eJournals Kodikas/Code 34/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Obwohl Schatten nicht materiell sind, liefern sie vielfältige Informationen. In der visuellen Wahrnehmung beweisen sie die Materialität von Urbild und Hintergrund, und sie informieren über Ort und Gestalt des Urbildes. Die Geschichte der Zeitmessung beginnt mit der Beobachtung von Schlagschatten, weil sich deren Richtung und Länge während des Tages und des Jahres gesetzmäßig ändert. Kunsthistoriker untersuchen, wie Schlagschatten von Malern eingesetzt wurden, um Dreidimensionalität vorzuspiegeln und besondere Effekte zu erzielen. In Volkslegenden werfen Vampire und andere übernatürliche Wesen keine Schatten, und bekannte Romane berichten, wie Menschen zu Ausgestoßenen wurden, nachdem sie dem Teufel ihren Schatten verkauft haben. Wegen dieser vielen Eigenschaften sind Schlagschatten eine fruchtbare Quelldomäne für Metaphern, wobei ihre Rolle sehr ambivalent ist. Einerseits können sie von ihrem Urbild nicht abgetrennt werden ("jemandem folgen wie ein Schatten") und bilden es nach optischen Gesetzen ab. In besonderen Fällen dienen Schatten als Vorzeichen ("künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus"). Andererseits haben Schatten etliche negative Eigenschaften, die mit der globalen Metapher "hell vs. dunkel" zusammenhängen. Sie sind dunkel, vielleicht sogar schwarz, und werden daher mit Unglück ("die Schatten der Vergangenheit"), Krankheit ("nur noch ein Schatten seiner selbst sein") und sogar Tod verknüpft (im antiken Griechenland hieß die Unterwelt auch "Reich der Schatten"). "In jemandes Schatten leben" bedeutet, unter dem schädlichen Einfluss eines anderen zu stehen. Weil Schatten immateriell sind, wurden sie zu einem Symbol für Vergeblichkeit und Illusionen ("einem Schatten nachjagen"). Dunkle und verzerrte Schatten können eine unheimliche Atmosphäre schaffen und Angst erzeugen ("sich vor seinem eigenen Schatten fürchten"). Maler und Designer schätzen dieses Potential von Schatten und nutzen es in bildlichen Darstellungen. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf zwei davon, nämlich auf Werbeanzeigen und Cartoons.
2011
341-2

Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons

2011
Dagmar Schmauks
Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons Dagmar Schmauks Although shadows are immaterial, they render manifold information. In visual perception, cast shadows prove the materiality of model and background, and they inform about location and shape of the model. Chronometry started with the observation of shadows because their direction and length vary regularly during day and year. Art historians investigate how painters have used shadows in order suggest three-dimensionality and to gain other specific effects. In folk tales, vampires and other supernatural beings don’t cast shadows, and well-known novels narrate that human beings become outlaws after having sold their shadow to the devil. Due to these many features, cast shadows are a very productive source domain of imagery, and their role in metaphors is highly ambivalent. On the one hand, they cannot be detached from their model (“to follow someone like a shadow”) and depict it due to optical laws. In special cases, shadows function as heralds of the future (“coming events cast their shadows before”). On the other hand, shadows have a bunch of negative features due to the global metaphor “light vs. dark”. They are dark, maybe even black, and therefore become connected to unhappiness (“the shades of the past”), illness (“worn to a shadow”) and even death (in ancient Greek, the underworld was called “the realm of shadows”). “To live in someone’s shadow”, means to stay under the harmful influence of somebody else. Because shadows are immaterial, they have become a symbol of futility and illusions (“catch at shadows”). Dark and distorted shadows may create a weird atmosphere and cause anxiety (“to be frightened of one’s own shadow”). Painters and designers appreciate this potential of shadows and exploit it in pictorial representations. The analysis in hand concentrates on two examples, namely advertising and cartoons. Obwohl Schatten nicht materiell sind, liefern sie vielfältige Informationen. In der visuellen Wahrnehmung beweisen sie die Materialität von Urbild und Hintergrund, und sie informieren über Ort und Gestalt des Urbildes. Die Geschichte der Zeitmessung beginnt mit der Beobachtung von Schlagschatten, weil sich deren Richtung und Länge während des Tages und des Jahres gesetzmäßig ändert. Kunsthistoriker untersuchen, wie Schlagschatten von Malern eingesetzt wurden, um Dreidimensionalität vorzuspiegeln und besondere Effekte zu erzielen. In Volkslegenden werfen Vampire und andere übernatürliche Wesen keine Schatten, und bekannte Romane berichten, wie Menschen zu Ausgestoßenen wurden, nachdem sie dem Teufel ihren Schatten verkauft haben. Wegen dieser vielen Eigenschaften sind Schlagschatten eine fruchtbare Quelldomäne für Metaphern, wobei ihre Rolle sehr ambivalent ist. Einerseits können sie von ihrem Urbild nicht abgetrennt werden (“jemandem folgen wie ein Schatten”) und bilden es nach optischen Gesetzen ab. In besonderen Fällen dienen Schatten als Vorzeichen (“künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus”). Andererseits haben Schatten etliche negative Eigenschaften, die mit der globalen Metapher “hell vs. dunkel” zusammenhängen. Sie sind dunkel, vielleicht sogar schwarz, und werden daher mit Unglück (“die Schatten der Vergangenheit”), Krankheit (“nur noch ein Schatten seiner selbst sein”) und sogar Tod verknüpft (im antiken Griechenland hieß die Unterwelt auch “Reich der Schatten”). “In jemandes Schatten leben” bedeutet, unter dem schädlichen Einfluss eines anderen zu stehen. Weil Schatten immateriell K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 34 (2011) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 64 sind, wurden sie zu einem Symbol für Vergeblichkeit und Illusionen (“einem Schatten nachjagen”). Dunkle und verzerrte Schatten können eine unheimliche Atmosphäre schaffen und Angst erzeugen (“sich vor seinem eigenen Schatten fürchten”). Maler und Designer schätzen dieses Potential von Schatten und nutzen es in bildlichen Darstellungen. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf zwei davon, nämlich auf Werbeanzeigen und Cartoons. 1. Überblick Schatten sind sehr merkwürdige Gebilde, denn obwohl sie selbst nicht materiell sind, informieren sie einen kenntnisreichen Betrachter doch über viele Fakten der materiellen Welt, etwa über die Tageszeit, über die Art der Lichtquelle und insbesondere über Materialität, Ort und Gestalt ihrer Urbilder. Da dieser Artikel sich auf Schlagschatten konzentriert, werden diese zunächst in Abschnitt 2 charakterisiert und von Körperschatten abgegrenzt. Abschnitt 3 sichtet als Grundlage der anschließenden Detailuntersuchungen das kognitive Modell von Licht und Schatten sowie das Wortfeld “Schatten”. Abschnitt 4 listet Kontexte auf, in denen Schlagschatten als Wissensquelle benutzt werden, wobei dieses Potential teils auf den optischen Gesetzen beruht, teils aus kulturellen Zuschreibungen stammt. Aufgrund dieser Vielfalt von Eigenschaften sind Schlagschatten eine fruchtbare Ursprungsdomäne für Redensarten und Metaphern, die in Abschnitt 5 vorgestellt werden. Abschnitt 6 analysiert beispielhaft einige Werbeanzeigen, die Schlagschatten in kreativer Weise einsetzen und dabei entsprechende Redewendungen visualisieren. Anschließend untersucht der weitgehend parallel aufgebaute Abschnitt 7 einige Cartoons, die das Informationspotential von Schlagschatten kreativ ins Bild setzen. Ein Fazit und ein kurzer Ausblick in Abschnitt 8 runden die Darstellung ab. 2. Arten von Schatten Schatten sind ebenso wie Spiegelbilder sehr eigenartige Gebilde. Beide sind mehr oder weniger verzerrte Abbilder von Objekten und entstehen aufgrund optischer Gesetze. Folglich sind sie rein visuelle Phänomene, allenfalls können blinde Menschen größere verschattete Flächen anhand von deren relativer Kühle erkennen. Manchen Definitionen zufolge sind Schatten und Spiegelbilder keine Zeichen im engeren Sinn, weil sie rein naturgesetzlich entstehen und nicht absichtlich von einem Sender erzeugt werden, um jemandem etwas Bestimmtes mitzuteilen. Dennoch sind Schatten, wie dieser Artikel belegen möchte, auch semiotisch gesehen sehr interessant. Zum einen stellen wir in zahlreichen Kontexten sehr wohl Schatten absichtlich her, man denke etwa an Sonnenuhren, Täuschungsversuche und die vielen Formen des Schattenspiels. Zum anderen sind Schatten in überraschend vielen Situationen wertvolle Anzeichen, denen ein kenntnisreicher Betrachter einige bislang unbekannte Fakten zu entnehmen vermag. In der Regel können wir Spiegelbilder und Schatten leicht unterscheiden. Spiegelbilder sind farbig und lassen sich nur von einem bestimmten Punkt aus betrachten, Schatten hingegen sind einfarbig, strukturlos und können von überallher wahrgenommen werden. Komplexere Szenarien machen weitere Unterschiede deutlich. In Gegenwart mehrerer Lichtquellen werfen Objekte mehrere Schatten, die einander lediglich überlagern können. Falls man hingegen mehrere Spiegel geschickt arrangiert, entstehen unzählige Spiegelbilder, die sich immer weiter ineinander spiegeln. Artefakte, die dieses Potential zu Unterhaltungs- Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 65 zwecken geschickt nutzen, sind das Kaleidoskop sowie Spiegellabyrinthe als traditionelle Jahrmarktsattraktion. Letztere täuschen dem Besucher endlose Gebäude mit labyrinthischen Durchgängen vor, aber wenn er sie zu durchschreiten versucht, stößt er immer wieder auf die Spiegel als materielles Hindernis. Eine weitere Asymmetrie zeigt sich bei Kombinationen von Schatten und Spiegelbildern. Zwar können Schatten gespiegelt werden, aber Spiegelbilder als nicht-materielle Gebilde werfen umgekehrt keine Schatten. In den komplexesten Fällen überlagern Schatten und Spiegelbilder einander, nämlich wenn die reflektierende Fläche sowohl matt als auch glatt ist (Schlichting 2004 und 2006). Bei solchen Bildern auf feuchtem Sand oder Fliesenfußboden ist das Spiegelbild deutlich kleiner als der Schatten, da es sich den Reflexionsgesetzen zufolge “hinter” der Spiegelfläche befindet, während der Schatten “auf dem Boden liegt”. Verwirrenderweise nennt man jedoch im Deutschen zwei durchaus verschiedene Phänomene “Schatten”, nämlich Körperschatten und Schlagschatten. Jede gründlichere Untersuchung muss daher diese beiden Arten von Schatten sorgfältig unterscheiden. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass jedes undurchsichtige Objekt, das von einer Lichtquelle beleuchtet wird, zugleich ein Hindernis für die Lichtstrahlen ist, so dass diese einige Teile des Objektes selbst und des dahinterliegenden Raumes nicht erreichen. Eine alltägliche Auswirkung dieser Zusammenhänge ist der Wechsel von Tag und Nacht: Die jeweilige Tagseite der Erde wird von der Sonne bestrahlt, während die Nachtseite im Erdschatten liegt. 2.1 Körperschatten Menschen orientieren sich vor allem visuell und leben daher in einer Welt, die von der Sonne und zahlreichen künstlichen Lichtquellen erleuchtet wird. Licht fällt meistens aus einer bestimmten Richtung ein, so dass die der Lichtquelle zugewandten Seiten von Objekten aufgehellt und ihre abgewandten Seiten verdunkelt werden. Diese Körperschatten, die man auch “Eigenschatten” oder “modellierende Schatten” nennt, befinden sich also auf dem Objekt selbst, lassen es plastisch hervortreten und sind darum die Voraussetzung für das dreidimensionale Sehen. Die Art der Lichtquelle spielt hierbei keine zentrale Rolle, sie kann natürlich oder künstlich sein, selbstleuchtend oder nur beleuchtet. Obwohl wir im Alltag diesen Körperschatten wenig Beachtung schenken, beeinflussen sie doch unsere visuelle Wahrnehmung stark, denn sie machen die Körperlichkeit von Objekten sichtbar und heben sie dadurch voneinander ab. Ein auffälliges Beispiel am Himmel sind die Mondphasen, die durch wechselnde Beleuchtung des Mondes durch die Sonne entstehen. Von der Erde aus gesehen wächst die beleuchtete Mondoberfläche von Neumond bis Vollmond und schrumpft danach wieder von der anderen Seite her. In vielen Bereichen simuliert man Körperschatten, um dem Betrachter die bei flächigen Darstellungen nicht vorhandene räumliche Tiefe vorzuspiegeln. Das bekannteste Beispiel ist die gegenständliche Malerei, welche die Körperschatten der abgebildeten Objekte konstruiert, indem sie sich auf Methoden der darstellenden Geometrie stützt. Zu ihren einschlägigen Techniken zählen Schraffur, Lavierung sowie Hell-Dunkel-Kontraste (zur Geschichte des Schattens in der abendländischen Malerei vgl. Gombrich 1996, zu kulturwissenschaftlichen Aspekten auch Baxandall 1998 und Casati 2001). Ganz ähnlich vermag die Kartographie durch sog. “Schräglichtschummerung” den plastischen Eindruck eines Gebirges zu erzeugen, indem sie dessen Beleuchtung durch eine imaginäre tief stehende Lichtquelle im Nordwesten simuliert. Die Typographie kennt sog. Dagmar Schmauks 66 “Schattenschriften”, die den Eindruck vermitteln, man habe plastische Buchstaben auf die Schreibfläche aufgesetzt, während die vom Namen her ähnliche Schattenstickerei tatsächlich erhöhte Buchstaben oder Muster erzeugt. Ein letztes Beispiel sind Testbilder, mit denen Augenärzte das räumliche Sehen ihrer Patienten überprüfen. Personen, die einwandfrei beidäugig sehen, unterscheiden leicht zwischen wirklich gewölbten durchsichtigen Scheibchen und gleichgroßen flachen Kreisen mit nur gezeichnetem Schattenwurf. Kleinen Kindern zeigt man eine plastisch wirkende “Stereofliege” und fordert sie auf, deren Flügel anzufassen. 2.2 Schlagschatten Die sog. “Schlagschatten” als zweite Schattenart setzen noch speziellere Rahmenbedingungen voraus. Zum einen muss die Lichtquelle stark genug und nahezu punktförmig sein wie etwa die Sonne oder ein Scheinwerfer. Zu ergänzen ist hier, dass außer Sonne und Mond auch die Venus einen schwachen Schatten wirft, insofern die Rahmenbedingungen ideal sind: günstige Venusphase, kein Mondlicht und keine Lichtverschmutzung durch Kunstlicht. Zum anderen muss sich hinter dem beleuchteten Objekt im sog. “Schattenraum” eine hinreichend glatte helle Projektionsfläche befinden. Im Idealfall einer nahezu senkrechten Projektionsfläche bildet der darauf entstehende Schatten den Umriss seines Urbildes so deutlich erkennbar ab wie ein Piktogramm, wohingegen auf schrägen Projektionsflächen stark verzerrte Schatten entstehen. Linguistisch interessant ist, dass wir das naturgesetzliche Entstehen von Schlagschatten wie eine aktive Handlung beschreiben: Syntaktisch gesehen besteht kein Unterschied zwischen “einen Ball werfen” und “einen Schatten werfen”. Da viele reale Lichtquellen nicht punktförmig sind, haben die von ihnen verursachten Schatten keine scharfen Grenzen. Vielmehr gibt es um den völlig lichtlosen Kernschatten herum noch einen Halbschatten, der etwas Licht erhält. Auch die totale Sonnenfinsternis als eine der auffälligsten und seltensten Himmelserscheinungen entsteht durch einen Schlagschatten, nämlich wenn der Mond die Sonne vollständig verdeckt. Von den Teilen der Erdoberfläche aus, über die sein Kernschatten dann hinwegfegt, sieht man für maximal einige Minuten eine völlig schwarze Sonnenscheibe und deren flammende Korona. Totale Sonnenfinsternisse beruhen also auf dem bemerkenswerten kosmischen Zufall, dass Sonne und Mond von der Erde aus gesehen nahezu dieselbe scheinbare Größe besitzen. Schlagschatten auf dem Boden sind mit ihren Urbildern fest verbunden, während bei Schlagschatten auf Wänden diese Verbindung fehlen kann. In beiden Fällen folgen sie jedoch allen Bewegungen ihrer Urbilder, was die Redensart “jemandem folgen wie ein Schatten” motiviert hat. Da sie zugleich dunkel und oft verzerrt sind, haben sie phantastische Erzählungen von körperlosen Doppelgängern angeregt, deren Schwärze deutlich sichtbar ihre Bosheit belegt. Falls mehrere Lichtquellen gleichzeitig vorhanden sind, entstehen entsprechend viele Schatten, die bei verschiedenfarbigen Lichtquellen auch farbig sein können. 3. Das kognitive Modell von Licht und Schatten sowie die Wortfamilie “Schatten” Als Grundlage für die folgenden Analysen wird zunächst das kognitive Modell von Licht und Schatten untersucht sowie speziell die deutsche Wortfamilie “Schatten”. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten ist eine sehr produktive Ursprungsdomäne für zahlreiche Redensarten. Allgemein gilt “Wo viel Licht, da viel Schatten”, denn sobald ein Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 67 plastisches Objekt von Licht beschienen wird, entstehen sowohl Körperals auch Schlagschatten. Dabei ist zu beachten, dass der Gegensatz <Licht vs. Schatten> nicht nur in einer Skala zwischen den Polen “hell” und “dunkel” anzuordnen ist, sondern auch eng zusammenhängt mit dem Gegensatz <warm vs. kalt>. Dies gilt vor allem für das natürliche Sonnenlicht, denn in der Sonne ist es hell und warm, im Schatten dunkler und kühler. Hier nicht vertieft behandelt werden die ästhetischen Qualitäten natürlicher Schatten, so tragen etwa ziehende Wolkenschatten erheblich zum Reiz von Landschaften bei. Wie bei vielen Faktoren unserer physischen Umgebung ist auch hier eine mittlere Ausprägung optimal (vgl. Schmauks 1998). Einschlägige deutsche Redewendungen entstammen unserem Leben in gemäßigten Breiten, wobei es natürlich von der aktuellen Wetterlage sowie von unseren Bedürfnissen abhängt, ob wir gerade Sonne oder Schatten bevorzugen. Einerseits gedeihen tagaktive Lebewesen nur bei Sonnenlicht und ausreichender Wärme, und langer Lichtmangel in der dunklen Jahreszeit kann bei Menschen sogar zu einer sog. “Winterdepression” führen. An kühlen Tagen frösteln wir im Schatten; das bayrische Adjektiv “schattig” bedeutet sogar eher negativ “unangenehm kühl”. Andererseits ist auch zuviel Sonne unangenehm, da sie blendet und unsere Haut knittern lässt. Sehr starke Sonnenbestrahlung kann Sonnenbrand oder Hitzschlag verursachen, und Personen mit einer sog. “Lichtallergie” ertragen UV-Licht kaum oder gar nicht. In österreichischen Gemeinden findet man oft die Wegnamen “Sonnseitweg” und “Schattseitweg”, so dass der Urlauber je nach Witterung und Vorliebe seine Wahl treffen kann. Wo die Sonne grell scheint, schätzt man schattenspendende Bäume, und ein Sprichwort warnt “Wenn der Baum gefällt ist, rühmt man seinen Schatten”. Alleen mit Bäumen auf beiden Seiten sind im Sommer Schattenspender und im Winter Orientierungshilfen. Napoléon Bonaparte ließ darum viele Heerstraßen mit schnellwüchsigen Pappeln bepflanzen, während man in der Nähe von Siedlungen Obstbäume bevorzugte, die zur Ernährung beitragen. In Franz Werfels Roman Der veruntreute Himmel hat die Magd Teta ein besonders feines Gespür für Baumschatten. Bei einem Besuch in ihrer mährischen Heimat rastet sie unter einem blühenden Birnbaum: Als treue Naturfreundin wußte sie genau zu unterscheiden zwischen Blätter- und Blütenschatten. Dieser ist dicht und voll und kühl und blauschwarz, und wer in ihm ausruht, gibt seine Seele der Erde zurück. Jener aber, den man nur selten genießt, der frühlingsflüchtige Schatten der Blütenbäume, ist dünn und zart und lichtdurchlässig und lila, und wer in ihm ausruht, dem wird eine träumerische Vorahnung des himmlischen Ruhestandes zuteil (Werfel 1965: 126). Auch im biologischen “Rüstungswettlauf” zwischen Jäger und Beute spielen Schatten eine wichtige Rolle. Die relative Dunkelheit von Baumschatten macht sie zu beliebten Verstecken, in die ein Beutetier aus dem offenen Land fliehen wird. Auch beim Menschen ist noch ein alter Instinkt wirksam, der uns beim Verlassen eines Waldes kurz verharren lässt. Er dient