eJournals Kodikas/Code 33/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
333-4

"Und die Moral von der Geschicht' ..." - Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film

2010
Jan Oehlmann
“Und die Moral von der Geschicht’…” Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film Jan Oehlmann; Leuphana Universität Lüneburg The following chapter deals with the interaction between European cinema and its relation to myths. The point of view that is presented argumentatively in the following pages is, that to make EUrope as a political construct relevant for the European citizens it needs to be visualized and emotionalized. The discussion about European identity requires a common terminological basis of central concepts like culture, values and identity. Accordingly, the article begins with a seminal introduction of relevant concepts. Especially theatrical motion pictures are supposed to be the main forum in which (political) culture and identity is constituted, inherited or altered (cf. Dörner 2000). The article argues that political symbols are inherent in every movie even if it seems non-political at first view. Using the example of The Edge of Heaven (Auf der anderen Seite, 2007),directed by Fatih Akin, it tries to depict the cinematic connection between myths, political symbols and European identity. 1 Einleitung Die Menschen in EUropa 1 begreifen ihre kulturelle und politische Identität primär als national dimensioniert. So fühlen sich Deutsche vor allem einer deutschen Kultur wie Polen dominant einem polnischen, Spanier einem spanischen und Franzosen einem französischen Kulturkreis zugehörig. Die Ergebnisse des Eurobarometers belegen regelmäßig, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu einer supranationalen, EUropäischen Gemeinschaft, das die unterschiedlichen nationalen Identitäten ergänzt, noch wenig ausgeprägt ist und tendenziell sogar schwächer wird. 2 Während sich auf der einen Seite die Regelungskompetenz der EU auch auf den einzelnen nationalen Ebenen ausweitet, bleibt auf der anderen Seite eine “Demokratie ohne Demos” (Münch 2001: 177) zurück. Die kulturpolitischen Bemühungen EUropas liegen vor allem in der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte, deren negative Ereignisse besonders in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts den Kontinent und das gesamte Weltgeschehen nachhaltig prägten. Diese Bemühungen sind ohne Zweifel zu unterstützen. Die gemeinsame Aufarbeitung der europäischen Vergangenheit ist konstitutiv für ein ehrliches und konstruktives Miteinander der europäischen Länder; sie in Frage zu stellen, käme einer Absage an die Zukunft Europas gleich. Kulturelle und politische Identität ist auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont angewiesen. Dieser entsteht aber nicht ausschließlich aus gemeinsamen, unmittelbar erfahrenen Erlebnissen (und ihrer politischen Aufarbeitung), sondern wird zum großen Teil mittelbar K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan Oehlmann 390 unterschiedlichen kulturellen Ressourcen entnommen, die keinen historisch überprüfbaren Realitätsbezug aufweisen, also fiktional sind (vgl. Dörner 2000: 162 f.). Die EU ist ein primär massenmedial konstruierter öffentlicher Raum, doch es mangelt dem Modell an symbolischer Repräsentation, die über die des politisch-faktischen hinausgeht. Die Imagination der Union bleibt deshalb kryptisch und unverständlich. Die geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen - wie zuletzt im Juni 2009 - verweist auf diese grundlegende Problematik einer fehlenden Identifikation und dem damit verbundenen Verlust von politischer Partizipation der BürgerInnen. Die europäische Integration ist nicht allein ein politischer und ökonomischer Prozess, denn die Entwicklung einer europäischen Identität findet außerhalb von Verträgen, Gesetzen, Verordnungen und offiziellen Erklärungen auf Grundlage von “imagined communities” (Anderson 2006) statt. Diese vorgestellten Gemeinschaften sind, wie im Folgenden noch dargestellt werden soll, keine Ergebnisse isolierter Prozesse, sondern hängen mit dem kollektiv vermittelten Gemeinschaftsbild zusammen, das nicht lokal begrenzt ist, sondern über translokale, grenzüberschreitende Diskurse konstituiert wird. Eine zentrale Rolle dabei spielen Geschichten, die im Laufe der Zeit erzählt, interpretiert, umgedeutet und weitergegeben werden und die Fragen nach Herkunft und Legitimation einer Gemeinschaft stellen. Ihre Qualitäten liegen weniger in ihrem historisch überprüfbaren Wahrheitsgehalt (siehe oben), als vielmehr in den ordnenden, sinnstiftenden, integrativen, legitimierenden und nicht zuletzt auch mobilisierenden Funktionen. An die Stelle der Menschmedien als klassische Erzählmedien vergangener Tage, die am offenen Feuer als Versammlungsort dörflicher Gemeinschaften von den heldenhaften Geschichten der Vorfahren erzählten, sind heute die technischen Medien und insbesondere der Kino- und Fernsehfilm getreten. Die strahlende Leinwand im Kinosaal fungiert heute als Lagerfeuer, um das sich die Menschen gemeinsam 3 versammeln, um in leicht zugänglichen und allgemein verständlichen (populärkulturellen) Geschichten des “Hier und Jetzt” Orientierungshilfe für die komplexe Realität zu erfahren. Dies gilt für kleine regionale Gruppen in gleichem Maße wie für die supranationale Gemeinschaft EUropa. Der vorliegende Beitrag soll verdeutlichen, welche Rolle populärkulturelle, fiktionale Texte bei der Konstituierung von politischer Identität spielen können, wenn sie auf Geschichten zurückgreifen, die Ausdruck sind von der Suche nach Wahrheit, Sinn und Bedeutung. Es soll gezeigt werden, dass eben diese Funktionen von Geschichten vor allem durch mythische Erzählungen erfüllt werden können. 4 2 Das Verhältnis zwischen Werten, Identität und populär-kulturellen Texten Das Thema der kulturellen Identität erfordert einführend eine Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Verständnis von Kultur, da eine unterschiedliche Auffassung zwangsläufig auch zu einem differierenden Identitätsbegriff führt. Es ist offen zu legen, welcher Kulturbegriff in der politischen Debatte verwendet wird und wie sich dieser auf die Identitätsbildung auswirkt. Die These, dass EUropa auf einer einenden Wertetradition aufbaut, wie es die metaphorische Formulierung der “kulturellen Wurzel Europas” suggeriert, scheint vor dem Hintergrund der zahlreichen Konflikte in der Geschichte der europäischen Staaten sehr fraglich. Eine europäische Kulturgemeinschaft, die ihre Gemeinsamkeit in einem geteilten präsozialen Ursprung findet, ist eher eine Wunschvorstellung. Bei Betrachtung der Geschichte Europas werden vielmehr die Bruchstellen und Differenzen deutlich, die auch heute noch sichtbar sind und den politischen Diskurs bestimmen. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 391 “It [Europe; J. O.] stands as a cultural zone - some might even say desire - as complex in its spatial and administrative logics as in the dynamic flows of its histories, its inhabitants and their symbols. […] [A] closer look reveals underlying ambiguities and exceptionalism.” (Uricchio 2008: 13) Die Erkenntnis, dass die gemeinsame Geschichte insbesondere von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägt war, muss nicht zu der pessimistischen Einschätzung führen, dass die aus diesen Divergenzen resultierenden unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen einer gemeinsam zu gestaltenden Zukunft gegenüberstehen. Auch Joas & Wiegandt verweisen in diesem Kontext auf den konstitutiven Bezug von Werten zu Erfahrungen und Deutungen, der es möglich macht, die Partikularität jeder Erfahrungsgeschichte mit dem Universalismus von Werten zu verknüpfen (vgl. Joas & Wiegandt 2006: 38). Vielmehr sollten die Spaltungen und Grenzziehungen, die die Geschichte Europas prägten, anerkannt werden, denn erst aus den Deutungen dieser Erfahrungen lassen sich Werte bestimmen, die grenzüberschreitend geteilt werden. Wagner bestimmt dazu vier zentrale Konflikte in der europäischen Geschichte, aus deren Erfahrungen entsprechende Werte generiert werden konnten: Die Werte Pluralität und Vielfalt resultierten aus den Erfahrungen der Reformation und Glaubenskriege. Die absolute Wahrheit wurde nach diesen in Frage und die vielfältigen Bestrebungen des individuellen Handelns in den Mittelpunkt des Lebens gestellt. Das Bekenntnis zur Freiheit und gemeinsamer Selbstbestimmung erfolgte aus den Erfahrungen, die im Entwicklungsprozess zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gemacht werden konnten und damit eine Verbindung schufen zwischen der persönlichen Freiheit des Einzelnen und der politischen Freiheit zur kollektiven Selbstbestimmung. Die Erlebnisse aus den Auseinandersetzungen von Kapitalismus und Klassen im Kampf gegen soziale Ungleichheit und wachsender Verarmung generierten drittens die Werte Gleichheit, Wohlstand und Solidarität. Die Erwartungen in einen offenen Horizont der Zukunft haben sich nach Wagner ebenso aus den Erfahrungen von Revolution und Nation entwickelt, wie der Glaube an eine selbstbestimmte und friedliche Ordnung (vgl. Wagner 2006: 501 ff.). Der jüngste und größte Bruch in der Beziehung der europäischen Staaten wird vom Nationalsozialismus und dem daraus resultierenden Zweiten Weltkrieg markiert. Die schmerzhaften Erfahrungen aus dieser Zeit bestimmen auch heute noch die Beziehungen der betroffenen Länder. 5 Die politisch-kulturelle “Lehre” nach 1945 war, dass zur Sicherung der in der europäischen Geschichte erlangten politischen und kulturellen Werte, eine grenzüberschreitende, solidarische, friedensorientierte Zusammenarbeit europäischer Staaten notwendig ist. Auf der Suche nach gemeinsamen Werten ist also sehr schnell festzustellen, dass diese aus den konfliktreichen Erfahrungen heraus entstanden und nicht einer europäischen Kultur sui generis inhärent sind. Möchte man bei der floralen Allegorie bleiben, die für die Suche nach europäischer Identität immer wieder gerne verwendet wird, so sind es weniger Wurzeln, die als Beschreibung dienlich scheinen (die kulturellen Wurzeln Europas, aus denen sich ein gemeinsames Schicksal ableiten lässt), als vielmehr die Allegorie der Krone, die aus Verzweigungen, Verwachsungen und Verästelungen (auch mit anderen Kronen) entsteht, einzelne Astbrüche überwinden und Stürmen standhalten muss, aber dennoch weiter wachsen kann. Die Diskussion um die europäische Identität sollte nicht ausschließlich auf einer retrospektiven Suche nach kulturellen Wurzeln basieren, sondern von einem perspektivischen politischen Zukunftsprojekt EUropas geleitet sein. Das historische Argument muss also ergänzt werden von einem modernen, liberalen, multikulturellen Argument, das auf die zukünftige (offene) Entwicklung ausgerichtet ist (vgl. Meyer & Eisenberg 2009: 8). Europäische Kultur darf kein exklusives und damit exkludierendes Erbe der Vergangenheit sein, sondern muss ein zeitge- Jan Oehlmann 392 mäßes Konzept für die europäische Zukunft bereithalten. In Hinblick auf die Vergangenheit Europas scheint eine essentialistische kulturelle Tradition konstruiert, wohingegen das Bewusstsein einer gemeinsamen Gestaltung auf Grundlage politisch-ethischer Übereinstimmung die logische Konsequenz aus der Anerkennung von Vielfalt und Differenzen ist. Derrida & Habermas konstatieren diesbezüglich, dass “der politisch-ethische Wille [Europas; J. O.], der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, […] nicht willkürlich [ist] im Gegensatz zu politischen Traditionen, die im Sinne ihrer Naturwüchsigkeit Autorität ‘heischen’.” (Derrida & Habermas 2003: 11; Hervorh. nicht im Original) Kultur ist ein Komplex, das sich aus unterschiedlichen Sinnsystemen konstituiert und nicht eine bewertbare, erstrebenswerte Lebensweise im Sinne eines normativen Kulturbegriffes (vgl. Reckwitz 2000: 84). Für dieses bedeutungs- und wissensorientierte Verständnis von Kultur ist das Symbolische von zentraler Bedeutung (vgl. folgendes Kapitel). Das Konzept einer EUropäischen Identität muss sich von dem eines nationalen Zugehörigkeitsgefühls lösen. Aktuell 27 Mitgliedsstaaten mit ihren mannigfaltigen, grenzüberschreitenden Kulturgemeinschaften stellen ein prononciert heterogenes Fundament kultureller Ressourcen dar, das als Grundlage eines zusammenfassenden homogenisierenden Konzeptes europäischer Identität denkbar ungeeignet erscheint. Europa als kulturell-historisches Gebilde besteht (im Gegensatz zum politischen Modell) aus mehr als den zu einem bestimmten Zeitpunkt zugehörigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (vgl. Schmale 1997: 12). Es stellt sich demnach die Frage nach dem grundlegenden Verständnis von Identität, das einem konstruierten, von kultureller Heterogenität geprägten politischen Gebilde wie der EU angemessen ist. Neben der Relevanz, die die Identität für das politische Gemeinwesen hat, ist vor allem das Konzept zu ihrem Ursprung, ihren Bedingungen sowie ihren Inhalten Bestandteil grundlegender Diskussion 6 (vgl. Meyer & Eisenstedt 2009: 7). Einigkeit scheint lediglich in dem Bewusstsein über die Notwendigkeit von Identität zu bestehen. Die tradierte Bedeutung des Begriffes (lat. idem: dasselbe/ derselbe) die auf eine nach Innen gerichtete Homogenität von Gemeinschaften abzielt, hat einen dezidiert normativen Charakter und scheint unbrauchbar, möchte man sich nicht erneut in einem ideologischen und kulturellen Konformismus verwickeln, dessen national-staatliche Auswüchse Europa im 19. und 20. Jahrhundert brandmarkten. Die soziale und kulturelle Struktur Europas ist von großer Vielfalt geprägt, so dass für die europäische Identität die Anerkennung der unterschiedlichen religiösen, ethnischen und kulturellen Teilidentitäten der Menschen elementar ist. Der bezeichnende Aphorismus “Einheit in der Vielfalt”, der zur zentralen Devise der Union geworden ist, scheint dieser Prämisse augenscheinlich Rechnung zu tragen. 7 Je nach Perspektive kann dieser Leitsatz jedoch unterschiedlich gedeutet werden und repräsentiert damit sehr pointiert die Problematik der Identitätsfrage: “[…] that ‘unity in diversity’ - like ‘democratic centralism’ - is a deliberately ambiguous and ideologically loaded formula that can be interpreted either as a celebration of pluralism and local autonomy or as its antithesis: power to the centre.” (Shore 2000: 54) Um der Dynamik EUropas gerecht zu werden, muss die europäische Identität nicht zuletzt aufgrund der ungeeigneten historisch-kulturellen Argumente als politisches Konzept verstanden werden und nicht als Konsequenz eines kulturellen Erbes. Die europäische Identität meint eine gemeinsame politische Mentalität und bezieht sich in diesem Sinne auf die gemeinsamen Deutungsmuster, die aus den geteilten Erfahrungen - wie oben beschrieben - “Und die Moral von der Geschicht’ …” 393 resultieren. Identität erschließt sich nicht aus einem essentialistischen Ansatz heraus, sondern im Rahmen lokaler Einbettung von translokalen symbolischen Ressourcen (vgl. Hepp 2003). In einer Zeit fortschreitender Individualisierung und Enttraditionalisierung, in der die Frage nach sozialer Einbettung in zunehmend abstrakten und bruchstückhaften Lebensräumen gestellt wird (vgl. Röll 1998: 34 f.), erfolgt die Identitätsbildung nicht zuletzt durch massenmediale Kommunikation. Dies gilt für die Identität mit einem grenzüberschreitenden politischen Konzept wie es die EU darstellt im besonderen Maße. Das grenzüberschreitende Zugehörigkeitsgefühl gründet auf kollektiven Symbolsystemen und die mit ihnen konstituierten Vorstellungen, Imaginationen. 8 Identitäten sind dabei nicht nur rational sondern zentral emotional bestimmt und somit auch steuerbar. Als nicht unbedeutendes Steuerungsinstrument können fiktionale (Film-) Geschichten gesehen werden, da in ihnen sowohl die dramatische Inszenierung als auch die symbolische Verdichtung zentral ist - denn kollektive Identität ist ein soziales Konstrukt, das mit Hilfe von symbolischer Codierung zu Stande kommt (vgl. Dörner 2000: 19). Identität als gemeinsames Deutungsmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird konstruiert, tradiert und in ästhetischen Konstruktionen repräsentiert (vgl. Knabel et. al. 2005: 10). Diese ästhetischen Konstruktionen der Identitätsangebote werden heute vor allem medial und vielfach grenzüberschreitend vermittelt. Unterhaltung stellt dabei das dominante Format der durch Massenmedien vermittelten Kommunikation dar (vgl. Dörner 2000). In unterhaltenden, inszenierten Geschichten wird die Realität strukturiert und mit ihnen Sinn und Deutungsangebote zur Verfügung gestellt. Die Populärkultur ist somit untrennbarer Teil der Lebensführung, da sie als wichtiges Forum der Identitätsbildung dient. 9 Die populärkulturellen Formate sind durch leichte Zugänglichkeit und Orientierungsfreundlichkeit geprägt, das macht sie so bedeutsam für die Vermittlung komplexer (politischer) Zusammenhänge. Die Wahrnehmung augenscheinlich unpolitischer, inszenierter Bilder- (Geschichten), die offenbar “immer verständlich und zumeist auch fraglos gültig [sind]”, beeinflussen bedeutend den “Kernbereich sozialer Welterfahrung” (Meyer 2001: 107). Bereits 1936 weist Walter Benjamin in seinem viel zitierten Text “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” darauf hin, dass die “Rezeption in der Zerstreuung” weitaus wirksamer die kollektiven Vorstellungen erreicht, als es “gesammelte” Informationen also bspw. strategische Imagekampagnen vermögen (vgl. Benjamin 2003 [1936]: 40-41). Zur Bildung einer europäischen Identität muss vor allem die emotionale Dimension angesprochen werden, um den Integrationsprozess zu unterstützen, denn die Schwierigkeit liegt in der Visualisierung der EU als politisches Abstraktum 10 (vgl. Wagener & Eger & Fritz 2006: 15 f.). Die Wahrnehmung des politischen Alltags ist aufgrund seiner Komplexität und Translokalität nicht mehr unmittelbar möglich, sondern muss zu größten Teilen über Medien vermittelt erfolgen. “Die wichtigste Funktion der Massenmedien liegt darin, politische Kultur sichtbar zu machen. Vorstellungswelten, Werte, Normalitäten und Identitäten nehmen im Mediendiskurs weithin wahrnehmbar sinnliche Gestalt an. Diese Visibilisierung des Kulturellen ist die Grundvoraussetzung für die Präsenz des politisch Imaginären im Wahrnehmungsraum der Bürger.” (Dörner 2000: 157; Hervorh. nicht im Orig.) Der zentralen Relevanz von (Sinn-) Bildern und Symbolen als Deutungshilfe ist man sich auf offizieller Seite der EU durchaus bewusst - die zahlreichen Europa-Symbole auf Zahlungsmitteln und offiziellen Dokumenten, die Europa-Hymne, der Europatag am 09. Mai etc. sind nur einige Beispiele für die vielfache symbolische Repräsentation des politischen Konzepts. 11 Dennoch liegt die EU außerhalb der alltäglichen Lebenswelt der Menschen und wird deshalb Jan Oehlmann 394 auch lediglich als abstraktes politisches Konstrukt wahrgenommen. 12 Bezüglich des oben skizzierten Phänomens der translokalen Verbreitung kultureller Ressourcen bei gleichzeitiger lokaler Aneignung (die auf die Alltagsrelevanz verweist) ist zu erwähnen, dass vor allem fiktionale, populärkulturelle Formate grenzüberschreitend in Erscheinung treten. 13 Dies bedeutet, dass besonders in fiktionalen Bildgeschichten der europäischen Filmproduktionen Darstellungen, die den eigenen Erfahrungs- und Lebensbereich der BürgerInnen betreffen, dazu dienen können, außerhalb explizit politischer Thematik die EU sichtbar und erlebbar zu machen. Diesen Bildern in fiktionalen Formaten ist nicht primär eine politische Informationsabsicht inhärent, doch repräsentiert Europa als filmischer Raum und Ort der Handlung auch immer eine bestimmte Vorstellung/ Imagination des außerfilmischen, wahrhaftigen Lebensraums sowie seiner zentralen Werte und Ideale. Die gemeinsamen Vorstellungsbilder über die Welt des Politischen, die die Identität der europäischen BürgerInnen bestimmen, werden heute zentral von den Alltag durchdringenden, populären Medieninhalten geprägt. Die populärkulturellen Texte spielen mit ihrem bedeutsamen Integrations- und Inklusionsvermögen eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Identitätsangeboten (vgl. Saxer, 2007: 68). In den inszenierten Bildergeschichten wird vorgeschlagen, was wünschens- und erstrebenswert sein sollte, denn die Suche nach identitätsstiftenden Werten ist für die Narration fiktiver Geschichten konstitutiv. Sie sichern ein emotionales Involvement, das die inhärenten Sinn- und Deutungsstrukturen, die grundlegenden Werte und Normen über die sachliche Argumentation hinaus legitimieren. Besonders die Sehnsucht des Menschen nach einem krisenlosen, harmonischen Zustand, der in populärkulturellen Texten das erstrebenswerte Ende beschließt, wird durch eine bestimmte Erzählstruktur in entsprechender Weise bedient. Die Herstellung der moralischen Ordnung ist zentraler dramaturgischer Bestandteil des Endes in mythischen Narrationen. “Die Hauptfunktion der Mythologie ist, uns in Harmonie und Einklang mit dem Universum zu bringen und zu erhalten” (Campbell 1993: 7) sowie in sinnhaft strukturierter Weise von einer Welt zu erzählen, deren Werte und Normen auch außerhalb der Geschichte attraktiv sind. 3 Der Mythos als identitätsstiftende “Geschichte” In der alltagssprachlichen Verwendung werden Mythen überwiegend in einen Kontext antiquierter Göttererzählungen und sagenhafter Herosgeschichten gestellt. Diese umgangssprachliche Bedeutungszuweisung ist nicht falsch, verengt aber aufgrund der inhaltlichen Bestimmung die Vorstellung ihrer vielfältigen Erscheinungsformen. Mythen sind nicht ausschließlich anachronistische Erzählungen, die in einer Gemeinschaft “vererbt” werden, sondern überzeitliche Geschichten, die die Grundbedingungen des menschlichen Lebens thematisieren (vgl. Hickethier 2001: 114). “Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen, aber keine inhaltlichen.” (Barthes 2004 [1957]: 499) Dies bedeutet, dass Mythen zwar wiederkehrende Erzählmuster, Motive, Handlungsmodelle und Themen aufweisen, aber inhaltlich entsprechenden Wandlungen unterliegen. Sie weisen eine strukturelle Kontingenz auf, ohne in ihrem Sujet festgelegt zu sein. Deshalb hat das Mythische auch heute nicht von seiner individuellen und kollektiven Attraktivität verloren. Besonders populärkulturelle Texte greifen erfolgreich auf Mythen zurück, zitieren, adaptieren, modifizieren oder kommentieren sie (vgl. Dörner 2000: 227 ff.). Ihre alltägliche Relevanz lässt sich insbesondere auf ihre sinnstiftende Funktion zurückführen. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 395 “Myths are therefore works of art that purvey a significant level of insight about the world and our concrete involvement in it.” (Singer 2008: 2) Die Weltwahrnehmung des Menschen findet - wie bereits oben dargestellt - nicht unmittelbar statt. Mit Hilfe von Riten, Bildern, Symbolen und Sprache werden Abbilder konstruiert, die Repräsentanzen eines weniger komplexen Erfahrungsraums darstellen. Cassirer definiert in diesem Zusammenhang den Menschen als “animal symbolicum” (Cassirer 1990: 51). Zwar sei die rationale Erfassung der Welt ein dem menschlichen Handeln immanentes Merkmal, so Cassirer, sie weise jedoch bei überhöhter Komplexität 14 der zu erfassenden Sachverhalte entsprechende Grenzen auf, so dass das symbolische Denken und Verhalten als conditio sin qua non für den gesamten Fortschritt der Kultur betrachtet werden muss. Demnach entsteht erst auf Grundlage des Symbolsystems das rationale Denksystem des Menschen. Das tragende Fundament aller Symbolik ist für Cassirer der Mythos: “Im Mythos stoßen wir auf die ersten Versuche, die Dinge und Ereignisse in eine chronologische Ordnung zu bringen, eine Kosmologie und eine Genealogie der Götter und Menschen zu entwerfen.” (Ebd.: 264) Er dient als Instrument, um die Wirklichkeit angemessen zu denken, zu deuten und ihr Sinn zu verleihen. Mythen sind Narrationen, die vom Suchen und Finden von Sinn und Bedeutung erzählen und somit nicht nur eine grundlegende Orientierungsfunktion erfüllen, sondern darüber hinaus auch eine einheitsstiftende Wirkung entfalten (vgl. Röll 1998: 90). Bezug nehmend auf die obigen Ausführungen zu europäischen Werten und kultureller Identität, wird deutlich, dass Mythen auch hier Orientierung bieten und somit sinnstiftend wirken können. Bizeul stellt insgesamt fünf zentrale Funktionen von Mythen dar. Er unterscheidet dabei die bereits skizzierte sinnstiftende Funktion sowie die ordnende, die integrative, die legitimierende respektive delegitimierende als auch die mobilisierende Funktion und bezieht sich dabei auf die grundlegenden Arbeiten zum Mythos von Barthes, Blumenberg und anderen. 15 Die ordnende Funktion entfaltet der Mythos aufgrund der wiedererkennbaren Ähnlichkeit seines narrativen Musters, das die Wirklichkeit strukturiert und die zentralen Werte und Normen ordnet. Ebenso in der narrativen Eigenheit des Mythos, in der die lineare Erzählweise konstituierend ist, liegt seine integrative Funktion begründet. Diese Linearität (z. B. die Linearität in der Reise des Helden; vgl. Krützen 2004) schafft Kontingenz und ermöglicht dadurch einen leichten Zugang sowie allgemeine Verständlichkeit, in dem die in ihrem Gerüst gleich bleibende narrative Struktur Komplexität reduzierend wirkt. Der Mythos ist somit im Modus des Verständlichen in der breiten Öffentlichkeit verankert und kann Sinn- und Deutungsangebote in der pluralistischen Gesellschaft einem größtmöglichen Rezipientenkreis zur Verfügung stellen. In ihm selbst werden diese Sinn- und Deutungsangebote überprüft, indem sie mit der Erzählung verknüpft sind und dadurch ihre Relevanz entfalten. Sie werden im Rahmen der Handlung evaluiert und liefern infolgedessen mögliche Handlungsmodelle, die die mobilisierende Funktion der Mythen bestimmen. Sie funktionieren dabei als Motivatoren, indem die angebotenen Handlungsmodelle als Vorbild angeeignet werden können 16 (vgl. Bizeul 2005: 33 f.). Eine Kritik an mythologischen Geschichten, die auf den angeblich normativen bis persuasiven Charakter des Mythos abzielt, ist aus verschiedenen Gründen unberechtigt. Bei diesem Vorwurf werden vor allem Mythen als Untersuchungsgegenstand herangezogen, die einer verpflichtenden, ideologischen Umformulierung unterzogen wurden. Mythen - wie sie in diesem Beitrag verstanden werden - vertreten im Gegensatz zur Ideologie keine Doktrin und Verbindlichkeit. “Alles was das Dogma erfordert, erläßt der Mythos. Er erfordert keine Jan Oehlmann 396 Entscheidungen, keine Bekehrungen, kennt keine Apostaten, keine Reue.” (Blumenberg 1996: 32) Besonders der kulturellen Heterogenität Europas kommt der Mythos entgegen, indem er durch seine “sowohl/ als auch” - Struktur im Gegensatz zu einer ideologischen “entweder/ oder” -Struktur (Bizeul) Deutungsfreiheit schafft und polykulturelle Zugänglichkeit beweist: “Der diachrone Wandel und die synchrone Vielfalt kultureller Rahmenbedingungen schließen deshalb den Wandel und die Vielfalt von Mythen und Symbolen ebenso ein wie die Modifikation von Identitätsentwürfen.” (Knabel et. al. 2005: 10) Dennoch hat es die Europäische Union bis heute nicht geschafft, die Nationalmythologien der einzelnen europäischen Länder, die in erster Linie das nationale Bewusstsein stärken, zu ergänzen durch überzeugende europäische Mythologien, die identitätsstiftend als große Erzählungen einer supranationalen Gemeinschaft dienen können. Die in diesem Beitrag formulierte Perspektive zur Problematik eines gemeinsamen Wertehorizonts, die die vergangenen Konflikte des Kontinentes anerkennt und mit einbezieht, könnte ein möglicher Ansatz für europäische Mythen darstellen. Die Werte, die sich aus den Erfahrungen der Grenzziehungen, Spaltungen und Kriege der europäischen Vergangenheit ergeben, verweisen auch auf die besondere Leistung Europas im Sinne einer politischen Errungenschaft, die dazu beitrug, den Schatten der vergangenen Konflikte zu überwinden. Wer hätte 1945 gedacht, dass heute, lediglich 65 Jahre nach einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte, 27 Staaten in einer offiziellen Gemeinschaft ihre Zukunft vereint gestalten wollen? Diese enorme Leistung - und mag sie zu Beginn vielmehr ökonomisch und außenpolitisch als kulturell intendiert gewesen sein - gilt es anzuerkennen und als “große Erzählung” wertzuschätzen. Europäische Mythen müssen also einerseits auf die Vielfalt und Individualität der Länder verweisen, andererseits jedoch ihre Kollektivität in den gemeinsamen Zielen und (politischen) Werten verankern. Die Vorstellung von einem einzigen Monomythos ist dabei in Anlehnung an die vorherigen Ausführungen zu korrigieren. Vielmehr sind es heute die kleinen mythischen Erzählungen, die die großen nationalen Mythen ersetzt haben und regional konnotiert sind (translokale Verbreitung/ lokale Aneignung und alltägliche Relevanz). Dies wird insbesondere durch die massenmediale Distribution begünstigt, da es zum medialen Wirkungspotential gehört, den Mythos und seine unterschiedlichen Differenzierungen (Mytheme) stets neu zu deuten, zu interpretieren und zu adaptieren (vgl. Karpenstein-Eßbach 2004: 249). “Lokale Mythen haben eine besondere Kraft, kulturelle und politische Selbstverständnisse zu formieren. Sie dienen der Vergewisserung eigener Mächtigkeit und erzählen von den Kämpfen, die durchzustehen waren, um ein begehrtes Gut zu erringen. Ihre Affinität zum Bereich des Politischen liegt darin, daß sie Identitätskonstruktionen ermöglichen […].” (Ebd.: 248) Die Zukunft EUropas wird davon bestimmt werden, wie sehr sich die Bürger dem grenzüberschreitenden Konzept verbunden fühlen. Ob Ihnen davon erzählt wird, wie wertvoll diese Gemeinschaft in Hinblick auf die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit und die vor Ihnen liegende gemeinsam zu gestaltende Zukunft ist, kann dabei richtungweisend sein. 4 Mythos und politische Kultur in Fatih Akins A UF DER ANDEREN S EITE Im Folgenden soll anhand eines aktuellen Filmbeispiels gezeigt werden, wie die beschriebene Thematik in Form einer audiovisuellen Geschichte erzählt werden kann, und auf welche Art “Und die Moral von der Geschicht’ …” 397 und Weise das Politische dabei präsent ist. Der in Europa sehr erfolgreiche 17 Film des Regisseurs Fatih Akin A UF DER ANDEREN S EITE (2007) eignet sich in besonderer Weise, um an dieser Stelle exemplarisch zu zeigen, dass populärkulturelle Texte sowohl strukturell an Mythen orientiert sind sowie auf mythologische Inhalte zurückgreifen, und dass diese Rückgriffe auch als Instrumente dienen können, um aktuelle politische Themen zu diskutieren. Die deutsch-türkische Koproduktion ist der zweite Teil der “Liebe, Tod und Teufel” - Trilogie des Regisseurs und verweist bereits im Titel auf das Sujet des Films, der in einer komplexen Dramaturgie nicht nur vom Tod erzählt, sondern auch vom “Leben” nach diesem, das in den Beziehungen der hinterbliebenen Freunde und der Familie weitergeführt wird. 18 A UF DER ANDEREN S EITE erzählt in drei Akten 19 von sechs türkischen und deutschen Menschen, deren Lebenswege sich über die politischen, geografischen und kulturellen Grenzen hinweg auf schicksalhafte Weise kreuzen. An diesen Schnittstellen der Lebenswege werden Fragen nach den zentralen moralischen und ethischen Werten, grenzüberschreitender Identität und politischer Kultur gestellt. Zum Inhalt 20 : Der in Bremen lebende Witwer Ali überredet die türkische Prostituierte Yeter, deren regelmäßiger Freier er ist, bei ihm einzuziehen. Sein Sohn Nejat, Germanistikprofessor an der Hamburger Universität, ist über diese neue Situation im Hause seines Vaters erst sehr irritiert, findet sich aber mit der Situation zurecht, als er erfährt, dass Yeter vor allem der Prostitution nachgeht, um ihrer Tochter Ayten das Studium zu finanzieren. Doch die eher zweckorientierte Beziehung zwischen Ali und Yeter ist von unterschiedlichen Lebensweisen geprägt, die immer wieder zum Streit führen. Als die Situation eskaliert, wirft Ali Yeter zu Boden, infolgedessen sie tödlich mit dem Kopf aufschlägt. Um Ayten vom Tod ihrer Mutter zu berichten, macht sich Nejat auf den Weg in die Türkei, unwissend, das Ayten sich bereits seit einiger Zeit ebenso in Hamburg aufhält. Sie flüchtete zuvor vor der türkischen Polizei, die sie aufgrund politischer Aktivitäten verfolgt. Doch da sie ihre Mutter nicht finden kann, wendet sich Ayten an die gleichaltrige Studentin Lotte. Es entwickelt sich eine homoerotische Beziehung zwischen ihnen, die von starker emotionaler Nähe geprägt ist. Als Ayten und Lottes Mutter Susanne in der Küche ein Streitgespräch über die politische Zukunft der Türkei führen, in dem Susanne der jungen Frau die Notwendigkeit ihrer politischen Aktivitäten abspricht (siehe folgender Dialog), verlässt Ayten wütend das Haus. Daraufhin wird sie von der deutschen Polizei bei einer Passkontrolle aufgegriffen und in die Türkei zurückgeschickt, wo sie inhaftiert wird. Um ihrer Freundin beizustehen, macht sich Lotte nun ebenfalls auf den Weg in die Türkei und mietet bei Nejat ein Zimmer an, der sich mittlerweile dazu entschlossen hat, einen alten Bücherladen für deutsche Literatur weiterzuführen. Bei dem Versuch, eine Pistole verschwinden zu lassen, die Ayten vorher für einen Freund versteckte, wird Lotte erschossen. Als Susanne vom Tod ihrer Tochter erfährt, verlässt auch sie Deutschland in Richtung Bosporus und zieht in Lottes ehemaliges Zimmer bei Nejat ein. Während sie den Tod ihrer Tochter verarbeitet, entschließt sie sich, Ayten zu helfen (siehe Abb. 3). Das wiederkehrende Motiv des Flusses (siehe folgende Abb. 1) verweist auf die “Styx” in der griechischen Mythologie, die sinnbildlich als Grenze und Übergang zwischen Lebens- und Totenwelt steht. Dieses Übergangsmotiv ist jedoch nicht nur auf die Sterbenssymbolik beschränkt, sondern kann darüber hinaus als eine breitere Symbolik des Übergangs gedeutet werden. So ist “die andere Seite” im Film zweifach konnotiert. Sie steht einerseits für die Existenzfrage nach dem Tod Yeters und Lottes, aber zugleich auch für den Übergangszustand der Türkei vor einem möglichen Beitritt zur EU. Jan Oehlmann 398 Abb. 1: Nejat (Baki Navrak) blickt auf die “andere Seite”. Der Verweis auf die Styx als Übergang in die neue Welt ist mythologischer Hintergrund für die Fragen des menschlichen und politischen “Übergangs”. Die Grenzmarkierung bzw. -überschreitung wird im Film also neben der metaphysischen Bedeutung auch geografisch bzw. politisch thematisiert. Der Bosporus als Grenze zwischen Europa und Asien deutet auf die aktuelle politische Frage, ob die Türkei EU-Mitglied und damit auch “institutionell” als Teil EUropas anerkannt werden soll. A UF DER ANDEREN S EITE beschreibt die unterschiedlichen politischen Kulturen zwischen Deutschland und der Türkei sowie den politischen Druck, unter dem das Land im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen steht. Im Film sind unter anderem Bilder von Demonstrationen am Tag der Arbeit zu sehen, die sowohl in Deutschland (im Film exemplarisch Bremen) als auch in der Türkei (Istanbul) stattfinden, sich aber in ihrer politischen Symbolik entsprechend unterscheiden. 21 Während bei der Demonstration in der deutschen Hansestadt vor allem ein vergnügliches und geordnetes Marschieren zu Spielmannszugmusik mit Volksfeststimmung gezeigt wird, ist die Situation in Istanbul von Spannung und Gewalt geprägt, die durch eine lebensbedrohliche Verfolgungsjagd zwischen Polizei und Demonstranten durch die engen, labyrinthartigen Gassen dargestellt wird. Trommelstock auf der einen Seite und Schlagstock auf der anderen machen im Film deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen Deutschland als Mitgliedsland der Europäischen Union und der Türkei als Beitrittskandidat in Bezug auf die politischen Kulturen sind. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 399 Abb. 2: Trommelstock (links; Deutschland) oder Schlagstock (rechts; Türkei). Die unterschiedliche Symbolik politischer Kultur. Auch das folgende Gespräch zwischen der türkischen Politaktivistin Ayten Öztürk (Nurgül Yesilçay) und der deutschen Mutter ihrer Freundin, Susanne Staub (Hanna Schygulla), verdeutlicht die politischen Dimensionen des Films als Dialog zwischen dem “alten” und “neuen” Europa: Susanne: “My daughter told me you were persecuted for political activities? ” Ayten: “Yes, I am a member of a political resistance group in Turkey.” Susanne: “And what exactly are you fighting for? ” Ayten: “We are fighting for hundred percent human rights and hundred percent freedom of speech and hundred percent social education. In Turkey just people with money can have education.” Susanne: “Maybe things get better once you get into the European Union.” Ayten: “I don’t trust the European Union.” Susanne: “Why not? ” Ayten: “Who is leading the European Union? It is England, France and Germany and Italy and Spain - these countries are all colony countries. It’s globalization and we are fighting against it.” Susanne: “Maybe you are a person, who just like to fight? ” Ayten: “You think I am crazy? If a country kills the people, the folk, just because they think different or look different or because they protest to have work and energy and schools, you have to fight back.” Susanne: “Maybe, everything will get better once you get into the European Union.” Ayten: “Fuck the European Union! ” Dieser politische Dialog wirft die Frage auf, ob der EU-Beitritt der Türkei auch die Lebenssituation der Menschen in diesem Land verändern kann, oder ob diese Veränderung - wie Ayten in ihrer politischen Aktivität demonstriert - von den Menschen selbst herbeigeführt werden muss. Ayten zweifelt an der EU als Ideal einer politischen Gemeinschaft. Der Film liefert keine Antwort auf makropolitischer Ebene, sondern stellt die (mikropolitische) zwischenmenschliche Solidarität in den Mittelpunkt. Ayten wird im weiteren Verlauf des Films von der deutschen Polizei aufgegriffen, in die Türkei abgeschoben und dort inhaftiert. Susanne fasst daraufhin den Entschluss, Ayten ihre Hilfe anzubieten, so wie es ihre verstorbene Tochter gewollt hätte. Jan Oehlmann 400 Abb. 3: Susanne (Hanna Schygulla) bietet der politischen Aktivistin Ayten (Nurgül Yesilçay) ihre Hilfe an. Die Bilder, die das Gespräch der beiden zeigen, verdeutlichen nicht nur die Einbzw. Abgrenzung der inhaftierten Ayten sondern verweisen auch auf die politische Abgrenzung der Türkei. Das alte Europa (Susanne) auf der einen Seite und der türkische Beitrittskandidat (Ayten) “auf der anderen Seite” sind voneinander getrennt. Doch die Grenze zwischen ihnen kann - und das ist die politische Aussage des Films - unabhängig von den Entscheidungen auf der Bühne der offiziellen Politik auf der zwischenmenschlichen Ebene der gemeinsamen (politischen) Werte überschritten werden. Die gemeinsame politische Kultur der Menschen, die auf Solidarität, persönlicher Freiheit und politischer Freiheit der kollektiven Selbstbestimmtheit, Pluralität und Vielfalt sowie auf den Erwartungen an einen offenen Horizont gründet (siehe obige Darstellung zu den gemeinsamen europäischen politisch-kulturellen Werten), stellt die Grundlage dar, auf der sich die Länder auf makropolitischer Ebene annähern können. Der Mythos des Grenzgangs zwischen zwei Welten wird im Film also in mehrfacher Weise verarbeitet. Er beschreibt nicht nur die Phase zwischen Leben und Tod zweier Frauen und stellt in diesem Zusammenhang die grundlegenden kulturübergreifenden bzw. verbindenden Werte der zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Sondern darüber hinaus ist “die andere Seite” auch Sinnbild für das Erreichen politischer Ziele in Form einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden, demokratischen, politischen Kultur. Die mythologische Kontextualisierung in dieser Geschichte hat sowohl eine dramaturgische Funktion, in dem sie die Handlung in entsprechende Akte strukturiert, als auch eine symbolische Funktion, da sie auf eine Thematik verweist, die die Grundfragen des menschlichen Lebens aufgreift. Deshalb geht die Analyse populärkultureller Texte in Hinblick auf ihre mythologischen Dimensionen über die strukturellen Besonderheiten hinaus und erfordert die Untersuchung aus zeichentheoretischer/ symbolischer Perspektive: “Der Mythos gehört in eine Wissenschaft, die über die Linguistik hinausgeht; er gehört in die Semiologie.” (Barthes 1957: 501) Der vorliegende Beitrag konnte zeigen, dass das Verhältnis von gemeinschaftlich geteilten kulturellen und politischen Werten, kollektiver Identität und populärkulturellen Medien von größerer Interdependenz geprägt ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ziel war es, darzulegen, dass die kulturellen Texte (hier in Form des fiktionalen Films) identitätsstiftende Funktion erfüllen können und somit zentral in dieser Konstellation zu verorten sind. Trotz der allgegenwärtigen Präsenz des Mythos bleibt die Analyse seiner Leistung in der modernen Erinnerungskultur auf wenige wissenschaftliche Arbeiten beschränkt. Mythen und ihre kollektiven Symbole dienen jedoch nicht nur als retrospektives Deutungsmuster einer Gemeinschaft für die Vergangenheit, sondern sind ebenso Instrumente, die dazu dienen, die “Und die Moral von der Geschicht’ …” 401 komplexe Realität von Gegenwart und Zukunft begreif- und deutbar zu machen. Die (Bild-) Geschichten sind immer auch komplexe Quellen für die Rekonstruktion von Denkbildern. In ihnen prägen sich die “Umrisse der politischen Sinn- und Machtstrukturen ein […], die […] wiederum politisch-ikonografisch entschlüsselt werden können.” (Müller 2003: 213) Die Analyse von populären Texten in Hinblick auf ihren mythischen und symbolischen Gehalt setzt einen dezidiert interdisziplinären Ansatz voraus. Es bedarf einer Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die europäischen Werte im öffentlichen Zeichenraum der populären Medienkultur repräsentiert werden. Die hierzu notwendige Analyse muss dabei sowohl die verwendete Symbolik analysieren, als auch herausarbeiten, welche Sinn- und Deutungsstrukturen sowie zentralen Wertvorstellungen als Determinanten einer europäischen Identität in den Bildgeschichten der Populärkultur visibilisiert werden. Interessant ist dabei die Frage, ob in den audiovisuellen Werken eine grundlegende Erzählstruktur herausgearbeitet werden kann, aus der sich so etwas wie eine europäische Geschichte - ein mythologisches Fundament - ableiten lässt. Um das Identitätsdefizit EUropas zu überwinden, bedarf es nicht nur der offiziellen Proklamation gemeinsamer politischer Werte und Normen, sondern einer emotional gefestigten Semantik der grenzüberschreitenden Gemeinschaft. EUropa benötigt Geschichten, die von dieser Gemeinschaft erzählen. Die populären Medien spielen dabei eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Identitätsangebote den Menschen bereitzustellen und die makropolitischen Dimensionen im alltäglichen begreifbar und erfahrbar zu machen. Wenn eine geteilte (politische) Identität der Weg EUropas in die Zukunft ist, dann sind Mythen und Symbole seine Orientierungsmarken. Literatur Anderson, Benedict 2006: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso. Barthes, Roland 1957: “Der Mythos heute”. In: Pias, Claus & Vogl, Joseph & Engell, Lorenz et. al. (Hg.) 2004: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, S. 499-507. 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Köln: Halem Verlag. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 403 Anmerkungen 1 Im Folgenden wird unter EUropa die Gemeinschaft der Europäischen Union verstanden. Der Verfasser zieht diese Schreibweise der üblichen (EU) vor, da sie seines Erachtens nach auf die Prozesshaftigkeit der Union verweist und auch die Staaten mit einbezieht, die heute oder zu einem früheren Zeitpunkt der Betrachtung noch nicht offiziell Mitglieder der EU sind/ waren, aber in absehbarer Zeit die Zukunft der Gemeinschaft mit gestalten könnten. Die Schreibweise EUropa deutet die Schwierigkeit an, die in der Konstruktion einer politischen Gemeinschaft liegt, die sich auf keine abgeschlossene geographische Zuordnung beziehen kann (Finalitätsdebatte). Bezieht sich der Verfasser im weiteren Verlauf explizit auf die EU als politische Institution, so wird weiterhin die Abbreviatur “EU” benutzt (zur Bestimmungsproblematik der EU siehe auch den Beitrag von Perge in diesem Band). 2 Siehe hiezu: Veröffentlichungen der Europäischen Kommission zum Eurobarometer unter URL: http: / / ec. europa.eu/ public_opinion/ index_en.htm. [10.09.2010] 3 Im Vergleich zu vielen anderen Medien ist im Kino die gemeinsame Rezeption konstituierend. Zusammen mit vielen anderen Kinozuschauern befindet man sich im abgedunkelten Kinosaal, schaut gespannt auf die angestrahlte Leinwand und versinkt im Kollektiv für circa zwei Stunden in der fiktionalen Filmwelt. 4 Es soll im vorliegenden Beitrag keine grundlegende Darstellung unterschiedlicher Mythentheorien bspw. nach Lévi-Strauss, Lacan oder Barthes erfolgen (siehe hierzu u. a. Caspo 2005 oder Matuschek & Jamme 2009). Vielmehr geht es darum, die Rolle von Mythen respektive mythologischen Dimensionen von populärkulturellen, fiktionalen Geschichten im EU ropäischen Integrationsprozess zu beleuchten. 5 Als Beispiel kann hier die Diskussion um die EU-Stimmverteilung im Jahr 2007 genannt werden, bei der der damalige polnische Premier Jaros aw Kaczynski die “Anrechnung” von Millionen Kriegstoten forderte. 6 Die Diskussion und die Argumente der jeweiligen Positionen können an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben oder bewertet werden. Für weitere Ausführungen siehe unter anderem Walkenhorst 1999 sowie Meyer & Eisenstedt 2009. 7 Zur Auseinandersetzung mit der Leitformel aus semiotischer Perspektive siehe auch den Beitrag von Jöhnk in diesem Band. 8 Deshalb lässt sich auch die Methode der Umfrageforschungen zur Ermittlung des Identitätsgefühls der Menschen kritisieren. Der Vergleich von Einstellungen ist für einen komplexen Begriff wie Identität allgemein sehr fraglich, da tiefer liegende Vorstellungsmuster über die Welt des Politischen oftmals nicht verbalisierbar sind und damit in den Umfragen nicht geäußert werden können. In Anlehnung an die Weiterentwicklung des Konzeptes von Politischer Kultur nach Rohe, soll an dieser Stelle auf die Relevanz des Symbolischen bei der Identitätsbildung hingewiesen werden. Eine Analyse der europäischen Bürgeridentität muss demnach auch die Betrachtung von Ressourcen von Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen einbeziehen, die sich nicht primär in den Einstellungen der Menschen wiederfinden müssen, sondern die tiefer liegenden Vorstellungswelten - die imaginierten Gemeinschaften - betreffen. 9 Populärkulturelle Texte werden in diesem Zusammenhang verstanden als Texte, die sich auf sozial relevante Bereiche des Alltags beziehen und sich durch leichte Verständlichkeit sowie allgemeine Zugänglichkeit auszeichnen. Ebenso ist ihnen eine große Reichweite gemein, die sich bspw. in Form von hohen Einschaltquoten (Fernsehfilm) oder Besucherzahlen (Kinofilme) quantifizieren lässt. 10 Wie J. Delors treffend formuliert: “Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben.” (Delors zit. nach Walkenhorst 1999: 9) 11 Siehe hierzu auch den Beitrag von Perge als auch von Krammer in diesem Band. 12 Die oben bereits erwähnte geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist nicht zuletzt Ausdruck davon, dass die EU noch nicht im Alltag der Menschen als relevante politische Institution angekommen ist. 13 Zum Aspekt der europäischen Medienöffentlichkeit siehe auch den Beitrag von Matzke in diesem Band. 14 An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass EUropa als politisches und sehr komplexes Konstrukt auf einen weniger komplexen Erfahrungsraum angewiesen ist. Der Kinosaal, indem emotionale Geschichten erzählt werden, stellt diesen Erfahrungsraum in besonderer Weise dar. 15 Die Funktionen von Mythen können an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Umfangs des Beitrages lediglich kurz skizziert werden (siehe weiterführend hierzu Bizeul 2005: 31 ff.). Jan Oehlmann 404 16 In diesem Zusammenhang ist auf den Konjunktiv in der Formulierung größten Wert zu legen, da aufgrund der individuellen Rezeptionsprozesse niemals Lesarten und mögliche Wirkungen vollständig vorausgesagt werden können. Medienrezeption als komplexer Prozess widerspricht einem simplifizierenden Stimulus-Response- Modell, so dass ohne empirische Überprüfung lediglich eine dominante Lesart vermutet werden kann, die durch eine Analyse der entsprechenden Ressourcen gestützt werden muss. 17 Unter anderem ausgezeichnet für das beste Drehbuch bei den Filmfestspielen in Cannes sowie Auszeichnung mit dem Europäischen Filmpreis(! ) sowie Gewinner des vom Europaparlaments(! ) verliehenen Filmpreises “Lux”. 18 Das Mythem des Todes gehört zu den stets wiederkehrenden Themen, die die Menschen beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit diesen in Form von Erzählungen stellt Deutungsmuster sowie Werte und Normen zur Verfügung, die den Rezipienten als Orientierungsmarken der Selbst- und Weltwahrnehmung dienen. 19 Die Akte werden auch filmisch durch entsprechende Inserts gekennzeichnet (Akt 1 “Yeters Tod”; Akt 2 “Lottes Tod”; Akt 3 “Auf der anderen Seite”). 20 Die Darstellung des Inhalts entspricht hier der Story und nicht dem Plot als Geschichte, wie sie im Film erzählt wird. 21 Abgesehen vom realhistorischen Hintergrund, dass der 01. Mai nach dem Militärputsch von 1980 bis 2009 als Feiertag in der Türkei abgeschafft wurde (A UF DER ANDEREN S EITE wurde 2007 produziert; die Handlung findet im selben Zeitraum statt), ist es interessant, dass Akin lediglich Bilder einer geordneten Demonstration in Deutschland zeigt, obwohl die jährlichen Demonstrationen auch hier von gewalttätigen Auseinandersetzungen bspw. in Berlin/ Kreuzberg oder dem Hamburger Schanzenviertel überschattet werden.