eJournals Kodikas/Code 33/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
333-4

Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internets als Kommunikationsmedium der Europäischen Union

2010
Christian Matzke
Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internets als Kommunikationsmedium der Europäischen Union Christian Matzke; Leuphana Universität Lüneburg The following chapter presents a critical analysis of the online forum “Debate Europe” launched by the European Union to encourage union wide communication, and contribute to the development of a common European identity. Having the main focus on the communication media internet, the study focuses its main arguments on the essential role of different media to contribute to a collective European public sphere, understood as an experience sphere of productive interactions. 1 Einleitung In der folgenden Darstellung wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern eine europäische Identität vorhanden bzw. herausgebildet werden kann. Hierzu werden grundlegende Voraussetzungen an die Entstehung kollektiver Identität den tatsächlichen Gegebenheiten in der Europäischen Union gegenübergestellt. Für die Entstehung einer kollektiven Identität ist der Faktor Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung. Deshalb wird einführend ein Überblick über den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit im allgemeinen und dem Medium Internet im speziellen gegeben und erörtert, welche Auswirkungen dies für eine Herausbildung einer kollektiven Identität mit sich bringt. Exemplarisch wird im nächsten Schritt an dem Online- Diskussionsforum “Debate Europe” gezeigt, inwiefern durch die Ausrichtung der Kommunikationsstrategie der Europäischen Union eine europäische Identität gefördert oder entstehen kann. Abschließend werden die Ergebnisse vergleichend diskutiert und ein Ausblick auf zukünftige Tendenzen gegeben. 2 Öffentlichkeit, Medien und kollektive Identität 2.1 Konzepte europäischer Öffentlichkeit In der aktuellen Forschung werden drei Modelle 1 europäischer Öffentlichkeit unterschieden: die Entstehung einer einheitlichen europäischen bzw. einer paneuropäischen Öffentlichkeit, die Herausbildung nationenübergreifender themenspezifischer Öffentlichkeiten sowie die Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten (vgl. Saxer 2006: 78). Das erste Modell geht von einer länderübergreifenden, paneuropäischen Öffentlichkeit auf Basis eines einheitlichen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christian Matzke 430 Mediensystems aus. Paneuropäische Öffentlichkeit soll hier durch europäische Medien, die sich an ein transnationales Publikum in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wenden, hergestellt werden. Dafür wäre ein gemeinsames Mediensystem bzw. gemeinsame Medien für alle europäischen Staaten notwendig. Bei dem Modell einer transnationalen Öffentlichkeit wird von der Vorstellung einer segmentierten transnationalen Themenöffentlichkeit ausgegangen. Hier geht man von einer Entstehung transnationaler Kommunikation auf der Basis einzelner Themen aus, die jedoch nicht auf ein Massenpublikum trifft, sondern auf gesellschaftliche Eliten, Interessengruppen oder einzelne soziale Bewegungen beschränkt bleibt. Im dritten Modell steht die Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten im Vordergrund. Erreicht werden soll diese durch die Thematisierung europäischer Themen in den jeweiligen nationalen Medien und die Bewertung dieser Themen unter einer europäischen, nicht nationalstaatlichen Perspektive. Als Verfechter eines paneuropäischen Mediensystems gelten Peter G. Kielmansegg und M. Rainer Lepsius. Beiden Autoren ist gemein, dass sie explizit oder implizit davon ausgehen, dass eine europäische Öffentlichkeit ein übernationales Mediensystem zur Voraussetzung haben muss. Eine Europäisierung der nationalen Medien kann diesem Anspruch nicht gerecht werden. Eine Infrastruktur aus politischen Institutionen und Medienorganisationen bilden hier Voraussetzungen demokratischer europäischer Öffentlichkeit. Die Voraussetzung einer europäischen Öffentlichkeit im Sinne einer paneuropäischen Öffentlichkeit ist also ein europäisches Publikum, das von einem einheitlichen europäischen Mediensystem mit Informationen versorgt wird. Eder und Kantner hingegen plädieren eher für eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, die auf der Konzeption beruht, das in einem anonymen europäischen Massenmedium zur gleichen Zeit die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten diskutiert werden (vgl. Eder & Kantner 2000: 312). Eine Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten favorisiert Saxer. Die nationalen Mediensysteme sind seiner Meinung nach am stabilsten und leistungsfähigsten und deshalb am ehesten geeignet, europäischen Akteuren und Themen massenhaft Verbreitung zu schaffen (vgl. Saxer 2006: 78). Die Frage nach der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit wird von den Wissenschaftlern und Experten zum Teil sehr unterschiedlich beantwortet. Nach Gerd Kopper ist eine europäische Öffentlichkeit bisher faktisch nicht existent (vgl. Kopper 1997: 9). In empirischen Untersuchungen konnte man allenfalls transnationale Öffentlichkeiten in Europa, kaum aber eine allumfassende gesamteuropäische Öffentlichkeit ausmachen. In zahlreichen Untersuchungen wird den Institutionen der EU ein “Öffentlichkeitsdefizit” attestiert (vgl. Requate & Schulze Wessel 2002: 13). Es gibt aber auch Gegenstimmen. Eder und Kantner kritisieren die Öffentlichkeitsdefizithypothese, indem sie feststellen: “Die pauschale Unterstellung eines Öffentlichkeitsdefizits ist empirisch nicht gedeckt und theoretisch unfruchtbar.” (Eder & Kantner 2000: 307). Die beiden Autoren verweisen zur Absicherung ihrer Gegenthese u. a. auf mehrere öffentliche Debatten auf europäischer Ebene in den letzten Jahren. Neben Eder und Kantner interpretiert Meyer die europaweite Diskussion über die Korruption der Kommission, die zum Rücktritt der Santer-Kommission geführt hat, als ein Anzeichen einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit (vgl. Meyer 2002: 173 ff). Ähnlich argumentiert auch Trenz in seinem Vergleich der medialen Berichterstattung über die Korruptionskrise der Kommission in spanischen und deutschen Medien (vgl. Trenz 2000: 351). In der finalen Beurteilung der Ansätze europäischer Öffentlichkeit kommen Michael Latzer und Florian Saurwein zu dem Schluss, dass es sich dabei häufig nur um tendenziell abgeschlossene, oft auf Eliten oder Interessengruppen beschränkte Öffentlichkeitsarenen Mediale Inszenierung europäischer Identität 431 handelt (Eliteöffentlichkeiten), wohingegen sich ein breiter europäischer Kommunikationsraum (Massenöffentlichkeit) noch nicht abzuzeichnen scheint. Zahlreiche Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass europapolitische Themen insgesamt nach wie vor nur einen eher geringen Teil der Medienagenda ausmachen und das nationale Selbstreferenzialität stark ausgeprägt ist (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 10 ff). 