eJournals Kodikas/Code 34/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2011
343-4

Als ob: Repräsentation als virtuelle Praxis

2011
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Daniel H. Rellstab
Als ob: Repräsentation als virtuelle Praxis Zur Einführung Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Schon die Partikelverbindung “als ob” übe, wie der Kant-Forscher Hans Vaihinger zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffend bemerkte, mit ihrer “geheimnisvollen Gedankenverschränkung” einen besonderen Reiz aus. Mehr noch als die Semantik dieser Konstruktion interessieren jedoch die Phänomene, die mit einem “als ob” eingeklammert werden. Die philosophische und zeichentheoretische Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Sorte von Phänomenen ist keineswegs eine Mode-Erscheinung unserer Tage. Sie hat vielmehr eine lange Tradition und beginnt, kaum überraschend, in der westlichen Welt bereits in der Antike. Aber sie gewinnt gerade jetzt eine neue Aktualität und hat zur Folge, dass die Bestrebungen, “Als Ob”- Phänomene zu verstehen, heute intensiv fortgeführt werden. Der Philosophie kommt, wie jeder weiß, die Aufgabe zu, die grundlegenden ontologischen, metaphysischen, epistemologischen Fragen zu stellen und manchmal, im Glücksfalle, auch die eine oder andere vorläufige Antwort darauf zu liefern: Gibt es fiktionale Entitäten, und wenn ja, wie sollen diese beschaffen sein? Sind wir überhaupt in der Lage, zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden, und wenn ja, wie genau soll das funktionieren? Oder ist diese Unterscheidung letztlich überhaupt relevant? Hans Vaihinger, der im Anschluss an Kant und Nietzsche eine Philosophie des “Als Ob” entwarf, dürfte die letztere Frage zumindest in handlungstheoretischer Hinsicht negiert haben, zeigt er doch, dass und wie Fiktionen in unserem Alltagsleben handlungsrelevant werden und uns auch als “bewußtfalsche” Vorstellungen in die richtige Richtung zu führen vermögen (Vaihinger 1922). Die Philosophie interessiert sich aber nicht nur für die fiktiven Entitäten und deren Seinsweisen, sondern auch für das “So Tun Als Ob”. Einige der in der Tradition der Sprechakttheorie und der analytischen Philosophie stehenden Ansätze versuchen, über die Analyse semantischer und pragmatischer Regeln dem auf die Spur zu kommen, was eine fiktionale Rede von einer alltagsweltlichen Rede unterscheidet, etwa eine, die auf den aktuellen amerikanischen Präsidenten Bezug nimmt (cf. Sainsbury 2005; Searle 1975). Ontologie, Metaphysik, Epistemologie, Sprachphilosophie stehen freilich nicht allein mit ihren Versuchen, das Wesen des Fiktiven und des “So Tun Als Ob” begrifflich zu durchdringen. Viele Auseinandersetzungen mit dem “Als Ob” fanden und finden auf dem Feld der Ästhetik und der Literaturtheorie statt (cf. Hess-Lüttich & Rellstab 2005). Das kommt nicht von ungefähr. Fiktionalität wurde lange als das Merkmal von Literatur schlechthin angeführt - was spätestens seit Gerard Genettes einflussreichen Essays in Fiction et Diction sicherlich nicht mehr statthaft ist (cf. Genette 2004). Die aristotelische Frage danach, was Literatur im Modus der Fiktion vermag, hat aber auch heute noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt: Ist sie Täuschung, erzählt sie das Mögliche? Oder ist sie, wie Käte Hamburger in Abgrenzung K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 34 (2011) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab 210 von Vaihinger behauptet, vielmehr imaginäre Objektivität, in ihrer Terminologie nicht “als ob”, sondern vielmehr “als”, nämlich “Schein von Wirklichkeit” (cf. Scheffel 2006: 85-86)? Und wie tut sie das? Wie evoziert sie einen Raum des Fiktiven, und wie mischen sich Fiktion und Realität, wenn ein fiktiver Held durch ein faktisches Berlin oder ein imaginiertes Helsinki spaziert (cf. Hess-Lüttich 2011)? Und was tut ein Leser, der sich auf diese Fiktion einlässt? Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu Fragen, die auch die spezifische mediale Verfasstheit fiktionaler Texte - im weiteren Sinne - in den Blick nehmen (cf. Hess-Lüttich 2000). Funktioniert ein fiktiver literarischer Text gleich wie ein Bild, das mir eine fiktive Welt vor Augen führt? Sicherlich nicht. Denn es stellt uns das Objekt, ob nun wirklich oder fiktiv, vor Augen, transzendiert also unseren Wahrnehmungsraum und macht etwas anwesend, was vielleicht nicht nur abwesend, sondern vielleicht gar inexistent ist. Doch gibt es in dieser Hinsicht nicht entscheidende Unterschiede? Über die Existenz des abgebildeten Objekts sagt uns ein gemaltes oder gezeichnetes Bild nichts. Ihm fehlt jene Kraft der Indexikalität, die eine Verbindung zur Welt herstellen kann und die es uns ermöglicht zu überprüfen, ob das abgebildete Objekt real oder fiktiv ist (cf. Peirce EP2: 291). Eine Fotografie dagegen funktioniert, auch Peirce zufolge, als indexikalisches Zeichen (cf. Peirce EP2: 5). Wie Barthes schreibt, scheint sie pure Denotation zu sein, wenn auch eine spezifische, dokumentarische: Sie zeigt eine Realität, die gewesen ist (cf. Barthes 1977). Die Fotografie postuliert damit Realität - oder tat dies zumindest, bis sie digital wurde. Die suggestive Kraft der Bilder erleben wir heute im Kontext der Hypermedialisierung unserer Lebenswelten in zugespitzter Weise. Denn leben wir nicht in einer Welt, in welcher die Indices der Realität zunehmend verschwinden, so dass wir gar nicht mehr in der Lage sind zu unterscheiden, was wirklich ist und was Fiktion? Ist es nicht so, dass es uns neue und neueste Medien zunehmend verunmöglichen, zwischen Virtualität und Realität zu unterscheiden? Die virtuelle, digitale Welt ermöglicht uns gleichzeitig auch völlig neues Handeln im Modus des “Als Ob”; es lässt sich somit auf ganz neue Weise theoretisieren: Nicht mehr nur, wie bei Vaihinger, als erkenntniskritisch-handlungstheoretisches, sondern auch als medientheoretisch-philosophisches, aber auch als soziologisches Phänomen (Hess-Lüttich 1997). Zwar ist, wie Erving Goffman (1959) schreibt, das Handeln im öffentlichen Raum immer auch ein Handeln “Als Ob”: Auf der Vorderbühne des öffentlichen Lebens inszenieren wir uns sorgfältig und bringen das zum Ausdruck, von dem wir annehmen, dass es wohlgefällig ist. Dabei sind wir tunlichst darauf bedacht, die Hinterbühne vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Selbstinszenierung als Inszenierung eines “Als Ob” ist also keineswegs an eine Medienrevolution gebunden. Doch potenzieren die neuen Medien die Möglichkeiten, sich auf Vorderbühnen öffentlichen Lebens in Szene zu setzen. Chatrooms, Facebook oder Google+ ermöglichen neue Formen der Selbstinszenierungen und machen die Grenzen zwischen realer und virtueller Identität noch durchlässiger. Die Zahl der Disziplinen, die sich mit dem “als ob” beschäftigen, wächst und mit ihr die Pluralität der Ansätze zu dessen Erforschung. Den verschiedenen Disziplinen und den diversen Ansätzen innerhalb der Fächer ist indes eines gemein, nämlich dass sie mit ihren Fragestellungen direkt ins Zentrum der Semiotik zielen. Sie alle beschäftigen sich mit Struktur, Besonderheit und Funktionsweise von Zeichen, und zwar nicht nur von Zeichen, die das Fiktive erschaffen; gleichzeitig und in Abgrenzung davon stellen sie die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von zeichenhandelndem Schaffen überhaupt. Sie alle fragen danach, wie Zeichen, die auf Fiktives verweisen oder Fiktives erschaffen, interpretiert werden, und setzen sich insofern mit dem komplexen Problemfeld der Zeichenre- Als ob: Repräsentation als virtuelle Praxis 211 zeption auseinander. Die Spannbreite der Zeichen, Zeichensysteme, Zeichenprozesse, die analysiert werden, ist zudem immens: Literarische Texte, die Gesten von Schauspielern, Bilder, zusammengesetzt aus Tausenden von Pixeln. Aber auch ein jugendlicher Passant kann bereits dann zeichenhaft Handelnder sein, wenn er nur mit schwarzer Lederkluft und grell gefärbter Irokesenfrisur auf der Bühne öffentlichen Raumes zum Ausdruck zu bringen hofft, dass er sich wenig schere um die Normen der Gesellschaft (oder zumindest so tut ‘als ob’). Denn die Bestätigung, dass dies auch der Fall sei, wird mit diesen Zeichen nicht geliefert, und zwar genauso wenig wie die Bestätigung, dass er auch wirklich Teil einer subkulturellen Gruppe sei. Vielleicht benutzt er ja nur ihre Zeichen, ohne ‘wirklich’ dazuzugehören? Solche und ähnliche Fragen standen am Anfang unserer Idee, für den 13. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2011 in Potsdam ein Panel zum Thema “‘Als Ob’: Repräsentation als virtuelle Praxis” vorzubereiten. In dem hier vorgelegten Themenheft stellen wir nun eine Auswahl aus den bei dieser Gelegenheit gehaltenen Referaten in der Form von ausgearbeiteten Aufsätzen zur Diskussion, und zwar solche, die exemplarisch sowohl verschiedene Ansätze als auch unterschiedliche Mediensorten repräsentieren und dabei besonders interessanten Fragen im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem “Als Ob” nachgehen. S IMONE N EUBER exponiert in ihrem philosophischen Beitrag die Frage, ob auf Fikta bezogene und durch diese individuierte Gefühle bloße “Als Ob”-Gefühle, also Quasi-Gefühle, seien oder nicht. Ausgehend von einer kritischen Diskussion aktueller philosophischer Positionen zur Fiktionalität zeigt sie, dass es zwar notwendig sei, die besondere Natur fiktabezogener Gefühle insofern anzuerkennen als epistemische Zustände, die sich auf fiktive Entitäten beziehen, von epistemischen Zuständen, die sich auf reale Entitäten beziehen, unterschieden werden müssten. Dies heiße aber keineswegs, weist Neuber nach, dass sie bloße “Als Ob”-Gefühle” seien; die spezifische Relation zu fiktiven Entitäten degradierten die Gefühle selbst durchaus nicht zu Scheingefühlen. Ihr Beitrag figuriert damit zugleich als wertvolle philosophische Einführung ins Thema des Bandes. L ARS C. G RABBE rekonstruiert in seinem Aufsatz Georg Simmels Beitrag zu einer soziosemiotischen Werttheorie des “Als Ob”, wie sie in Simmels Philosophie des Geldes aus dem Jahr 1900 sichtbar wird. Grabbe argumentiert, dass Simmel in diesem Werk den Zusammenhang aus Wert, Tausch und Geld als semiotisches Relationsgefüge verstehe, das den Funktionswert des Geldes als Form eines virtuellen Zugriffs auf die Realität bestimme. Geld, so Grabbes Analyse von Simmel, führe einerseits zu einer Ausweitung der Machtsphäre des Subjekts, da Geld den Zugriff auf entfernte Objekte ermögliche. Als reine Potenzialität bilde Geld, oder vielmehr dessen Besitz, dem Subjekt aber auch die Möglichkeit zu einer psychologisch-ästhetischen Expansion. Laut Grabbe zeigen sich bei Simmel Gelderwerb, Geldbesitz und Geldnutzung “als Funktionselemente einer virtuellen Praxis, die sich erst durch eine ästhetische Bewusstseinsform vollständig realisiert”. D ORIS S CHÖPS stellt in ihrem Beitrag einen Ansatz zur Erforschung von Körperhaltungen in Spielfilmen vor. Im Gegensatz zu Gesten, die in eigens etablierten Forschungsbereichen seit längerer Zeit intensiv erforscht werden, wurden Körperhaltungen von der Gestenforschung bisher noch kaum beachtet, geschweige denn untersucht. Ausgehend von der Hypothese, dass Körperhaltungen im fiktiven Film deutlich stärker disambiguiert und damit semiotisiert werden als im wirklichen Leben, zeigt Schöps erstens, dass Körperhaltungen als Teil des kinesischen Zeichenrepertoires im Film eine eigenständige signifikative und kommunikative Funktion übernehmen können, und dass sie damit, zweitens, eine eigene virtuelle Zeichenpraxis bilden, die selbst auf der Figurenebene handlungsbestimmend werden kann. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab 212 Mit der Sprache ganz bestimmter Körperteile, nämlich der Sprache der Beine, setzt sich K LAUS H. K IEFER auseinander. Ausgangs- und Zielpunkt von Kiefers Überlegungen zur Semiotik der Beine ist Nick Walkers Graffito “Le Corancan”, das im März 2010 einige Tage lang an einer Mauer im 20. Arrondissement von Paris zu sehen war. Es nimmt Bezug auf den Islamdiskurs, indem es sechs mit einem Niqab verschleierte Cancan-Tänzerinnen zeigt, die ihre rot-weiß-blauen Röcke heben und ihre Beine in die Luft werfen. Kiefer skizziert zuerst eine ‘Semiotik der Beine’, bevor er zu Walkers Graffito zurückkehrt und zeigt, welche paradoxen Interpretationsmöglichkeiten sich einer lectio difficilior dieser Körperbewegung und dieses Graffitos erschließen: Oszillierend zwischen islamistischer Drohgebärde und einer Entschleierung von unten. Das Spiel mit der Erotik im Modus des “Als Ob” ist beide Male zentral. M ARA P ERSELLO nähert sich dem Thema des Bandes ex negativo. Sie beschreibt das Phänomen des “Als Ob” als Problem bestimmter jugendlicher Subkulturen, in denen es zentral ist, gerade nicht “als ob”, sondern eben ‘authentisch’ zu sein, “real”, wie dies in der Subkultur des Hip-Hop heißt. Persello analysiert, wie in drei zu verschiedenen Zeiten entstandenen und unterschiedlichen musikalischen Stilrichtungen zuzuordnenden Konzeptalben das Problem subkultureller Authentizität und Unabhängigkeit und deren Verlust thematisiert wird. Sie zeigt damit auch, wie durch Musik, die als Medium des Erzählens von Geschichten vom Aufstieg und Fall subkultureller Helden eingesetzt wird, ein subkultureller Raum evoziert und gesichert wird, der durch Mainstream und Kommerz ständig bedroht wird: Fiktion, konstruiert im Lied, als Bewahrerin der Authentizität. U RSULA S TALDER analysiert und problematisiert in ihrem Beitrag die jüngsten Entwicklungen in der Werbe- und PR-Kommunikation. Hier kommen immer aufwendigere Installationen zum Einsatz, in denen im öffentlichen Raum neueste digitale Techniken geschickt placiert werden, die frühere technisch-mediale Restriktionen, wie sie sich etwa durch die Größe des Bildschirms ergaben, zu überwinden erlauben. Stalder zeigt anhand der Analyse und Diskussion von Installationen internationaler Marken wie Louis Vuitton und Hermès oder bedeutender NGOs wie Amnesty International und WWF, wie in medialen Arrangements Realität evoziert werde, wie den Betrachtern neue Erlebnisse ermöglicht würden und wie diese Installationen gleichzeitig versuchten, den Eindruck von Teilhabe zu wecken. Sie schließt ihre Analyse der sogenannten Out-of-Home-Medien mit der Prognose, dass wir in Zukunft in weit größerem Umfang als bislang auf diese indirekte Art beworben werden dürften - eine wohl realistische Annahme, wenn auch nicht jeden beglückende Perspektive. Auch S ASCHA D EMARMELS setzt sich mit neuesten Entwicklungen in der Medienwelt auseinander. Ihr Zugriff ist aber theoretischer Art. Sie interessiert sich vor allem für die Fragen, ob und inwieweit Augumented Reality, also computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung, die oft in Out-of-Home-Medien eingesetzt wird und meist zwei oder mehrere Sinneskanäle betrifft, mit älteren Formen multimedialer Kommunikation gleichgesetzt kann. Was geschieht, wenn ein Bild, durch die Linse des eigenen Mobiltelefons betrachtet, plötzlich lebendig wird? Wie reagieren die Menschen, wenn sie sich in einem Bildschirm wiederentdecken, auf dem plötzlich ein Engel neben ihnen steht? In ihrer semiotischen Analyse unterschiedlicher Beispiele, in denen Augmented Reality zwecks Steigerung des semiotischen Potenzials eingesetzt wird, zeigt sie, dass Augmented Reality mehr Möglichkeiten der Sinnkonstruktionen biete als traditionell multimodale Kommunikation und dass Augmented Reality auf ganz neue Weise die Frage danach stelle, was Realität sei und was Virtualität. Als ob: Repräsentation als virtuelle Praxis 213 Y IXIN W U und C HRISTIAN T RAUTSCH widmen sich in ihrem Beitrag ebenfalls den Neuen Medien, und zwar interessieren sie sich für die “als-ob”-Struktur von sog. ‘Emoticons’ insbesondere im World Wide Web, aber auch in anderen Medien. Sie illustrieren zunächst, inwiefern sowohl die Form oder Syntax von Zeichen des Typs der Emoticons als auch deren Bedeutung oder Semantik und Pragmatik von der Erscheinung des realen Mienenspiels in alltagsweltlichen und soziokulturellen Kontexten abhängig ist. Dann arbeiten sie heraus, dass auf der indexikalischen und symbolischen Ebene praktisch