füßen und Beinen bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. 21 Zwar sind Beine - mit denen ich mich weiter ausschließlich 22 beschäftige - tragendes Fundament des “aufrechten Gangs” des Menschen, der diesen Johann Gottfried Herder (1989: 114) zufolge erst zum Menschen macht, die unteren Extremitäten sind aber weniger artikulationsfähig als die oberen. Arme und Hände können ein ganzes Spektrum von - meist positiven - Bedeutungen oder Kommentaren ausdrücken. Hände etwa assoziiert man gerne mit “Beten” und “Arbeiten”, Beine fallen eher in den Bereich der Erotik, ja der Pornographie. 23 Das macht, weil die längsten Beine “gegen’s Ende” sich doch kriegen 24 - so ein Schlagertext aus Zeiten, als das Wort “Sex” noch nicht in aller Munde war. Das Faszinosum war umso größer, als die Damenoberbekleidung noch weit über das Fin de siècle hinaus knöcheltief reichte (Loscheck 1994: 436f.) und nur bei den bewussten “kicks” von Cancan- Tänzerinnen die “unaussprechlichen” Geheimnisse lüftete. Die aus der Notwendigkeit, bei hohen Beinschwüngen den hinderlichen Rock zu raffen, gewonnene Beinfreiheit (aber warum müssen die Damen dabei wedeln? ) war ein wesentlicher Beitrag zur weiblichen Emanzipation (Fleig 2001: 489). Damit riss natürlich auch so mancher “schöne Wahn” entzwei (Kiefer 2007). Doch es geht um mehr. Selbst Heinrich Heine, der à propos du Cancan ansonsten nicht mit illustren Vergleichen geizt - Tanz der Salome, Bacchanalien, Walpurgisnacht etc. (DHA 3/ 1, 30; DHA 9, 70; DHA 13/ 1, 155, 158; DHA 15, 26) -, zeigt sich erschrocken über die “cancaniere” 25 “Umwertung aller Werte”. 26 Dieter Borchmeyer (2008: 149) zufolge sieht Heine im Cancan das “Symbol einer heimlichen Revolution der ‘untern Classen’”. 5. Analogie und Als Ob Ich bezweifle, dass Nick Walker das weiß. Auf jeden Fall hat er die Provokation von Zucht und Ordnung, die sich vordem im emanzipatorischen Beinschwung des Cancan manifestierte, wieder aufgegriffen, und zwar dadurch, dass er die mittlerweile ja eingespielten Konventionen des Revuetheaters außer Kraft setzt, indem er die kulinarische Entblößung mit einer neuerdings provokanten Verhüllung kombiniert. Die Frage stellt sich, ob dieser Widerspruch bzw. diese Hybridisierung Sinn macht, und wenn ja: wieviele… Wie schon angedeutet, ist der Ursprung der Körpersprache anatomiebedingt. Die Natur wollte es, dass die Beine im Geschlecht zusammenlaufen, so dass das Heben oder auch Spreizen der Beine der Frau - für den Mann - grundsätzlich einen “Sexappell” signalisiert, 27 - mit Umberto Eco (2003: 176ff.) wäre hier ein “semiotisches Primitivum” konstatieren. Dieser Appell ist beim Tanz freilich nur “gespielt” 28 und dient auf der Bühne dem bloßen Voyeurismus (außerdem: Irren ist männlich). Auch der Tango Argentino, der nach wie vor Paartanz ist (Elsner 2000: 242), 29 simuliert die geschlechtliche Paarung (Abb. 12). “Le Corancan” - Sprechende Beine 279 Abb. 12: Tango Argentino Abb. 13: Hochzeitstanz der Nuba Im Falle eines Hochzeitstanzes der Nuba (Abb. 13), 30 den Leni Riefenstahl noch in den 1960er Jahren fotografierte, schwingt die junge Frau dem Auserwählten das gestreckte Bein über die Schulter. Ist das der ethologische Ernstfall, 31 so war das “Als-ob” den Cancan-Tänzern, -Zuschauern und -Kontrolleuren 32 durchaus bewusst, und als Augenzeugen dieser “uralten […] Pantomime” könnte ich nochmals Heine (DHA 5, 231) zitieren. Kein anderer als Richard Wagner (2005: 65), der Heine 1841 in Paris begegnete, hat aber ebenfalls beobachtet, “daß selbst im glühendsten spanischen Tanze doch nur die Liebeswerbung symbolisiert wird, während im Pariser Cancantanze sich der unmittelbare Akt der Begattung symbolisch vollzieht”. 