dazu, sich einen Überblick zu verschaffen, bevor man ins Sonnenlicht hinaustritt und für mögliche Feinde gut sichtbar wird. In lichten Savannen oder auf anderen hellen Böden geraten sogar Lebewesen mit perfekter Tarnfärbung in Gefahr, weil ihr Schlagschatten weithin sichtbar ist. Darum schmiegen sich Vogelküken in der sog. “Drückstellung” so eng an den Boden, dass gar kein Schatten entsteht. Tarnfärbungen wie die Flecken des Jaguars und die Streifen des Zebras ahmen die verwirrenden Muster nach, die Sonnenlicht in dichtem Laub entstehen lässt. Wo Bäume fehlen, hat man schon früh zahlreiche künstliche Schattenspender zur Abschirmung von zuviel Sonnenlicht erfunden. Markisen und Sonnenschirme erzeugen Schatten, während Sonnenbrillen und Lichtschutz-Textilien die einfallende Strahlung nur mildern. Viele Dagmar Schmauks 68 deutsche Bezeichnungen wie “Sonnencreme” und “Sonnenhut” drücken aus, dies seien Artefakte gegen zu starke Sonne, wohingegen andere Sprachen manchmal die umgekehrte Blickrichtung einnehmen und betonen, die Objekte würden Schatten erzeugen - man denke an englisch “umbrella” von lateinisch “umbra” und im Spanischen “sombrero” von “sombra”. Nicht hierher gehört allerdings der Name “Schattenmorellen” für eine Sauerkirschensorte. Er gilt als Verballhornung eines französischen Ortsnamens, denn angeblich stammen die Kirschen aus dem Dorf “Château de Moreilles”. Manche Mitglieder der Wortfamilie “Schatten” sind Übertragungen in andere Bereiche und daher weit entfernt von der ursprünglichen Bedeutung “Region ohne Lichteinfall”. Eine Gruppe eher technischer Ausdrücke bezeichnet die Tatsache, dass ein bestimmtes Phänomen, das sich gerichtet ausbreitet, durch ein Hindernis abgeblockt wird und daher das dahinterliegende Gebiet nicht erreicht. Hierher zählen vor allem “Windschatten”, “Regenschatten” (= windabgewandte Seite eines Gebirges), “Schallschatten” und “Funkschatten”. Weitere Ausdrücke wie “Augenschatten” und “Lidschatten” bezeichnen dunkle oder farblich abgesetzte Flächen. Die Ausdrücke “Blutschatten” und “Todesschatten” schließlich haben wenig sachlichen Gehalt, sondern sollen als Titel von Horrorfilmen und -romanen von vornherein eine gruselige Atmosphäre herstellen. Beim Durchleuchten komplexer Objekte sieht man die dichteren Strukturen als dunkle Flecke, die ebenfalls “Schatten” heißen. Im Animationsfilm Ratatouille (Brad Bird 2007) entdeckt der Küchenchef Skinner (! ! ) die Ratte Rémy in der Kochmütze ihres Freundes Linguini, als dieser an einer Lampe vorbeigeht. Auch um festzustellen, ob Eier angebrütet sind, reicht das Durchleuchten mit einer normalen Lampe, während man für genauere Prüfungen kürzere Wellenlängen benutzt. Bei Röntgenaufnahmen erscheinen Fremdkörper und Tumore auf dem Schirm (Positivbild) heller und auf dem Filmnegativ als sog. “Röntgenschatten” dunkler als das übrige Gewebe. Sicherheitskontrollen durchleuchten Personen und Gepäck, um Waffen zu entdecken, man denke an den umstrittenen “Körperscanner”. Alternativ kann man mit einer Terahertz-Kamera auch lediglich passiv die körpereigene Wärmestrahlung erfassen. Diese wird durch (verdächtige) Fremdkörper abgeschirmt, so dass die Aufnahmen an diesen Stellen farblich abgesetzte “Schatten” zeigen. Andere Phänomene werden zwar informell “Schatten” genannt, sind aber physikalisch gesehen gar keine Projektionsbilder. So ist bei einer neuen Frühwarn-Methode der Ausdruck “Tsunami-Schatten” nicht wörtlich aufzufassen. Tatsächlich dient nämlich nicht der Schlagschatten des dahinrasenden Wellenberges als dessen Anzeichen, sondern das aufgewirbelte Wasser hinter der Welle erscheint dunkler als das übrige Meer. Auf Satellitenbildern sieht es sofort nach Entstehen des Tsunami so aus, als folge ihm ein deutlicher Schatten: “The rougher water forms a long, shadow-like strip parallel to the wave and proportional to the strength of the tsunami. That shadow can be measured by orbiting radars and may one day help scientists improve early warning systems” (http: / / cires.colorado.edu/ news/ press/ 2009/ tsunamiShadow. html, Zugriff 1/ 2011). Charles S. Peirce hat Zeichen nach ihrem Objektbezug in indexikalische, ikonische und symbolische eingeteilt. Wenn man diese Klassifikation auf Schlagschatten anwendet, lässt sich als Zwischenbilanz und Vorschau folgendes feststellen. Schlagschatten sind immer indexikalisch, da sie kausal mit ihrem Urbild verknüpft sind. Gleichzeitig sind sie je nach den Beleuchtungsverhältnissen mehr oder weniger ikonisch; im Idealfall einer Parallelprojektion bilden sie den Umriss ihres Urbilds naturgetreu ab. In den folgenden Abschnitten wird sich zeigen, dass Schlagschatten mit vielen symbolischen Bedeutungen aufgeladen wurden, die sich besonders auf ihre Nicht-Abtrennbarkeit und Dunkelheit beziehen. Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 69 4. Schlagschatten als Wissensquellen Die verschiedenen Schattenarten sind für viele Wissensbereiche aufschlussreich. Astronomen entdeckten einige wichtige Tatsachen anhand von Schatten auf Himmelskörpern, so die Kugelgestalt der Erde (s. Abschnitt 4.1.4). Als Galilei ab 1609 den Mond mit einem Teleskop betrachtete, erkannte er dessen Krater und Gebirge anhand ihres Schattenwurfs. Die fast zeitgleich entdeckten Phasen der Venus boten ein wichtiges Argument gegen das alte geozentrische Weltbild, denn der wechselnde Eigenschatten ließ vermuten, die Venus kreise um die Sonne. Kunsthistoriker untersuchen, wie Schatten im Laufe der Geschichte auf Gemälden eingesetzt wurden, um Dreidimensionalität zu suggerieren (vgl. Gombrich 1996 und Baxandall 1998). Kognitionswissenschaftler hingegen beschäftigen sich damit, wie wir uns im Alltag anhand von Schatten orientieren und wie Kinder schrittweise die Gesetze des Schattenwurfs entdecken (vgl. Casati 2001). Die folgenden Teilabschnitte zeigen, inwiefern Schlagschatten als natürliche Anzeichen dienen (4.1), und welche zusätzlichen Zeichenfunktionen ihnen kulturspezifisch zugeschrieben werden (4.2). Eingestreute Zitate aus der erzählenden Literatur sollen belegen, dass die Zeichenfunktionen von Schatten auch von Schriftstellern sehr bewusst eingesetzt werden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Vor allem falls die Bewegungen von Schatten unheimlich wirken, versuchen wir möglichst schnell deren Ursache zu entdecken. Aufgrund früherer Erfahrungen wissen wir, dass sich mindestens eins der beteiligten Objekte bewegen muss, nämlich entweder • die Lichtquelle (Autoscheinwerfer lassen die Schatten von Alleebäumen wandern, jemand erkundet eine Tropfsteinhöhle mit einer Lampe) oder • das schattenwerfende Objekt (eine Fledermaus flattert an einer Straßenlaterne vorbei, jemand lässt seinen eigenen Schatten auf einer Wand tanzen) oder • der Hintergrund (Schatten auf einer gekräuselten Teichoberfläche oder auf einem wehenden Vorhang). Der Vergleich von Schatten und gegenständlichen Bildern ergibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide werden visuell wahrgenommen und sind zweidimensionale Darstellungen mit ikonischen Anteilen. Farblich ähneln Schatten am ehesten monochromen Piktogrammen, weil auch diese ihre Urbilder oft schwarz und in Parallelprojektion wiedergeben. Als deutlichster Unterschied sind künstlich erzeugte Bilder mehr oder weniger dauerhaft, während die flüchtigen Schatten mit dem Licht wechseln und keine Spuren hinterlassen. Oft wäre daher eine Technik wünschenswert, die Schatten zu fixieren erlaubt. Während Skizzen oder Scherenschnitte dies tatsächlich leisten (vgl. Abschnitt 4.2.1), ist der Wunsch eines Ermittlers im Kriminalroman Winterland von Åke Edwardson vermutlich unerfüllbar: Für einen Moment wünschte sich Winter hundert Jahre in die Zukunft, wo die Spurensicherung eine Technik erfunden hatte, Schatten von einem glatten Fußboden abzunehmen. Wie ein Negativ bei einer Fotografie. Jemand ging über den frisch gebohnerten Fußboden, und der Abdruck bliebe. Ein Negativ. Eine Fotografie (Edwardson 2005: 286f). 4.1 Naturgesetzliche Zeichenfunktionen von Schlagschatten Schlagschatten entstehen aufgrund optischer Gesetze und können daher ihrem Betrachter einiges über die Lichtquelle, das Urbild und den Hintergrund mitteilen. Bei Schlagschatten durch Sonnenlicht kommt hinzu, dass sie über Tages- und Jahreszeiten informieren. Dagmar Schmauks 70 4.1.1 Schlagschatten informieren über Ort und Art der Lichtquelle Da wir gelernt haben, dass Objekte auf der dem Licht zugewandten Seite heller erscheinen, stellen wir im Alltag mühelos fest, aus welcher Richtung das Licht einfällt. Bei indirekter Beleuchtung hingegen brauchen wir manchmal eine Weile, bis wir den Ursprung des Lichts lokalisiert haben. Wie in Abschnitt 2.2 skizziert, werden das Aussehen und die Bewegungen von Schlagschatten auch von der Art der Lichtquelle beeinflusst. Nur nahezu punktförmige Lichtquellen werfen scharf begrenzte Schatten, während sich bei diffusen Lichtquellen die Kontur des Abbilds in eine Zone von Halbschatten auflöst. Je dunkler der Schatten, desto stärker die Lichtquelle, ferner werden wir bei flackernden Schatten auf eine offene Flamme schließen und bei mehrfachen Schatten auf entsprechend viele Lichtquellen. 4.1.2 Schlagschatten beweisen, dass ihr Urbild materiell ist Nur lichtundurchlässige materielle Dinge können Lichtstrahlen abblocken und folglich einen Schatten werfen. So sehen wir die Schatten von Wolken nur darum, weil sie aus feinen Wassertröpfchen bestehen, oder aus Eiskristallen wie die Kondensstreifen von Flugzeugen. Regenbogen, Luftspiegelungen und Reflexe hingegen sind rein optische Phänomene und werfen daher keine Schatten. Möglich ist es jedoch, durch ein materielles zweidimensionales Abbild die Anwesenheit eines dreidimensionalen Objektes vorzutäuschen. Theaterkulissen etwa vermitteln den Eindruck, im Hintergrund der Bühne befänden sich Zimmerwände oder Straßenfluchten. Funktional ganz ähnlich kann man die Umrisse eines Monsters aus Pappe ausschneiden und diese Figur geschickt beleuchtet so aufstellen, dass ihr Schatten den Betrachter gruseln lässt. 