unbegrenzt viele Mentefakte repräsentiert werden können, etwa in der Comic- und Fernsehkultur, indem sie eine Explikation der Repräsentation von Zeichentypen durch Emoticons, eine Klassifikation ihrer kommunikativen Funktion und eine Unterscheidung der Objektrelationen von Emoticons vorschlagen. Damit wird hier eine umfassende semiotische Klassifizierung von Emoticons und eine zeichentheoretisch fundierte Erklärung von deren Als-ob-Struktur vorgelegt, wie sie bislang fehlte. M ARTIN S IEFKES Aufsatz beschäftigt sich aus ähnlichem Hintergrund heraus und von abstrakter Position aus mit sehr konkreten Dingen, nämlich mit Artefakten des Alltags, um aus einer theoretischen Perspektive, die grundlegende semiotische Phänomene in den Blick nimmt, zu ihrer angemesseneren Beschreibung und Erklärung beizutragen. Siefkes geht von der Beobachtung aus, dass Artefakte im Alltag oftmals semantisiert würden, das heißt, dass sie nicht mehr länger nur als Gegenstände mit einer bestimmten Funktion betrachtet würden, sondern Zeichencharakter erhielten und damit eine bestimmte Bedeutung: Die Kettensäge assoziiere plötzlich ein Massaker, das Kapuzenshirt stehe für die Hip-Hop-Kultur und ihre Werte. Siefkes macht in seinem Beitrag auf fundamentale semiotische Praxen aufmerksam, vermittels derer wir unsere gesellschaftliche und soziale Umwelt mit Bedeutung versehen. Anders als bei codierten Bedeutungen sind diese Semantisierungsprozesse stark von unserer jeweiligen Vorstellungskraft und situativen Phantasie abhängig und damit viel weniger determiniert, als dies etwa bei der Sprache der Fall ist. Angesichts dieses Befunds könnte sich die Frage stellen, ob hier nicht vielleicht eher von “Als Ob”-Bedeutungen gesprochen werden müsste als von Bedeutungen strictu sensu, eine Frage, die der Autor aber nicht weiter verfolgt. Wie der Beitrag von D AGMAR S CHMAUKS zum Abschluss zeigt, ist es aber nicht nur der Mensch, der sich in virtuellen Welten bewegt und damit seine Sinne reizt. In Zoologischen Gärten, im Stall und zu Hause, aber auch in der freien Wildbahn erschüfen wir, argumentiert sie, auch für Tiere und Haustiere virtuelle Welten, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Damit sie sich wohlfühlen, damit sie sich fortpflanzen, damit wir sie besser jagen können. Schmauks kategorisiert in ihrem lehr- und aufschlussreichen Aufsatz aus semiotischer Perspektive die unterschiedlichsten Simulationen, die der Mensch für das Tier entwickelt habe. Sie schließt dabei die unterschiedlichsten und für den Laien erstaunlichen Phänomene ein: von ‘Aufziehmaus’ bis ‘Zuchtattrappe’ findet sich alles, und noch viel mehr … Literatur Barthes, Roland 1977: “Rhetoric of the Image”, in: id. 1977: Image - Music - Text. Essays selected and translated by Stephen Heath, London: Fontana Press (Harper Collins), 32-51 Genette, Gérard 2004: Fiction et diction. Précédé de Introduction à l’ architexte, Paris: Seuil Goffman, Erving 1959: The presentation of self in everyday life, New York: Anchor Books Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab 214 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1997: “Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität”, in: Josef Klein & Ulla Fix (eds.), Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen: Stauffenburg, 125-148 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2000: Literary Theory and Media Practice. 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Peirce Edition Project, Bloomington: Indiana University Sainsbury, R. [Richard] M. 2005: Reference without Referents, Oxford: Oxford University Press Scheffel, Michael 2006: “Wer spricht? Überlegungen zur ‘Stimme’ in fiktionalen und faktualen Erzählungen”, in: Andreas Blödorn, Daniela Langer & Michael Scheffel (eds.) 2006: Narratologia: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 83-99 Searle, John Rogers 1975: “The Logical Status of Fictional Discourse”, in: New Literary History 6 (9175): 319-32 Vaihinger, Hans 1922: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig: Felix Meiner