33 Skeptiker werden sagen: Schwingen ist nicht Spreizen, und es geht vielleicht auch anders. Nun, das ist eben die Rhetorik der Körpersprache. Beim Ersatz des Spreizens durch das Schwingen handelt es sich um einen Grenzverschiebungstropus (Lausberg 1967: 66f.), wobei, wie gesagt, das Heben des Rockes das vestimentäre Komplement darstellt. Der Cancan, der von spitzen Lustschreien begleitet wird, endet in der Regel mit einem Längsspagat. Die sexuelle Interaktion wird partiell angedeutet und zugleich hyperbolisch ästhetisiert. 34 6. Ententanz und Gänseschritt Auch beim “Mängelwesen” Mensch dient der Körper primär den lebensnotwendigen Funktionen. Die dabei beteiligten Teile nennt Kalverkämper (2003: 270)”Korporeme”. Dass gerade das hochgeschwungene gestreckte Bein beim Cancan eine vorrangige Rolle spielt - es wird ja auch im Wechsel mit der Streckung angewinkelt usw. -, erscheint zunächst als ästhetische Willkür, die allerdings ihre tierischen Ursprünge nicht verleugnen kann. Die Etymologie von “Cancan” ist zwar unsicher; 35 mir erscheint aber am wahrscheinlichsten die Herkunft aus dem kindersprachlichen “cancan”, womit die Ente, frz. “canard”, bezeichnet wird. Deren Anatomie (Abb. 14) ermöglicht nur eine Fortbewegung mit gestrecktem Fuß, weil das Kniegelenk, das den Zweibeiner Mensch aufrecht gehen, marschieren und eben auch tanzen lässt, zu hoch am Rumpf sitzt. Was die Ente nach vorne schleudert, ist der sog. Laufknochen (Tarso- Klaus H. Kiefer 280 Abb. 14: Skeletts des Huhns Abb. 15: Stechschritt metatarsus), der aus Fußwurzel- und Mittelfußknochen zusammengewachsen ist. 36 Der Cancan ist demnach ein “Ententanz”… Ich habe nicht zufällig das Wort “marschieren” ins Spiel gebracht. Nicht nur stammt der Begriff der Revue, der die Formation der Cancaneuses bedingt, aus dem Militärwesen, das bis ins 20. Jahrhundert hinein beim Tanz imitiert und auch parodiert wurde. Der im Deutschen mit “Stechschritt” bezeichnete Paradeschritt (Abb. 15) 37 heißt im Französischen weniger martialisch “pas de l’oie” und im Englischen “goose step”, also “Gänseschritt”. Der Grund ist wie beim Cancan die Anatomie der Ente bzw. hier der Gans. Bei der Parade zum 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China 2009 lässt sich studieren, wie die Rocklänge der weiblichen Milizionäre den “aufrecht” geschwungenen “Gänsebeinen” angepasst wurde (Abb. 16). 38 7. “Moulin Rouge meets burka” 39 Walkers Graffito ermöglicht je nach Kombination und Perspektivierung seiner Teile verschiedene Aussagen. Der Künstler selbst äußert sich enigmatisch: “Islamic veil + French Tradition = the Corancan + ? ” 40 Eindeutig wird der männliche Blick nur von der zur Schau gestellten “partie honteuse” der Tänzerinnen angezogen. Doch jenseits des bloßen Reiz- Reaktionseffekts gibt es eine lectio difficilior, genauer gesagt: mindestens zwei. 41 Diese sind konträr. Demographisch interessant wird der Blickwinkel - erstens - deswegen, weil die unteren Extremitäten, wie bekannt, am Ort der sexuellen Reproduktion zusammenlaufen. Dank des finsteren Niqabs wirkt der Cancan-Kick in diesem Fall als Drohgebärde gegenüber dem europäischen Voyeur. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes Vural Öger hat das Problem auf den Begriff gebracht: Was mit militärischer Gewalt - vor Wien - nicht gelang, geschehe nun durch die “Kraft der Lenden” der Muselmannen und -frauen. 42 Zweitens: Statt der schleichenden Okkupation der Grande Nation - um den Blick wieder nach Frankreich zu wenden - durch den Islam, kann man das Flaggezeigen freilich auch als staatsbürgerliches Bekenntnis verstehen, ja als einen ersten Schritt zur emanzipatorischen Entschleierung (“von unten her” à la Niqabitch). Dieser Lesart zufolge erscheint der Corancan als “danse progréssiste”, 43 als Beispiel einer “intégration réussie”. 44 Diese Variante “Le Corancan” - Sprechende Beine 281 Abb. 17: Martin Mayer: Olympia Triumphans Abb. 16: Aufrechter Schritt chinesischer Miliz kann sowohl anti-islamisch als auch anti-staatlich sein: “L’humour et la dérision sont peutêtre plus efficace qu’une loi! ” 45 Walkers graphische Rhetorik gehört dem genus deliberativum an, es ist in diesem Sinne “beratschlagend” (Ueding & Steinbrink 1986: 238) - nur: was gibt im visuellen, nonverbalen Medium den semantischen Ausschlag? Hier sprechen die Beine, indem sie, wie eingangs schon bemerkt, die (bi-) kulturelle Kategorisierung “durchkreuzen” - was aber keine Negation, eher eine Verbindung (durch Blickführung) herstellt. Verabsolutiert man einen Teil, wird die Botschaft verfälscht. Die “einladende” Geste der Beine typisiert aber per analogiam das Corancan-Oxymoron als zustimmungsfähig. 46 Man muss nicht soweit gehen, die gespreizten Beine als Victory-Zeichen zu lesen, da dieses zwar dem Gegenwartskünstler, nicht aber dem Erfinder des Cancan bewusst war. Auch wäre das Zeichen um 90° in die Vertikale zu drehen. 47 Martin Mayers auf dem Münchner Olympia-Gelände aufgestellte Skulptur Olympia Triumphans (Abb. 17) 48 ist da nicht zuletzt dank des Titels eindeutig, auch wenn die weibliche Figur eine kosmische Vereinigung nicht ausschließt. Aber es ist nota bene das Tanzbein, das beim Corancan Attacke wie Assimilation transzendiert. Der Tanz als Spiel besitzt Qualitäten der Gestaltung (Anz & Kaulen 2009). Vorbemerkung Als Vortrag gehalten auf dem 13. Internationalen Semiotik-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, Org.: Eva Kimminich, 13.-15. Oktober 2011 in Potsdam: Repräsentation - Virtualität - Praxis. Sektion 1: “Als Ob”: Bildliche Repräsentation als virtuelle Praxis, Mod.: Ernest W.B. Hess-Lüttich u. Klaus Sachs-Hombach. Literatur, Medien, Quellen Anz, Thomas & Heinrich Kaulen (eds.) 2009: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin u. New York: de Gruyter (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literatur. Komparatistische Studien/ Comparative Studies 22) Barthes, Roland 1964: “L’activité structuraliste”, in: ders.: Essais Critiques, Paris (Coll. Tel quel): 213-220 Klaus H. Kiefer 282 Berndt, Christina 2011: “Ethikrat warnt vor Mischwesen. Wissenschaftler fordern ausdrückliches Verbot, dass tierische Embryonen von Menschen ausgetragen werden”, in: Süddeutsche Zeitung 224 (28. September 2011): 1 Borchmeyer, Dieter 1992: Die Götter tanzen Cancan. Richard Wagners Liebesrevolten, Heidelberg: Manutius Borchmeyer, Dieter 2008: “Heines Götter”, in: Harry … Heinrich … Henri … Heine. Deutscher, Jude, Europäer, Grazer Humboldt-Kolleg, 6.-11. 