4.1.3 Schlagschatten beweisen, dass der Hintergrund materiell ist Aus denselben optischen Gründen können nur materielle flächenhafte Gebilde als “Leinwände” für Schatten dienen. Ideal sind helle glatte Wände, wie man sie gezielt künstlich herstellt, aber auch entsprechende Felswände kommen in Frage. Ein seltenes und besonders beeindruckendes natürliches Schattenphänomen ist das sog. “Brockengespenst”. Man hat es nach dem nebelreichen Brocken im Harz benannt, wo es von Johann Esaias Silberschlag 1780 beobachtet und erstmals naturwissenschaftlich beschrieben wurde. Das Brockengespenst entsteht nur bei ganz besonderen Lichtverhältnissen. Wenn etwa ein Wanderer auf einem Gipfel steht, die Sonne hinter ihm durch eine enge Wolkenlücke scheint und sich gegenüber eine senkrechte Wolken- oder Nebelschicht befindet, wird darauf sein Schatten sichtbar. Dieser folgt nicht nur den Bewegungen seines Urhebers, sondern führt durch die Wolkenbewegungen auch ein unheimliches Eigenleben. Da der Betrachter seinen Abstand zur Wolkenwand nur schwer abschätzen kann, wirkt der Schatten monsterhaft riesig. Ferner scheint er zu schweben, weil er keinen Kontakt zum Erdboden hat. Im Film Die Truman Show (Peter Weir 1998) belegt ein Schlagschatten, dass der vermeintliche Himmel nur die Innenwand einer riesigen künstlichen Kuppel ist. Der Held Truman Burbank ist seit seiner Geburt die einzige spontan handelnde Person in der ansonsten vollständig inszenierten Stadt Seahaven, deren Ereignisse pausenlos in einem eigenen - und natürlich von Werbung durchsetztem - Fernsehkanal gesendet werden. Truman beginnt diese Simulation erst dann zu durchschauen, als ihm ein Scheinwerfer vor die Füße fällt, der einen Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 71 Abb. 1: Truman stellt fest, dass der vermeintliche Himmel nur ein Diorama ist (http: / / knol.google.com/ k/ the-truman-show, Zugriff 1/ 2011). Stern darstellte. Nach einigen weiteren Ungereimtheiten seiner Umgebung flieht er mit einem Segelboot, das bald gegen ein zunächst unsichtbares Hindernis stößt. Als Truman seine Hand danach ausstreckt, fällt deren Schatten auf die blau bemalte Innenwand der gigantischen “OmniCam-Ecosphere”, die sich als simulierter Himmel über seiner künstlichen Welt wölbt - und die er nun durch eine verborgene Tür verlässt. 4.1.4 Schlagschatten informieren über Ort, Anzahl und Gestalt von Objekten Schatten sind verräterisch, wenn sie den Ort eines versteckten Objektes erkennen lassen. Man denke an eine Person, die sich in einem lichten Wald so hinter einen Baumstamm stellt, dass dieser sie aus Blickrichtung eines Verfolgers verdeckt. Bei seitlich tief stehender Sonne wird sich aber ihr Schatten als auffällige Verdickung des Baumschattens abzeichnen (vgl. die “Drückstellung” in Abschnitt 3, die einen Schatten ganz vermeidet). Wenn gleichartige Objekte in einer Reihe stehen, verdeckt vom Anfang der Reihe aus gesehen das erste Objekt alle anderen. Werden sie jedoch seitlich beleuchtet wie etwa Alleebäume von der tief stehenden Sonne, so kann man sie anhand ihrer Schatten zählen. Im Idealfall lassen Schlagschatten die Gestalt und damit die Art von Objekten erkennen. Leni Riefenstahl filmte NS-Aufmärsche bevorzugt von oben, so dass die zum Hitlergruß erhobenen Arme scharfe Schatten auf den Boden zeichneten. Ganz ähnlich zeigt ein bekanntes Kalenderfoto eine Kamelkarawane bei Sonnenaufgang von oben. Die hellbraunen Tiere sind gegen den gleichfarbigen Sand kaum sichtbar, ihre Schatten hingegen bilden sie bis in feinste Details von Gepäck und Zaumzeug deutlich ab. Hierher gehört auch ein Argument für die Kugelgestalt der Erde, das bereits Aristoteles verwendete: Bei jeder Mondfinsternis wirft die Erde - unabhängig davon, wo der Mond steht - einen kreisbogenförmigen Schatten auf die Mondoberfläche, und nur eine Kugel sieht aus jeder Richtung wie ein Kreis aus. Ferner lässt sich aus der Krümmung des Kreisbogens schließen, die Erde müsse größer sein als der Mond. Das sog. “Streiflicht”, also ein sehr flacher Lichteinfall, erzeugt besonders deutliche Schatten und lässt unauffällige Höhenunterschiede hervortreten. Archäologen, die nach Überresten früherer Siedlungen suchen, machen darum Luftbildaufnahmen kurz vor Sonnenuntergang, um anhand sog. “Schattenmerkmale” fast eingeebnete Hohlwege und Grundmauern zu entdecken. Auch ein bisher unbekannter Saturnmond wurde 2009 von der Welt- Dagmar Schmauks 72 raumsonde Cassini nur entdeckt, weil die Sonne gerade günstig stand und der winzige Mond einen langen Schatten auf die Saturnringe warf. Ein kommerzieller Einsatz ist die schräge Beleuchtung von Fleischtheken, die Koteletts und Wurstscheiben deutlich dicker aussehen lässt. 4.1.5 Schlagschatten kündigen sich nähernde Objekte an Da Schlagschatten den Ort und die Gestalt ihres Urbildes verraten, können sie als dessen “Vorhut” auch ein sich näherndes Objekt ankündigen. Gombrich (1996: 56 und 59) analysiert in diesem Zusammenhang das Gemälde Kommende Ereignisse von William Collins (1833). Es zeigt einen Jungen an einem offenen Gatter, der zwar höflich grüßt, aber verlegen zur Seite blickt. Zur Erklärung dieser Szene muss der Betrachter einen Schatten im Vordergrund als Schatten eines Reiters interpretieren, obwohl man nur undeutlich die Schatten von Zaumzeug und Pferdeohren sieht. Nun erst lässt sich folgern, der Junge habe gerade das Gatter für seinen Gutsherrn geöffnet. Interessant sind hier die gegenläufigen Blickrichtungen von dargestellter Person und Bildbetrachter: Der Junge kann den Gutsherren direkt sehen, der Bildbetrachter nur dessen Schatten sowie das Verhalten des Jungen. Mit Schatten lassen sich leicht besonders unheimliche Wirkungen erzielen, da das nur undeutlich Geahnte die Phantasie oft viel stärker anregt als das deutlich Sichtbare. So vermag der Kunstgriff, in Kriminalfilmen nur die Schatten von Gefahren zu zeigen, auch heute noch Betrachter in Schrecken zu versetzen, obwohl er filmhistorisch längst abgegriffen ist. Das bekannteste Beispiel ist die oft zitierte Duschszene aus Psycho (Alfred Hitchcock 1960), in der man nur den Schatten des zustoßenden Messers sieht. Ein Vorläufer ist Fritz Lang, der in Dr. Mabuse, der Spieler (1921/ 22) ebenso wie in M - Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) von Bösewichtern ganz gezielt zunächst nur deren Schatten sehen lässt. Diese dienen jeweils als visuelle Variable, die der Betrachter mit seinen ganz persönlichen Angstauslösern füllen soll. 4.1.6 Schlagschatten messen Tages- und Jahreszeiten Die Geschichte der Zeitmessung begann mit der Beobachtung, dass die Sonne im Tages- und Jahresablauf in vorhersehbarer Weise über den Himmel wandert. Sie geht im Osten auf, wandert auf der Nordhalbkugel im Uhrzeigersinn und steigt dabei höher, steht mittags hoch im Süden, sinkt wieder tiefer und geht schließlich im Westen unter. Obwohl wir heute wissen, dass diese Sonnenbewegung nur scheinbar ist und durch die Drehung der Erde um sich selbst verursacht wird, sehen und beschreiben wir weiterhin einen “Sonnenaufgang”. Unmittelbare Fixpunkte der Zeitmessung sind Sonnenaufgang und -untergang, weitere Zeitangaben erfordern mehr Aufwand. Da man Stellung und Höhe der Sonne ohne Hilfsmittel nur schwer feststellen kann, orientierte man sich schon früh an den Schlagschatten etwa von freistehenden Bäumen. Weil sie mit der Sonne wandern und ihre Länge verändern, lässt sich an ihnen grob die Tageszeit ablesen, vor allem der Mittag als Zeit des kürzesten Schattens. Lokal ebenso wichtig sind einprägsame Zeitangaben des Typs “wenn der Schatten der Eiche auf das Haus fällt”. Später verwendete man statt Bäumen stabförmige Objekte (griechisch “gnomon” = Schattenzeiger), die exaktere Messungen erlaubten. Als weitere Fixpunkte erhält man nun die beiden Tageszeiten, an denen dieser Gnomon und sein Schatten gleich lang sind. Durch ständige Aufzeichnung der im Jahresverlauf wechselnden Schattenlängen lassen sich die Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 73 beiden Sonnwenden exakt ermitteln. Sonnenuhren nutzen dieselben Gesetzmäßigkeiten, und auch die analoge Uhr hängt noch mit dem scheinbaren Sonnenumlauf zusammen. Weil ihr Zifferblatt die wahrgenommene Erdscheibe abbildet und der Weg des kleinen Zeigers das Wandern der Sonne, lässt sich die Uhr als Kompass benutzen, der zumindest grob die Himmelsrichtungen angibt: Wenn man den kleinen Zeiger auf die Sonne richtet, zeigt die Winkelhalbierende zwischen ihm und der Ziffer “12” nach Süden. Nur wer diese Gesetzmäßigkeiten kennt, vermag falsche Simulationen aufzudecken. So wurde bereits im Erscheinungsjahr von Dr. Mabuse (1922) in einer “Technischen Filmkritik” bemängelt, dass während des nächtlichen Gesprächs im Gefängnis der Schatten des Gitters von rechts nach links über die Wand wandert, obwohl der Mond (wie alle Himmelskörper) scheinbar andersherum wandert (von H.P., in: Kinotechnische Rundschau des Film-Kurier, Beilage zu Nr. 100, 5.05.1922. http: / / www.beepworld.de/ members97/ stummfilm-fan_kritikmabuse/ , Zugriff 1/ 2011). 4.2 Weitere Zeichenfunktionen von Schlagschatten Ging es in den bisherigen Teilabschnitten um naturgesetzliche Zeichenfunktionen, so entstehen einige weitere Zusammenhänge erst durch menschliche Handlungen oder sind rein spekulativ. Zu beachten ist, dass vor Erfindung des elektrischen Lichts alle künstlichen Lichtquellen (Kienspäne, Fackeln, Kerzen usw.) flackerten, also keine statischen und scharf umrissenen Schatten warfen. 