2.2 Kennzeichen europäischer Medienstruktur Den Massenmedien kommt eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Informationen über die Europäische Union zu. Die EU ist auf die Vermittlungsleistung der Medien angewiesen, denn sie braucht die Medien zu ihrer Legitimation. Die Problematik für Europa erwächst daraus, dass der EU kein eigenes Mediensystem gegenübersteht, wie das in den Nationalstaaten der Fall ist. Es ist weitgehend unbestritten, dass es bisher keine europäischen Medien gibt, die in der Lage wären, eine eigenständige, den nationalen Öffentlichkeiten übergeordnete europäische Öffentlichkeit zu konstituieren. Zwar gab es immer wieder Versuche, europäische Medien zu etablieren, die meisten wurden jedoch eingestellt oder konnten sich vorwiegend nur als Elitemedien durchsetzen. 2 Insofern erscheint es naheliegend, dass die EU sich ein eigenes europäisches Mediensystem aufbauen muss, das der EU die Öffentlichkeit verschafft, die sie braucht, um ihre Entscheidungen zu legitimieren. Als Gründe für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit werden unterschiedliche Aspekte genannt. Es wird vor allem auf das Gefälle der Interaktionsdichte zwischen nationaler und transnationaler Kommunikation und auf die unterschiedlichen Interaktionsbedingungen (Sprache, Identität, Mediensysteme) im nationalen und europäischen Kontext verwiesen, die als Ursachen europäischer Öffentlichkeitsdefizite identifiziert werden (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 10 ff). Eine Erklärung für das Öffentlichkeitsdefizit der EU ist nach Ansicht von Gerhards darin zu sehen, dass diese nicht gezwungen sind, für sich und ihre Themen und in Konkurrenz zu anderen Akteuren vor den Bürgern öffentlich zu werben; und sie sind nicht dazu gezwungen, weil sie nicht über Wahlen oder Referenden an die Präferenzen der Bürger Europas gekoppelt sind. Des Weiteren findet der Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozess der EU unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Bürger werden somit nicht oder nicht ausreichend von den Entscheidungen und Diskussionen, die sie unmittelbar betreffen, informiert (vgl. Gerhards 2002: 154). Das zweite Problem europaweiter politischer Kommunikation ist struktureller Natur und wird im Mangel an europaweiten Massenmedien gesehen. Nach Gerhards entstünde europäische Öffentlichkeit dann, wenn es ein einheitliches europaweites Medienangebot gäbe (vgl. Gerhards 2000). Da es aber keine europäischen Medien gibt, die Europa ein Forum und den Europäern eine Basis bieten und so die wechselseitige Vermittlungsleistung zwischen Union und Bevölkerung erbringen, kann sich auch keine europäische Öffentlichkeit entwickeln. Solange es keine europaweiten Massenmedien gibt, bleiben die Bürger in nationalen Diskursen gefangen. Spezielle europäische Medienangebote wie ein einheitlicher Fernsehsender fehlen. Ein weiterer Faktor ist in der Struktur der Medienlandschaft zu sehen. So sind auf EU-Ebene die Mitgliedstaaten als Gliedstaaten der EU bzw. deren nachgeordnete föderale Gliederungseinheiten nach wie vor die Träger ihrer Medienhoheit, während die Europäische Union nur eine unterstützende Politik bereithält. Das größte strukturelle Hemmnis für eine europäische Öffentlichkeit wird im Fehlen einer gemeinsamen Sprache gesehen, ohne diese gemeinsame Medien erst gar nicht genutzt werden Christian Matzke 432 können, in denen dem Publikum die gleichen Themen und die gleichen Deutungen nahegebracht werden können. Aufgrund des Sprachenproblems wird sich auf dem Territorium der EU keine europäische Öffentlichkeit bilden und somit auch keine tiefere soziale Integration stattfinden können (vgl. Kantner 2004: 87 ff). Hier können drei Argumente unterschieden werden, die diese These stützen. Das erste Argument lautet, dass selbst wenn in verschiedenen Sprachen über die gleichen Themen kommuniziert würde, Verständigung unmöglich sei, weil Sprache auch immer eine Weltsicht, eine spezifische Konstruktion der Wirklichkeit darstelle. Über sprachlich-kulturelle Grenzen hinweg könne es keine wirkliche Verständigung geben, da eigentlich stets über verschiedene Dinge gesprochen werde. Der kulturelle Kontext von Sprecher, Rezipient und Publikum sei so unterschiedlich, die Interpretation von Nachrichten würde so inkompatibel ausfallen, dass ein Diskurs nicht stattfinden könne. Verschiedene Öffentlichkeiten sprechen grundsätzlich über verschiedene Dinge. Zweitens wird festgestellt, dass die Vielzahl der Sprachen eine Unterhaltung oder eine Diskussion unter den Bürgern verhindere. Damit sei eine der grundlegendsten Voraussetzungen für Demokratie in der EU nicht gegeben, die Möglichkeit, miteinander zu reden oder die Gelegenheit zur Meinungsäußerung zu haben. Sprache und Kommunikation sind in diesem Verständnis ein und dieselbe Sache. Drittens wird eine “lingua franca” vermisst, eine von allen Bürgern verstandene und gesprochene Sprache. Das könne entweder eine einzige Sprache wie Englisch sein, oder die Voraussetzung, dass alle Bürger alle EU-Sprachen verstünden, so dass ein Sprecher sicher sein könne, von allen Bürgern verstanden zu werden. Da die zweite Möglichkeit ausgeschlossen werden kann und auch in der Zukunft nicht alle EU-Bürger über ausreichende Englisch-Kenntnisse verfügen werden, ist ein europaweiter Diskurs nicht möglich (vgl. van den Steeg 2003: 181). Allerdings gibt es auch gegenteilige Auffassungen. So weist Meyer darauf hin, dass Positionen, nach denen die Herausbildung einer länderübergreifenden Öffentlichkeit aufgrund der sprachlichen Heterogenität und der ausschließlich national orientierten Massenmedien in Europa auf absehbare Zeit unmöglich sei, nicht zugestimmt werden könne. Zum einen sei die Gleichsetzung von Sprache und Kommunikation problematisch. Denn Sprache stelle keine undurchlässige Mauer für Informationen und Meinungen dar, sondern ein Verständigungsinstrument im Dienst ihrer Nutzer. “Entscheidend ist nicht primär, dass jeder mit jedem sprechen können muss, sondern dass die Möglichkeit politischer Meinungsbildung auch über Sprachgrenzen hinweg gegeben ist.”(Meyer 2002: 59) Auch die vermeintliche Notwendigkeit gemeinsamer Medien erweist sich als überflüssig. Denn Kommunikation und Verstehen sind nicht an gemeinsame Medien gebunden. Wenn es keine objektive Perspektive gibt und der Gegenstand der Kommunikation gerade durch die Vielzahl von Perspektiven, die unterschiedliche Beteiligte auf diesen Gegenstand werfen, konstituiert wird, könnten auch gemeinsame Medien nicht die eine “richtige” Perspektive sicherstellen. Gemeinsame mediale Quellen der Kommunikation sind demnach nicht notwendig (vgl. Kantner 2004: 123). 2.3 Europäische Öffentlichkeit und europäische Identität Der Öffentlichkeit kommt bei der Ausbildung kollektiver Identität eine herausragende Funktion zu. Öffentlichkeit, verstanden als Verständigungsprozess der Gesellschaft über sich selbst, dient der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion, der Verhandlung von Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie der Überprüfung kultureller Ziele und der Schaffung kultureller Identitäten (vgl. Klaus 2006: 98 ff). Kollektive Identitäten sind Mediale Inszenierung europäischer Identität 433 vor allem deshalb grundlegend an Öffentlichkeiten im weitesten Sinne gebunden, um überhaupt auf kollektiver Ebene wirksam werden zu können. Dazu müssen sie in einem öffentlichen Raum artikuliert und medial vermittelt werden. Dies gilt vornehmlich bei steigender Ausdifferenzierung der Gesellschaft, denn erst über die verschiedenen Kanäle der Öffentlichkeiten werden kollektive Identitäten manifest und schließlich handlungsleitend relevant. Die Gesellschaft wird sich erst über Öffentlichkeit ihrer selbst als politisches Subjekt bewusst. Das bedeutet jedoch nicht, dass kollektive Identitäten nicht auch jenseits der Öffentlichkeit existieren und lebensweltlich bedeutsam wären. Aber zumindest im Hinblick auf politische Willensbildung bedürfen sie in offenen Gesellschaften der öffentlichen Artikulation (vgl. Kaelble & Kirsch & Schmidt-Gernig 2002: 13 ff). Auch für den europäischen Raum ergibt sich deshalb die Problematik, ob europäische Identität als Folge von Öffentlichkeit anzusehen ist oder ob europäische Identität nicht umgekehrt die Voraussetzung für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit darstellt. In der Diskussion können zwei Autorengruppen unterschieden werden, die “Partikularisten des Nationalen” und die “prozeduralistischen Europaföderalisten”. Grimm und Kielmansegg als Vertreter der Partikularisten heben hervor, dass sich eine europaweite Kommunikation in Ermangelung einer von allen Europäern beherrschten Sprache nicht entfalten kann und die Multilingualität in Europa folglich die Ursache des Öffentlichkeitsdefizits ist. Kielmansegg definiert kollektive Identitäten als “Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften.”(Kielmansegg 1995: 235). Eine Kommunikationsgemeinschaft bilden die Europäer aufgrund der Sprachenvielfalt in Europa jedoch nicht. Die fehlende einheitliche Sprache hemmt oder unterbindet nicht nur die Kommunikation zwischen den Europäern, sondern gleichfalls die Bildung eines europäischen Volkes. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache verhindert das Entstehen bzw. die Teilhabe an einer gemeinsamen Medienöffentlichkeit, so dass deren identitätsstiftende Wirkung entfällt. Erst der Sprachräume überwindende und nicht auf die Nationalstaaten begrenzte politische Diskurs kann europäische Politik zur Sache der Allgemeinheit machen, Identifikationen bieten und die Voraussetzung für die Zuerkennung von Legitimität schaffen (vgl. Holtz-Bacha 2006: 316). Der wichtigste Grund, warum eine kollektive europäische Identität nicht besteht, sehen die Partikularisten darin, dass die EU keine Kommunikationsgemeinschaft bildet und demzufolge auch keine Erinnerungsgemeinschaft sein kann. Die Europaföderalisten (u. a. Eder, Kantner, Habermas und Meyer) sehen die Sprachenvielfalt hingegen nicht als Hinderungsgrund für die Herausbildung einer europäischen Identität an. Eine gemeinsame Sprache ist für die Entwicklung einer gemeinsamen Öffentlichkeit und Identität der Europäer nicht erforderlich. Die Europaföderalisten favorisieren eine Europäisierung der Medien, um so dem Sprachproblem die Brisanz zu nehmen: “Wenn nationale Medien europäische Themen so darstellen, dass die relevanten Positionen vertreten sind und verständlich sind, findet Kommunikation über sprachliche Grenzen hinweg statt.” (Eder & Kantner 2000: 312). Abschließend kann festgehalten werden: Die sprachliche und kulturelle Heterogenität Europas wirken einem paneuropäischen Mediensystem ebenso entgegen, wie die historisch gewachsene nationale Fixierung des Journalismus entlang lokal, regional und national gebundener Publikumsinteressen. Der Versuch, europäische Öffentlichkeit über ein Medienangebot herzustellen, das top-down beschlossen wird, ohne die gegebenen Rundfunkstrukturen zu berücksichtigen, scheint zumindest vorläufig gescheitert zu sein (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 25). Es konnte bei empirischen Untersuchungen kein klarer Trend zu einem europäischen Gemeinschaftsbewusstsein festgestellt werden. Europäische Identitätsgefühle Christian Matzke 434 sind in den untersuchten Medien kaum erkennbar. Neidhardt geht davon aus, dass kollektive Identitätsgefühle von den Medien auch kaum herstellbar sind, wenn sie nicht von einem Handeln getragen werden, das gegenüber einer gemeinsamen Umwelt eine Wir-Erfahrung erzeugt. Eine EU-Medienpolitik wird daher solange nicht erfolgreich identitätsstiftend sein können, wie die politischen Rahmenbedingungen zur Identitätskonstruktion nicht gegeben sind und in der Hoheit der Mitgliedstaaten verbleiben (vgl. Walkenhorst 1999: 181). Europäische Öffentlichkeit ist heute in erster Linie als ein Netzwerk sich überlappender nationaler Öffentlichkeiten anzutreffen. Sie kristallisiert sich an bestimmten Ereignissen und Konflikten und ist stark vom Handeln einzelner Akteure abhängig (vgl. Gerhards 2000). Zur Überwindung des Öffentlichkeitsdefizits hat die EU bisher zahlreiche Maßnahmen ergriffen. In diesem Zusammenhang setzte die Kommission ab Mitte der 1990er Jahre verstärkt auf die Nutzung elektronischer Medien. So bot das Internet für die Herstellung bzw. die Erreichung einer europäischen Öffentlichkeit völlig neue Möglichkeiten. Auch die EU erkannte frühzeitig dieses Potential und startete 1995 mit EUROPA (http: / / www.europa.eu), einem interaktiven Informationsdienst (Server) auf graphischer Basis des World Wide Web. Der EUROPA-Server bietet allgemeine Informationen über Kommission und EU sowie über aktuelle EU-politische Ereignisse. Zudem bietet EUROPA Zugang zu bestimmten Datenbanken wie RAPID (Pressemitteilungen der Kommission) und leitet zu anderen EU-Servern weiter. Welche Möglichkeiten das Internet konkret zur Herstellung von Öffentlichkeit eröffnet und inwiefern es zur Entstehung kollektiver Identität beitragen kann, soll deshalb im Folgenden genauer untersucht werden. 3 Öffentlichkeit, Internet und kollektive Identitätsbildung Welchen Einfluss das Netz auf die politische Öffentlichkeit haben wird, darüber gehen die Meinungen in der Forschung weit auseinander. Ein Argument für einen starken und positiven Einfluss des Internets auf die Öffentlichkeitsstrukturen und auf politische Prozesse besteht in der Annahme, dass durch die Netzkommunikation eine quantitativ höhere und zugleich auch qualitativ bessere Teilnahme einzelner Individuen an (politischen) Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen möglich sei. Das Argument geht im Kern davon aus, dass die bisherige Nicht-Teilnahme bestimmter Bevölkerungskreise an politischen Prozessen vor allem ein technisches Problem in der Dimension Zeit, Raum, Wissen und Zugang war, das durch die neue Technik gelöst werde. Ein weiteres positives Argument geht davon aus, dass durch das Internet eine grundsätzlich freiere öffentliche Meinungsäußerung möglich ist, da die bisher zentralistisch verwalteten Medien für die Bevölkerung schlecht “zugänglich” waren. Diesen beiden Positionen wird jedoch entgegengehalten, dass die Barrieren vorwiegend sozialer und nicht technischer Natur sind (vgl. Donges & Jarren 1999). Die neuen Formen politischer Öffentlichkeit, die sich durch die neuen Kommunikationstechnologien ergeben, werden vorzugsweise “Netzöffentlichkeiten” genannt (vgl. Bieber 2001). Es stellt sich nun die Frage, auf welcher Ebene politischer Öffentlichkeit die Netzkommunikation verortet werden kann. Um die Netzöffentlichkeiten zu erfassen und zu beschreiben, kann man versuchen, sie in bereits etablierte und elaborierte Öffentlichkeitsmodelle einzuordnen. Dazu bietet sich das Öffentlichkeitsmodell von Gerhard und Neidhardt (Gerhards & Neidhardt 1991) an. In dem Modell werden drei Ebenen unterschieden, die Encounter-Öffentlichkeit, die Versammlungs-Öffentlichkeit und die massenmediale Öffentlichkeit. In der wissenschaftlichen Literatur besteht Konsens darüber, dass im Internet Mediale Inszenierung europäischer Identität 435 Kommunikation auf allen drei Öffentlichkeitsebenen stattfindet (vgl. Mayer-Uellner 2003: 47). So stellt die E-Mail-Kommunikation eine Encounter-Öffentlichkeit dar. Auf der Ebene medialer Versammlungs-Öffentlichkeit kann Online-Kommunikation angesiedelt werden, die im Rahmen von Online-Diskussionsforen stattfindet. Menschen sprechen online über ein bestimmtes Thema miteinander. Das Thema bestimmt die Zusammensetzung des Publikums hier in ähnlicher Weise wie bei Offline-Versammlungs-Öffentlichkeiten. Legt man das Kriterium des Medientyps und der Teilnehmerstruktur zugrunde, generiert sich massenmediale Online-Öffentlichkeit nur im WWW (z. B. Online-Zeitungen). Massenmediale Kommunikation wird nach Maletzke als jene Form definiert, bei der Aussagen öffentlich, durch technische Verbreitungsmittel indirekt und einseitig an ein disperses Publikum vermittelt werden (vgl. Maletzke 1963: 32). Das WWW entspricht dieser Definition im Vergleich zu den anderen Online-Anwendungen am stärksten, da hier primär Einwegkommunikation von einem Sender (dem Verfasser einer Webseite) zum Empfänger (dem Leser bzw. Besucher einer Webseite) abläuft. Gleichzeitig handelt es sich bei den Empfängern um eine nicht bestimmbare oder abgrenzbare Gruppe im Sinne eines dispersen Publikums. Es kann festgehalten werden: Im Internet findet Kommunikation zwar auf allen drei Ebenen der Öffentlichkeit statt, fraglich ist dabei jedoch, welche Relevanz diese Kommunikationen für die gesellschaftliche Selbstbeobachtung als Funktion politischer Öffentlichkeit haben wird. So bleiben Themen und Meinungen auf der Encounter-Ebene in der Regel folgenlos, wenn sie die Selektionsbarriere zur Themenöffentlichkeit und später zur Medienöffentlichkeit nicht überwinden können (vgl. Donges & Jarren 1999: 92). Auch internetbasierte Diskussionsforen stellen nur vergleichsweise kleine Öffentlichkeiten dar. “Eine artikulierte Meinung, die weder eine öffentliche Aufmerksamkeit erfährt noch von einem politischen Entscheidungsträger direkt wahrgenommen wird, findet nicht ihren Weg in den Politikprozess. Somit wird sie auch keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.” (Mayer-Uellner 2003: 55) In der Debatte um die elektronische Öffentlichkeit unterscheidet Patrick Donges zwei Hauptpositionen, die enthusiastische und die skeptische Position. Beide Positionen unterscheiden sich dadurch, welche Relevanz sie der computervermittelten Kommunikation für die Öffentlichkeit zuweisen. Die enthusiastische Position prognostiziert einen starken und positiven Einfluss der computervermittelten Kommunikation auf die Strukturen von Öffentlichkeit und auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. So würden die Bürger durch computervermittelte Kommunikation mehr kommunizieren können als bisher. Durch computervermittelte Kommunikation würden mehr Menschen als bisher an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen und die Bürger würden in die Lage versetzt, ihre Anliegen qualitativ besser in den politischen Prozess einzubringen. Die skeptische Position verweist schließlich darauf, dass die bestehenden Barrieren zwischen Individuum und politischer Öffentlichkeit vorwiegend nicht technischer, sondern sozialer Natur sind, die durch die computervermittelte Kommunikation nicht aufgehoben werden. Als solche Barrieren werden die Begrenztheit des zur Mediennutzung zur Verfügung stehenden Zeitbudgets, die fehlende Bereitschaft der Nutzer, gezielt nach politischen Informationen zu suchen, genannt (vgl. Donges 2000). Die mit der Netzkommunikation häufig assoziierte Mobilisierungsfunktion der Bürger ist eher skeptisch zu betrachten. Die vielfach verbreitete These, dass durch das Internet mehr Bürger am politischen Geschehen teilnehmen, beruht stillschweigend auf der falschen Annahme, dass die vorangegangene Nicht-Teilnahme vorrangig ein technisches Problem war. Weiterhin sollte nicht vergessen werden, dass die neuen Möglichkeiten Christian Matzke 436 des Internets vor allem denen zur Verfügung stehen, die schon vorher privilegiert waren, gilt es doch als erwiesen, dass Internetnutzer jünger, höher gebildet und einkommensstark sind. Weiterhin ist das Internet ein Medium der reichen Länder. Auf diese Weise kann sich eine bestehende Ungleichheit verdoppeln (vgl. Mayer-Uellner 2003: 54). Abschließend kann jedoch festgehalten werden, dass das Internet technisch gesehen durchaus Eigenschaften besitzt, die für die Herstellung von Öffentlichkeit grundlegend sind. Nach Loitz sind das eine fehlende Raumbegrenzung, keine Zeitbegrenzung, geringe Eintrittsbarrieren, keine Teilnahmebeschränkung und die Möglichkeit der zweiseitigen Kommunikation (Interaktivität). Weiter ist der finanzielle Kostenaufwand für die Kommunikation über das Internet vergleichsweise gering. Hinderungsgründe für eine praktische Umsetzung dieser Eigenschaften sind eher sozialer und kommerzieller Natur. Als elementar erweist sich auch die Bereitschaft der Bürger, sich am politischen Willensbildungsprozess über das Internet zu beteiligen (vgl. Loitz 2001: 40 ff). Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Kenntnissen für eine Kommunikationsstrategie der Europäischen Union? 4 Europäische Union und europäische Identität 4.1 Grundzüge der Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission Die wichtigsten Organe der EU stellen das Europäische Parlament (als Vertretung der Bürger Europas), der Rat der Europäischen Union (als Vertretung der nationalen Regierungen) und die Europäische Kommission (als Vertreter der gemeinsamen Interessen der EU) dar. Für die Kommunikation mit den Bürgern der EU ist die Generaldirektion Kommunikation (GD Kommunikation) zuständig. Sie ist direkt dem Präsidenten der Europäischen Kommission und der Vizepräsidentin Margot Wallström unterstellt und organisatorisch der Europäischen Kommission zugeordnet. Die Europäische Kommission ist insofern als Hauptträger der Informationspolitik in der EU anzusehen und vertraglich zu Kommunikation, Transparenz und Offenheit verpflichtet. 3 Die GD Kommunikation, unter Leitung von Margot Wallström, ist konkret für interinstitutionelle Beziehungen und die Kommunikationsstrategie verantwortlich. Dabei kommt der GD Kommunikation ein doppelter Informationsauftrag zu. Einerseits informiert sie die Medien und Bürger über die Aktivitäten der Kommission und vermittelt ihnen Inhalte und Ziele der politischen Maßnahmen. Andererseits ist sie für die Unterrichtung der Kommission über Nachrichten und Meinungen in den Mitgliedstaaten zuständig. Dazu gehören die Koordination der Aktivitäten der Vertretungen der Kommission in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und die Bereitstellung von Informationen für EU- Bürger. Verschiedene Medien- und Kommunikationskanäle werden dabei verwandt. Der wichtigste Einfluss wird allerdings den Massenmedien zugesprochen, werden sie doch für die EU als wichtiger “Bewusstseinsbildner” und Integrationsfaktor mit identitätsstiftender Funktion betrachtet (vgl. Hoesch 2003: 96). Seit Mitte 2005 verfolgt die EU einen neuen Ansatz. Ausschlaggebend für die Änderung der Kommunikationspolitik der EU war der negative Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 zur Ratifizierung des “Vertrags über eine Verfassung für Europa”. Die EU verordnete sich eine “Zeit der Reflexion” als Anstoß für eine breit angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union. Angesichts der Kluft, die sich zwischen einem Großteil der Öffentlichkeit und den Institutionen der EU aufgetan hat, war diese nun Mediale Inszenierung europäischer Identität 437 bestrebt, einen neuen Ansatz für ihre Kommunikationspolitik zu entwickeln. In diese Phase fallen auch drei Veröffentlichungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die ausschlaggebend für eine neue Kommunikationspolitik sein sollten. Der im Juli 2005 veröffentlichte Aktionsplan setzte sich kritisch mit der bisherigen Kommunikationspolitik auseinander und leitete eine neue Epoche der Kommunikationspolitik ein. “Kommunikation” wurde zum strategischen Ziel erklärt und als eigenständige Politik anerkannt. Darauf aufbauend hat die Kommission im Oktober 2005 einen Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion vorgelegt, in dem eine umfassende Diskussion zwischen den demokratischen Organen der Europäischen Union und ihren Bürgern angeregt wird. Um zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen, soll aufbauend auf einem Dialog mit den Bürgern die europäische Debatte verbessert und die europäische Politik legitimiert werden. In Plan D sind die konkreten Maßnahmen aufgelistet, die zur Verbesserung der Kommunikation mit dem Bürger führen sollen. Die Rolle der Bürger soll gestärkt werden, indem sie ganz konkret in eine weitreichende Diskussion eingebunden werden. Das Zuhören und der Kontakt mit den Bürgern steht im Vordergrund dieses Ansatzes. Am 1. Februar 2006 wurde durch die Vize-Präsidentin der Kommission das Weißbuch über die neue EU-Kommunikationspolitik präsentiert. Es soll dem zunehmenden Vertrauensverlust der europäischen Öffentlichkeit entgegenwirken. Das Weißbuch ergänzt zum einen den Aktionsplan, zum anderen den Plan D, fasst die genannten Vorschläge und Maßnahmen zusammen und stellt detailliert die künftige Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission vor. Mit dem Weißbuch soll insgesamt ein Konsultationsprozess über die Grundsätze der Kommunikationspolitik in der Europäischen Union und die Bereiche der Zusammenarbeit mit anderen Organen und Institutionen der Europäischen Union in Gang gesetzt werden. Um die Kluft zwischen der Europäischen Union und den EU-Bürgern abzubauen, setzt die GD Kommunikation auf mehr Dialog statt auf einseitige Kommunikation. Der Bürger soll nun verstärkt in den Mittelpunkt gerückt werden. Die EU will bei ihren Maßnahmen zur Überwindung der “Kommunikationskluft” verstärkt auf das Internet zurückgreifen. So wird auch im Weißbuch das Internet als vorrangiges Kommunikationsmittel der EU bzw. der GD Kommunikation genannt. Damit knüpft die EU an eine bereits seit Mitte der 1990er Jahre geführte Praxis an. Zukünftig sollen noch mehr als bisher die Vorteile der Internetkommunikation genutzt werden. So kann das Internet neue Kanäle für die Kommunikation über europäische Themen eröffnen und neue Foren für Debatten mit der Zivilgesellschaft ermöglichen. Als Grundlage für die Öffentlichkeitsarbeit der Generaldirektion Kommunikation gilt Kapitel 1 des “Annual Activity Report” der Europäischen Kommission, in dem die Leitlinien und Konzepte für die konkrete Kommunikationspolitik der Europäischen Kommission und ihrer Vertretungen aufgeführt sind. In dem Report wird auf das Weißbuch mit den darin enthaltenden Maßnahmen als aktuelle Kommunikationsstrategie verwiesen. Der Schwerpunkt der Kommunikation der Europäischen Kommission ist demnach auf das Internet als Kommunikationsmedium gerichtet. Christian Matzke 438 4.2 Das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” als Ort möglicher Inszenierung 4.2.1 Kennzeichen des Forums “Debate Europe” Eine Maßnahme der EU zur Förderung einer breiten Einbindung der Bevölkerung in die Diskussion über europapolitische Themen stellt das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” dar. Im Rahmen von Plan D richtete die GD Kommunikation am 27. März 2006 das Diskussionsforum “Debate Europe” ein. Ziel des Forums ist es, den Dialog zwischen den EU- Bürgern zu fördern und zur Entstehung einer europäischen Identität beizutragen. Die Initiative soll eine Diskussion und eine eingehende Auseinandersetzung der EU-Bürger mit der Zukunft der Europäischen Union ermöglichen. Dazu stehen drei Themenbereiche zur Verfügung. Erstens: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas. Zweitens: Die Wahrnehmung Europas und seiner Aufgaben. Drittens: Die Grenzen Europas und Europas Rolle in der Welt. Im Forum ist die Diskussion in allen 22 EU-Amtssprachen sowie auf Katalanisch möglich. Alle Bürger (auch nicht EU-Bürger) können daran teilnehmen. Um die Diskussion zu fördern, hat die GD Kommunikation einige Dokumente zur Diskussion bereitgestellt. “Debate Europe” ist über die URL http: / / europa.eu/ debateeurope/ erreichbar. Für die Teilnahme am Forum ist eine Registrierung erforderlich. Neben dem Namen, der E-Mail-Adresse, Heimatstadt und Land müssen Beruf, Alter und Geschlecht angegeben werden. Die in der Registrierung angegebenen Daten erscheinen als Angaben des Autors, wenn die Person einen Beitrag gepostet hat und sind für jeden Leser bzw. Besucher des Forums sichtbar. Das Lesen der Diskussionsbeiträge ist ohne Registrierung möglich. Technisch gesehen stellt “Debate Europe” nach Mayer-Uellner (Mayer-Uellner 2003) ein Web-Diskussionsforum dar und ist nach Döring (Döring 1999) einer virtuellen Gemeinschaft im Rahmen einer Versammlungsöffentlichkeit zuzuordnen. Bevor in einer abschließenden Diskussion dargestellt werden kann, ob “Debate Europe” zur Entstehung einer kollektiven europäischen Identität beitragen kann, muss untersucht werden, in welcher Art und Weise das Forum genutzt wird. Deshalb soll im Folgenden eine Auswertung in Bezug auf Häufigkeit und Intensität der Nutzung des Diskussionsforums erfolgen. Die zur Auswertung verwendeten Daten wurden von der GD Kommunikation zur Verfügung gestellt. Im Mittelpunkt der Analyse stehen eine graphische Darstellung der Anzahl der Besucher sowie eine Übersicht zur sprachlichen Herkunft der Diskussionsbeiträge. 4.2.2 Auswertung der Zugriffs- und Beteiligungshäufigkeit Der Auswertungszeitraum ist von März 2006 bis Juni 2007 begrenzt, da nur für diesen Zeitraum die Daten zur Verfügung standen. In diesem Zeitraum waren insgesamt 1.276.690 Besucher auf der Seite. Wie der Abbildung 1 entnommen werden kann, ist in den ersten vier Monaten nach Einführung ein starker Zugriff auf “Debate Europe” zu verzeichnen. Ab August 2006 ging die Zahl der Seitenaufrufe rapide zurück und lag durchschnittlich nur noch bei rund 29.000 pro Monat. Die anfänglich hohen Zugriffszahlen sind mit der für die Einführung dieses Forums betriebenen Öffentlichkeitsarbeit der GD Kommunikation zu erklären. So wurde sowohl in Plan D und im Weißbuch auf die Einführung des Online-Diskussionsforums hingewiesen und am 27. März 2006 eine Pressemitteilung zur Einführung veröffentlicht. Mediale Inszenierung europäischer Identität 439 Abb. 1: “Debate Europe” Seitenaufrufe (eigene Darstellung) Abb. 2: Anzahl der Beiträge nach Sprache (eigene Darstellung) Die folgende Grafik gibt einen Überblick über die Anzahl der in der jeweiligen Sprache angegebenen Diskussionsbeiträge. Die Anzahl der Forumsbeiträge beläuft sich auf insgesamt 31.416 Beiträge in 23 (möglichen) Sprachen. Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass zwei Drittel (66,3%) aller Beiträge im Forum in englischer Sprache verfasst sind, gefolgt von Diskussionsbeiträgen in französischer Sprache (17,5%) und nur noch 6,4% in deutscher Sprache. Die wenigsten Diskussionsbeiträge (siehe Abbildung unten) sind in estnischer (15 Beiträge), maltesischer (13) und bulgarischer Sprache (8) zu verzeichnen. Insgesamt kann festgestellt Christian Matzke 440 werden, dass die Diskussion zu rund 90% in den drei Hauptsprachen Englisch, Französisch und Deutsch stattfindet, wobei der englischen Sprache eine dominierende Stellung zukommt. Lediglich 10% der Diskussion finden in einer der übrigen 20 Sprachen statt. Sprache Anzahl der Beiträge Sprache Anzahl der Beiträge English 20.841 Suomi 61 Français 5.511 Slovenèina 54 Deutsch 2.007 Slovenšèina 43 Espanol 665 Magyar 40 Catalàn 444 Romana 40 Italiano 507 Dansk 26 Nederlands 271 Latviešu Valoda 21 Svenska 254 Lietuvi Kalba 19 Português 224 Eesti Keel 15 167 Malti 13 Polski 118 Bulgarian 8 eština 67 Gesamt: 31.416 Laut Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom Juli 2006 wird das Forum von Menschen aus ganz Europa und aus anderen Teilen der Welt genutzt. 90% der Teilnehmer sind männlich und gehören der Altersgruppe von 18 bis 44 Jahren an. 4 4.3 Unzulänglichkeiten europäischer Identitätsbildung durch “Debate Europe” Das kulturelle Gedächtnis mit seinem festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen sowie gemeinsamer Erinnerung gilt als Grundlage für kollektive Identitätsbildung. Über die Erinnerung an ihre Geschichte und Vergegenwärtigung dieser vergewissert sich eine Gruppe ihrer kollektiven Identität. Kollektive Identität ist nach Assmann nur durch die Identifizierung mit einer Gruppe und aufgrund einheitlicher Bezugspunkte möglich (vgl. Assmann 2002). Für die Entstehung kollektiver Identität nennt Assmann drei Faktoren. Erstens die Bewusstwerdung gemeinsamer Kultur, zweitens die Sprache (Interaktion gemeinsamer Erinnerung und gemeinsamen Wissens) und drittens Riten. Ein weiteres Merkmal zur Herausbildung kollektiver Identität ist der Faktor der Abgrenzung. Durch Abgrenzung einer Gruppe gegenüber einer anderen ist eine Vergewisserung der eigenen kollektiven Identität möglich. Die Diskussion im Forum “Debate Europe” ist thematisch auf die zukünftige Ausrichtung bzw. Gestalt Europas angelegt, aufgrund derer eine gemeinsame europäische Identität gefördert werden soll. Doch eine auf zukünftige Vorstellungen bzw. Visionen aufbauende kollektive Identität kann nicht hergestellt werden, ohne dabei auf gemeinsame Erfahrungen, konkret im Sinne von Assmann auf eine gemeinsame Erinnerung als Basis, zurückzugreifen. Um dies zu gewährleisten wäre es unumgänglich, neben einer Diskussion zur Zukunft Europas auch eine Diskussion zu den gemeinsamen Wurzeln, d. h. einer gemeinsam erlebten Mediale Inszenierung europäischer Identität 441 Erinnerung als Basis für die zukünftige Gestaltung der Europäischen Union zu realisieren. Die EU-Bürger müssen ein Bewusstsein für ihre gemeinsame Kultur entwickeln, aufgrund dessen sie eine kollektive Identität ausbilden können. Allein durch eine Diskussion über die Zukunft der EU kann keine kollektive Identität inszeniert/ hervorgerufen werden. Die Diskussion in “Debate Europe” sollte, um auch nur ansatzweise zur Herausbildung einer europäischen Identität beizutragen, eine gemeinsame “Erinnerungskultur” thematisieren sowie gemeinsame europäische Geschichte und Erinnerungsorte beinhalten. Einen weiteren Aspekt stellt die Ritualisierung gemeinsamer Erinnerung zur Festigung kollektiver Identität dar. Riten geben den Gruppenmitgliedern Anteil am identitätsrelevanten Wissen. Jedoch ist eine Beteiligung an einem Online-Diskussionsforum nicht als ritualisierende Handlung in Bezug auf eine gemeinsame Erinnerung anzusehen. Auch der Faktor der Abgrenzung kann durch eine Diskussion über eine gemeinsame zukünftige Gestaltung der EU nicht greifen. Das Forum soll eine gemeinsame Diskussion hervorrufen, jedoch keine Abgrenzung gegenüber Anderen. Entscheidenden Einfluss auf die Interaktion gemeinsamer Erinnerung und gemeinsamen Wissens zur Entstehung kollektiver Identität kommt dem Faktor Sprache zugute. Aufgrund der Sprachenvielfalt in der EU kann keine gemeinsame Sprache beim Online-Diskussionsforum als Basis genutzt werden. Deshalb findet die Diskussion in “Debate Europe” in den 22 EU-Amtssprachen sowie in Katalanisch statt. Wie die Auswertung von “Debate Europe” ergab, findet die Diskussion in erster Linie in englischer, französischer und deutscher Sprache statt. So werden von vornherein Personen ohne diese Sprachkenntnisse von einer gemeinsamen Diskussion ausgeschlossen. Durch die Teilnahme in der jeweiligen Landessprache kann jedoch kein gemeinsamer interkultureller Austausch stattfinden, da in dem Fall überwiegend nur mit der eigenen Bevölkerung diskutiert wird. Eine verbindende Kommunikation kann deshalb nicht stattfinden. So kann durch die auf “Debate Europe” in unterschiedlichen Sprachen stattfindende Diskussion keine gemeinsame europäische Identität entstehen. Es kann festgehalten werden, dass die von Assmann genannten Kriterien, die zur Herausbildung kollektiver Identität unentbehrlich sind, durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” nicht erfüllt werden. Auch die mediale Form des Online-Diskussionsforums allgemein stellt kein adäquates Medium zur Konstruktion einer kollektiven Identität dar. Bei einem Online-Diskussionsforum ist der Begriff Öffentlichkeit nur im Rahmen einer Versammlungsöffentlichkeit anzusehen. Von einer massenmedialen Öffentlichkeit kann nur im World Wide Web gesprochen werden. Dies belegen auch die Nutzerzahlen der Auswertung. Legt man die 495 Millionen EU-Bürger als Basis, kann bei einer Besucherzahl von insgesamt rund 1,3 Mio. nicht von einer massenmedialen Öffentlichkeit ausgegangen werden. Demzufolge kann durch die geringe Anzahl der Teilnehmer am Forum auch keine kollektive Identität für Europa, sondern wenn überhaupt nur für die Nutzer bzw. Besucher des Forums entstehen. In diesem Zusammenhang weist Elisabeth Klaus darauf hin, dass die EU die Wirkung der Medien überschätzt. So stelle die medienpolitische Strategie der EU-Kommission, eine europäische Identität mittels der Förderung europäischer Sender und Programme zu schaffen eine Anwendung medienbezogener Öffentlichkeitstheorien dar, in denen Massenmedien als zentrale Agenten der Formierung von Öffentlichkeit angesehen werden. Medien werden darin nicht als Vermittler, sondern vor allem als eigenständige und autonome Konstrukteure von Identitätsräumen gesehen. Die Konstruktion der Medien ist aber nur dann erfolgreich, wenn sie sich auf bestehende Diskurse stützen (vgl. Klaus 2006: 102 f). Gerade dies ist bei “Debate Europe” jedoch nicht der Fall. Auch Saxer sieht die Möglichkeit der Konstruktion kollektiver Identität durch Medien kritisch. So wecken die Befunde der Medienwirkungsforschung Zweifel an den Möglichkeiten, “durch Medienkampagnen kulturelle Christian Matzke 442 Identität in größerem Stil in einem gewünschten Sinn zu beeinflussen.” (Saxer 1999: 116) Die Möglichkeiten von Medienkommunikation, gezielt kulturelle Identität zu beeinflussen, sind nach Saxer als gering einzuschätzen. Bei den Informationsquellen, die die EU-Bevölkerung zur Information über die Europäische Union nutzt, steht immer noch das Fernsehen mit 63% an erster Stelle, gefolgt von den Tageszeitungen mit 41%. Das Internet als Informationsmedium steht erst an dritter Stelle. So nutzen lediglich 28% der EU-Bevölkerung das Internet, um sich über die Politik und die Institutionen der EU zu informieren. 5 Hinzu kommt, dass das Internet als Informationsquelle in den EU-Ländern unterschiedlich stark genutzt wird. Während rund die Hälfte der Niederländer (53%), Dänen (47%), Esten (47%), Finnen (45%) und Schweden (43%) das Internet als Informationsquelle über die EU nutzen, suchen nur 12% der Griechen und 14% der Italiener im Netz nach EU-Informationen. Auch die fehlenden Zugangsmöglichkeiten in manchen EU- Ländern sind als Hinderungsgrund für die Entstehung anzusehen. Damit durch das Internet und speziell “Debate Europe” eine europäische Identität und eine europäische Kommunikationsgemeinschaft entstehen kann, müssen verschiedene Gruppen miteinander kommunizieren. Die Verbreitung von Online-Anschlüssen variiert zwischen den einzelnen europäischen Ländern jedoch erheblich, sodass von einem tatsächlich massenhaft genutzten Medium (noch) nicht gesprochen werden kann. Im Jahr 2007 wurde der höchste Anteil der Haushalte mit Internetzugang in den Niederlanden (83%) ermittelt, gefolgt von Schweden (79%) und Dänemark (78%). Die niedrigsten Anteile verzeichnen Bulgarien (19%), Rumänien (22%) und Griechenland (25%). 6 So besteht bedingt durch die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Internet in den einzelnen EU-Ländern in dem Online-Forum “Debate Europe” eine Vorauswahl an Teilnehmern. Die Aussagen über die Art der Tätigkeiten, die im Internet durchgeführt werden, sind für diese Untersuchung von besonderer Relevanz. Die Angaben über die Art der Internetnutzung differieren stark. Während 57% der Personen in den 27 EU-Ländern angegeben haben, eine Suchmaschine genutzt zu haben und immerhin noch 50% eine E-Mail versendet haben, nutzen lediglich nur knapp ein Viertel (24%) das Internet, um sich an Chat-Rooms, Newsgroups oder Online-Diskussionen zu beteiligen (vgl.: ebd.). Auch zum Nutzertyp lassen sich Aussagen treffen. So nutzen 79% der männlichen und 77% der weiblichen EU-Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 24 Jahren mindestens einmal in der Woche das Internet. Mit steigendem Alter nimmt die Internetnutzung ab. In der Altersspanne von 25 bis 54 Jahren nutzen noch 61% bzw. 55% einmal wöchentlich das Internet, während in der Altersgruppe zwischen 55 und 74 Jahren die Nutzung auf 31% bei den Männern und 19% bei Frauen absinkt (vgl.: ebd.). Zusätzlich weisen Kraus und Bucher darauf hin, dass das Medium Internet vornehmlich von höher gebildeten Bevölkerungsschichten benutzt wird (vgl. Kraus 2004: 185 sowie Bucher 2002: 503). Globale Kommunikationsmöglichkeiten besitzen also gerade diejenigen, die auch bislang über die bessere Kommunikationsausstattung verfügt haben. Dabei ist die Teilnahme in erster Linie durch persönliche Motive bedingt. Der entscheidende Aspekt für die Unzulänglichkeit des Internets zur Konstruktion kollektiver (europäischer) Identität ist in der Anonymität dieses Mediums zu sehen, denn durch die Anonymität im Internet ist keine kollektive Identitätsbildung möglich. Dies trifft auch für “Debate Europe” zu. Zwar ist für die Teilnahme am Forum eine Registrierung notwendig, diese lässt sich allerdings durch falsche bzw. manipulierte Angaben übergehen. Eine europäische Identität durch anonymisierte Kommunikation zu inszenieren, ist nicht realisierbar. Wie gezeigt werden konnte, ist es durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” nicht möglich, eine europäische Identität zu konstruieren. Als Hauptgründe können die Mediale Inszenierung europäischer Identität 443 falsche thematische Ausrichtung in Bezug auf das Fehlen eines gemeinsamen Erinnerungsdiskurses, die fehlende massenmediale Öffentlichkeit, bedingt durch die Wahl des Online- Forums als solches und die geringen Zugriffszahlen sowie die durch die fehlende gemeinsame Sprache nicht stattfindende interkulturelle Kommunikation genannt werden. Als weiterer schwerwiegender Aspekt ist die Anonymität des Internets zu werten. Deshalb kann von einer Inszenierung europäischer Identität durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” aus den o. g. Gründen nicht ausgegangen werden. 5 Fazit Die Entstehung kollektiver Identität ist an verschiedene Elemente und Voraussetzungen gebunden. Nach Assmann sind dafür eine gemeinsame Erinnerung, gemeinsame historische Erfahrungen und eine gemeinsame Kultur zwingend notwendig. In der Erinnerung an ihre Geschichte und in der Vergegenwärtigung der fundierenden Erinnerungsfiguren vergewissert sich eine Gruppe ihrer Identität. Durch kollektivierende Maßnahmen wie z. B. (Gruppen-)Kommunikation, Riten und Symbole muss diese Erinnerung den Gruppenmitgliedern bewusst und erfahrbar gemacht werden. Für die Inszenierung europäischer Identität ergeben sich daraus mehrere Probleme. Ein wesentliches Problem ist in der Tatsache zu sehen, dass es bisher nicht möglich ist, eine grundsätzliche Aussage zu treffen, was eine europäische Identität auszeichnet. Wie hier gezeigt, ist es bisher weder der EU, noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gelungen, eine konkrete Definition einer europäischen Identität zu geben. Es können eine Vielzahl verschiedener Ansätze und unterschiedlicher Auffassungen unterschieden werden, wie eine europäische Identität zu realisieren ist. So wird versucht, durch den Bezug auf Vergangenheit, Herkunft, über Symbole oder aufgrund gemeinsamer Werte und Kultur eine kulturelle europäische Identität Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Versuche waren jedoch nicht erfolgreich. Als Ursachen fehlender europäischer Identität werden u. a. die fehlende räumliche Bestimmtheit der EU und eine fehlende gemeinsame historische Erfahrung genannt. Für die Ausbildung europäischer Identität kommt erschwerend hinzu, dass sie zusätzlich zu den bestehenden nationalen Identitäten ausgebildet werden muss. Des Weiteren besteht auch Unklarheit darüber, ob europäische Identität als Ursache oder Folge einer europäischen Öffentlichkeit anzusehen ist. Eine europäische Öffentlichkeit ist bisher nur in Ansätzen auszumachen. Öffentlichkeit wird heute in erster Linie über Massenmedien hergestellt. Auch die derzeitige Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission setzt auf dieses Potential. Dabei räumt sie der Internetkommunikation einen hohen Stellenwert ein. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch der Europäischen Kommission zu werten, eine europäische Identität durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” zu “inszenieren”. Wie oben gezeigt, kann aufgrund der medienspezifischen Eigenschaften eines Online-Diskussionsforums allein keine massenmediale Öffentlichkeit erreicht werden. Um eine kollektive europäische Identität zu fördern ist diese jedoch erforderlich. In “Debate Europe” wird allerdings nur eine Teil-Öffentlichkeit im Sinne einer Versammlungsöffentlichkeit angesprochen. Des Weiteren kann durch die inhaltlich-thematische Ausrichtung des Forums auf die zukünftige Gestalt der EU kein gemeinsamer Erinnerungsdiskurs hervorgerufen werden. Stattdessen wäre für die Ausbildung einer kollektiven europäischen Identität eine Diskussion über gemeinsame historische Grundlagen und Erinnerungsorte notwendig. In diesem Zusammenhang ist auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache und die unterschied- Christian Matzke 444 lichen Zugangsvoraussetzungen des Internets als Problem für eine gemeinsame europäische Identität nicht zu unterschätzen. Als entscheidender Faktor, der der Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität durch “Debate Europe” entgegensteht, ist die Anonymität des Forums bzw. des Internets allgemein zu werten. Durch Anonymität kann keine kollektive Identität inszeniert werden. Als Ergebnis kann festgestellt werden, dass eine Inszenierung europäischer Identität durch das Internet nicht möglich ist. Doch welche Möglichkeiten können stattdessen zur Herausbildung einer europäischer Identität führen? Die wichtigste Informationsquelle in der EU stellen die Massenmedien, konkret das Fernsehen dar. Als problematisch erweist sich für die EU der Aspekt, dass es keine europaweiten Massenmedien gibt. Die Medienlandschaft in der EU ist in erster Linie durch nationale Strukturen geprägt. Für Themen, die von den nationalen Medien nicht in ausreichendem Umfang abgedeckt werden besteht nur eine geringe Hoffnung, dass alternative Informationskanäle diese Lücke schließen können. Das Internet steht als Informationsquelle über die EU erst an dritter Stelle. Hingegen informieren sich knapp zwei Drittel aller EU-Bürger zu EU- Themen über das Fernsehen, welches somit die ultimative Informationsquelle darstellt. Darin liegt meiner Meinung nach ein großes Potential, das es zu nutzen gilt. Wie die Umfragen der GD Kommunikation ergaben, besteht auch in der EU-Bevölkerung ein großes Interesse an einem europäischen Fernsehsender. 7 Drei Viertel der Europäer meinen, dass sie “Europathemen” in ihrer Landessprache sehen würden. Die Unterschiede innerhalb der Europäischen Union sind hier nicht wesentlich, wobei ein reines Nachrichtenfernsehen jedoch in keinem Land bevorzugt wird. Hingegen vertritt die Bevölkerung in der Mehrheit der Länder die Variante eines Fernsehkanals, der zusätzlich zu Nachrichten und Dokumentationen Kultursendungen anbietet. Die EU sollte deshalb ihr Hauptaugenmerk verstärkt auf den Ausbau eines paneuropäischen Fernsehsenders legen. Nur mit dem Medium Fernsehen ist es möglich, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit zu erreichen, die für die Ausbildung einer kollektiven europäischen Identität notwendig ist. Eine weitere Möglichkeit liegt meiner Ansicht nach darin, die von den Medien bereitgestellten Informationen über die EU insgesamt zu erhöhen. Denn beinahe zwei Drittel der europäischen Bürger sind der Ansicht, dass die durch die nationalen Medien über EU-Angelegenheiten bereitgestellten Informationen nicht umfangreich genug sind. Von den Europäern wird der klare Wunsch geäußert, besser mit Informationen über die Union versorgt zu werden. Lediglich ein Viertel der europäischen Bürger sind der Meinung, dass Informationen im benötigten Ausmaß bereitgestellt werden. 8 Literatur Assmann, J. 4 2002: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Bieber, C. 2001: “Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit”. In: Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden. Bd. 49 (2001), 4, S. 554-556. Bucher, H.-J. 2002: “Internet und globale Kommunikation. Ansätze eines Strukturwandels der Öffentlichkeit? ”. In: Hepp, A. (Hg.) 2002: Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK, S. 500-530. 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Er differenziert zwischen einer elitären, einer funktionalen und einer medialen Öffentlichkeit (vgl. hierzu: Trenz 2003). 2 Eines der ehrgeizigsten Projekte war Europa TV, das von der EBU (European Broadcasting Union) unter der Beteiligung der Niederlande (NOS), der Bundesrepublik (ARD), Italiens (RAI), Irlands (RTE) und Portugals (RTP) ins Leben gerufen wurde. Nach nur einem Jahr wurde das in den Sprachen der beteiligten Länder synchron ausgestrahlte Programm allerdings wieder eingestellt. Der europäische Nachrichtenkanal Euronews stellt einen weiteren ambitionierten Versuch dar, jedoch bisher ebenfalls nur mit sehr begrenztem Erfolg. 3 Das Grundrecht auf Transparenz und Information wurde in der “Charta der Grundrechte der Europäischen Union” verankert. So garantiert Artikel 42 das “Recht auf Zugang zu Dokumenten”. 4 Siehe hierzu Europa: “Debate Europe! The Future of Europe Internet forum has reached one million hits”. URL: http: / / europa.eu/ rapid/ pressReleasesAction.do? reference= IP/ 06/ 989&format=HTML&aged=1&language= EN&guiLanguage=de [04.11.2010]. 5 Siehe hierzu Europäische Kommission: “Eurobarometer 67. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ archives/ eb/ eb67/ eb67_de.pdf [04.11.2010]. 6 Siehe hierzu Eurostat: “Internet-Nutzung in 2007 Haushalte und Einzelpersonen”. URL: http: / / epp.eurostat.ec. europa.eu/ cache/ ITY_OFFPUB/ KS-QA-07-023/ DE/ KS-QA-07-023-DE.PDF [6.11.2010]. 7 Vgl. Europäische Kommission/ Generaldirektion Kommunikation 2006: “Flash-Eurobarometer Nr. 189a. EU- Kommunikationspolitik und die Bürger. Befragung der Bevölkerung”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ flash/ fl_189a_de.pdf [6.11.2008]. 8 Vgl. Europäische Kommission/ Generaldirektion Kommunikation 2006: “Flash-Eurobarometer Nr. 189a. EU- Kommunikationspolitik und die Bürger. Befragung der Bevölkerung”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ flash/ fl_189a_de.pdf [6.11.2008].