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Eine kulturelle Anatomie, Claudia Benthien & Christoph Wulf (eds.), Reinbek/ H.: Rowohlt (rowohlts enzyklopädie): 500-523 Abbildungen Alle Internetquellen wurden August/ September 2011 überprüft; nur in einem Fall (Tiller-Girls, Schnappschuss aus dem Film Scala total verrückt von 1958, Reg. Erik Ode, in: http: / / www.casttv.com/ video/ lOotbr1/ tiller-girls-londonin-scala-total-verrckt-1958-video) war die Quelle nicht mehr auffindbar. Beim Vortrag wurden die Abbildungen ggf. als kurzer Filmausschnitt gezeigt. Hierfür stehen jetzt Schnappschüsse. Abb. 1: “Bringt die Zeichen zum Tanzen: Nick Walkers CoranCan [sic] an einer Pariser Mauer”; Ausschnitt (Drees 2010: 11), Photo: Sipa Press Abb. 2: Nick Walker: Le Corancan (18. März 2010); Graffito, Paris, Quai de Valmy, in: http: / / www.woostercollective.com/ 2010/ 03/ nick_walkers_coran_can.html (19. März 2010) Klaus H. Kiefer 284 Abb. 3: Niqabitch, in: http: / / www.youtube.com/ watch? v=2-SvxEYLFTM Abb. 4: Héla Fattoumi (Choreographie zus. m. Eric Lamoureux): Manta, in: http: / / www.youtube.com/ watch? v=t6SDAwydLc (17. Juni 2010) Abb. 5: Tiller-Girls, Photo 1924, in: http/ / www.digischool.nl/ ckv2/ moderne/ berlijn/ tiller2.jpg Abb. 6: Monty Python: Ministry of Silly Walks, in: http: / / www.youtube.com/ watch? v=IqhlQfXUk7w Abb. 7: Was ist Stil? , in: Der Spiegel 27 (28. Juni 2004): 41 Abb. 8: Gustave Doré: Vision des “Galop infernal” (1858), in: http: / / www.operetta-research-center.org Abb. 9: Michel Drucker (m. Didier Bourdon & Christian Clavier): Vivement Dimanche (Spéciale “Cage aux folles”), France 2, 20. September 2009 mit dem Cancan aus dem Moulin Rouge-Programm 2009 Féerie, in: http: / / www.youtube.com/ watch? v=38B3MhDM4jU Abb. 10: Henri de Toulouse-Lautrec: Plakat, in: http: / / www.de.wikipedia.org/ wiki/ La_Goulue Abb. 11: Ellen McIntyre: Eastern delights or fundamentalist fashion? (undat.), in: http: / / ellenmcintyre.co.uk/ fashion/ eastern-delights-or-fundamentalist-fashion Abb. 12: Tango Argentino, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 17 (22./ 23. Januar 2011): R 8 Abb. 13: Leni Riefenstahl: Die Nuba, Frechen: Komet 1976, o. S. Abb. 14: Schematische Darstellung des Skeletts des Huhns (Lateralansicht), in: Maierl, Liebich, König 2001: 55-73, Abb. 1.10 u. 4.4 Abb. 15: Stechschritt: in: http: / / www.youtube.com/ watch? v.=XrCQJxpXjXA&feature=related Abb. 16: Militärparade zum 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, 1. Oktober 2009, in: http: / / www.youtube.com/ watch? v=1vA4T1wfJLE Abb. 17: Martin Mayer: Olympia Triumphans, Photo: ders., in: Riedel 2011: R 18 Anmerkungen 1 Drees (2010: 11) beruft sich auf die nicht unumstrittene Philosophin Isolde Charim (“Repräsentantin des Austroschwurbeltums”, in: http: / / campcatatonia.org/ article/ 190/ texte-die-wir-mit-beachtenswerterregelmaessigkeit-nicht-verstehen). 2 Zum Corancan kursieren zahlreiche unterschiedliche Photographien im Netz. Auf einigen sind auch “Kontexte” zu sehen: links, z.T. übermalt bzw. abgeschnitten: “Un graffiti [sic] / c’est la liber[té] / [de? ] conscience S[? ]”, und rechts: “Nique la pol[ice]” (dt. Ärgere die Polizei”), in: http: / / virginia-castro.photoshelter.com/ usr/ usraccount. 3 Zu Niqabitch wiederum kursieren Fassungen mit unterschiedlicher Hintergrundsmusik: Chanson, Rap und Kölner Karnevalsschlager. In der Tat gehört dieses Werk eher der leichteren Muse an, auch wenn es aus Sicht gläubiger Moslems skandalös ist. 4 Uraufführung von Manta angeblich 2009, nachgewiesen 6.-16. April 2010 im Théâtre de la Cité internationale, der Pariser Studentenstadt; Berliner Aufführung im Palais Podewil, 21. August 2010; Ausschnitte in: http: / / www.arte.tv/ de/ Videos-auf-Arte-TV/ 2151166/ CmC=3147292.html. Zu Beginn der Arte-Reportage wird Nick Walker gezeigt, wie er an seinem Werk den Titel Le Corancan anbringt. Die SZ (Drees 2010: 11) schreibt fälschlicherweise “Mantra”. “Manta” kommt vermutlich aus span. “manta”, wie dt. “Mantel” < lat. mantellum = Ganzkörper-Umhang (frz. mante); frz. “manteau” = Mantel, Uniform ist aus dem Frz. ins Pers. (Farsi) entlehnt worden (hier arab. geschrieben), kann sich also auch auf den religösen Umhang beziehen. Die “mante religieuse”, das Insekt, das dt. “Gottesanbeterin” heißt (mantis religiosa), bezieht - anders als der Manta-Rochen, dessen sprechender Name wiederum aus dem Span. stammt - ihre Bezeichnung aus dem Griech., wo “mantis” = “der Seher”, “mante” “die Seherin,” “die Prophetin” bedeutet. Dadurch erhält der Titel des Tanzes eine islamkritische Konnotation, die ernst gemeint ist: Die Prophetin, die sich entschleiert, wendet sich manifest gegen den Propheten. 5 S. Abb. Bekleidungsformen muslimischer Frauen, in: http: / / www.20min.ch/ dyim/ 5d0837/ B.M600,100o/ images/ content/ 1/ 6/ 4/ 16489236/ topelement.jpg. Der schwarze Niqab lässt nur einen Augenschlitz frei; die meist blaue Burka vergittert auch noch den Sehschlitz. Bei der sog. Nuttenburka ist der Schlitz weiter unten angebracht, s. Schwingenheuer 2009: o.S. 6 Ich danke hier Jacqueline von der Galerie Apishangel, die mir am 4. November 2011 mailt: “The Le Corancan piece was painted over after a week or two. […] Anything seen to be remotely anti Sarkozy was removed from the walls.” Die Galerie bietet nun eine Druckfassung des Corancan an (70 x 100cm, 450 £). “Le Corancan” - Sprechende Beine 285 7 Eingangs wird ein Pariser Quartier unter dem Ruf des Muezzin gezeigt. Dann eilt der Künstler mit seinem Einkaufstrolley herbei, in dem er seine Utensilien mitzuführen pflegt. Der zweite Teil stellt einen Verschnitt aus Bildassoziationen (Cancan u.a.), Walkerschen Werkzitaten und dem eigentlichen Schaffensakt dar, untermalt von einem popmusikartig verfremdeten Cancan-Rhythmus. Gezeigt werden auch Reaktionen von Passanten. 8 Hartwig Kalverkämper (2003b: 311) hat mehrfach betont, dass Paul Watzlawicks kommunikationstheoretisches Axiom, dass man nicht nicht kommunizieren könne, gerade auch für die Körpersprache gilt. 9 Die mehr als dubiosen Belege aus dem Koran verzeichnet die Bundeszentrale für politische Bildung, in: http: / / www.bpb.de/ themen/ IYRYVB,0,0-7,0. 10 S. Kalverkämper 2003b: 308ff. An anderer Stelle nennt der Verfasser (2003c: 1086) treffend das Gesicht “den sozial relevantesten Ort des Körpers”. Kalverkämper (1994: 132f.) hat auch minutiös die Verbindung zur antiken Rhetorik hergestellt (Ciceros Orator und Quintilians Institutio oratoria). Wenn schon Quintilian das Vorbild der Schauspielkunst benennt, wie viel mehr muss in der gegenwärtigen Mediengesellschaft die Körpersprache Berücksichtigung finden. 11 Johann Endres (2005: 3) zufolge hat “die europäische Aufklärung im Schleier einen ihrer größten Opponenten gesehen”; vgl. Kiefer 2004. 12 Vgl. auch http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Quadrille_(Tanz): “Die […] Quadrille, die zu den wilden Rhythmen Offenbachs getanzt wurde, war weder schön noch strukturiert. Die rhythmische Präzision dieses historischen Tanzes, der in den 1950er-Jahren als Cancan durch Kino und Theaterbühnen bekannt wurde, entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert und hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Urform der Quadrille. Ursprünglich war die ‘Quadrille naturaliste’ ein anarchischer, improvisierter Tanz, eine akrobatische, ekstatische Verrenkung der Glieder […].” 13 Dieses natürliche Repertoire wird von “Spezialisten”, Tänzern, Akrobaten, Sportlern perfektioniert und transzendiert; vgl. Brandstetter & Peters 2002. 14 Die Seite weist sich erst auf der übernächsten Seite als Teil einer Autowerbung aus: “Schwer zu erklären. Leicht zu erkennen. / Der Renault Scénic. Stil hat man. Oder nicht.” Die (unbekannte) Werbeagentur hat allerdings noch nichts von einem Individualstil gehört, den beide Damen haben. 15 Nick Walker konstruiert das Motiv des gehobenen (entmystifizierten) Rocks auch bei seinem Graffito Moona Lisa, in: http: / / flickr.com/ photos/ magnera/ 3586723304/ set-72157617257667287. Auch zu diesem Graffito gibt es ein Entstehungsvideo; das Werk wurde auch als Druck verbreitet. 16 Dieses “satanische Spektakel”, wie Heine schreibt (DHA13/ 1, 158), wird auf ganz unterschiedliche Weise choreographiert, abhängig davon, wie wieviel tänzerische Kondition die Sänger mitbringen bzw. wie das Zusammenspiel von Ballett und Sänger organisiert ist; vgl. Offenbach 1997. 17 Wo und wann die Nationalfarben zuerst den Unterleib der französischen Nation (La France! ) bedeckten, ist nicht nachzuweisen - das Internet bietet jedenfalls für das deutsche Publikum auch Cancan-Röcke in schwarz-rotgold. 18 Bereits in der antiken Mimesis gibt es “unwahrscheinliche” Mischwesen, wie z.B. den Kentaur. Sie waren meist aus natürlichen Formen zusammengesetzt. Heute sind solche Mischwesen (Chimären) offenbar genetisch herstellbar; vgl. Berndt 2011: 1. 19 Ich habe mich schon sehr früh mit diesem medientheoretischen Mustertext auseinander gesetzt, s. Kiefer 1978: 266ff. Goethes Studie erscheint semiotisch viel einsichtiger als die immer wieder zitierte Lessing’sche Abhandlung. 20 Dieser von Umberto Eco (1972: 242ff.) übernommene Begriff ist ein Notbehelf; wir könnten aber ohnehin nicht von Ikonen oder Hypoikonen handeln, wenn wir nicht die visuellen Zeichen der Körpersprache ins Symbolsystem der verbalen Sprache übersetzten. Wir wären an die Akademie von Lapuda versetzt, s. Jonathan Swift 1975: 198: “[...] if a man’s business be great, and of various kinds, he must be obliged in proportion to carry a greater bundle of things upon his back, unless he can afford one or two strong servants to attend him.” 21 S. Nöth 2000: 298; im Kapitel “Gestik” werden nur Arme, Hände und Kopf erwähnt. Im Grunde ist jeder Körperteil artikulationsfähig. - Außer Betracht bleibt in meinem Beitrag das klassische Ballett mit seinen “überstilisierten” Figuren. 22 Zu den Füßen s. Wolf 2001. 23 Daher gibt es zahllose Bein-Witze, aber kaum Hände- oder Arme-Witze. 24 Theo Lingen: “Ach Luise! ”, in: http: / / www.golyr.de/ theo-lingen/ songtext-ac. 25 Diese eine Etymologie von “cancan” (< lat. quanquam) bezeichnet ein “bavardage calomnieux” (Robert 1967: 220). Der Begriff war auch Heine (DHA 15, 18) nicht unbekannt. Klaus H. Kiefer 286 26 Friedrich Nietzsche (KSA 6: 365) schreibt “Umwerthung aller Werthe” gesperrt. Heine zufolge (DHA 13/ 1, 158) persifliert der Cancan “nicht bloß die geschlechtlichen Beziehungen […], sondern auch die bürgerlichen, sondern auch alles was gut und schön ist, sondern auch jede Art von Begeisterung, die Vaterlandsliebe, die Treue, den Glauben, die Familiengefühle, den Heroismus, die Gottheit.” 27 Ich unterscheide hier zwischen “Signal” im tierischen Funktionskreis, der beim Menschen in seinen Reiz/ Reaktionsmechanismen nur noch rudimentär vorhanden ist und “Zeichen” im eigentlichen Sinn. 28 Das Spiel ist die pragmatische Version der Fiktion; vgl. Kiefer 2011: 18f. u.ö. 29 Vgl. Hartmann 2002: 368: “Im Tanz treffen Körper, Geschlecht und Bewegung aufeinander und konstruieren Modelle von Weiblichkeit und Männlichkeit.” 30 Zum “Liebestanz” der Nuba s. Riefenstahl 1976: 429. 31 Elementare Funktionen werden ritualisiert; vgl. Gattermann 2006: 269 u. Posner 2002: 397: “Das Verhaltensmuster erhält […] eine Doppelrolle: / - Es ist Mittel zur Verwirklichung des Handlungsziels und zugleich / - Mittel zu dessen Mitteilung.” 32 Zu den “Cancaninspectoren”, die die “zu üppig Tanzenden” zur Rechenschaft zogen, s. Voß 1869: 70. Auch Heine spricht von ihnen (DHA 13/ 1, 157). 33 Den Hinweis danke ich Borchmeyer 1992: 116. 34 Dasselbe Prinzip vollzieht sich beim Ersatz von Körpergerüchen, die dank Körperpflege und Hygiene getilgt werden, durch künstliche Parfums. 35 Vgl. Price 1998: 25 u. Robert 1967: 220: “du nom enfantin du canard (1808)”. 36 Sportler üben beim Training den sog. Entengang, der allerdings seine Bezeichnung zu unrecht besitzt, denn die Ente watschelt nicht mit dem Unterschenkel, sondern mit dem Laufknochen. 37 Der Wehrmachtsoffizier (? ) nähert sich grüßend Adolf Hitler; die ursprüngliche Quelle des Films war nicht zu ermitteln. Die Aufnahme in Youtube (Reg. unbekannt) versteht sich als antifaschistisch. Das Darbieten des gestreckten und gehobenen Beins des Mannes vor dem Alpha-Männchen mag Kraft und Disziplin symbolisieren, bleibt aber dennoch eine weiblich/ weibische Geste der Werbung und Unterwerfung. 38 Auf Chinesisch heißt der Paradeschritt wörtlich “aufrechter Schritt”. Die beiden Offizierinnen kommandieren: “Die Augen rechts! ” Darauf antwortet die Abteilung, um gleichzeitig in den Stechschritt zu fallen: “Eins - Zwei! ” Der Kommentar handelt davon, wie sehr die Milizionärinnen ihre Uniform mögen. Die Auskunft danke ich meiner Doktorandin Shan Cao. 39 http: / / www.backyardconservative.blogspot.com. 40 Nick Walker, zit. in: http: / / creepingsharia.wordpress.com/ 2010/ 03/ 23/ corancan-graffiti-libel-the-french-burqa…; in einer anderen französischen Fassung oder Übersetzung fehlt allerdings der zweite Teil der Analogie: “voile islamique + tradition française = Le Corancancan [sic]” (http: / / cret.blogspirit.com/ archive/ 2011/ 08/ 10/ corancancan-une-campagne-intelligente-contre-le-voile.html. 41 Ohne Zweifel erfüllt jede ostentative Bewegung von bekleideten oder unbekleideten Körperteilen auch ästhetische u.a. Funktionen. 42 Genaues Zitat aus Hürriyet nach Bild (26. Mai 2006) s. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Vural_%C3%96g. Öger bezieht sich auf die erste Belagerung Wiens durch Sultan Süleyman 1529. 43 http: / / www.dailymotion.com/ …/ xcmpxs_voile-islamique-tradition-française_ne... 44 http: / / www. jaidesmots.com/ 2011/ 03/ 31/ a-quand-le-french-corancancan [sic]; der Verfasser setzt hinter seine These allerdings ein Fragezeichen. 45 http: / / www.defouloir.org/ t11662-lecorancan-vous-connaissez#175583. 46 Vgl. Kalverkämper 2003b: 317: “Die kommunikativen Wirkungen nonverbalen Verhaltens werden konstituiert durch analoge, d.h. abbildende Zeichen, die direkten, gleichsam nachahmenden Bezug zu dem haben, was sie bedeuten (‘per Analogie zur Wirklichkeit derWelt’) […].” 47 Dem Briten Walker wäre auch das beleidigende V-Zeichen mit der dem Gegenüber zugewandten Handfläche bekannt. 48 “Olympia”, ursprünglich ein Ortsname, wird hier nicht nur personifiziert, sondern auch feminisiert.