4.2.1 Schlagschatten sind die ursprünglichste Form der Malerei Einer von Plinius überlieferten Legende zufolge entstand das erste Gemälde durch Fixierung eines Schlagschattens: Ein Mädchen zeichnete den Schatten seines Liebsten an der Wand nach, um nach dessen Aufbruch in die Ferne ein bleibendes Andenken zu haben (vgl. Gombrich 1996: 34ff). Der naturgesetzlich entstehende und flüchtige Schatten wird also durch eine Produktionshandlung in etwas Künstliches und Dauerhaftes verwandelt, nämlich in einen sog. “Schattenriss”. Um das Problem zu umgehen, dass auch die Hand des Zeichners einen Schatten wirft, der die Silhouette des Porträtierten überlagert, erfand man im 18. Jahrhundert das ausgeklügelte Verfahren des Scherenschnitts. Hier lässt man den Schatten des Modells auf transparentes Papier fallen, zeichnet ihn auf dessen Rückseite nach und überträgt ihn auf schwarzes Papier. Ein Beleg für die damalige Beliebtheit dieser Scherenschnitte ist die wichtige Rolle, die Lottes Portrait in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther spielt. Ferne Nachfahren beider Methoden sind heutige Piktogramme auf Verkehrsschildern. Auch hier wird jeweils der informativste Blickwinkel gewählt: Während man eine Tasse in Seitenansicht wiedergibt, damit der charakteristische Henkel zu sehen ist, lässt sich ein Zifferblatt nur in der Draufsicht erkennen. 4.2.2 Schlagschatten enthüllen den wahren Charakter von Menschen Wenn begabte Künstler eingreifen, verraten Schatten sogar den ansonsten sorgsam verborgenen Charakter von Menschen. So porträtierte der französische Karikaturist Grandville 1830 in seiner Zeichnung Die Schlagschatten (Les ombres portées) vier französische Kabinetts- Dagmar Schmauks 74 Abb. 2: Jean Grandville: Die Schlagschatten (Ausschnitt aus Gombrich 1996: 64). mitglieder und manipulierte deren Schatten so, dass sie ihre Urbilder als feisten Truthahn, als Schwein, als Teufel und als Säufer erweisen. Ein modernes Beispiel ist das Plakat des Kinofilms Fasten auf Italienisch (Olivier Baroux 2010). Hauptperson ist Dino Fabrizzi, der seine arabische Herkunft verleugnet und sich als Italiener ausgibt. Auf dem Plakat hat sein Schatten eine auffällig lange Nase und entlarvt ihn dadurch als notorischen Lügner - man erinnere sich an die Kinderbuchfigur Pinocchio, deren Nase nach jeder Lüge ein Stück länger wird. Abb. 3: Der Schatten als Verräter (http: / / www.moviepilot.de/ movies/ fasten-auf-italienisch, Zugriff 1/ 2011). Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 75 Abb. 4: Unterhaltung für Hasenkinder (aus dem Artikel “Schattentheater” des Figurentheaters Vagantei Erhardt, www.vagantei-erhardt.de, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frieder Paasche). 4.2.3 Schlagschatten suggerieren die Anwesenheit eines bestimmten Objektes Die optischen Gesetzmäßigkeiten des Schattenwurfs sind auch Grundlage der verschiedenen Formen von Schattenspiel und Schattentheater. Im einfachsten Fall konfiguriert und bewegt man die eigenen Hände so vor einer Lichtquelle, dass ihre Schatten an der Wand zum Beispiel wie der Schatten eines Hasen aussehen. Dieser beweist zwar, dass sein Urbild (also die Hände! ) materiell ist, aber die sichtbare Form ist eine gezielte und möglichst naturgetreue Vorspiegelung. Die folgende Zeichnung nimmt einmal die umgekehrte Perspektive ein, denn hier simuliert ein Hase mit vollem Körpereinsatz eine Menschenhand. Das Schattentheater erlaubt Effekte, die im normalen Theater so nicht möglich sind (vgl. Paasche o.J.). Die Figuren können “aus dem Nichts” auftauchen, sich verdoppeln, sich in alle Richtungen verzerren oder ihre Größe ändern, indem man den Abstand zwischen Urbild und Leinwand variiert. Halogenglühlampen machen die Dramaturgie noch flexibler, da nun auch die Lichtquellen beweglich sind, und den entstehenden Schatten kann man durch Brechung oder Polarisation beliebige Farben verleihen. Aber auch mit statischen Mitteln lassen sich raffinierte Illusionen schaffen. Ein Wandbild des italienischen Künstlers Fabrizio Corneli besteht aus scheinbar wahllos angeordneten Blechstreifen, deren Schatten jedoch bei bestimmtem Sonnenstand zusammen ein Frauenprofil ergeben (art 10/ 1997: 12). Alle genannten Strategien lassen sich natürlich auch einsetzen, um andere zu täuschen. So vermag eine ausgeschnittene Silhouette hinter einem Vortrag zumindest kurzfristig die Anwesenheit einer Person vorzuspiegeln (vgl. Abschnitt 4.1.2). 4.2.4 Schlagschatten beweisen, dass ihr Urbild ein natürliches Wesen ist In Mythen und Märchen unterscheiden Schlagschatten zwischen natürlichen und übernatürlichen Wesen, denn Vampire, Dämonen und Geister besitzen weder Schatten noch Spiegelbilder. Da also das Fehlen eines Schattens grundsätzlich verdächtig ist, wird Peter Schlemihl in Chamissos gleichnamigem Roman (1814) aus der Menschenwelt ausgestoßen, nachdem er dem Teufel seinen Schatten verkauft hat. Ebenso gruselig wie ein Wesen ohne Schatten wäre natürlich die umgekehrte Abkopplung, also ein Schatten ohne erkennbares Urbild, oder einer, der in die falsche Richtung fällt. Dagmar Schmauks 76 5. Schatten in Redensarten und Metaphern Die aufgelisteten Eigenschaften von Schatten spiegeln sich in zahlreichen Redensarten und Metaphern, die sich in überlappende Themenkreisen ordnen lassen. Weil Werbung und Cartoons diese Zusammenhänge aufgreifen und mit ihren je spezifischen Mitteln “ins Bild setzen”, seien als Grundlage der Detailanalysen in den Abschnitten 6 und 7 hier die wichtigsten Themenkreise skizziert. 5.1 Schatten = Zeitmesser Schatten als reale Zeitmesser kommen in Redensarten selten vor, vielleicht weil wir unsere Tage kaum noch anhand von Sonnenuhren gliedern und planen. So bedeutet die Wendung • die Schatten werden länger in der Regel nicht, dass es nun draußen Abend wird, sondern dass am “Lebensabend” einer Person die “Schatten des Todes” immer näher kommen (vgl. Abbildung 15 in Abschnitt 7.3). Sie gehört zu einem wohl strukturierten Metaphernkomplex, der das individuelle Leben mit dem Ablauf eines Tages vergleicht, der mit der “Morgenröte der Jugend” beginnt und in “Umnachtung” endet. Eine klassische Visualisierung der Alterstufen ist die sog. “Lebenstreppe”, auf der man die Stufen von der Kindheit bis zur Reife hinaufsteigt und beim Altern wieder hinab bis auf Ausgangsniveau. Diese Veranschaulichung wiederum ähnelt der Bahn, welche die Sonne täglich scheinbar beschreibt - der auf- und absteigende Bogen erweist sich als sehr allgemeine visuelle Metapher. Falls auch ganze Kulturen aufsteigen und untergehen, erleben auch sie den Auf- und Untergang der Sonne wie in einem pessimistischen Spruch von Karl Kraus • Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten. 5.2 Schatten = Unglück Zahlreiche Ausdrücke und Redensarten kodieren die Zusammenhänge zwischen Licht und Wärme als physikalischen Faktoren einerseits und dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden andererseits. Die Rede von einem Leben “auf der Sonnenbzw. Schattenseite” hat einen ganz handfesten Ursprung, denn in enge Täler fällt im Winter oft monatelang kein Sonnenstrahl. Ein extremes Beispiel war das Dorf Viganella im Piemont mit 83 völlig sonnenlosen Tagen im Jahr. Seit Dezember 2006 lenkt ein 40 qm großer und elektronisch gesteuerter Spiegel auf einem Hang genügend Sonnenlicht so um, dass zumindest der Marktplatz auch in den dunklen Monaten beleuchtet und erwärmt wird. In Technik und Stadtplanung muss man oft wissen, welche Flächen zu welchen Zeiten im Schatten liegen. Computerprogramme wie Sombrero (Universität GHS Siegen, Fachgebiet Bauphysik und Solarenergie) berechnen etwa, welche Dachflächen zu welchen Tageszeiten von Nachbargebäuden, Bäumen oder natürlichen Anhöhen verschattet werden (http: / / nesa1. uni-siegen.de/ index.htm? / softlab/ sombre.htm, Zugriff 1/ 2011). Eine wichtige Anwendung ist die Suche nach Flächen, die sich am besten als Standort für Solarzellen eignen. Diese Wichtigkeit von Licht und Wärme wird systematisch in die Gefühlswelt übertragen (ausführlich in Schmauks 1998). Besonders deutlich bezeichnet das Adjektiv “heiter” Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 77 gleichermaßen Wetterlagen und Stimmungen. Positive Formulierungen sind “helle Freude”, “sonniges Gemüt” und “keine Wolke trübt ihr Glück”, negative hingegen “schwarz sehen”, “verdüstertes Gemüt” und “Seelenfinsternis” als volkspsychologischer Name der Depression. Spontan verstehen wir daher auch metaphorische Übertragungen wie • auf der Schattenseite des Lebens stehen • ein Schatten fällt (liegt) auf jemandes Glück • die Schatten der Vergangenheit holen jemanden ein • verschattetes (= unglückliches) Gemüt 5.3 Schatten = Einflussbereich einer Person Ein eng verwandter Themenkreis ist der Schatten, der jemand auf einen anderen Menschen wirft - man erinnere sich, dass “werfen” meist absichtliche Handlungen bezeichnet (vgl. Abschnitt 2.2). Dies kann ganz realistisch gemeint sein, denn wer etwa in Tokio ein neues Haus baut, muss alle Personen entschädigen, die fortan in dessen Schatten leben. Einer antiken Anekdote zufolge hat Alexander der Große den Philosophen Diogenes nach dessen größtem Wunsch gefragt, woraufhin dieser antwortete: “Geh mir aus der Sonne! ” Neben der schroffen Lesart, Alexander möge schleunigst verschwinden, damit Diogenes wieder in der Sonne liegen könne, gibt es die viel weiter reichende, dass der bedürfnislose Weise seine Verachtung für Ruhm und Besitz ausdrücken wollte. Wer im Schatten einer Person steht, der wird von dieser beeinträchtigt, am Wachstum gehindert oder unsichtbar gemacht. Zahlreiche (auto-)biographische Texte untersuchen das Leben von Söhnen, die im Schatten eines dominanten Vaters aufgewachsen sind. Entsprechende Redensarten beschreiben ausgewogen die Perspektiven von beiden Beteiligten. Der “Täter” kann • jemanden in den Schatten stellen oder • seinen Schatten auf etwas werfen, woraufhin sein “Opfer” • in jemandes Schatten lebt, • insgesamt ein Schattendasein führt, oder aber • (schließlich) aus jemandes Schatten heraustritt. 5.4 Schatten = Vorzeichen sich nähernder Objekte Da man manchmal einen Schatten früher sieht als sein Urbild (vgl. Abschnitt 4.1.5), ist die Redensart “etwas wirft seinen Schatten voraus” sachlich gut motiviert. Interessant ist hierbei die Raumkonstruktion des kognitiven Modells, denn damit ein künftiges Ereignis seinen Schatten in die Gegenwart werfen kann, muss das Licht von ihr aus gesehen “hinter” diesem Ereignis in noch fernerer Zukunft scheinen. In seiner Novelle Unterm Birnbaum (1885) stellt Theodor Fontane seelische Regungen mit Hilfe bewegter Schatten dar. Gastwirt Hradscheck hatte mit Hilfe seiner Frau einen Handlungsreisenden umgebracht, bei dessen Firma er hohe Schulden hatte. Nach dem Tod seiner Frau saß er an deren Sterbebett und “starrte vor sich hin, während allerlei Schatten an Wand und Decke vorüberzogen” (1985: 526). Das Verb “vorüberzogen” ist sachlich auffällig, da man im ersten Stock nur die Schatten windbewegter Zweige sehen könnte, die sich “hin- Dagmar Schmauks 78 und herbewegen”, aber nicht “vorüberziehen”. Wie sehr oft bei Fontane hat eine unscheinbare Formulierung einen Doppelsinn, denn auf seiner innerpsychischen Bühne sieht Hradscheck nicht nur die Schatten seiner Schuld, sondern es wirft auch die drohende Aufdeckung des Mordes ihre Schatten voraus. 5.5 Schatten = nicht abtrennbar Weil Schatten naturgesetzlich entstehen und daher von ihrem Urbild nicht abtrennbar sind, fasste man sie früher als dessen Teil auf. Schatten wirken belebt, weil sie uns je nach Beleuchtung vorauseilen oder folgen. Wenn man das Verb “verfolgen” wählt, wird der bedrohliche Eindruck sprachlich noch deutlicher. Aus diesem engen Zusammenhang leiten sich einige magische Vorstellungen und Praktiken ab. Der griechische Arzt und Pharmakologe Pedanios Dioscurides (1. Jh.) nahm an, Eiben seien so giftig, dass sogar der Aufenthalt in ihrem Schatten tötet. Umgekehrt berichtet eine christliche Legende, der Schatten des Heiligen Petrus habe einen Krüppel geheilt (vgl. Trauzettel 2000: 188). Diese Szene hat der italienische Maler Masaccio (1401-1428) in seinem Fresco Die Schattenheilung von Petrus (1426/ 27) dargestellt. Folgerichtig bestand ein früherer Schadenszauber darin, auf den Schatten der verhassten Person zu spucken, und indische Brahmanen müssen sich reinigen, wenn der Schatten eines Unberührbaren auf sie gefallen ist. Zu diesem Themenkomplex gehören neben dem “Kurschatten” (als ständige Begleitung eines Kurenden) auch die Redensarten • jemandem folgen wie ein Schatten • jemanden beschatten (als kriminologischer Fachausdruck) • nicht über seinen Schatten springen können Wer Schatten als Teil der Person auffasst, kann die Vereinigung zweier Schatten als erotische Handlung oder gar als Vorwegnahme einer realen Beiwohnung sehen. Hermann Kasack verwendet dieses Motiv in seinem Roman Die Stadt hinter dem Strom. Er beschreibt die Erlebnisse von Robert Lindhoff, der als Chronist in eine rätselhafte Stadt berufen wurde, die er erst spät als Totenstadt erkennt. Dort haben alle Personen hellere Schatten als der lebende Robert, so dass der Tod optisch ein “Verbleichen” bewirkt. Robert bemerkt diesen Unterschied erst, als sein Schatten den seiner früheren Geliebten Anna überlagert, und erforscht das seltsame Phänomen genauer. [Robert] senkte behutsam seine Handflächen in einer schrägen Linie, so dass ihre tiefere Dunkelheit deutlich über den Schoß ihres Körperschattens glitt (Kasack 1979: 89). Diese Vereinigung der Schatten nimmt bereits die spätere Beiwohnung vorweg, bei der die beiden einander nicht nur im biblischen Sinn erkennen. Anna entdeckt schlagartig, dass Robert als einzige Person der Totenstadt noch lebt, und umgekehrt er, dass er eine Tote in seinen Armen hält (ebenda 257). 5.6 Schatten = unwirklich Bei schlechten Sichtverhältnissen nehmen wir Objekte nicht klar und deutlich, sondern nur “schattenhaft” wahr. Noch stärker ist der Erkenntnisverlust, wenn man statt der Dinge selbst Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 79 nur deren Schatten sieht. In seinem oft zitierten Höhlengleichnis beschreibt Plato eine Gruppe von Menschen, die in einer Höhle mit dem Rücken zu einem Feuer festgebunden sind. Hinter ihnen werden allerlei Objekte vorbeigetragen, von denen sie nur die Schatten an der Höhlenwand sehen. Da die Gefangenen ausschließlich Schatten kennen und diese für Objekte halten, benutzt Plato sie als Gleichnis für seine Ansicht, die irdischen Dinge seien nur unvollkommene Abbilder der ewigen und vollkommenen Ideen. Da die Objekte selbst immer informativer sind als ihre Schatten, wirkt deren Bevorzugung zumindest erklärungsbedürftig. In seiner Erzählung Tristan beschreibt Thomas Mann den exzentrischen und eigenbrötlerischen Schriftsteller Detlev Spinell, der nach einem Morgenspaziergang davon schwärmt, welch tiefen Eindruck vom “verwischten Schatten” einer Frau er mit sich fortgenommen habe. Eine Kurbekanntschaft fragt ihn neckend, ob das seine Art sei, schöne Frauen zu betrachten. Ja, gnädige Frau, und es ist eine bessere Art, als wenn ich ihnen plump und wirklichkeitsgierig ins Gesicht starrte und den Eindruck einer fehlerhaften Tatsächlichkeit davontrüge (Mann 1971: 181). Wegen ihrer Körperlosigkeit dienen Schatten in der Metaphorik dazu, unbegründete Ängste, Illusionen, Unwissenheit, Vergeblichkeit und andere “Unwirklichkeiten” auszudrücken: • einem (dem eigenen) Schatten nachjagen • um den Schatten eines Esels streiten • sich vor seinem eigenen Schatten fürchten (= unbegründet) • nur noch ein Schatten seiner selbst sein (= körperlich verfallen) • nicht den Schatten einer Ahnung haben Da ein Schatten kein wirkliches Hindernis sein kann, liefert er eine absurde Beschreibung besonders auffälliger Ungeschicklichkeit: • über seinen eigenen Schatten stolpern Ähnlich dumm ist es, Schatten als vermeintliche Schmutzflecke wegputzen zu wollen (vgl. Abschnitt 7). Vor allem im Barock verwendeten alle Künste stark konventionalisierte Vanitas-Symbole, die den Betrachter an die Kürze des Lebens und die Vergänglichkeit aller Dinge mahnen sollten. Während Schädel, Sanduhren, Schneckenhäuser, geknickte Ähren und verwelkte Blüten vergleichsweise realistisch motiviert sind, galten Schatten ebenso wie Spiegelbilder und Echos ebenfalls als Zeichen von Vergänglichkeit, weil sie immateriell sind. Der Extremfall von Unwirklichkeit ist dann der optisch unmögliche “Schatten eines Schattens”. 5.7 Schatten = dunkel oder verzerrt = unheimlich Ein letzter Themenkreis ist die Dunkelheit von Schatten. Weil Menschen tagaktive Wesen sind, die sich überwiegend visuell orientieren, kann noch heute ein plötzlicher Stromausfall in unbekannter Umgebung uraltes Entsetzen auslösen. Diese Angst vor Dunkelheit ist sachlich gut begründet und reicht weit in die Stammesgeschichte zurück. Dunkle Kellerwinkel, trüb beleuchtete Gassen und der nächtliche Wald sind typische Gruselorte und folglich beliebte Versatzstücke der Horrorliteratur (vgl. Schmauks 2007). Die ohnehin dunklen und strukturlosen Schatten wirken besonders beängstigend, wenn sie sich verdächtig bewegen oder stark verzerrt sind. Hierher zählt der “Schwarze Mann” als weit verbreitete Kinder- Dagmar Schmauks 80 schreckfigur, und die Psychiatrie kennt neben der allgemeinen Angst vor Dunkelheit (“Nyktophobie”) sogar eine krankhafte “Sciaphobie”. Unheimliche und bösartige Wesen handeln oft in der Nacht, wo man sie zu spät sieht, und auf Vampire wirkt Sonnenlicht sogar tödlich. Eine Ausnahme im Panoptikum der Schreckfiguren ist die Mittagshexe, die erscheint, wenn die Sonne am höchsten steht und die Dinge am wenigsten Schatten werfen (in der Antike war dies die “Stunde des Pan”). In der griechischen Antike bezeichnete man das Totenreich als “Reich der Schatten” und nahm an, die Verstorbenen würden beim Eintritt aus der Lethe trinken, dem Fluss des Vergessens. Fortan existieren sie ohne Erinnerungen an ihr irdisches Leben als körperlose Schatten an einem unterirdischen und lichtlosen Ort weiter, der ebenso wie sein Herrscher “Hades” genannt wird. Er ist jedoch nicht als Ganzes mit der christlichen Hölle gleichzusetzen, vielmehr ist nur der Tartaros als tiefster Teil des Hades ein Strafort, an dem Frevler wie Sisyphos und Tantalos ewige Qualen erleiden. Schatten werden also gern benutzt, um die dunklen Seiten von Welt und Ich zu beschreiben (vgl. auch die Stimmungsausdrücke in Abschnitt 5.2): • sich vor seinem eigenen Schatten fürchten (= überängstlich sein) 5.8 Schatten = schwarzer Doppelgänger Die aufgelisteten Themenkreise überschneiden einander natürlich. Wenn man das Unheimliche des Schattens zugleich mit seiner Unabtrennbarkeit betont, entsteht die Figur eines “schwarzen Doppelgängers” oder “bösen Zwillings”, der ein dämonisches Eigenleben führt. Sehr beliebt war dieses Doppelgängermotiv in der Schwarzen Romantik, man denke an E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1815/ 16). Noch berühmter wurde Robert Louis Stevensons Novelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886). Der Arzt Jekyll hat ein Elixier hergestellt, das in der menschlichen Seele das Gute vom Bösen scheidet. Im Selbstversuch spaltet sich das bisher unterdrückte Böse als eigenständige Person (Mr. Hyde) von Jekyll ab, emanzipiert sich immer mehr und begeht eine Serie grausamer Morde. Da Jekyll befürchtet, er könne sich irgendwann nicht mehr zurückverwandeln, bringt er sich um. Stephen Kings Horror-Roman Stark - The Dark Half (1989) erzählt eine ganz ähnliche Geschichte, hier wird das erfolgreiche Pseudonym eines mittelmäßigen Schriftstellers lebendig, mordet ebenfalls und kann nur durch magische Mittel besiegt werden - nämlich durch einen riesigen Schwarm von Sperlingen, die Stark töten und ins Jenseits bringen. Trakls Gedicht Der Schatten beschreibt den “gewaltig verzerrten” Schatten gar als etwas Nicht-Menschliches, nämlich als “wunderlich Tier”, das dem Dichter durch einen prachtvollen Frühling voller Blüten und Vogelgesang folgt. Noch unheimlicher wird der “dunkle Doppelgänger” in Gegenwart mehrerer Lichtquellen, denn dann entstehen auch mehrere - meist unterschiedlich stark verzerrte oder gar verschiedenfarbige - Schatten. Wegen dieser negativen Aufladungen bezeichnet der Ausdruck “Schatten” in der Psychoanalyse oft das Unbewusste oder Es als denjenigen Teil einer Person, der vom bewussten Ich unterdrückt wird. Bei Carl Gustav Jung ist der Schatten einer der wichtigsten Archetypen. Er steht für die sozial unerwünschten Züge der Persönlichkeit, die zwar ins Unbewusste verdrängt worden sind, dort aber lebendig bleiben und in Träumen wirksam werden. Ein Pendant im Alltag ist der Ausdruck “einen Schatten haben” als Euphemismus für “verrückt sein”, denn der Sprecher denkt hierbei an die nachtfinstere Seite des Ich, die man ebenso wie seinen Schatten nicht loswerden kann. Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 81 Abb. 5: Der Kampf gegen einen allzu selbstständigen Schatten (Werbeplakat von Chanel). 6. Schlagschatten in der Werbung Werbeanzeigen für Produkte oder Dienstleistungen müssen als erstes die Aufmerksamkeit des potentiellen Betrachters erregen, damit dieser sie überhaupt beachtet. Die beiden wichtigsten Mittel des Blickfangs sind Bild und Schlagzeile. Da wir in einer von Bildern überfluteten Welt leben, muss das Bild jedoch etwas sehr Ungewöhnliches zeigen, um aus der Fülle konkurrierender Nachrichten herauszustechen. Dieser Abschnitt stellt beispielhaft einige Werbeanzeigen vor, in denen ungewöhnliche Schatten den Blick fesseln sollen. 6.1 Schlagschatten führen ein Eigenleben Wir gehen ohne Nachdenken davon aus, dass unsere Schatten uns überallhin folgen. Eine Anzeige der Telekom von 1999 setzte genau diese Eigenschaft ins Bild und bewarb eine persönliche Servicenummer mit dem Slogan “Manche Dinge begleiten Sie ihr Leben lang”. Das Bild zeigte eine gehende männliche Person, der ihr Schatten folgt. Der Text erläuterte, es sei der Schatten als nicht abtrennbarer Teil der Person gemeint: “Eine lebenslängliche Service 0700 Nummer ist wie ein Teil von Ihnen”. Einige andere Werbeanzeigen hingegen verletzen diese Grundannahme ganz gezielt, indem sie als starken Blickfang bewegte Schatten mit einem unerwarteten Eigenleben benutzen. In einer Anzeige für das Herrenparfum “Égoïste” von Chanel kämpft ein Mann mit Faustschlägen gegen seinen Schatten, der das Flakon offenbar selbst benutzen wollte. Auf einer Anzeige für den “PowerBar” der Firma Nestlé joggt eine Frau sportlich dahin, während ihr gebeugter und offensichtlich völlig erschöpfter Schatten weit zurückgeblieben ist. Hier hat der Schatten einen Augenblick der Vergangenheit fixiert, bevor der Verzehr des “Energieriegels” der Joggerin neue Kraft verlieh. Dagmar Schmauks 82 Abb. 6: Zwischen Euphorie und Abgrund (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Initiative Schattenkampf/ AstraZeneca Deutschland). Abb. 7: Die Sau und ihre Schatten (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der EWM Euro Werbe- und Marketing Gmbh Pinneberg). Noch eigenständigere Schatten zeigt die Initiative “Schattenkampf”, um über die Symptome und Behandlungsmöglichkeiten bipolarer Störungen zu informieren. Die dargestellten Personen ducken sich und bergen ihre Gesichter in den Händen, visualisieren also die depressiven Phasen der Erkrankung. Ihre Schatten an der Wand hingegen stellen dieselben Personen in einer manischen Phase dar, wo sie mit Imponiergehabe und exaltierten Bewegungen aufzufallen suchen. Plakative Überschriften wie “Zwischen Euphorie und Abgrund” drücken dieselben Gegensätze sprachlich aus. 6.2 Schlagschatten beeinträchtigen etwas Der Farb-Laserdrucker “Color Pagepro” von Minolta wurde 1999 mit der Schlagzeile “Sein Preis stellt alle in den Schatten” beworben. Das Bild zeigt einen Drucker und darüber ein großes Preisschild, dessen Schatten auf einige andere Drucker fällt. Visualisiert wird also die negative Wirkung des Schattens, wie sie von Wendungen wie “ein Schattendasein führen” beschrieben wird. 6.3 Schlagschatten als Vorzeichen Eine Werbeanzeige für Schweinefutter der Firma Schaumann enthält die Aufforderung bzw. das Versprechen “Auf Leistung füttern”. Das Bild zeigt eine dralle Sau, die durch ihre Haltung und Mimik ausdrückt, dass sie gesund und zufrieden ist. Der Schattenwurf stellt klar, dass “Leistung” hier gleichzusetzen ist mit “Fruchtbarkeit”, denn neben dem Schatten der Sau wuseln etliche Schatten künftiger Ferkel herum. Dieser Blick in die Zukunft visualisiert also die Redensart “etwas wirft seine Schatten voraus” (vgl. Abschnitt 5.4). In einer direkten Lesart dient der Schatten hier als gutes Vorzeichen, das dem Käufer die Gesundheit und Fruchtbarkeit seiner Zuchtsäue verspricht. Durch die Verknüpfung von Schatten und Nachkommenschaft könnte man die Anzeige aber auch als witziges Zitat von Hochkultur sehen. In der 1919 in Wien uraufgeführten Oper Die Frau ohne Schatten (Richard Strauss und Hugo von Hof- Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 83 Abb. 8: Überschattete Idylle: Die lauernde Zecke (Österreichische Apothekenbroschüre). mannsthal) besitzt die Kaiserin als weibliche Hauptperson zunächst keinen Schatten - ein sichtbares Zeichen dafür, dass sie unfruchtbar ist. Erst im letzten Akt wirft sie plötzlich einen Schatten, und zwar ab dem Moment, in dem sie aus Mitleid darauf verzichtet, einer armen Frau deren Schatten abzukaufen. Im nächsten Beispiel hat der Schatten zwar ebenfalls die Funktion eines Vorzeichens, aber hier eines bedrohlichen. Eine Informationsbroschüre österreichischer Apotheken (Wien 2004) über die Gefahren durch Zecken zeigt auf dem Titelblatt zwei Kinder, die Hand in Hand eine Blumenwiese durchstreifen. Diese Idylle wird durch den menschengroßen Schatten einer Zecke im wörtlichsten Sinn “überschattet”. Die völlig unrealistischen Größenverhältnisse machen deutlich, dass ein winziger und oft völlig übersehener Parasit schwerwiegende Krankheiten auf den Menschen übertragen kann, nämlich FSME (= Gehirn(haut)entzündung) und Borreliose. Gerade weil die Zecke selbst unsichtbar bleibt, wird die Bedrohung durch eine unscheinbare Gefahr sehr realistisch ins Bild gesetzt. Dagmar Schmauks 84 Abb. 10: Berliner Pilsner und die “Bärlinale” (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Brauerei). Abb. 9: Küchenschweine werfen ihre Schatten voraus (Werbung von Ferrero). 6.4 Schatten enthüllen verborgene Eigenschaften Personen und Objekte werden durch leuchtet, um anhand entstehender Schatten etwas über ihr Inneres zu erfahren (vgl. Abschnitt 3). Es liegt nahe, dass die Werbung sich diese Funktion gerade bei solchen Produkten zunutze macht, deren Inhalt der Käufer von außen nicht erkennen kann. Das beste Beispiel sind die Schoko-Eier “Kinder Überraschung” der Firma Ferrero, die kleines Plastikspielzeug enthalten. Die folgende Werbung scheint zu behaupten, das abgebildete Ei enthielte zwei sog. “Küchenschweine”, die mit Eigennamen wie “Bruno Brutzel” bei Sammlern sehr beliebt sind. Tatsächlich enthält - wie ein kleiner Zusatz klarstellt - nur jedes siebte Ei ein Küchenschwein. Eine Werbekampagne der Brauerei “Berliner Pilsner” setzte 1998 Schatten ein, um eine visuelle Verbindung zwischen dem Berliner Bier und der Stadt Berlin zu stiften. In allen Motiven hat sich der Schatten einer Bierflasche zum Schatten eines Berliner Wahrzeichens verändert, etwa zum Berliner Bären, zum Fernsehturm oder zur Siegessäule. Durch diese Schatten wird das Bier also zum indexikalischen Zeichen der Stadt Berlin und bei Verfestigung dieser Verbindung zu einem heraldischen Zeichen. Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 85 Abb. 11 7. Schlagschatten im Cartoon Ganz ähnliche Verfremdungen, wie sie in Werbeanzeigen als Blickfang dienen, werden auch von Zeichnern eingesetzt. In einem Cartoon von Reiner Schwalme wird ein Schatten wegen seiner Dunkelheit mit einem Schmutzfleck verwechselt und fordert daher dazu auf, ihn wegzuputzen. Der Betrachter sieht eine Frau auf dem Boden knien und auf einem dunklen Fleck herumschrubben, während der daneben stehende Mann - im wörtlichsten Sinn von oben herab - höhnt “Es ist mein Schatten, Liebling! ” (Elefantenpress Karicartoon vom 7.9.2001). Die Pointe zielt auf beide Geschlechter, denn sie nimmt gleichermaßen hausfrauliche Putzwut und männliche Überheblichkeit aufs Korn. 7.1 Schlagschatten führen ein Eigenleben Das Bilderbuch Schatten (Janisch 2007) beruht durchgehend auf dem Prinzip, die getreuen Doppelgänger von Menschen und Tieren mit einem Eigenleben zu versehen. In spannungsvollen Szenen beobachtet der Junge Sven, wie sich die Schatten von ihren Urbildern emanzipieren. Die Schatten schlafender Erwachsener spielen Fußball miteinander, eine kleine Katze wirft einen zähnefletschenden Hundeschatten, und im Zoo vertauschen die Tiere spielerisch ihre Schatten miteinander. Zuletzt verwandelt sich auch Svens eigener Schatten und sieht nun aus wie ein riesiger Gorilla mit Hut. Auch Cartoonisten benutzen gern das reizvolle Motiv des eigenmächtigen Schlagschattens. In der belgischen Comic-Serie Lucky Luke charakterisiert Morris gleich zwei seiner Hauptfiguren durch das Verhalten ihrer Schatten. Lucky Luke ist der typische einsame Cowboy und berühmt durch seine Fähigkeit, den Colt “schneller zu ziehen als sein Schatten”. Manchmal begleitet ihn der Hund Rantanplan, der normalerweise im Staatgefängnis die Daltons bewacht, Lucky Lukes hartnäckigste Gegner. Rantanplan ist verfressen und gutmütig, aber “dümmer als sein Schatten”, etwa beim kühnen Sprung über eine Mülltonne. Dagmar Schmauks 86 Abb. 12: AKW stellt Solarenergie in den Schatten (http: / / fr.toonpool. com/ user/ 636/ files/ akw-schatten_608485. jpg, Zugriff 1/ 2011). Abb. 13: Der Seher Lügfix tritt auf (http: / / www.asterix. com/ titel/ alben/ der-seher.html, Zugriff 1/ 2011). 7.2 Schlagschatten beeinträchtigen etwas In einem Cartoon von Christiane Pfohlmann (13.10.2009) wirft ein Atomkraftwerk lange Schatten über eine Solaranlage. Reale Beleuchtungsverhältnisse können nicht gemeint sein, da niemand eine Solarfarm so ungünstig aufstellen würde. Vielmehr geht es um die angestrebten Laufzeitverlängerungen für Kernkraftwerke, die zügige Fortschritte im Bereich Solarenergie behindern. Auf der Nordhalbkugel der Erde wäre ein später Nachmittag dargestellt - jedoch ist die Deutung wohl allzu weit hergeholt, damit sei der Untergang der Solarenergie gemeint. 7.3 Schatten als Vorzeichen Ebenso wie Regisseure (vgl. Abschnitt 4.1.5) zeigen auch Cartoonisten von unheimlichen Wesen gern nur zunächst nur deren Schatten, um die Spannung zu steigern und Urängste wachzukitzeln. Im Asterix-Album Der Seher (René Goscinny und Albert Uderzo 1989) manipuliert der gallische Seher Lügfix die Dorfbewohner durch banale aber günstige Voraussagen so lange, bis die Römer ihn festnehmen und für ihre Zwecke benutzen wollen. Das Cover zeigt, wie Lügfix während eines Gewitters die Hütte des Häuptlings betritt. Der Leser sieht jedoch im Unterschied zu den erschrockenen Dorfbewohnern nur seinen Schatten, der Teufelshörner zu haben scheint - in Wirklichkeit sind es die Ohren seines Wolfspelzes. Der amerikanische Zeichner Gary Larson setzt Schatten mehrfach ein, um mit bekannten Angstauslösern des Genres “Horror” lustvoll zu spielen (vgl. Schmauks Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 87 Abb. 15: Der Schatten ist schon mal da ... (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Klaus Stuttmann). Abb. 14: Gary Larson (1985: o.S.): Gefangen wie Nagetiere! 2005). Ein Cartoon lässt gefährliche Urzeitwesen in der heutigen Welt auftauchen. Zwei Jäger, die gerade Lockenten ausgesetzt haben und nun im Schilf versteckt auf Beute warten, blicken ungläubig zum Himmel auf. Der Betrachter sieht den Grund ihrer Verstörtheit wieder nur indirekt, nämlich die Schatten von zwei riesigen Flugsauriern, die mit ausgebreiteten Schwingen zum Zustoßen ansetzen. Ein ganz ähnlicher Cartoon zeigt ein biologisches Labor, und der Schatten eines menschengroßen Insekts fällt auf drei Forscher, die sich entsetzt in einer Zimmerecke zusammendrängen. Ist dies nur eine surreale Szene, oder wird hier die latente Angst wachgekitzelt, eine überhebliche Wissenschaft könne irgendwann ein schrecklich mutiertes Wesen erzeugen, das dann seine Hersteller vernichtet? Viel alltagsnäher und darum viel bedrohlicher wirkt der Schatten, mit dem Klaus Stuttmann einen Artikel über “Die scheidende Generation” (Tagesspiegel vom 19.8.2008, S. 8) illustriert. Von der Person selbst, die vor einem offenen Grab steht, sieht man nur die Fußspitzen und in der Grube ihren Schatten. Die abgebildete Person sieht also ihren Schatten bereits dort, wo sie selbst in nicht allzu langer Zeit ebenfalls sein wird, nämlich in der Erde. Der Schatten, sonst ein treuer Wegbegleiter, scheint also hier die Funktion eines etwas voreiligen Quartiermachers anzunehmen. Dagmar Schmauks 88 Abb. 17: Bilderrätsel von Robert Gernhardt (1996: 8). Abb. 16: Nochmal gutgegangen … (http: / / www.nichtlustig.de/ toondb/ 001124. html, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Bulls Press / © Joscha Sauer / Distr. Bulls, Zugriff 1/ 2011). 7.4 Schatten suggerieren die Anwesenheit eines bestimmten Objektes In Abschnitt 4.2.3 wurde bereits gezeigt, dass man durch die Schatten von geschickt arrangierten Objekten den Eindruck erwekken kann, das Urbild sei ein bestimmtes, aber ganz anderes Objekt. Ein einprägsames Beispiel ist ein Cartoon von Joscha Sauer, dessen Held zunächst anhand eines verdächtigen Schattens vermutet, er würde von einem Nashorn verfolgt. Entsprechend der surrealen Philosophie der nichtlustig-Cartoons ist bereits diese Angst in Städten ohnehin nicht allzu gut begründet, und sie wird folgerichtig durch die Entdeckung eines wahren Urbildes beseitigt, welches noch etwas unwahrscheinlicher ist. 7.5 Schatten im Bilderrätsel Auf äußerst vertrackte und intellektuelle Weise setzt Robert Gernhardt einen Schatten in einem seiner Bilderrätsel ein. Es zeigt einen Mann in Badehose, der gerade von einer Klippe mit Kopfsprung in einen Teich hechtet und dabei einen deutlichen Schatten auf die Felswand wirft. Am Ufer im Hintergrund steht eine Kutsche mit zwei Pferden. Auffällig ist ein zusätzliches Zeichen, das kein Element der Szene abbildet: Ein kleiner Pfeil weist auf den Schatten hin, ist also offenbar ein metakommunikativer Hinweis. Der Betrachter wird daraus folgern, die Lösung des Rätsels hänge mit diesem Schatten zusammen. Vielleicht erschließt er sogar aus der wartenden Kutsche, der schattenwerfende Mann sei der Kutscher. Insofern er in moderner Literatur bewandert ist, hat er dann schon fast die Lösung gefunden, denn gemeint ist das von Peter Weiss verfasste Buch Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960). Schlagschatten als Zeichen in Redensarten, Werbung und Cartoons 89 8. Fazit und Ausblick Es wurde anhand etlicher Beispiele gezeigt, dass Schatten aufgrund optischer Gesetze entstehen, wobei der Mensch in diesen Prozess oft gestaltend eingreift. An einem Ende der Skala liegen die von uns nicht beeinflussbaren Mondphasen, am anderen Ende die raffiniert durchkomponierten Wirkungen des Schattentheaters. Oft wird sehr langfristig geplant, etwa wenn ein weit vorausschauender Hausbesitzer kleine Bäume so pflanzt, dass sie später mittags seine Terrasse beschatten. Schatten verraten vieles über alle beteiligten Objekte - also über Lichtquellen, Hintergrund und Urbilder - und sind dadurch in vielen Bereichen nützliche Wissensquellen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Potential in griffige Redensarten eingegangen ist, die wiederum von vielen Künsten visualisiert werden, um interessante Wirkungen zu erzielen. Während sich der vorliegende Artikel auf Werbung und Cartoons beschränkte, sind noch weitere Bereiche für genauere Untersuchungen ergiebig. Architekten kalkulieren bei der Planung ein, wie Fassaden und deren Schmuckelemente bei wechselndem Licht wirken. Auch Programme für die Playstation nutzen mittlerweile Schatten als Gestaltungselemente. Beim Spiel Echochrome II (2011) beleuchtet der Spieler mit ständig wechselndem Einfallswinkel eine Ansammlung von Klötzen und Kugeln so, dass er die Spielfigur zwischen den vielen Hindernissen hindurch sicher zum Ausgang leitet. Die vorgegebene Schattenwelt ist komplex und gefährlich, so kann die Spielfigur den Schatten einer Kugel als Trampolin für raumgreifende Sprünge benutzen, aber auch selbst von einem Schatten zerquetscht werden. Sogar bei akustischen Nachrichten gibt es schattenähnliche Phänomene, nämlich nicht nur den sog. “Schallschatten” auf der von der Schallquelle abgewandten Seite von Hindernissen (vgl. Abschnitt 3), sondern auch das Echo, das ebenso wie der visuelle Schatten als “Doppelgänger” seines Urbildes aufgefasst werden kann. Dem Leser ist abschließend zu wünschen, er würde neben den vielen alltäglichen Schatten auch einmal die bemerkenswertesten natürlichen Schattenspiele sehen, nämlich ein Brockengespenst im Gebirge (vgl. Abschnitt 4.1.3) sowie eine totale Sonnenfinsternis - eine besonders lange mit über sechs Minuten vollständiger Bedeckung wird 2027 in Nordafrika zu sehen sein ... Literatur Baxandall, Michael 1995: Shadows and Enlightenment. New Haven und London: Yale University Press. Deutsch: Löcher im Licht. Der Schatten und die Aufklärung. München: Fink 1998 Casati, Roberto 2000: La scoperta dell’ombra. Milano: Stampa. Deutsch: Die Entdeckung des Schattens. Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung. Berlin: Berlin-Verlag 2001 Chamisso, Adelbert von 1814: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Nürnberg: Schrag. Neue Ausgabe z.B.: Köln: Anaconda 2007 Edwardson, Åke 2005: Winterland. Berlin: List Taschenbuch Gernhardt, Robert 1996: Hier spricht der Zeichner. Bildwitze, Cartoons, Comics, Bildergeschichten, Bildgedichte, Photogedichte. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Gombrich, Ernst H. 1995: Shadows. The Depiction of Cast Shadows in Western Art. London: National Gallery Publications. Deutsch: Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst. Berlin: Wagenbach 1996 Janisch, Heinz 2007: Schatten [Bilderbuch]. Mit Bildern von Artem [Kostyukevich]. Zürich: Bajazzo Kasack, Hermann 1979: Die Stadt hinter dem Strom. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Erste Ausgabe: Berlin: Suhrkamp 1947 Larson, Gary 1985: Bride of the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker Dagmar Schmauks 90 Mann, Thomas 1971: Tristan. In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer: 170-206 Paasche, Frieder (o.J.): Spiel der Schatten - Reflexionen (http: / / www.vagantei-erhardt.de/ de/ Akademie/ Artikel/ Spiel%20der%20Schatten.htm, Zugriff 1/ 2011) Schlichting, H. Joachim 2004: “Schatten, Bild und Spiegelung”, in Physik in unserer Zeit 35, Nr. 5 (http: / / onlinelibrary.wiley.com/ doi/ 10.1002/ piuz.200490082.pdf, Zugriff 1/ 2011) Schlichting, H. Joachim 2006: “Spiegelbild, Schatten und gespiegelter Schatten”, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 59/ 4: 196-202 Schmauks, Dagmar 1998: “Wetter- und Klimametaphern”, in: Werner Wehry (ed.): Wetterinformationen für die Öffentlichkeit - aber wie? Berlin: Deutsche Meteorologische Gesellschaft: 43-50 Schmauks, Dagmar 2005: “Semiotische Aspekte in den Comics von Gary Larson”, in: Kodikas/ Code 28: 279-299 Schmauks, Dagmar 2007: “Grauen aus dem Baukasten. Die Herstellung von Atmosphäre in Stephen Kings Friedhof der Kuscheltiere”, in: Stephan Debus und Roland Posner (eds.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung. Bonn: Psychiatrie-Verlag: 89-123 Trauzettel, Rolf 2000: “Der Schatten in chinesischer Kunst, Literatur und Philosophie: Leeres Zeichen und Zeichen der Leere”, in: Zeitschrift für Semiotik 22: 183-208 Werfel, Franz 1965: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft.