eJournals Kodikas/Code 33/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
333-4

Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart

2010
Sabine Krammer
Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart Sabine Krammer; Leuphana Universität Lüneburg The tension produced by the opening and closing borders has made apparent that the European Union as the normative center is trying to assign meaning to space. By the means of border control the European society establishes itself as a space of inclusion and exclusion, thus following the logic of nation states. Within the processes of European integration the study of alienness has reached a dynamic status which has to considered by the method of analysis. Yuri Lotman’s cultural semiotic concept of the semiosphere as a model of space is suitable for analyzing the structures of the identity formation processes. Through the focus on places of transition and exchange in the concept of the semiosphere connected to Julia Kristeva’s theory of language, the paper presents a model for analyzing the structures of cultural dynamics related to the self and the other in the European present. The moments of migration, which challenge the nation state societies, illustrate the creative power that lies within them. The term “Europe” therefore describes an event that could not be associated with fixed boundaries and exclusive demarcation. Instead, borders can be found in the difference of culture within itself and through its alteration from the Other. 1 Fremdheit in Raum und Zeit Das Fremde bezeichnet etwas Unbekanntes, das in das Eigene eindringt. Dieses Fremde ist konstruiert und wird von außen zum Fremden bestimmt, wobei die Ausgrenzung zur Identitätsbildung und Abgrenzung gegenüber Anderen dient: Das Eigene ist ohne das Andere nicht denkbar und beide können nur in der gegenseitigen Bedingtheit erfahren werden. Fremdheit bezeichnet keine objektive Tatsache oder Charakteristik von Personen, sondern eine Beziehung zwischen verschiedenen Menschen. Die Bezeichnung fremd ist das Ergebnis dichter Zuschreibungen von Differenz auf Menschen. Wanderungsprozesse verändern die Aufnahmegesellschaft, auch wenn sich neue Elemente unsichtbar verbreiten und der fremde Ursprung oft von den Einheimischen nicht wahrgenommen wird, so dass der Mythos der Homogenität bestehen bleibt. 1 Wer wird als Fremde in unterschiedlichen Zeiten und Migrationsregimen definiert und wie werden diese behandelt? 2 Der Migrationsprozess ist ein wichtiger Bestandteil politischer, wirtschaftlicher und kultureller Wirklichkeit Europas, besonders der Europäischen Integrationspolitik, da er nicht nur das soziale Klima, die Kultur der Gesellschaft, sondern auch die Bewusstseinsstrukturen, Mentalität und Kulturnormen beeinflusst. Die innovativen Impulse spiegeln sich in den verschiedenen Bereichen der Mente- und Artefakte der Menschen wider. Durch die Konfrontation mit Fremdheit wird die alles strukturierende Macht der Zeichen und der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Sabine Krammer 340 symbolischen Ordnung, die unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung strukturiert, deutlich. 1.1 Geschichtlicher Überblick über Charakteristika der europäischen Fremderfahrung “Die Historie ist zwar ein schlechter Prophet, aber umso besser kann sie die Gegenwart deuten” (Lotman 1997: 9). Europäische Migration zeigt spezifische Gemeinsamkeiten in der historischen Fremderfahrung: In Europa besteht seit langem eine hohe innere räumliche Mobilität. 3 “Die Begegnung von Fremden und Einheimischen war in der europäischen Geschichte aber nicht nur geprägt durch die Bewegung von Menschen über Grenzen. Sie war auch bestimmt durch die Bewegung von Grenzen über Menschen, durch die Minderheiten zu Mehrheiten, Mehrheiten zu Minderheiten und Einheimische zu Fremden im eigenen Land werden konnten. Und sie war schließlich geprägt durch die - auf kollektiven Fremdheitszuschreibungen basierende - Ausgrenzung von ‘fremden’ bzw. dazu erklärten Gruppen und Minderheiten innerhalb der ‘eigenen’ Grenzen selbst.” (Bade et al. 2007a: 19) In verschiedenen Zeiten und Räumen beeinflussten unterschiedliche Migrationsregime die Bewegungen in Europa. Im folgenden Überblick sollen die unterschiedlichen Reaktionen auf die Anwesenheit von Fremden gemäß den herrschenden Strukturen deutlich werden. Nach welchen Kategorien werden Unterschiede zwischen Menschen konstruiert und wie verändern sich diese im Lauf der Zeit? Durch die Skizzierung wichtiger Zäsuren des Wandels vom Umgang mit dem Fremden werden die Charakteristika unterschiedlicher Herrschaftsformen im Umgang mit Fremden dargestellt. 4 1.1.1 Komplexe Abstufung von Fremdheit und die Integrationsbereitschaft in der Antike Die unterschiedliche Fähigkeit und Bereitschaft der griechischen Stadtstaaten, der hellenischen Monarchien oder des römischen Imperiums zur Integration von Fremden verweisen auf komplexe Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft sowie rechtlichen, sozialen und kulturellen Begebenheiten. Parallel zu diesen dynamischen Voraussetzungen änderte sich auch der Bezugsrahmen für Exklusion und Inklusion von Fremden. Die unterschiedlichen Regierungsformen verfügten über verschiedene Instrumente zur Integration von Fremden, wie z. B. die Verleihung des Bürgerrechts. In Rom lebten viele Fremde miteinander, wie historische Quellen, literarische Zeugnisse und auch die verschiedenen Kultorte nichtrömischer Götter in der Stadt zeigen. 5 Viele Sklaven wurden freigelassen, um die Stabilität der Gesellschaft zu garantieren. Die Freigelassenen stellten die größte Gruppe von Fremden in Rom und waren entscheidend für dessen wirtschaftliche und militärische Entwicklung. Trotz den Schwierigkeiten, denen sie begegneten, ist dies ein wichtiges Indiz für die Integrationsbereitschaft. Ein anderes Kriterium zur Aufnahme von Fremden war virtus, die Tapferkeit. Aus diesem Grund wurden auch die Germanen, die später Rom zerstörten, anfangs zu Nachbarn und Verbündeten. 6 Die Völkerwanderungen gegen Ende des römischen Imperiums und zu Beginn des Mittelalters und deren Folgen evozierten neue Kriterien für die Aufnahme von Fremden und das Verhältnis unterschiedlicher Kulturen (vgl. Postel 2004). Bei den Griechen und Römern überschnitten sich die politischen und kulturellen Grenzen nicht, sondern es bestand eine scharfe Trennung zwischen den BürgerInnen und BewohnerInnen, trotz eines Das Fremde in Europa 341 kulturell-sprachlichen Zusammengehörigkeitsgefühls. Im Römischen Reich existierte eine komplexe Abstufung von Fremdheit (vgl. Demandt 1995), während in der Spätantike der Begriff des Barbaren den Terminus des peregrinus ganz ersetzte und die politischen Grenzen zu Grenzen der Menschheit wurden (vgl. Kristeva 1990a: 92 f.). Die Expansion des Christentums führte dazu, dass das Kriterium der religiösen Differenz stärkere Auswirkungen auf den Umgang mit Fremden hatte als in der Antike, das bedeutet, es relativierte die äußere Grenzziehung zu Barbaren, markierte aber eine interne Distanz zu Heiden und Häretikern (vgl. ebd.: 96 f.). 7 Die antiken Republiken, sei es die griechische Polis, das römische Kaiserreich oder die mittelalterliche Kommune, stellten ein klar umgrenztes Territorium dar. In Zeiten von Gründung und Expansion fand eine Öffnung gegenüber Fremden statt, während in den Zeiten ökonomischer Krisen und unter Zuwanderungsdruck eine scharfe Abschottung nach innen und außen in Form von Verboten, beispielsweise Mischehen oder Ausübung bestimmter Berufe, stattfand. 8 1.1.2 Die Entstehung der Utopie einer Gesellschaft ohne Fremde Zu Beginn der Renaissance propagierte der Exilierte Dante Alighieri das Ideal einer menschlichen Universalität, die er in der Monarchie als Mittler zwischen geistlicher und weltlicher Macht verwirklicht sah. 9 Im Gegensatz dazu tritt der Flüchtling Machiavelli für einen mächtigen Nationalstaat und das Gleichgewicht der Beziehungen ein. Kristeva bezeichnet Machiavelli als den “Vorläufer der Ideologie der modernen Nationalstaaten” (ebd.: 116-117). Nach einer Vorstellung von Kosmopoliten und anderen Europäern der Frühen Neuzeit, stellt Kristeva in Thomas Morus’ Utopia die Verbindung zwischen Dante und Machiavelli bzw. der von ihnen propagierten Ideen her: universalistische Phantasien und nationale Imperative. Die Utopie bleibt jedoch nicht realisierbar und die Gesellschaft dadurch freier. “Aber wie frei sein, ohne irgendeine Utopie, ohne irgendeine Fremdheit? Seien wir also von nirgendwo, aber ohne zu vergessen, daß wir irgendwo sind.” (Ebd.: 127) Es zeigt sich, dass Fremdheit in der Gesellschaft eine bestimmte Funktion einnimmt, die nicht zu verleugnen ist. Das universelle Ich des Michel de Montaigne stellt einen neuen Kosmopolitismus dar, in dem eine bis heute aktuelle Frage entsteht: ist das Akzeptieren von Anderen wirklich ein Anerkennen der Besonderheiten oder ein nivellierendes Absorbieren? (Vgl. ebd.: 133) 10 Während der Frühen Neuzeit bestand eine begrenzte Migration (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 40-42). 11 In den dynastischen Staaten waren alle - unabhängig ihrer Herkunft - Untertanen des Fürsten. Auch Menschen aus fremden Kulturen waren willkommen, wenn sie sich nur loyal gegenüber dem Fürsten erwiesen. Der Fürst als von Gott eingesetzter Herrscher hielt sein Volk zusammen. So gab es keine Notwendigkeit einer einheitlichen Kultur bzw. Sprache. Qualifizierte Zuwanderer wurden manchmal vom Kriegsdienst oder den Steuern befreit. In den wenigen kleinen Republiken der Frühen Neuzeit existierten liberale Migrationsregime, so waren die niederländische und venezianische Republik des 16. und 17. Jahrhunderts, beide unabhängig von der Religion, geprägt von Urbanisierung und geringen Barrieren für Zuwanderer (vgl. ebd.: 40). 12 In den fürstlichen Territorialstaaten bestanden Wanderungsbeschränkungen, weil die Einwohner als ökonomische Faktoren gesehen wurden und daher gegen die Abwanderung der Einwohner gearbeitet wurde, unter Voraussetzung gleicher Religionszugehörigkeit. Europäische Imperien, wie das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie förderten die Siedlungsmigration in weniger bewohnten Teilen, so propagierte Katharina II ab 1762 die Besiedlung im Süden des Reiches (vgl. Bade & Oltmer 2004: 7). Im Osmanischen Reich gab Sabine Krammer 342 es eine ähnliche Siedlungspolitik, aber die interne Mobilität war verbreiteter: Die eurasischen Gebiete wie der Balkan, Ungarn, Südrussland, Kleinasien und der östliche und südliche Mittelmeerraum stellten einen einheitlichen Migrationsraum dar (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 41). Die zu Beginn der Renaissance aufkommende Frage, ob eine Gesellschaft ohne Fremde möglich sei, wurde in den Gedanken der Aufklärung und der Französischen Revolution und dem Verständnis von Nation und Fremden sehr deutlich. Kristeva beleuchtet unter Einbezug diverser philosophischer und moralischer Diskurse die Entwicklung der Ideologie der menschlichen Gleichheit (vgl. Kristeva 1990a: 139-183). Sie zeigt auf, dass gerade in der Rechtsprechung Montesquieus, die neben Bürgerrechten auch Menschenrechte zusichert, der Begriff der Fremdheit gefestigt wurde (vgl. ebd.: 144). In dieser Zeit wird der/ die in der Renaissance entstandene “gute Wilde” zur fremden Person als “Metapher der Distanz” (vgl. ebd.: 146). 1789 wurden die Menschen- und Bürgerrechte erklärt, in denen die rechtlichen Grundlagen der Gleichheit aller Menschen und die Pflichten gegenüber der Nation festgelegt wurden. Diese Verdopplung in Mensch und Bürger brachte sowohl Nachteile als auch Vorteile mit sich. 13 1.1.3 Die Entstehung nationaler und ethnischer Identitäten Nach dem Ende der konfessionell bedingten Migration der Frühen Neuzeit setzte mit dem Zeitalter der Revolutionen die Geschichte der politischen Flucht ein. In reaktionären Regierungen wurden Reformer und Revolutionäre ins Exil getrieben, während nach erfolgreichen Umstürzen die Anhänger des alten Regimes die Flucht ergriffen. Die politischen Überzeugungen wurden zum Kriterium für die Zugehörigkeit oder den Ausschluss aus einer Gruppe. Mit dem Anstieg der Verfolgungen politisch Andersdenkender gingen die Vertreibungen auf Grund religiöser Differenz zurück. Trotzdem war die Konfessions- und Religionszugehörigkeit weiterhin eine wichtige Kategorie bei der Zusammensetzung von Gruppen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 42-50). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts löste die Vorstellung einer nationalen Identität das Zusammengehörigkeitsgefühl lokaler und regionaler Identität ab. Differenziert wurden Menschen nicht mehr nach ihrer kulturellen und räumlichen Herkunft, sondern vermehrt über die Einteilung in niedere und höhere Ethnien. 14 Die Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts definierten Gleichheit nach der nationalen Staatsangehörigkeit und ausländischen ArbeiterInnen begegneten Passkontrollen. 15 Die propagierte Gleichheit aller Bürger seit der Französischen Revolution bildete ein urbanes Bürgertum und die Vorstellungen ethnokultureller Geschlossenheit der Romantik trugen zur Etablierung der Nationalstaaten bei (vgl. Bade & Oltmer 2004: 5). 16 Dasselbe geschah ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch im russischen und osmanischen Reich. Diese Entwicklung hatte gravierende Folgen für die Migrationsverhältnisse. Nationale Homogenisierung wurde aber durch innere Widersprüche hinterfragt: Basken wurden sowohl in Frankreich als auch in Spanien als Minderheit gesehen, ebenso wurden deutschstämmige Gruppen in Russland als Auslandsdeutsche bezeichnet und als Teil der deutschen Nation begriffen (vgl. ebd.: 42 f.). Die Entstehung der Nationalstaaten führte zu einer kulturellen Homogenisierung und einer wirtschaftlichen Unterdrückung, da innerhalb eines dynastischen Staates eine aus vielen Gruppen, meist die Mehrheit, zu einer hegemonialen Gruppe mit Privilegien zu staatlicher Institution und wirtschaftlicher Leistung wurde. Ein Beispiel ist die Vorherrschaft der magyarischen Kultur im historisch vielkulturellen Ungarn und die damit einhergehende Benachteiligung anderer Gruppen, wie z. B. der Das Fremde in Europa 343 Slowaken (vgl. ebd.: 43). Trotz des Bedeutungsgewinns der Nationalstaatsideologie waren die Jahre 1850-1914 von weitreichender Migrationsfreiheit geprägt. Vor allem die Sprachvereinheitlichung wurde als Instrument zur Begründung und Propagierung einer Nationalkultur genutzt. “Der Nationalismus wirkt auf der einen Seite weiter vereinheitlichend und integrierend, mobilisiert Kräfte für die Entwicklung der Gesellschaft, produziert aber auf der anderen Seite, in Verbindung mit einer Selbstaufwertung, auch einen starken Anpassungsdruck und offene Feindschaft gegenüber kulturell ‘Anderen’.” (Heckmann 1997: S. 64) Die Moderne ist geprägt von Arbeitswanderungen und Unternehmerreisen, sowie einer großen Welle von Auswanderern in die Neue Welt. Hinzu kommt im Hochimperialismus die Migration in die Kolonien, die sich ausprägenden Nationalstaaten und die internationale Migration vor dem ersten Weltkrieg. 1.1.4 Regulierung der Zuwanderung und Überwachung von Ausländern Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden neue Nationalstaaten und es kam zu Vertreibungen und Umsiedlungen innerhalb der neu errichteten Grenzen (vgl. Bade & Oltmer 2004: 18). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Europa die Region der Welt, die die meisten Flüchtlingsbewegungen generierte (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 43). Sie war nicht nur durch Krieg und Gewalt gekennzeichnet, sondern auch durch die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten, in denen die Zuwanderung durch Pass und Visumspflicht reguliert wurde. 17 Zudem wurden Ausländer überwacht und eine aktive Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte durch staatliche Institutionen vorangetrieben, wie die Verträge zwischen Frankreich und Deutschland von 1920 zeigen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen: 44). Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg lösten eine unvergleichlich hohe Zahl an Fluchtbewegungen aus. 18 Auf institutioneller Ebene entwickelte sich nach den Kriegen die Migrationspolitik weiter: In Genf wurde 1951 die internationale Flüchtlingskonvention vereinbart - so entstand ein innerstaatlicher Schutzmechanismus für Flüchtlinge. 19 Viele Arbeitskräfte, vor allem aus dem südlichen Europa von Portugal bis der Türkei, kamen in die Länder West-, Mittel- und Nordeuropas, die zu Aufnahmegesellschaften wurden (vgl. Bade & Oltmer 2004: 71-96). 20 Sie hatten jedoch keine Bürgerrechte, waren nicht in die sozialen Sicherungssysteme eingebunden und hatten kein Partizipationsrecht im politischen System, so dass sie eher Beals EinwohnerInnen waren. Die GastarbeiterInnen 21 der 1950er Jahre waren eine Fortsetzung und Intensivierung der intraeuropäischen Arbeitsmigration vor dem Zweiten Weltkrieg. 22 Als neues Phänomen kam die Migration aus den ehemaligen Kolonien nach Portugal, Frankreich, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden dazu. Trotz rassistischer Diskurse in den Aufnahmeländern wurde den Anreisenden die Staatszugehörigkeit zugebilligt. Die wirtschaftliche Ungleichheit, postkoloniale Konflikte sowie militärische und politische Krisen außerhalb Europas waren auch das Ergebnis des Ost-West Konfliktes. Durch diese Entwicklung kam es zu einer großen Migration nach Europa, aber die Flüchtlinge aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien blieben zumeist in der eigenen Region. 23 Es wird deutlich, dass Migration auch immer mit dem Erinnern verbunden ist. 24 Wer erinnert sich und wie wird Erinnerung politisch und öffentlich inszeniert? Welche Spannungen entstehen durch öffentliches oder privates, kollektives oder individuelles Erinnern? Können durch individuelle Erinnerung nationale Erzählungen umgeschrieben werden? Über die verschiedenen Migrationsbewegungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurde nur Sabine Krammer 344 ein kurzer Überblick gegeben, um die Entwicklung und Entstehung unterschiedlicher Kategorien von Fremdheit darzustellen. Im Folgenden werden die Kategorisierungen und Instrumente zur Integration der Europäischen Union vorgestellt. 1.2 Inklusion oder Exklusion: Grenzerhaltung und Grenzüberschreitung in Europa Europa wächst zusammen, indem die innereuropäischen Grenzen abgebaut werden. Dabei wird kritisiert, dass der Grenzabbau im Inneren zu einem Aufbau der Außengrenzen führt. 25 Die europäischen Staaten versuchen mittels verschiedener Abkommen (Beispiel: Schengen) die Außengrenzen gegen unerwünschte Zuwanderung zu sichern (Stichwort: Festung Europa). Trotz der Maßnahmen gibt es einen Anstieg von unerwünschten Gästen, die sich den staatlichen Kontrollmechanismen entziehen und unterschiedlich bezeichnet werden: Illegale, undocumented persons, sans-papiers. 26 Im Folgenden werden Entwicklungen, die zum Entstehen der Festung Europa beitragen bzw. diese in Frage stellen, näher untersucht. 1.2.1 Die Idee der Interdependenz von Integration und Abgrenzung in der Europäischen Union Nach der Unabhängigkeit der Kolonien wanderten viele Menschen in die ehemaligen Kolonialmächte aus. Es entstand eine Arbeitsmigration sowie Asyl- und Fluchtwanderungen in nationale Wohlfahrtsstaaten. Das Ende des Kalten Krieges gilt als bedeutende Zäsur für Migration und Migrationspolitik in Europa (vgl. Bade & Oltmer 2004: 97-132). Nicht nur Wanderungsbewegungen selbst wurden thematisiert, sondern “zum Teil noch mehr, auch deren in öffentlichen und politischen Migrationsdiskursen umlaufende Beschreibungen und die mit diesen sozialen Konstrukten in Verbindung gebrachten Visionen von einem Europa unter abrupt wachsenden ‘Wanderungsdruck’ nicht mehr nur aus dem Süden, sondern nun auch aus dem Osten.” (Bade 2000: 278) Vor dem Kalten Krieg war die Angst vor Massenwanderungen aus Osteuropa noch kein Thema, vielmehr bestand eine große Angst und Abwehrhaltung in Bezug auf außereuropäische Massenmigration. War die Ost-West-Migration vor dem Kalten Krieg Normalität, hatten die Bürger Angst vor der Beendigung des permanenten Ausnahmezustandes, der Europa nicht nur in Hinblick auf Ideologie, Politik und Wirtschaft, sondern auch auf Migration teilte (vgl. Bade 2000: 385). Bis Ende der 1980er Jahre galten alle westlichen europäischen Staaten als Einwanderungsstaaten, so wuchs zwischen 1950 und 1990 die ausländische Wohnbevölkerung in den EU- Staaten plus Liechtenstein und der Schweiz um mehr als das Vierfache (vgl. Bade 2000: 378). 27 Die späten 1970er und frühen 1980er Jahre sind geprägt von einer deutlichen Tendenz zwischen Liberalisierung und Restriktion in den einzelnen Staaten. Restriktive Kräfte verstärkten sich im Laufe der 1980er, in denen Einwanderung als parteipolitisches Thema dramatisiert und skandalisiert wurde (vgl. Bade 2000: 378-409). Auslöser waren oft politische Ratlosigkeit gegenüber den Folgen von Migrationsprozessen. Gemeinsam waren den politischen und publizistischen Debatten über Einwanderungsfragen die Festigung des Gedankens, dass Zuwanderungsbeschränkungen eine Voraussetzung für die Integration der Zugewanderten und deren Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft sind (vgl. Bade & Oltmer 2004: 127). Diese Migrationsdiskurse und Beobachtungen waren handlungsbestim- Das Fremde in Europa 345 mend für die Entwicklung der Migrationspolitik der Europäischen Union. Die Europäische Integration und Öffnung mit einem grenzfreien Binnenmarkt im Innern und Freizügigkeit am Arbeitsmarkt ging einher mit der Abgrenzung gegen unerwünschte Zuwanderung nach außen. Die Zugangskontrollen wurden zunehmend in europäischer Abstimmung verschärft. Wie die nationale Migrationspolitik ist auch die der Europäischen Union geprägt vom Gedanken an die Interpendenz von Integration und Abgrenzung, wie die folgende Übersicht über deren Entwicklung zeigt. 1.2.2 Etappen der Migrationspolitik der Europäischen Union Das Thema Migration ist politisch sehr brisant, da es häufig mit Alarmismus, Dramatisierung und Skandalisierung seitens der Politik und Medien verbunden wird. Die in Gesetzen festgelegte Schließung der Grenzen kollidiert oft mit dem wirtschaftlichen Interesse der Aufnahmeländer an Arbeitskräften, aber auch mit humanitären Gründen (vgl. Bade & Oltmer 2004: 133-140). Zu beobachten hierbei ist ein gegenüber Zuwanderergruppen nach außen rückender Wandel von innereuropäischen zu außereuropäischen kulturalistischen Fremdheitszuschreibungen und Exklusionsvorstellungen. 28 Der Schritt von der EG zur EU fand parallel mit Vorbereitungen zu einer begrenzten Osterweiterung statt, innerhalb Europas war dies nicht nur migrationspolitisch, sondern auch in kollektiv mentalen Abgrenzungen nach außen erfahrbar (vgl. Bade 2000: 378-454). In den Römischen Verträgen 1957 beschlossen die sechs Mitgliedsstaaten der EWG die Personenfreizügigkeit für Staatsangehörige zur Wohn- und Arbeitsnahme ab 1968 (vgl. Brunn 2004: 118-124, 166-178). Ziel der einheitlichen europäischen Akte von 1986 war die Förderung des Integrationsprozesses und des Wirtschaftswachstums durch Wegfall der Binnengrenze. Die Verwirklichung der vier Freiheiten beinhaltete den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr. Auf diesem Weg fand eine Integration der EU- Staaten nach innen und deren Abgrenzung nach außen statt. Die Zuständigkeit für Asylpolitik wurde von den einzelnen Staaten auf die EU-Ebene übertragen (vgl. Brunn 2004: 238-244). Die Regelung des Zugangs gestaltete sich schwierig, da Grenzkontrollen klassische Zuständigkeiten staatlicher Souveränität sind und die Öffnung der Binnenmärkte für die einzelnen Mitgliedsstaaten einen Kontrollverlust bedeutete, der durch Kontrollverschärfung an den Außengrenzen kompensiert werden sollte. Dieser Gedanke ist der Hintergrund für die Entwicklung der Instrumente von Schengen, wie dem Schengener Abkommen I und II von 1985 und 1990 sowie dem Dubliner Abkommen von 1990 (vgl. Brunn 2004: 284-286). 29 Das Dubliner Abkommen von 1990 ist in asylrechtlichen Regelungen mit Schengen II identisch, so gilt das Visumrecht eines Antragstellers nur in einem EU-Land, was sich durch die unterschiedlichen Asylrechte der einzelnen Länder in der Anwendung als schwierig erweist. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Bereitschaft einiger Länder, die Kontrolle von Drittstaaten auf die EU zu übertragen. Bis Ende der 1990er Jahre spielten der europäische Gerichtshof und das europäische Parlament in Bezug auf Migration eine zweitrangige bis unwesentliche Rolle. Im Vertrag von Maastricht 1992, bei dem die drei Säulen der EU festgelegt wurden, wurden relevante Regelungen für Migration vereinbart. 30 Erst durch die Ratifizierung des Vertrages von Amsterdam wurden konkrete Rahmenbedingungen für europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik festgelegt. Der Amsterdamer Vertrag 1997 überführte den bisher außerhalb der EU verhandelten Inhalt der Schengener Abkommen in EU-Recht und den gesamten Bereich der Visa-, Asyl- und Einwanderungs- Sabine Krammer 346 politik aus intergouvernementaler Kooperation in die Zuständigkeit der Union. In der politischen Öffentlichkeit entstand so das Bild eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dem gegenüber stand die gemeinsame Abgrenzung gegenüber unerwünschter Zuwanderung von außen. Die Angleichung der Asyl- und Einwanderungspolitik brachte problematische Regelungen von Grenzkontrolle, Kriminalitätsbekämpfung und Abwehr unwillkommener Einwanderung mit sich, die teilweise im Widerspruch standen zu Flüchtlings- und Menschenrechten, da eine Komplizenschaft zwischen Aufnahme- und Verfolgerstaat auf Kosten der Flüchtlinge entstand. Rechtsgrundlage für den Umgang mit Migration in Europa ist neben der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention die EU-Charta der Grundrechte, die 2007 im Vertrag von Lissabon ratifiziert wurde. 31 “Als Kehrseite der Abschottung Europas gegen unerwünschte Zuwanderungen und der für die Betroffenen immer unübersichtlicheren Zugangs-, Aufenthalts- und Partizipationsbegrenzungen haben sich im Grenzfeld zwischen Legalität, Irregularität, Illegalität und Kriminalität neue Zuwanderungs- und Aufenthaltsformen etabliert.” (Bade 2000: 401) Die Metapher der Festung Europa und die medialen Diskurse über die Instrumente der Migrationskontrolle lässt an eine einheitliche Politik der EU oder zumindest die Hegemonie einzelner Mitgliedsstaaten denken, die die Hauptlasten der Asylmigration nach Europa tragen. Jedoch müssen bei der Kontrolle der Wanderungsprozesse auch die politischen Akteure und ihre sehr unterschiedlichen Praktiken untersucht werden. Die Erweiterung der Außengrenzen der EU durch Osterweiterungsprozesse und die Kooperation mit den Anrainerstaaten kann als Ausweitung der Kontrollansprüche verstanden werden. Ulrich Beck spricht dabei von dem imperialen Charakter der EU (vgl. Beck 1997). 32 Die Abkommen zwischen dem Zentrum der EU und der Peripherie bringt diese Wiedervereinnahmung und Reterritorialisierung der Migration zum Ausdruck und lässt paradoxe Wirkweisen und Effekte erkennen. 33 In Europa ist der besondere Fall der gleichzeitigen Grenzerhaltung und Grenzüberschreitung eingetreten: Während es für Europäer einfacher wird, Grenzen zu überschreiten, wird die Außengrenze Europas gegen nicht genehmigte und unkontrollierbare Einwanderung gefestigt. 34 1.3 Erfahrung von Fremdheit als ein konstitutives Element der europäischen Erfahrung Die Kriterien, die zur Benennung und Festlegung von Fremden dienen, variieren in verschiedenen Zeiten und Räumen in Europa. Von großer Bedeutung ist die Frage nach der Autorschaft der Definitionen von Fremdheit. Oft sind es soziale Institutionen innerhalb einer Gesellschaft, die versuchen, die eigene Ordnung Aufrecht zu erhalten, indem das scheinbare Chaos als Fremdes ausgrenzt wird. Die Macht zur Benennung der Fremden hatte beispielsweise im Mittelalter die Kirche, während in den gegenwärtigen europäischen Staaten die demokratisch legitimierte Gesetzgebung die Ordnung regelt. Diese von oben aufoktroyierten Vorstellungen korrelieren mit den in einer Gesellschaft vorherrschenden Normen, Werten und Regeln. Betrachtet man Migrationsprozesse, ist nicht nur die räumliche Dimension, sondern vor allem das Überschreiten politischer und kultureller Grenzen ausschlaggebend. Dabei wird deutlich, dass die Grenzüberschreitungen von der Definition der Grenzen abhängig sind. Der/ die Fremde ist in modernen Gesellschaften die Person, die von außerhalb der Staatsgrenzen kommt und nicht die gleichen Rechte inne hat wie die Einheimischen, die selbst Fremde im eigenen Land sind. Das Fremde in Europa 347 Es wurde gezeigt, dass die Fremden durch Festlegung von Unterscheidungen definiert werden, dies ist nicht nur in verschiedenen Zeiten, sondern auch von Land zu Land unterschiedlich. 35 Aus diesem Grund kann die Frage nach dem Fremden nur in Abhängigkeit zum Eigenen betrachtet werden. Denn das Fremde ist konstitutiv für die Gesellschaft ebenso wie es konstitutiv für das einzelne Subjekt ist. Die Figur des Fremden ist in der Soziologie wie in der Psychoanalyse als fremdes Innen sehr wichtig und das Fremde und das Unbewusste weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. 36 Das Nachdenken über die Kategorisierung von Fremden in gesellschaftlich-sozialen Strukturen, die stets auch mit dem politisch-rechtlichem System zusammenhängen, erfordert auch das Einbeziehen der sozialpsychologischen sowie individuellen Perspektive. 2 Fremderfahrung in Europa Das kulturwissenschaftliche Konzept der Semiosphäre bietet die Möglichkeit, die europäische öffentliche Sphäre und die kulturellen Prozesse der Gegenwart im Hinblick auf das Fremde zu analysieren. Zu den spezifischen Eigenschaften der Semiosphäre gehören die Heterogenität, Asymmetrie, Binarität und die Kategorie der Grenze; erst über deren Bestimmung können die dynamischen Prozesse innerhalb einer Kultur dargestellt werden. Im Folgenden wird Europa als Erfahrungs- und Handlungsraum, der durch die kulturellen Eigenschaften der Mitglieder bestimmt ist, als Semiosphäre erläutert. 37 2.1 Europäische Semiosphären Die Europäische Union ist ein wandelbarer Raum, dessen geographische Ausdehnung und kulturelle Grundlagen vielseitig und heterogen sind. Die Semiosphäre als Sphäre der kulturellen Bedeutungsgebung kann den dynamischen Umgang mit Fremden im heutigen Europa darstellen. 2.1.1 Heterogenität, Binarität und Asymmetrie in Europa Die Heterogenität (vgl. Lotman 2000: 125-127) besteht in den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, wobei die einzelnen Mitgliedsländer als Subsemiosphären in der Semiosphäre Europa verstanden werden können. 38 Die einzelnen europäischen Subsemiosphären befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Das Europamotto In Vielfalt geeint soll auf die Unterschiedlichkeit der Elemente und deren Funktionen verweisen. 39 Das einigende Band der Heterogenität Europas wird in der diskursiven Abgrenzung zu all dem, was es nicht ist, entworfen. In der europäischen Politik als Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten zur EU sowie deren Funktionen und in der lebensweltlichen Erfahrung des europäischen Alltags bestehen große Differenzen. 40 Wo findet die Einigung der Vielfalt statt? Oft werden auf Ökonomie, Außenpolitik oder auf die gemeinsame Wiege in der Antike - das alte Europa - verwiesen und eine Gemeinsamkeit in Bezug auf Tradition und Geschichte proklamiert. Manfred Fuhrmann bezeichnet die Bibel “als eines der Fundamente der kulturellen Einheit Europas” (Fuhrmann 2004: 100). 41 Obwohl er das heterogene Europa z. B. in der Vermischung von griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Elementen hervorhebt, lässt Fuhrmann den Einfluss von Fremden außer Acht. Derrida hingegen betont, dass die Selbst- Sabine Krammer 348 reflexion als Besonderheit Europas gerade durch die Erfahrung mit Fremdheit entstand. Die Chance Europas liegt somit in der Erfahrung der radikalen Andersheit: “Was ich ‘Dekonstruktion’ nenne, ist, selbst wenn es gegen irgend etwas an Europa gerichtet ist, europäisch, es ist ein Produkt, ein Selbstbezug Europas als Erfahrung der radikalen Andersheit. Seit der Aufklärung ist Europa in permanenter Selbstkritik begriffen, und in diesem vervollkommnungsfähigen Erbe liegt eine Zukunftschance. Zumindest hoffe ich das, und genau dies nährt meinen Unwillen gegenüber Reden, die Europa definitiv verdammen, als wäre es einzig der Ort seiner Verbrechen.” (Derrida & Birnbaum 2004: 13) Trotz der möglichen Dekonstruktion der europäischen Tradition wird das Gedächtnis Europas “aufgrund der Aufklärung, aufgrund der Enge dieses kleinen Kontinents und der enormen Schuld, die seine Kultur nunmehr durchzieht (Totalitarismen, Nazismus, Genozide, Shoah, Kolonisation und Dekolonisation und so weiter)” (Derrida & Birnbaum 2004: 12) immer Teil auch eines anderen Europas sein. Mit Europa meint Derrida ein kommendes Europa, “das sich noch sucht”, und nicht die europäische Gemeinschaft” (ebd.). Hier lässt sich eine Asymmetrie (vgl. Lotman 2000: 127 f.) in der alltäglichen Erfahrung von Europa erkennen. Europa wird nicht nur als die Institution der EU wahrgenommen, deren Gesetze und Beschlüsse durch die Medien kommuniziert werden und einen Teil des Alltags regeln. Darüber hinaus drückt sich die Asymmetrie in der natürlichen Sprache einer Kultur und der Verschiedenheit der Sprachen aus. Ebenso sind die Informationsgenerierung und deren Rezeption asymmetrisch. Auch die Kennzeichen der Binarität (vgl. Lotman 2000: 124 f.) lassen sich in der EU erkennen. Die europäische Integration produziert Raum und Wirkmacht in den gewachsenen Räumlichkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten, was die wesentlichen Spannungslinien der Konstruktion des europäischen Raumes ausmacht. Die Spannungen finden in der Bewegung zwischen zwei Polen statt: zwischen Brüssel als Machtzentrum und der peripheren Alltagswelt der Menschen. Dabei spiegelt sich die räumliche Unbestimmtheit Europas in den Grenzen der Zugehörigkeit zum europäischen Raum wider. Wo ist Europa und wer ist europäisch? Die Grenze (vgl. Lotman 2000: 136 f.) ist der Faktor, der Europa miteinander verbindet, da externer Raum von internem getrennt wird. Zur Konstruktion von Grenzen braucht das Universum der Semiosphäre neben der Bereitschaft für Austausch eine einheitliche Sprache. Doch was sind diese gemeinsamen Sprachen in der europäischen Semiosphäre? Im Unterschied zu nationalen Identitäten besitzt das europäische Selbstverständnis keinen Gründungsmythos. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Motivation der Europäischen Gemeinschaft die Friedenssicherung auf dem Kontinent durch ökonomische Verflechtungen. Die Wirtschaftsvereinigung sollte zudem zur Steigerung des ökonomischen Nutzens aller Beteiligten beitragen (vgl. Brunn 2004: 45-51). Zwar identifiziert Europa sich mit politischen Zielen wie Demokratie, Friedenssicherung, wirtschaftlichem Wohlstand, innerer Sicherheit, und kulturellen Ausdrücken, z. B. Dichtung, Malerei, Musik und Architektur. Aber im Unterschied zu nationalen Identitäten nicht mit Symbolen wie Hymnen, Gebäuden, Landschaften oder historischen Erinnerungsorten. 42 Wolfgang Schmale stellt die Frage, ob Europa an seinem Mythendefizit scheitert, denn die Europäische Integration ist nicht allein ein politisch-ökonomischer, sondern vor allem auch ein mentaler Prozess (vgl. Schmale 1997). Außerdem ist die europäische Union kein Produkt des 19. Jahrhunderts, sondern eine Konsequenz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts (vgl. Kaelble 2007: 169 f.). Abgesehen davon, dass Europa mehr ist als die Summe der einzelnen Mitgliedsstaaten, sind Symbole und Das Fremde in Europa 349 Rituale als Instrumente zur Erfindung einer Nation nicht geeignet, um die Zukunft Europas zu gestalten. Identitäten werden konstruiert und erzählt. Die Konstruktionen kollektiver Identität basieren besonders auf der Produktion von Geschichten. Dabei bestehen die Narrationen des Vergangenen aus mythischen Elementen, die oft besonders weit von der Gegenwart entfernt sind. Für Europa ist z. B. die Renaissance ein wirksamer Mythos. Die Identitätsbildungsprozesse sind auch gekennzeichnet von der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, wie sich in den Selbst- und Fremdbildern erkennen lässt. Besonders die Erfahrungen mit Fremden verändern das europäische Selbstverständnis. Innerhalb der europäischen Union existieren Spannungen und Konkurrenz zwischen den nationalen Identitäten, die sich aber als dynamische Selbst- und Fremdbilder wandeln. 43 Durch die Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse weichen die Grenzen innerhalb Europas auf, aber die Frage dabei ist, inwieweit dadurch eine verschärfte Abgrenzung an den Außengrenzen Europas vorgenommen wird. 2.1.2 Raum und Grenzen in Europa Die Europäische Integration bringt das vermeintlich stabile, typisch europäische Raumkonstrukt ins Wanken: den Nationalstaat. Der Staat bestimmt die Öffentlichkeit und zieht eine Grenze zwischen Innen und Außen. Die europäische Besonderheit bei der Verbindung von Staat und Nation ist die symbolische Repräsentation des Raumes. So kann man nationale Identität auch als Identität eines räumlichen Konzeptes verstehen. 44 Europa in seiner Unbestimmtheit stellt mit der potentiellen ständigen Erweiterung dieses räumliche Denken in Frage. 45 Um Raum zu definieren, sind Grenzen notwendig. Diese können zum einen konkret, sprachlich oder kulturell sein. Grenzen stellen komplexe Grenzbereiche da, räumlich z. B. Flüsse oder Gebirge, sozial Mitgliederräume wie Verwandtschafts-, Religions- oder Sprachgrenzen (vgl. Deger & Hettlage 2007: 14 f.). Oftmals rücken Grenzen erst bei deren Überschreitungen ins Bewusstsein. In Europa ist der besondere Fall der gleichzeitigen Grenzerhaltung und -überschreitung eingetreten. Ethnische Grenzen bilden innerhalb dieser Grenzkonstruktionen eine besondere Grenzform. Die Spannungen lassen sich besonders in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion erkennen. 46 Grenzziehung ist ein narratives Projekt, d. h. Grenzen werden konstruiert und anschließend durch unterschiedliche Hegemonialmechanismen den Bürgern vermittelt. Die Kommunikation von Differenz erzeugt so Identität und deren Kommunikation wiederum Differenz. Als Beispiel wird im Folgenden die Erzählung von Europa als geographischer Raum betrachtet. Die geographischen Grenzen sind ebenso variabel wie die Geschichten, die sie begründen, da den territorialen Grenzen eine symbolische Bedeutung als zentrale Funktion narrativer Identitätskonstruktion zugeteilt wird. Symbolisch aufgeladene politische Grenzen sind nicht mehr die Alpen oder Pyrenäen, sondern der Ural. Nicht nur Gebirge, sondern auch Meere sind dynamische Bedeutungsgeflechte. War das Mittelmeer in der Antike das Zentrum Europas, zumindest aus heutiger Sicht, ist es nun zur umkämpften Südgrenze geworden. 47 Eine weitere geographisch-symbolische Grenze ist der Bosporus. Die sozialen Konstruktionen werden nur dann als natürliche Außengrenzen akzeptiert, wenn die dazugehörige Narration plausibel ist. Berge werden zu Europas Grenzen, wenn in den erzählten Geschichten hinter den Bergen das Nicht-europäische beginnt. Doch wer sind die Erzähler dieser Geschichten? Europa ist geprägt durch seine sozialstrukturelle Heterogenität. Dennoch wird die Metapher der Festung Europa aufgebaut und durch die Verteidigung einer sozialpolitisch gesicherten Wohlstandsgesellschaft legitimiert. Der Wohlfahrtsraum soll gegen Bedrohung von außen Sabine Krammer 350 geschützt werden, um allen Bewohnern die Annehmlichkeiten zu bewahren. Die Gemeinsamkeit einer wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsform wirkt identitätsherstellend. Die Länder, die die ökonomischen Kriterien der Mitgliedschaft erfüllen können, werden Teil dieses sozialen Europas. Darin liegt auch der Sinn der Beitrittsverhandlungen. Die EU verschiebt Identitätsgrenzen gemäß der Feststellung von erfüllten Beitrittskriterien (vgl. Eder 2007: 202). Die Entstehung der europäischen Gesellschaft ist räumlich und binär gedacht, indem sie auf der Unterscheidung zwischen Nord-Süd bzw. Ost-West aufbaut. In der Entwicklung des Selbstverständnisses der Europäer nimmt der Osten eine konstitutive Rolle ein. Archetypen der Grenzziehung sind z. B. der türkische oder russische Andere. 48 “Europäische Identitätsbildung findet in der Ost-West-Differenz die vermutlich wichtigste Grenzziehung. Der Osten wird als anders wahrgenommen. Zugleich reklamiert der Osten das Nicht-Anderssein. Die Grenze wird unübersichtlich.” (Eder 2007: 200) Die Grenzen und damit die Gestalt Europas und seiner politisch-geographischen Finalität sind nicht definiert, sondern finden sich in einem ständigen Umbruch. Das selbstbewusste Überschreiten der seit dem antiken Mythos von Europa und Asien geltenden Distinktion lässt Ulrich Beck zur Frage kommen, ob es sich bei dem Projekt EU um eine Demokratie oder ein Imperium handelt (vgl. Beck 1997). Die europäische Gesellschaft ist weder deckungsgleich mit Europa noch mit der EU. Europa beschreibt einen unbestimmten Begriff in Raum und Zeit mit multiplen Identitäten und variablen Grenzen. 49 “[Europa] umschreibt keine feste historische Größe, weder geographisch noch religiös, noch sprachlich-kulturell, noch politisch. Geographisch gesehen gab es das Problem der Grenzziehung im Osten; religiös gesehen das der Grenzziehung gegenüber orthodoxem Christentum und Islam; sprachlich-kulturell das der Grenzziehung gegenüber den nichtromanischen und nichtgermanischen Sprachen; politisch zum Beispiel das der Grenzziehung gegenüber Russland und dem Osmanischen Reich.” (Schluchter 2005: 239) Europa bestand lange aus Großreichen, wie dem Osmanischen Reich, dem Habsburger Reich oder französischen Kaiserreich. Nach dem 2. Weltkrieg und den Katastrophen von Tod und Zerstörung widerspricht eine Bildung der EU nach dem Grundsatz verordneter Einigung der Vielfalt Europas (vgl. Hettlage & Müller 2006: 11). Europa ist sowohl der kulturelle wie auch der politische Überbau der EU, das sich als eine neuartige politische Gemeinschaft positionieren kann. Derrida fasst dies zusammen: “Es geht nicht darum, sich die Verfassung eines Europas zu wünschen, das eine weitere militärische Supermacht wäre, die ihren Markt schützt und ein Gegengewicht zu den anderen Blöcken bildet, sondern um ein Europa, das den Samen einer neuen globalisierungskritischen beziehungsweise einer Politik einer anderen Globalisierung (politique altermondialiste) säen würde.” (Derrida & Birnbaum 2004: 12; Hervorh. im Original) 2.1.3 Europäische Integration - Homogenisierung oder Verstärkung von Partikularismen? Die Frage nach kultureller Identität ist eng verknüpft mit der Diskussion um den Europäischen Integrationsprozess. In welchem Kontext werden Kultur und Identität behandelt? “Die gegenwärtigen ökonomischen und politischen ‘Einigungen’ Europas drängen eine Reflexion über die kulturelle Identität Europas (oder die Diskussion darüber) eher in den Hintergrund: vielleicht ist es eben auch das Erbe Europas, Kultur immer nur als Reisegepäck in den Koffern von Handelsvertretern oder als Rucksackzubehör (früher der Militärs, heute der Das Fremde in Europa 351 Touristen) mitzunehmen in solche Diskussionen und Umbruchzeiten.” (Segers & Viehoff 1999: 12) Kollektive Identität steht im Zentrum tagespolitischer Auseinandersetzungen und die zum Thema der kulturellen Identität Europas erschienenen Publikationen zeigen eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema. 50 Kulturelle Identität kann als das Bild verstanden werden, das ein Individuum von dem Kollektiv hat, dem es sich zugehörig fühlt. Allerdings macht der dynamische Kulturbegriff von Lotman kulturelle Identität zu einem Wahrnehmungsphänomen, das nur vom Individuum ausgeht und keinen Anspruch auf Objektivierbarkeit hat. Es ist also ein Konstrukt mit sozialer Relevanz, welches aus der Innenperspektive konstruiert wurde und unterliegt symbolischer Formung. Die Beschreibung kultureller Identitäten ist nicht unabhängig, sondern einer Gruppe wird eine kulturelle Identität auf Grund von Attributen gegenüber einer Fremdgruppe zugeschrieben. Solche Zuschreibungen verweisen jedoch eher auf den Urheber als auf den tatsächlich Beschriebenen. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig über den eigenen Beobachtungsstandpunkt zu reflektieren. Welche Form von kultureller Identität prägt sich in Europa aus und gibt es eine Tendenz zur Homogenisierung oder werden kulturelle Partikularitäten verstärkt? 51 Da eine geschlossene europäische Identität analog zu nationalen Identitäten, wie oben erläutert, nicht herstellbar ist, kann der Europäische Integrationsprozess wie die Globalisierung als Gegenbewegung zum Nationalismus und Regionalismus gedacht werden. Denn nationale, regionale und lokale Identitäten werden in die europäische Identität integriert. Die Chance, die der europäische Einigungsprozess in dieser Hinsicht bietet, haben verschiedene Intellektuelle erkannt, die für Europa das Wort ergreifen, wie z. B. Jürgen Habermas, Jacques Derrida oder Etienne Balibar. 52 Die Konstitution von kultureller Identität ist ein dynamischer Prozess und die Kultur die notwendige Voraussetzung sozialen Handelns. Durch die Veränderung der Kulturrezeption wird der Konsum globalisierter Kulturprodukte immer mehr zum identitätsstiftenden Faktor, während der nationale Kanon an Bedeutung verliert. Mehrere Kulturen stehen miteinander in Kontakt und beeinflussen die kulturelle Identität der Träger, diese können aus den kulturellen Codes unterschiedlicher Herkunft Elemente für die Konstruktion kultureller Identität auswählen. 53 Sichtbar wird dies z. B. durch die gestiegene Mobilität, Migration und durch medial vermittelte kulturelle Differenzen. So werden die Bilder der homogenen Nationalkulturen, die faktisch zu keiner Zeit bestanden, hinterfragt. Eine Alternative, die aufgeführt wird, ist diejenige der multikulturellen Gesellschaft, in denen kultureller Reichtum zum gesellschaftlichen Gut wird. Die Idee scheitert hierbei nicht nur am Lebensalltag vieler Menschen (Diskriminierung), sondern bereits an der Begrifflichkeit von Multikulturalität, in dem die Differenz zwischen gegeneinander abgeschlossene kollektive Identitäten im Konstrukt des Miteinanders von Kulturen festgeschrieben ist. 54 Nach Hall formt sich kulturelle Identität durch die Etablierung eines diskursiven Feldes, dadurch, dass in einem Raum, der einen Überschuss an Momenten besitzt, Elemente wie Einstellungen, Praxen, soziale Routinen und Äußerungsformen mit denen sozialer Gruppen artikuliert werden. An den Knotenpunkten konstituiert sich kulturelle Identität und durch den Überschuss an Möglichkeiten sind an diesen Punkten auch andere Artikulationen möglich. 55 Kulturelle Identität wird so artikuliert und in dem Diskurs als Grundlage kultureller Identität ist immer das Potential des Anderen eingeschrieben. Ohne dieses Andere kann kulturelle Identität nicht konstituiert werden, da nur durch Abgrenzungen Artikulation stattfinden kann. Die kulturelle Dynamik pluralisiert Beobachterstandpunkte. Bei der Etablierung einer Identität ist die nationale Ebene durch die Institutionen des Bildungswesens und den nationalen Medien zwar wichtig, aber nicht primär, da das Individuum aus einer großen Aus- Sabine Krammer 352 wahl an Elementen seine dynamische Identität herstellt. 56 Das Individuum kann an verschiedenen Semiosphären partizipieren, die durch Subsemiosphären durchzogen sind und in diesen an unterschiedlichen Positionen (Zentrum - Peripherie) stehen. Kulturelle Identität ist an ein Raumkonzept gebunden, in dem das räumliche Zentrum den Status der Selbstbeschreibung erreicht hat und die Sprache bestimmen kann. Lotmans Instrumentarium beschreibt sowohl diese vom Zentrum ausgehende Normierungsstrategie wie auch das kreative Potential der Peripherien, wobei deutlich wird, dass die binären Pole voneinander abhängig sind. Auch bei der Aneignung des globalen Codes, der oft medial verbreitet wird, ist die Aneignung lokal und die dort entstehenden Spannungen sind unvorhersagbar. Kristeva erkennt in der signifikanten Praxis des Textes das politische Potential mythische Strukturen zu hinterfragen. In der Frage nach dem Verhältnis von Homogenisierung und Verstärkung der Partikularismen kann als Text ständig das Zentrum, das das Stadium der Selbstbeschreibung erreicht hat, hinterfragt werden. Dabei wird deutlich, dass homogene Identitäten nie vorhanden waren, sondern dass es sich um Signifikante handelt, denen Bedeutungen zugeschrieben wurden. Durch deren in Frage stellen, können neue Bedeutungen entstehen. Das bedeutet, dass die entgrenzte Identität und die Textpraktik des subversiven Verhaltens der Subjekte, z. B. die Eigendynamik beim Aneignungsprozess globaler Codes, die Illusion einer Identität aufdecken. Obwohl der kulturelle Eigensinn der Konsumenten unvorhersehbar ist, darf die Bedeutung der Bindung von Identitäten an ökonomische Hierarchien nicht unterschätzt werden. Das Bewusstsein für Differenz und die von Kristeva propagierte signifikante Praxis zeigen, dass nationale Identität nur eine mögliche Rahmung der kulturellen Identität ist, die immer weniger nach dem territorialen Prinzip gedacht wird. 57 Stets muss bedacht werden, dass - egal nach welchen Kriterien Grenzziehung und die Frage der Inklusion oder Exklusion des Anderen beantwortet werden - diese nie eine essentialistische Begründung haben. Wächst dieses Bewusstsein, werden Entscheidungen hinterfragt. Dadurch, dass die Semiosphäre Europa durch die vielen Subsemiosphären innerlich getrennt ist, bleibt die Differenz immer spürbar und kann somit auch artikuliert werden. Lotman beschreibt zwei kontraproduktive Bewegungen in der Kultur: Einerseits strebt Kultur nach Diversifikation, weswegen Sprachen multipliziert und externe Texte eingefügt werden. Andererseits versucht ein integrativer Mechanismus die Stabilität und Einheit der Kultur zu erhalten. Die Diskussion um Homogenisierung oder Verstärkung von Partikularismen in Europa entspricht diesem Prinzip. 2.2 Die gesellschaftliche Funktion von Fremdheit Kollektive Identitäten bilden sich selten durch gemeinsam geteilte positive Wertüberzeugungen wie Konsens und Ideal, sondern durch Grenzziehungen, in denen Selbst- und Fremdbilder konstruiert werden. Die Unterscheidung zwischen uns und den Anderen, zwischen Dazugehörigen und Ausgeschlossenen wirkt sich stärker auf Identitätsbildung und Selbstpositionierung von Gruppen aus als andere der verfügbaren und täglich praktizierten sozialen Distinktionen (vgl. Bach 2001). 58 Die Identität eines Kollektivs beruht auf der Behauptung eines gemeinsamen Merkmals. Doch welche Mechanismen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion sind damit verbunden? Das nationale Selbstverständnis beruht nicht auf objektiv feststellbaren Gemeinsamkeiten, sondern auf der Vorstellung von Gemeinsamkeiten (vgl. Anderson 1996). Durch Narration werden die Konstruktionen der Vorstellung generiert. So kann man Identität als das Ergebnis Das Fremde in Europa 353 der ständigen Reproduktion von Narrativen verstehen. Narrative werden öffentlich kommuniziert, wobei den Medien eine große Bedeutung zukommt. Visuelle Narrative sind besonders einprägsam, um Vorstellungen von Gemeinsamkeit, aber auch von Fremdheit zu prägen. In Folge territorialer, institutioneller und kultureller Grenzziehungen werden soziopolitische Räume sowie kollektive Identitäten restrukturiert. Die EU beeinflusst die Kategorien von Fremdheit und den Umgang mit Fremden durch die Öffnung, Verschiebung und Befestigung von Grenzen. Durch die Festlegung von Staatsgrenzen, z. B. die spanischen Enklaven in Marokko, werden die territorialen Grenzen verschoben. Der Gedanke an ein Europa ohne Grenzen als Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes verschob institutionelle Grenzen. Der einheitliche Währungsraum stellt nicht nur für die Ökonomie, sondern auch für die Alltagswelt der Bürger ein Zusammenwachsen dar. Um die ungehinderte Zirkulation von Waren zu garantieren, wurde in die Grenzen einzelner Mitgliedsstaaten eingegriffen. Mit diesen territorialen und institutionellen Raumveränderungen wurde vermehrt auch über Mitgliedschaftsräume diskutiert. Aber nicht nur die Beitrittsfrage, sondern auch die Thematik der Migration und der Unionsbürgerschaft stellen wichtige Punkte im Identitätsbildungsprozess dar. 59 Georg Simmel weist darauf hin, dass die Grenze “nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt” (Simmel 1992b: 697) ist. Die gegenseitige Bedingtheit und unvorhersehbare Dynamik dieser Bewegung lassen sich als Semiosphäre besonders gut vorstellen. Jeder neue Beitritt bedeutet eine Expansion des territorialen Herrschaftsgebietes der EU, ohne dabei die bestehenden politischen Grenzverläufe der Mitgliederstaaten zu verändern. Nach der Epochenwende 1989 60 war die festgelegte Ost-West-Grenze unklar: wo liegen die Grenzen Europas im Osten? Die Ordnungs- und Identitätsidee Mitteleuropas wurde durch die veränderten geopolitischen Grenzverläufe hinterfragt. Der Nationalstaat ist ein politischer Mitgliedsverband, der über die Staatsbürgerschaft und damit über Zugehörigkeitsrechte entscheidet, d. h. er definiert AusländerInnen und diskriminiert allein dadurch fremde Menschen. 61 Die Diskussionen um die europäische Staatsbürgerschaft haben eine Dimension erreicht, die an die Verwurzelung der europäischen Kultur und Geschichte, an das europäische kulturelle Erbe und das Abstammungsprinzip geknüpft ist. Entsteht dadurch ein neuer Eurozentrismus und bedeutet Europäischsein damit “denjenigen, die einen geringeren Anspruch auf diesen Titel haben, überlegen zu sein” (Delanty 1999: 174)? Im Staatsbürgerschaftsdiskurs der EU lässt sich ein auf Exklusion zielender nationalistischer Integrationsmodus erkennen, der auf einem essentialistischen Verständnis kollektiver Identität beruht und eine dauerhafte Grenze zwischen uns und anderen zu ziehen droht (vgl. Bach 2001). Zwischen uns und den Anderen wird eine Grenze gezogen, um das Eigene durch Abgrenzung vom nichtzugehörigen Fremden zu definieren. Diese Mechanismen sind nicht zu verurteilen, sondern es muss ein Problembewusstsein dafür geschaffen werden. Durch Exklusion wird das Fremde verfeindlicht, als externe Bedrohung werden fremde Menschen zu Feinden des eigenen Systems. Verwerfung, im Sinne von Kristevas Abjection (vgl. Kristeva 1982: 2), führt zu einer Verunheimlichung des Eigenen, das dann auf fremde Menschen übertragen wird. 62 Eignet man sich das Andere an, verfremdet sich das Eigene, wie am Beispiel der Spannung zwischen Homogenisierung und Verstärkung von Partikularismen deutlich wird. Die Verfremdung des Eigenen ist nach Lotman als eine neue Sprache in der Semiosphäre zu verstehen, durch die mit der fremden Semiosphäre kommuniziert werden kann. Sabine Krammer 354 Zur Zukunft Europas gibt es einige Stimmen, die die Überwindung des Unterscheidungskriteriums nationaler Herkunft fordern. In den USA besteht z. B. eine sekundäre nationale Vergemeinschaftung der nationalen Herkunftsidentitäten. In Texten über Parallelen zwischen USA und EU wird das nationale Paradigma als mögliche Organisationsform betrachtet (vgl. Bach 2001). Dabei liefert gerade die Semiosphäre Europa das nötige Potential, um alternative Organisationsformen zu erarbeiten. 63 Die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa zeigen die Notwendigkeit einer neuen Konzeption politischer Gemeinschaft. 2.3 Die Fremden im nationalen Projekt “Etrangère et cosmopolite […], je revendique cette atopie (l’étrangeté) et cette utopie (une concorde des hommes sans étrangers, donc sans nations) comme moyens de stimuler et d’actualiser la discussion sur le sens du ‘nationale’ aujourd’hui.” (Kristeva 1990b: 18) Kristeva beschäftigt sich mit der Erfahrung von Fremdheit in einer politischen Gemeinschaft. 64 Die Nation bzw. der Nationalstolz sind auf psychoanalytischer Ebene vergleichbar mit dem Spiegelstadium, dem Narzissmus, d. h. der Konstruktion eines Ideal-Ichs. 65 Kristevas analytische Beschäftigung mit Fremdheit zeigt, dass der/ die Fremde schon immer Teil des nationalen Projekts war, da die Identität einer Gruppe auf dem Vergleich mit Gleichen und der Verfolgung von Anderen aufbaut (vgl. Kristeva 1990b: 18). Dabei werden komplexe Kausalitäten, die soziale Gemeinschaften steuern, mit den Gesetzen des Unbewussten eines Subjektes verwechselt. Die unbewussten Logiken sind ein elementarer Teil der sozialen und damit der nationalen Dynamik. Um diese unbewussten Strukturen darzustellen, ist es notwendig, ausgehend von den Grenzen, die Illusion einer imaginären Einheit zu hinterfragen. “En effet, je suis convaincue, qu’à long terme, seul un travail en profondeur sur notre rapport singulier à l’autre et à l’étrangeté en nous pourra conduire les hommes à abandonner la chasse au bouc émissaire extérieur à leur groupe, laquelle les autorise à se replier sur leur ‘quant-à-soi’ ainsi purifié: le culte du ‘propre’ dont le ‘national’ est la forme collective, n’est-il pas le commun dénominateur que nous imaginons avoir ‘en propre’, justement, avec les autres ‘propres’ comme nous? ” (Kristeva 1990b: 19) Um die gesellschaftlichen Dynamiken bewusst zu machen, verweist Kristeva auf Freuds Begriff des Unheimlichen (vgl. Kristeva 1990a: 199-210). Denn Freuds linguistische Analyse des Wortes unheimlich zeigt die Instabilität der Opposition von innen und außen: unheimlich ist nur, was zuvor heimlich war (vgl. Freud 1994: 243). 66 Der Begriff unheimlich verweist auf die Unsicherheit der konzeptuellen Grenzen, die gleichzeitig Quelle und Symptom des Unheimlichen ist. Diese paradoxe Logik ist auch für die Spannungen im Umgang mit Fremdheit zu finden, denn im Eigenen liegt immer auch das Fremde (vgl. Kristeva 1990a: 199). Voraussetzung für die Akzeptanz von Differenz ist das Bewusstsein für das Fremde in mir. Das Fremde in uns und in unserer eigenen Kultur führt zu Ent-Fremdung. Mit Freuds Konzept des Unheimlichen wird das Unbekannte nicht als kulturelle Alterität oder Distanz, sondern als das Unbegreifliche im Eigenen verstanden (vgl. Kristeva 1990a: 198). Kristevas Argumentation von Fremde sind wir uns selbst folgt dieser doppelten Bewegung von Fremdheit im Inneren und der Exteriorität des Anderen. Der Internalisierung des Anderen steht die radikale Exteriorität und Nicht-Integration von Alterität gegenüber. “Dem Kosmopolitismus der Stoiker, der universalistischen Integration durch die Religion folgt bei Freud der Mut, uns selbst als desintegriert zu benennen, auf daß wir die Fremden nicht mehr Das Fremde in Europa 355 integrieren und noch weniger verfolgen, sondern sie in dieses Unheimliche, diese Fremdheit aufnehmen, die ebenso ihre wie unsere ist.” (Kristeva 1990a: 209) Die fremde Position nimmt dabei die Logik von Freuds Unheimlichem ein. 67 Kristeva beendet Fremde sind wir uns selbst mit dem Kapitel Praktisch…, in dem sie konkrete Denkanstöße gibt und aktuelle Entwicklungen in Frankreich und Europa mit einbezieht. Da ein umschließendes transzendentes Ganzes fehlt, stellt Kristeva fest: “Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und Grenzen bewußt ist - der nur Irreduzible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, einer Schwäche, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist.” (Kristeva 1990a: 213) 68 Die Opposition von unheimlich und heimlich zeigt, dass alle nationalen Identifikationen ebenso wie Bürgerschaft, auch die Unionsbürgerschaft der EU, die Beziehung von Einheimischen und Fremden in das Gegensatzpaar Bürger und Nicht-Bürger im Nationalstaat einordnen. Fremde übertreten die Grenze der nationalen Gemeinschaft und nehmen so die Positionen von Außenseitern ein. Aber gerade in der Abgrenzung zu Außenseitern besteht die Basis der Nation. Die Gesetze einer Nation zeigen deren Abhängigkeit von Außenseitern. Benedict Anderson definiert Nation als “eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän” (Anderson 1996: 15). 69 Deren Charakter liegt in der Abgrenzung gegenüber Anderen. Während Anderson die Linearität nationaler Narrative betont, benutzen Kristeva und Bhabha die Ästhetik des Unheimlichen, um die Ambivalenz des Ausgegrenzten und seine Bedrohung für die Homogenität der nationalen Identität und die Heterogenität nationaler Zugehörigkeit herauszuarbeiten. 70 Sowohl Kristeva als auch Bhabha denken von der marginalen und ambivalenten Seite der Fremden aus (vgl. Ziarek 2003: 141). 71 Kristeva stellt die Frage, ob im Rahmen des Nationalen nicht immer exklusivistischer Rassismus entsteht oder welche anderen Möglichkeiten zur Organisation einer Gemeinschaft bestehen, ohne sich in einem utopischen Gefühl absoluter Brüderlichkeit aufzulösen. Des Weiteren vergleicht sie die Nation mit einem Subjekt aus der Psychoanalyse, verwendet auch die politische Soziologie, aber sie distanziert sich davon, ein Modell oder das optimale Nationenmodell vorzustellen. Stattdessen zeichnet sie die Reflexion des politischen Gedanken der Aufklärung nach und zieht daraus wichtige Gedanken für die aktuelle nationale Frage. 72 In Die neuen Leiden der Seele entwirft Kristeva die Idee eines neuen gesellschaftlichen Gefüges, das der Nation überlegen ist (vgl. Kristeva 1994a: 226). Die Nation ist gekennzeichnet durch ökonomische Homogenität, geschichtliche Tradition und sprachliche Einheit. Diese Grundlagen werden auf Grund der symbolischen Nenner aber auch der lebensweltlichen Erfahrung sowie der gegenseitigen Abhängigkeit in den Globalisierungsprozessen zunehmend in Frage gestellt. Europa als bestimmtes sozio-kulturelles Ensemble war lange eher an einem ökonomischen Profil als an symbolischen Nennern interessiert. 73 “Les identités et les ‘communs dénominateurs’ sont ici reconnus, mais on évite leur crispation morbide en les plaçant, sans les gommer, dans une communauté polyphonique qui s’appelle aujourd’hui la France. Demain, peut- tre, si l’esprit général l’emporte sur le Volksgeist, cette communauté polyphonique pourra s’appeler l’Europe.” (Kristeva 1990b: 35 f.) Sabine Krammer 356 2.4 Europa als signifikante Praxis des Textes Das Konzept der Nation lässt die Illusion einer einheitlichen Gemeinschaft entstehen, die durch Zentralität und Abgeschlossenheit gekennzeichnet ist. Betrachtet man die Nation mit dem Konzept der Semiosphäre wird die Relevanz der Selbstbeschreibung und damit der Begrenzung des Geltungsbereichs der Sprache deutlich, aber auch die Unvorhersehbarkeit und erhöhte semiotische Aktivität an den Grenzen. Auch Bhabha tritt für einen Blick vom Rand der Nation ein und betont so die Wichtigkeit und das innovative Potential der Grenze. An den Grenzen kommt eine Nation zuerst mit Vertretern einer anderen in Kontakt und diese wandernden Menschen sind dann “selbst die Zeichen einer sich verschiebenden Grenze […], welche die Grenzziehungen der modernen Nation verfremdet.” (Bhabha 2000: 245) Durch die Kontakte mit anderen Semiosphären wird der Bruch der nationalen Referenz in der Spannung zwischen der Signifikation des Volkes als gegebene historische Präsenz und dem Volk, das in Performanz narrativer Geschichte konstruiert wird, deutlich. In der Spannung zwischen diesen beiden Polen, die Lotman als Binarität bezeichnet, d. h. in dem Dazwischen der aus sich selbst erzeugenden Nation und der anderen Nation, steht das Volk, das keine homogene Gruppe darstellt, sondern in sich selbst gespalten ist. Im Wesen der Nation “als ethnographische Kategorie, die ihrem eigenen Anspruch entspricht, die Norm der sozialen Gegenwart zu sein” (Bhabha 2000: 223) werden andere Normen gar nicht anerkannt und Fremde werden ausgeschlossen. Das Subjekt konstituiert sich durch das Andere, Dialog bzw. Übertragung charakterisieren es, wobei das Objekt der Identifikation ambivalent ist. Der Identifikationsprozess ist daher nie abgeschlossen und bezieht sich stets auf ein den Platz wechselndes Objekt, das nur eine Spur hinterlässt. Das ist der Vorgang den Kristeva als Intertextualität bzw. Transposition beschreibt (vgl. Kristeva 1978: 69). 74 Trotz des steten Prozesses der Substitution besteht ein unübersetzbarer Kern, der nicht durch kulturelle Texte und Praktiken übertragen werden kann. Auf Grund der Unübersetzbarkeit wird der Automatismus der Übersetzung gestört. Wie oben dargestellt lässt sich Europa nicht als nationalstaatliches Modell denken. Unabhängig der Debatte um die Auflösung oder Stärkung der Nationalstaaten in der EU 75 , lässt sich in der Semiosphäre Europa ein Bewusstwerden für die Vielzahl der Subsemiosphären feststellen. Gerade durch den Austausch mit Anderen verändert sich das Selbst- und Fremdbild Europas. Europa lässt sich als signifikante Praxis des Textes definieren, in dem das Subjekt andere signifikante Praxen hinterfragt. Der Begriff Europa wurde mit dem Semiosphärenmodell erläutert, dabei wurde in Hinblick auf die Heterogenität, Binarität und Asymmetrie deutlich, dass Europa ein synchroner und diachroner Organismus zwischen Katastrophen und Friedenssicherung ist, dessen Handlungen in einem wirtschaftlichen, politischen und kulturpolitischen Raum stattfinden. Die synchrone Dimension betont Derrida in seinem Essay Das andere Kap. Durch die Reduzierung der Komplexität auf gegenwärtige Ereignisse kann er Europa als ein Subjekt im Prozess begreifen. “Das Ereignis ereignet sich vielmehr, als das, was heute in Europa im Kommen bleibt, was heute in Europa noch auf der Suche nach sich selbst ist und sich verspricht oder als Versprechen ankündigt. Das Heute, die Gegenwart dieses Europas ist die eines Europas ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen, ja ohne festgelegten Namen: Europa fungiert an dieser Stelle nur als paleonymische Bezeichnung” (Derrida 1992: 26) 76 Das Fremde in Europa 357 3 Die Auseinandersetzung mit Fremdheit als endloser Dialog Die Verbindung von Lotmans und Kristevas Theorien sowie die Analyse Europas als Semiosphäre verdeutlichten, dass die Menschen, die dieses Europa gestalten und in diesem Raum leben, von zentraler Bedeutung sind. Denn jede Semiosphäre ist auf den Austausch mit anderen Semiosphären angewiesen und die Menschen sind dabei die Träger kultureller Bedeutung. Durch den Kontakt und Austausch mit anderen Menschen können Grenzen verlegt werden. Der Dialog mit GrenzgängerInnen und die Übersetzung externer Texte in interne Texte kreieren neue Bedeutungen. Gleichzeitig nehmen verschiedene Geschichten und Erzählungen semiotischen Raum ein. Die Semiosphäre Europa ist folglich ein Erfahrungs- und Handlungsraum, der durch die kulturellen Eigenschaften der Mitglieder bestimmt wird. Sie ist gekennzeichnet durch Heterogenität, die z. B. in den verschiedenen Nationen und Sprachen Ausdruck findet. Die Asymmetrie der Subsemiosphären, die sich ständig entwikkeln, Plätze tauschen und aufeinander prallen, ist für die Dynamik der Semiosphäre verantwortlich. Durch die unterschiedlichen Sprachen findet in der Semiosphäre ein Dialog statt, bei dem neue Bedeutung entsteht. Der kulturelle Grenzraum ist also für das kreative und innovative Potential der Semiosphäre zuständig. Dabei sind die Grenzräume nicht deckungsgleich mit nationalen Grenzen, sondern trennen und verbinden die Semiosphäre Europa. Die Selbstbezeichnung, die Europa aktuell formuliert, etabliert sich auf einer zeitlichen Achse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und auf einer räumlichen Achse von Innen und Außen. 77 Dabei neigt das Zentrum dazu, eine Einheitlichkeit zu behaupten. Das Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem Anspruch auf Homogenisierung und der Verstärkung von Partikularismen sowie zwischen Exklusion und Inklusion bildet einen wesentlichen Aspekt für die Analyse des europäischen Raums, dem weitere Forschungsprojekte gewidmet werden sollten. Nicht nur die Frage nach den Mitgliedsländern bzw. den potentiell zukünftigen EU-Ländern, sondern auch die Frage nach dem/ der Einzelnen muss dabei bedacht werden, da es in den verschiedenen Mitgliedsländern unterschiedliche Möglichkeiten zur Teilhabe am politischen System und Kriterien zur Benennung von Fremden gibt. Der Prozess der Europäischen Integration ist geprägt vom Verlust der Kontrolle über den Raum, wobei der Begriff Raum auch seine Definitionsmacht einschließt. In der Spannung zwischen Öffnung und Schließung von Grenzen wird der Versuch der EU deutlich, als normatives Zentrum Raum mit Bedeutung zu belegen. Durch die Instrumente zur Grenzkontrolle etabliert sich die europäische Gesellschaft als Raum von Zugehörigkeit und Ausschluss und folgt damit der Logik der Nationalstaaten, auch wenn es sich bei Europa, wie dargestellt wurde, nicht um ein Nationenmodell handelt. Die Kreativität, die durch den Kontakt mit Fremden entsteht, wird zu einem Teil der Semiosphäre. Dabei kann keine Begegnung mit radikalen Fremden stattfinden, sondern nur mit einzelnen Personen, die Grenzen überschreiten. Die einzelnen Menschen sind dafür verantwortlich, dass Migrationen Gesellschaften verändern. Personen, die als ungebetene Gäste beispielsweise um Asyl bitten oder auf illegalem Weg in die EU reisen, stellen Europa immer wieder in Frage. Die Grenzen selbst sind dann die Austragungs- und Verhandlungsorte, von denen ausgehend neue Dynamiken das System erobern. Die Momente der Migration, die die nationalstaatlich formierten Gesellschaften anstoßen, verdeutlichen die kreative Kraft, die in ihnen liegt. Der Begriff Europa bezeichnet folglich ein Ereignis, das nicht mit bestimmten festen Grenzen und ausschließenden Grenzziehungen verbunden ist. Die Grenzen finden sich stattdessen in der Differenz der Kultur mit sich selbst und als Differenz zum Anderen der Kultur. 78 Das Selbst konstituiert sich durch den Kontakt mit Anderen und setzt Sabine Krammer 358 sich im Fremden mit dem Eigenen auseinandersetzt. Kristeva variiert diesen Satz unter Zunahme der Strukturen des Unbewussten Freuds zu Fremde sind wir uns selbst. Jede Begegnung mit Fremden ist ähnlich strukturiert und verweist immer auf das Eigene. So kann eine Anerkennung der Abjection stattfinden, wie auch der Figur dieser Verdrängung: der und dem Fremden. Die Aufhebung von Fremdheit ist dabei nicht realisierbar und würde auch die kulturellen Dynamiken verhindern, denn gerade in der Begegnung mit Fremden liegt das kreative Potential. Die Fremdheit wird nicht aufgehoben. Stattdessen findet eine ständige Verschiebung der thetischen Schranke (vgl. Kristeva 1978: 55-61), Wiederherstellung alter und der Entstehung neuer Texte in der Semiosphäre statt. In seinem Semiosphäremodell beschäftigt sich der Kultursemiotiker Lotman mit dem für die Themen Migration und Fremdheit zentralen Begriff des Raums. Das Modell ist geeignet, die für die Identitätsbestimmung einzelner Kulturen wichtige Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremden vorzunehmen: Das Zentrum beschreibt normativ angrenzende Semiosphären und wehrt Bedrohung von außen ab. In einer Blütezeit besteht eine höhere Kontinuität nach innen, wobei das Zentrum unflexibel wird, während die Peripherie für den semiotischen Dynamismus verantwortlich ist. Die unterschiedlichen Instrumente zur Integration von Fremden in ein System und die diversen Migrationsregime könnten sich ebenfalls als Semiosphären analysieren lassen. Die Analyse des Fremden ist mit einer räumlichen Vorstellung verbunden, da es gerade die Fremden sind, die als unvorhersehbare Grenzbereiche zwischen den Semiosphären wandeln und an den Schnittpunkten neue Gesellschaftsformationen herausbilden. Lotmans Perspektive auf diese Figuren verdeutlicht, wie Gesellschaften von einer symbolischen Ordnung in die nächste gelangen können. Kulturelle Strukturen in der europäischen Gegenwart sind ein dynamisches Untersuchungsobjekt, da die Strukturen sich in einem fortwährenden Prozess befinden. Das Semiosphärenmodell ermöglicht es, soziale Einheiten einer Gesellschaft mit den Spannungsbeziehungen und den darin existierenden Sprachen zu begreifen. Der Umgang mit Fremden und die sozialen Konstruktionen des Fremden folgen oft dieser unbewussten Logik. Dabei stellt sich die Frage nach dem Handeln des Individuums. Das Subjekt bildet sich aus dem Kontakt mit dem Anderen und befindet sich in einem ständigen Prozess und im Austausch mit dem Anderen, durch den es die Konstruktionen von Fremden und den Umgang mit ihnen verändert. In diesem Prozess situiert sich das Subjekt nach Kristevas Sprachtheorie stetig neu. Mit Lacan sind Subjekt und die Anderen über die Konstruktion des Selbst miteinander verbunden (vgl. Lacan 1991a), ebenso wie die sozialen Konstruktionen und die Logik, die das individuelle Handeln bestimmt, über den Prozess der Bedeutungskonstitution verschränkt sind. Das kulturwissenschaftliche Raummodell der Semiosphäre eignet sich als Analysemodell für Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart in Bezug auf das Fremde, da Fremdheit mit Grenzziehung und Abgrenzung zu Anderem verbunden ist. Durch die Konstruktion von Differenzen werden Andere zu Fremden und eigene Räume von fremden getrennt. Zur Beschreibung dieser Prozesse verwendet Lotman räumliche Begriffe, wie Spiegel, Rahmen, Grenze oder Asymmetrie. Die Semiosphäre ändert sich im Dialog mit anderen Semiosphären dadurch, dass fremde Texte angeeignet werden, die wiederum die Sprachen innerhalb der Subsemiosphären verändern. Dadurch entstehen neue Semiosphären, wie besonders an den Entwicklungen der nationalen und kulturellen Identitäten im europäischen Raum feststellbar ist. Durch die Aneignung fremder Texte und den Austausch mit anderen Semiosphären erreicht das Eigene eine verfremdete Perspektive, die eine unvorhersehbare und innovative Aktion ermöglicht und die Semiosphäre stärkt. Das Subjekt kann so Das Fremde in Europa 359 Zentrum und Peripherie zugleich sein und erreicht ein doppeltes Sehen und Verständnis für andere Semiosphären. Lotmans Bild des Spiegels ist vergleichbar mit Bachtins Idee des doppelten Diskurses, in dem die Worte des Anderen zu Worten des Autors werden (vgl. Bachtin 1979: 185), was Kristeva mit Transposition beschreibt. Die Spiegelung zeigt aber nicht nur das Bild, sondern fügt dem Bild noch etwas hinzu, so wie das Wort des Anderen im eigenen Diskurs neue Bedeutung erhält. Dieses unähnlich Ähnliche ist asymmetrisch und somit ein Charakteristikum der Semiosphäre. Nach Bachtin, Lotman und Kristeva kann man für das Eigene und das Fremde feststellen, dass das Fremde nur in einer verfremdeten Perspektive begreifbar ist. Treffen entfremdete Semiosphären aufeinander, führt dies zu einer kulturellen Explosion. In Bachtins Einfluss erkennt Lotman in der dialogischen Beziehung die Chance für ein kreatives Denken über Andersheit und Differenz. Die Bedeutungskonstitution ist ein Prozess, d. h. eine Spannung zwischen Semiotischen (Vorsprachlichem) und Symbolischen (Sprachliches, Gesellschaftliches), bei der der Trieb als vermittelnde Instanz auftritt. Dadurch werden Sinn und Strukturen geschaffen, die dem Subjekt Orientierung bieten. Beim Erstarren der Strukturen und dem Entstehen von Käfigen werden diese wieder zerstört und neue Regeln gebildet. Auch in der Semiosphäre wechseln Zentrum und Peripherie ihre Plätze, da das Zentrum sich durch seine strikten Normen in seiner Dynamik und Entwicklung selbst behindert. Jede Struktur, gesellschaftlich oder individuell, kann von der Kraft, die sie am Leben erhält, auch zerstört werden. Denn das Zerstörerische ist keine äußere Macht, sondern der dynamischen Struktur inhärent. Daher bringt jede Gesellschaftsform ihre eigenen Barbaren hervor. Das Errichten einer Grenze, sei es eine Grenze innerhalb einer Semiosphäre oder auch die thetische Schranke, ist sowohl die Bewegung zu etwas hin, als auch die Bewegung von etwas weg. Die Grenzen sind der Ort des Austausches und der Verhandlung über neue Grenzen. Durch den Austausch und den Dialog ist die Grenze ein Ort hoher semiotischer Aktivität. Dort können neue Identitäten, neue Semiosphären entstehen und verschiedene Formen der Sinngebung voneinander abgegrenzt werden. Um eine gemeinsame Sprache zwischen den unterschiedlichen Formen von Subjektivität zu finden, kommt es darauf an, einen produktiven Polylog herzustellen. Das Dialogprinzip von Bachtin ist bei Kristeva und Lotman entscheidend für den Umgang mit Fremdheit: Der konstante Austausch und die Konfrontation mit dem Anderen machen deutlich, wie wichtig die jeweilige symbolische Ordnung für das eigene Bewusstsein und die eigene Wahrnehmung ist und diese definiert. Fremdheit, Andersheit und Eigenes bedingen sich gegenseitig. Das Fremde kann nie vollständig assimiliert werden, es bleibt immer ein Überschuss an Andersheit und der Prozess der Auseinandersetzung bleibt als endloser Dialog unabgeschlossen. Literatur Anderson, Benedict 1996: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M.: Campus. Bach, Maurizio 2001: “Integration durch Fremdenfeindlichkeit? Über die Grenzen Europas und die kollektive Identität der Europäer”. In: Gellner, Winand & Strohmeier, Gerd (Hg.) 2001: Identität und Fremdheit. Eine amerikanische Leitkultur für Europa? Baden-Baden: Nomos, S. 141-149. Bachtin, Michail 1979: “Das Wort im Roman”. In: Grübel, Rainer (Hg.) 1979: Michail M. Bachtin. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 154-300. Sabine Krammer 360 Bade, Klaus & Emmer, Pieter & Lucassen, Leo & Oltmer, Jochen 2007: “Die Enzyklopädie: Idee - Konzept - Realisierung”. In: dies. (Hg.) 2007: Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zürich: Neue Zürcher Zeitung, S. 19-27. Bade, Klaus & Oltmer, Jochen 2004: Normalfall Migration. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Bade, Klaus 2000: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck. Balibar, Etienne 2005: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Beck, Ulrich 1997: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bhabha, Homi 2000: “DissemiNation. Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation”. In: ders. 2000: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, S. 207-253. Bielefeld, Uli 1997: “Das Konzept des Fremden und die Wirklichkeit des Imaginären”. In: ders. (Hg.) 1997: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg: Junius, S. 97-128. Borgolte, Michael 2005: “Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte”. In: Joas, Hans & Wiegandt, Klaus (Hg.) 2005: Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 117-163. Brunn, Gerhard 2004: Die europäische Einigung von 1945 bis heute. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Clark, Eric & Petersson, Bo 2003: “Boundary Dynamics and the Construction of Identities”. In: dies. (Hg.) 2003: Identity Dynamics and the Construction of Boundaries. Riga/ Lund: Nordic Academic Press, S. 7-18. Classen, Albrecht 1993: “Das Fremde und das Eigene”. Neuzeit. In: Dinkelbacher, Peter (Hg.) 1993: Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart: Kröner, S. 429-450. Dahrendorf, Ralf 1994: “Die Zukunft des Nationalstaates”. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 48, H. 546/ 547, S. 751-761. Deger, Petra & Hettlage, Robert 2007: “Europäischer Raum und Grenzen - Eine Einleitung”. In: dies. (Hg.) 2007: Der europäische Raum. Die Konstruktionen europäischer Grenzen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 9-24. Delanty, Gerard 1999: “Die Transformation nationaler Identität und die kulturelle Ambivalenz europäischer Identität. Demokratische Identifikation in einem postnationalen Europa”. In: Segers, Rien &Viehoff, Reinhold (Hg.) 1999: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 267-288. Demandt, Alexander 1995: “Die Germanen im Römischen Reich”. In: ders. (Hg.) 1995: Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München: Beck, S. 68-80. Derrida, Jacques & Birnbaum, Jean 2004: “Das Leben, das Überleben. Vom Ethos des Denkens und von der Chance des europäischen Erbes”. In: Lettre International 16, H. 66, S. 10-13. Derrida, Jacques & Habermas, Jürgen 2003: “Nach dem Krieg. Die Wiedergeburt Europas”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai, S. 33-34. Derrida, Jacques 1992: “Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa”. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eder, Klaus 2007: “Die Grenzen Europas. Zur narrativen Konstruktion europäischer Identität”. In: Deger, Petra & Hettlage, Robert (Hg.) 2007: Der europäische Raum. Die Konstruktionen europäischer Grenzen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 187-208. Fernández, Christian 2003: “The Stranger Within. Union Citizenship and Third Country Nationals”. In: Petersson, Bo & Clark, Eric (Hg.) 2003: Identity Dynamics and the Construction of Boundaries. Riga/ Lund: Nordic Academic Press, S. 161-179. Freud, Sigmund 1994: “Das Unheimliche”. In: ders. (Hg.) 8 1994: Psychologische Schriften. Band 4. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 241-274. Fuhrmann, Manfred 2004: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart: Reclam. Giesen, Bernhard 1999: “Europa als Konstruktion der Intellektuellen”. In: Segers, Rien & Viehoff, Reinhold (Hg.) 1999: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 130-146. Groys, Boris 2007: “Identität aus Anderen. Das Eigene Europas oder die Kunst, sich das Fremde einzuverleiben”. In: Lettre International 19, H. 77, S. 36-39. Hall, Stuart 1994a: “Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität”. In: Mehlem, Ulrich (Hg.) 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument, S. 44-66. Das Fremde in Europa 361 Hall, Stuart 1994b: “Die Frage der kulturellen Identität”. In: Mehlem, Ulrich (Hg.) 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument, S. 180-222. Hall, Stuart 1996: “Introduction: Who Needs ,Identity’? ”. In: Hall, Stuart & du Gay, Paul (Hg.) 1996: Questions of Cultural Identity. London [u. a.]: Sage, S. 1-17. Harzig, Christiane 2006: “Einleitung. Zur persönlichen und kollektiven Erinnerung in der Migrationsforschung”. In: dies. (Hg.) 2006: Migration und Erinnerung. Reflexionen über Wanderungserfahrungen in Europa und Nordamerika. Göttingen: V&R unipress, S. 7-19. Heckmann, Friedrich 1991: “Ethnos, Demos und Nation, oder: Woher stammt die Intoleranz des Nationalstaats gegenüber ethnischen Minderheiten? ”. In: Bielefeld, Uli (Hg.) 1991: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg: Junius, S. 51-78. Hedetoft, Ulf 1999: “The nation state meets the world: National identities in the Context of Transnationality and Cultural Globalization”. In: European Journal of Social Theory 2, H. 1, S. 71-94. Hedetoft, Ulf 2003: “The Politics of Belonging and Migration in Europe. Raison d’Etat and the Borders of the National”. In: Petersson, Bo & Clark, Eric (Hg.) 2003: Identity Dynamics and the Construction of Boundaries. Riga/ Lund: Nordic Academic Press, S. 201-221. Hettlage, Robert & Müller, Hans-Peter 2006: “Die europäische Gesellschaft. Probleme, Positionen, Perspektiven”. In: dies. (Hg.) 2006: Die europäische Gesellschaft. Konstanz: UVK, S. 9-22. Hoerder, Dirk & Lucassen Jan & Lucassen, Leo 2007: “Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung”. In: Bade, Klaus & Emmer, Pieter & Lucassen, Leo & Oltmer, Jochen (Hg.) 2007: Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zürich: Neue Zürcher Zeitung, S. 28-53. Joas, Hans & Wiegandt, Klaus (Hg.) (2005): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M.: Fischer. Kaelble, Hartmut 2007: Das europäische Selbstverständnis im 19. und 20. Jahrhundert. In: Deger, Petra & Hettlage, Robert (Hg.) 2007: Der europäische Raum. Die Konstruktionen europäischer Grenzen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167-186. Klein, Bernhard & Mackenthun, Gesa 2003: Das Meer als kulturelle Kontaktzone: Räume, Reisende, Repräsentationen. Konstanz: UVK. Kristeva, Julia (1994a): Die neuen Leiden der Seele. Hamburg: Junius. Kristeva, Julia 1972: “Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman”. In: Ihwe, Jens (Hg.) 1972: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt a. M.: Athenäum, S. 345-375. Kristeva, Julia 1977: “Semiologie - kritische Wissenschaft und/ oder Wissenschaftskritik”. In: Zima, Peter (Hg.) 1977: Textsemiotik als Ideologiekritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 35-53. Kristeva, Julia 1978: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kristeva, Julia 1982: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York: Columbia University Press. Kristeva, Julia 1990a: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kristeva, Julia 1990b: Lettre ouverte à Harlem Désir. Paris, Marseille: Rivages. Kühnel, Harry 1993: “Das Fremde und das Eigene”. Mittelalter. In: Dinkelbacher, Peter (Hg.) 1993: Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart: Kröner, S. 415- 428. Lacan, Jacques 1991a: “Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint”. In: ders. 3 1991: Schriften I. Olten: Walter, S. 61-70. Lacan, Jacques 3 1991b: Schriften II. Olten: Walter. Lepsius, Rainer 1999: “Die Europäische Union. Ökonomisch-politische Integration und kulturelle Pluralität”. In: Segers, Rien &Viehoff, Reinhold (Hg.) 1999: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 201-222. Lotman, Juri 4 1993a: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink. Lotman, Juri 1993b: La cultura e l’esplosione. Prevedibilità e imprevedibilità. Mailand: Feltrinelli. Lotman, Juri 1997: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Lotman, Juri 1998: “Über die Semiosphäre”. In: Mersch, Dieter (Hg.) 1998: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis Umberto Eco und Jacques Derrida. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 229-247. Lotman, Juri 2000: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press. Postel, Verena 2004: Die Ursprünge Europas. Migration und Integration im frühen Mittelalter. Stuttgart: Kohlhammer. Sabine Krammer 362 Radtke, Frank-Olaf 1997: “Lob der Gleich-Gültigkeit. Zur Konstruktion des Fremden im Diskurs des Multikulturalismus”. In: Bielefeld, Uli (Hg.) 1997: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg: Junius, S. 79-96. Raphael, Lutz 2004: “Königsschutz, Armenordnung und Ausweisung - Typen der Herrschaft und Modi der Inklusion und Exklusion von Armen und Fremden im mediterran-europäischen Raum seit der Antike”. In: Gestrich, Andreas & Raphael, Lutz (Hg.) 2004: Inklusion/ Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M.: Lang, S. 15-34. Schlange-Schöningen, Heinrich 1995: “Fremde im kaiserzeitlichen Rom”. In: Demandt, Alexander (Hg.) 1995: Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München: Beck, S. 57-67. Schluchter, Wolfgang 2005: “Rationalität - Spezifikum Europas? ”. In: Joas, Hans & Wiegandt, Klaus (Hg.) 2005: Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 237-264. Schmale, Wolfgang 1997: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit? Mit drei Abbildungen. Bochum: Dr. Dieter Winkler. Segers, Rien & Viehoff, Reinhold 1999: “Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur in Europa”. In: dies. (Hg.) 1999: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9-49. Segers, Rien & Viehoff, Reinhold (Hg.) (1999): Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Seidendorf, Stefan 2007: Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse? Ein Vergleich französischer und deutscher Printmedien. Baden-Baden: Nomos. Simmel, Georg 1992a: “Exkurs über den Fremden”. In: ders. 1992: Gesamtausgabe, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Band 11. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 764-771. Simmel, Georg 1992b: “Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft”. In: Gesamtausgabe, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Band 11. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 687-790. Ziarek, Ewa 2003: “The Uncanny Style of Kristeva’s Critique of Nationalism”. In: Lechte, John & Zournazi, Mary (Hg.) 2003: The Kristeva Critical Reader. Edinburgh: Edinburgh University Press, S. 139-157. Internetquellen Fischer-Lescano, Andreas & Tohidipur, Timo 2007: “Die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX”. URL: http: / / www.schattenblick.de/ infopool/ medien/ altern/ imi-139.html [04.11.2008]. IOM (o. J.): “Remittances”. URL: http: / / www.iom.int/ jahia/ Jahia/ pid/ 538 [04.11.2010]. Oltmer, Jochen 2005: “Migration und Zwangswanderungen im Nationalsozialismus”. URL: http: / / www.bpb.de/ themen/ WTCUS2,0,0,Migration_und_Zwangswanderungen_im_Nationalsozialismus.html [04.11.2010]. Steinbach, Udo 2006: “Türkei und EU. Probleme der geografischen, kulturellen und politischen Grenzziehung”. URL: http: / / www.bpb.de/ themen/ 2K6KOM"0,Probleme_der_geografischen_kulturellen_und_politischen_ Grenzziehung.html [04.11.2010]. Terkessidi, Mark 2002: “Der lange Abschied von der Fremdheit. Kulturelle Globalisierung und Migration”. URL: http: / / www.bpb.de/ publikationen/ AXUE2O,0,0,Der_lange_Abschied_von_der_Fremdheit.html [04.11.2010]. UNHCR o. J.: “Die Genfer Flüchtlingskonvention. Fragen und Antworten”. URL: http: / / www.unhcr.de/ grundlagen/ genfer-fluechtlingskonvention.html [04.11.2010]. Anmerkungen 1 Der Mythos ist nach Juri Lotman ein sinnstiftendes Element und grundlegend für die Entstehung von Identität (Lotman 2000: 152). 2 Zu den Wanderungsbewegungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, die als Völkerwanderungen beispielsweise der Alemannen oder Vandalen bezeichnet werden vgl. Postel 2004. Verena Postel sieht in dem Transformationsprozess vom römischen Imperium zu den mittelalterlichen Königreichen “die Ursprünge Europas”. 3 Beispiele für die innere Mobilität der Europäer sind die Neubesiedlung ganzer Regionen nach dem 30-jährigen Krieg oder die Landflucht Anfang des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Arbeitskräfte in die Städte zogen Das Fremde in Europa 363 (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 29). Beispiele für die Mobilität außerhalb Europas sind die Migration in Kolonien oder die Auswanderung nach Amerika (vgl. Bade & Oltmer 2004: 8 f.). 4 Dieser geschichtliche Überblick über verschiedene Migrationsregime soll die unterschiedlichen Stimmungen in den diversen Zeiten und Räumen sowie die konkreten Erfahrungen von Fremden aufzeigen. Dabei ist sich die Verfasserin bewusst, dass sie mit der Einteilung der Migrationsregime in unterschiedliche Epochen der komplexen Fremdheitserfahrung nicht gerecht werden kann und es sich bei den Epochen um ein Konstrukt handelt, um den Forschungsgegenstand einzugrenzen. 5 Rom wurde als Asyl für die gesamte Welt bezeichnet, aber in der Bewertung dieses Umstandes bestanden Unterschiede (vgl. Schlange-Schöningen 1995). 6 Alexander Demandt beschreibt die einzelnen Phasen der versuchten Integration der Germanen und sucht nach Gründen für das Scheitern. Erst nach der Invasion Roms durch die Barbaren und nach dem Scheitern diplomatischer Lösungen erhielt der Begriff Barbar sein negatives Attribut. In der Endphase des Römischen Reiches entstand auch der Begriff des Vandalismus (vgl. Demandt 1995). 7 Die religiös-kulturelle Einheit des westlichen Christentums entsteht im Zeichen von Kirchenspaltung, Kreuzzug und Reconquista auch in Abgrenzung gegenüber Andersgläubigen. Nicht nur diese wurden vertrieben, sondern auch Bettler, Vagabunden, Landstreicher und andere Bevölkerungsgruppen am Rande der Gesellschaft. “Es lässt sich fortan ‘säubern’ und die Metaphorik der Unreinheit und des Schmutzes wiederum wird die sich säkularisierende Rhetorik politischer Ordnung beständig anreichern und begleiten, wenn es darum ging, gegen Menschen vorzugehen, welche als Fremde oder nicht ortsansässige Arme die Ordnungsfunktionen der öffentlichen Herrschaftsträger ungewollt in Frage stellten” (Raphael 2004: 18). Michael Borgolte sieht in der Kompromisslosigkeit der monotheistischen Religionen die Voraussetzung für die Akzeptanz von Differenz und argumentiert, dass Europa im Mittelalter seine Vielfalt entdeckte (vgl. Borgolte 2005). 8 Zur Konstruktion des Fremden im Mittelalter vgl. Kühnel 1993. 9 Dante verfasste Die göttliche Komödie im Exil, nachdem der Krieg zwischen Guelfen und Ghibellinen ihn gezwungen hatte, Florenz zu verlassen. Kristeva schlägt als einen möglichen Interpretationsschlüssel seines Werkes das Exil vor (vgl. Kristeva 1990a: 116 f.). 10 “Ein neuer Kosmopolitismus ist dabei zu entstehen, gegründet nicht mehr auf der Einheit der Gott gehörenden Kreaturen, wie sie Dante vor Augen hatte, sondern auf der Universalität des fragilen, ungezwungenen und dennoch tugendhaften und sicheren Ichs.” (Kristeva 1990a: 134) Diese Frage wird in den kritischen Perspektiven zu Multikulturalismus diskutiert (vgl. Radtke 1997). 11 Für einen Überblick über die Erfahrungen mit Fremden in der Neuzeit vgl. Classen 1993. 12 Allerdings muss in diesem Zusammenhang auf die Zwangsmigration in Form der Sklaverei in Venedig hingewiesen werden. 13 Was ist beispielsweise mit den Menschen, die nicht BürgerInnen eines Staates sind? Hat man Menschenrechte, wenn man keine Bürgerrechte besitzt? Mit Überlegungen von Hannah Arendt und der möglichen Umwandlung der Menschenrechte verweist Kristeva auf die Utopie einer Gesellschaft ohne Nationen (vgl. Kristeva 1990a: 169). Während der Revolution wurden Fremde als Menschen aus anderen Ländern integriert, um deren Herkunftsländer zu bekämpfen. Parallel zu den steigenden politischen Unruhen und der ökonomischen Krise wurden die Fremden dafür verantwortlich gemacht. Schließlich verschärfte sich nach der Revolution die religiöse und nationale Diskriminierung. 14 Unerwünschte Menschen wurden aus rassischen Gründen ausgeschlossen. “Die historisch-zeitliche, gesellschafts-strukturelle und situative Bedeutung von Ethnizität” (Heckmann 1991: 58) ist variabel. Friedrich Heckmann untersucht den Grund für die Problematik ethnischer Pluralität in der Nationalgesellschaft. 15 Zur Legitimationskarte für ausländische Arbeitskräfte in Deutschland vgl. Bade & Oltmer 2004: 13-15. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts waren staatliche Grenzen von keiner großen Bedeutung. Die seit der Französischen Revolution verwendeten Ausweise und Pässe dienten vor allem dazu, die Identität von Migranten bei politischer Unruhe zu überprüfen, aber nicht als Instrument zur Ausweisung von Ausländern. 16 Die Verbindung von Staats- und Nationalkonzept ist in sich widersprüchlich, da Staaten jedem Bürger die gleichen Rechte zubilligen, aber Nationen Gruppen kulturelle Sonderrechte zusprechen. 17 Andere Instrumente zur Regulierung von Zuwanderung sind zum Beispiel die Reglementierung der Arbeitserlaubnis und die beschränkte Aufnahme von Flüchtlingen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen: 51). “Wohlfahrtstaatliche Interventionen dienten der Sicherung und Förderung der Loyalität der Staatsbürger durch sozialen Ausgleich, verfolgten also auch eine Integrationsfunktion. Sie erforderten aber zugleich Entscheidungen über die Eingrenzung des Kreises der Empfangsberechtigten, die sich in der Regel an deren Staatsangehörigkeit orientierte. Zuwanderung konnte in diesem Kontext als Gefahr für die Leistungsfähigkeit des nationalen Sabine Krammer 364 Wohlfahrtsstaates bei der Integration seiner eigenen Staatsbürger erscheinen.” (Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 43) 18 Zu den Zwangswanderungen im Nationalsozialismus vgl. Oltmer 2005. 19 Ursprünglich zum Schutz der europäischen Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges konzipiert, wurde die Konvention erweitert und legt fest, wer ein Flüchtling ist und welche Rechte und Pflichten ihm/ ihr dadurch garantiert werden (vgl. UNHCR 2008). 20 Das sozialistische Osteuropa war von diesen Migrationsströmen abgekoppelt, nur Jugoslawien als ein multiethnischer sozialer Staat ließ Arbeitsmigration zu. In den 1970er Jahren wurden auch die osteuropäischen Staaten zu Aufnahmegesellschaften von Menschen aus Lateinamerika, dem östlichen Mittelmeerraum, Asien und Afrika. 21 Die Verwendung des Begriffs GastarbeiterIn ist bezeichnend für den Status der ArbeitsmigrantInnen: Das Wort Gast impliziert, dass eine Person nicht auf Dauer bleibt (vgl. Bade & Oltmer 2004: 71 f.). 22 Die Wirtschaftskrise 1973 bedeutete einen Anwerbestopp in West-, Mittel-, und Nordeuropa (vgl. ebd.). 23 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Afrika, Teile Asiens und Lateinamerika durch Dekolonisation und die Schaffung von Nationalstaaten der ehemaligen Kolonialgebiete zu den führenden Fluchtbewegungen generierenden Kulturräumen (vgl. Bade 2000: 306-313). 24 Zum Verhältnis von Migration und Erinnerung vgl. Harzig 2006. 25 Ulf Hedetoft weist darauf hin, dass das Schließen der Außengrenzen im Gegensatz zu den europäischen Zielen und Werten, z. B. humanitäre Hilfe, steht. Die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen von ImmigrantInnen oder das Fingerabdrucksystem Eurodac sind Beispiele für Grenzen, die von innen durchlässig, aber von außen hart sind (vgl. Hedetoft 2003). 26 Durch ein fehlendes Migrationskonzept trägt Europa zur Illegalisierung von Zuwanderung bei (vgl. Bade & Oltmer 2004: 139). 27 Trotz der Verwendung von Zahlen muss auf Grund der Ungenauigkeit von Zählungen bedacht werden, dass Ausländerzahlen und deren Anteile an der Wohnbevölkerung im internationalen Vergleich wenig aussagen über tatsächliche Einwanderungsprozesse. 28 In den 1960ern wurden die ArbeitsmigrantInnen aus Südeuropa als Fremde beschrieben, in den 1970ern waren damit immer weniger Südeuropäer gemeint, sondern eher Menschen aus der Türkei. In den 1990ern lässt sich eine steigende Aversion gegen Zuwanderern aus der Dritten Welt erkennen (vgl. Bade 2000: 439- 454). 29 Die Maßnahmen zur Erhaltung eines gleichbleibend hohen Sicherheitsniveaus für die Vertragsstaaten sahen Einreisekontrollen an EG/ EU Außengrenzen, Angleichen der Regelungen zur Visaerteilung sowie verschärfte Einreisebedingungen und Maßnahmen gegen illegale Einreisende vor (vgl. Brunn 2004: 284-286). 30 Die drei Säulen sind: 1. Die supranationalen Entscheidungsmechanismen der Europäischen Gemeinschaften (EG, Euratom); 2. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik / GASP; 3. Auf intergouvernementaler Ebene: Justiz und Inneres (vgl. Brunn 2004: 275-279). 31 Näheres zu den Vertragsverhandlungen und Beschlüssen des Vertrages von Amsterdam vgl. Brunn 2004: 198-302. Die EU-Agentur FRONTEX, die für den Schutz der Land-, See- und Luftgrenzen der EU verantwortlich ist, weist rechtsstaatliche und demokratische Defizite auf (vgl. Fischer-Lescano & Tohidipur 2007). 32 Beck versteht Europa als imaginären Raum, ohne den es keine Antwort auf Globalisierung gibt, aber der erst noch politisch entworfen werden muss (vgl. Beck 1997). 33 Die Außengrenzen der EU werden vorverlegt und gleichzeitig verschärft, während Anrainerstaaten zu Pufferzonen für Angehörige von Drittstaaten ausgebaut werden (vgl. Bade 2000: 378-408). 34 Während das Reisen für Touristen, ob pauschal oder individuell, immer einfacher wird, wird die Mobilität der Nicht-Europäer extrem eingeschränkt. Mit Sensorentechnik und Nachtsichtgeräten werden Flüchtlinge schnellstmöglich durch die EU-Agentur Frontex ausfindig gemacht. Um dem Entdeckt-werden zu entgehen, weichen die Flüchtlinge auf immer kleinere und riskantere Boote aus. 35 Während im Mittelalter die Kategorie der Religion, im Industrialismus/ Kolonialismus die der Rasse und im 19. Jahrhundert die von Volk und Nation die Differenz konstruierten, kann man in den modernen Sozialstaaten von der Kategorie der Kultur sprechen (vgl. Radtke 1997: 80). Da das konkrete Verhältnis zu Fremden abhängig ist vom eigenen Selbstverständnis unterscheidet sich Fremdsein in Deutschland und Frankreich (vgl. Bielefeld 1997). 36 Vgl. Simmel 1992a und Kristeva 1990a. 37 Mit dem Konzept der Semiosphäre werden die Mechanismen des Austausches von Information und der Bewegungen innerhalb und zwischen Kulturen erklärt (vgl. Lotman 1993a, Lotman 1993b, Lotman 1998, Lotman 2000, Lotman 2005). Das Fremde in Europa 365 38 Dabei dürfen globale Verflechtungen, die Einbindung und der Austausch mit anderen Semiosphären nicht außer Acht gelassen werden. 39 Zur Selbstdarstellung der EU vgl. das Portal der Europäischen Union http: / / europa.eu/ [20.09.2010]. 40 Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem kulturellen Europa und der europäischen Union: Da die EU nur eine Struktur Europas ist, ist ihre Krise nicht die Krise Europas. Das mangelnde Vertrauen in die EU kann nicht mit Bürokratie erklärt werden, denn kulturelle Fakten entscheiden auch über den politischen und wirtschaftlichen Erfolg. Die Bürger sind die Akteure des kulturellen und auch des politischen Europas, das keine Institution ist und das nicht von Brüssel aufoktroyiert werden kann. 41 In Bildung. Europas kulturelle Einheit beschreibt der Autor die europäische Bildungstradition unter humanistischen und christlichen Aspekten. Den Verlust der Bedeutung des Bildungskanons schreibt er der Erlebnisgesellschaft zu. Nur bei Kenntnis über die Vergangenheit, könne Europa auch eine Zukunft haben. Die dargestellten Etappen und der Rückbezug vor allem auf Humanismus und Christentum sind zwar wichtige Faktoren in der europäischen Entwicklung, allerdings greift der Autor damit zu kurz. Der Bezug zwischen europäischer und christlicher Identität entstand im frühen Mittelalter. Borgolte verweist auf Europas Entdeckung der Vielfalt (und der damit verbundenen Einheit) im Mittelalter (vgl. Borgolte 2005: 140). Die propagierte kulturell-religiöse Einheit Europas ist allerdings in der Geschichte nicht auffindbar (vgl. Kaelble 2007: 176). 42 Die EU versucht diese Symbole zu konstruieren und zu verbreiten: Gemeinsamkeiten im kulturellen Erbe werden gesucht, wie die Bilder auf den Euro Geldscheinen zeigen. Um dieses Begehren nach Identität voran zu treiben, bedient sich die EU den Instrumenten nationaler Identitätsbildung, wie Fahne, Hymne, Feiertagen und unterstützt die Vorstellungen einer gemeinsamen Geschichte und Kultur (vgl. das Portal der Europäischen Union http: / / europa.eu/ ). 43 Stefan Seidendorf untersucht dies in französischen und deutschen Printmedien. Während zu Beginn der europäischen Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland der jeweils andere als Gegenteil des Selbst beschrieben wurde, ist im Jahr 2000 “das ‘Andere’ schließlich nicht mehr Deutschland, das jetzt erprobter Partner gemeinsamer Politikgestaltung in der EU ist” (Seidendorf 2007: 365). Auch wenn Seidendorf die deutsch-französische Beziehung untersucht, liegt die Vermutung nahe, dass auf Grund der europäischen Gemeinschaft Barrieren zwischen verschiedenen Nationen, die Mitglieder der EU sind, abgebaut werden können. 44 Zur dynamischen Verbindung zwischen Grenz- und Identitätskonstruktion durch Produktion von Bedeutung vgl. Clark & Petersson 2003. 45 Bei dem Verlust über die Kontrolle von Raum lassen sich zwischen dem Prozess der Europäisierung und der Globalisierung Parallelen erkennen. 46 Die ethnischen Spannungen sind nicht traditionell in der Vielfalt gegeben, sondern liegen in der Gründungsgeschichte der SU, bei der die Hierarchie der Nationalitäten eine wichtige Rolle einnahm. Da weder das Zarenreich noch die SU Nationalstaaten waren, sondern imperial geeinte Nationalitätenstaaten, wurde das Volk in über 100 ethnische Gruppen eingeteilt. Nach dem Zerfall der SU blieb diese innere Grenzziehung erhalten. Die Folgen dieser Abgrenzungen zeigen sich in den aktuellen Ereignissen (vgl. Deger & Hettlage 2007: 15). 47 Zum Meer als Kontaktraum vgl. Klein & Mackenthun 2003. 48 Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Türkei oft als kranker Mann am Bosporus bezeichnet, der barbarische Ottomane wurde erst auf Grund des Glaubens und dann der Politik abgegrenzt. Die kollektive Repräsentation lässt sich heute in der Debatte um eine türkische Mitgliedschaft wiedererkennen (vgl. Steinbach 2006). 49 Dies wird auch an den unterschiedlichen Europabegriffen deutlich, wie Herfried Münkler anhand der ideengeschichtlichen Entwicklung der Europadefinitionen und der aktuellen Bedeutung darstellt (vgl. Münkler 2003). 50 Eine Auswahl an Publikationen zum Thema europäische Identität: Fuhrmann 2004 (Bildung. Europas kulturelle Identität), Groys 2007 (Identität aus Anderen. Das Eigene Europas oder die Kunst, sich das Fremde einzuverleiben) oder die Sammelbände von Segers & Viehoff 1999 (Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion) und Joas & Wiegandt 2005 (Die kulturellen Werte Europas). 51 Zum Verhältnis von Lokalem und Globalem im Prozess der Globalisierung vgl. Hall 1994a. 52 Eine Auswahl von Texten, die sich mit Europa beschäftigen sind z. B. Derrida/ Habermas 2003, Derrida 1992, Derrida & Birnbaum 2004, Balibar 2005. Zur Idee Europas als Konstruktion von Intellektuellen vgl. Giesen 1999. 53 Rainer Lepsius begreift die europäischen Identitäten als ein Konglomerat von Identifikation mit unterschiedlichen Wertbeziehungen. Deren Vermittlung und damit europäische Kulturpolitik bezeichnet er als Übersetzungspolitik (vgl. Lepsius 1999: 220). Sabine Krammer 366 54 Neben der Multikulturalismusdebatte wird auch über die Identitätskonstruktion der Zivilisation diskutiert (vgl. Radtke 2007). Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen zu Multikulturalismus und Hybridität vgl. Terkessidis 2002: 31-33. 55 Vgl. Hall 1994b und Hall 1996. Lotman drückt diesen Gedanken durch den Begriff der Grenze als Ort erhöhter semiotischer Aktivität aus (vgl. Lotman 2000: 141). 56 Die Verfügbarkeit über Medien bestimmt den Grad der Verbreitung, Speicherung und Veränderbarkeit identitätsstiftender Erzählungen, auch deren Positionierung in der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation. 57 Dennoch verläuft die Medienöffentlichkeit entlang nationaler Grenzen, da die Programme nationalsprachlich codiert sind, obwohl die transportierten Elemente (Lebensstil, Musik, usw.) einem globalen Mediencode folgen. 58 Maurizio Bach weist darauf hin, dass Prozesse sozialer Integration eher durch Differenz und Grenzziehung als durch Einheit und Konkordanz entstehen. 59 Ausgehend von der legalen und sozialen Dimension von Bürgerschaft stellt Christian Fernández das republikanische und kommunitaristische Modell von Staatsbürgerschaft dar (Fernández 2003: 168) und diskutiert die Unionsbürgerschaft (vgl. ebd.). Die Unionsbürgerschaft wurde im Vertrag von Maastricht eingeführt (vgl. Brunn 2004: 278). 60 1989 wird als epochales Ereignis zu einem europäischen Mythos: “Der Mythos von 1989 könnte Europa weit ins dritte Jahrtausend hinein tragen und bestimmen: als Mythos des Erfolgs friedlichen Verständigungshandelns könnte dies das symbolische Zentrum einer europäischen kulturellen Identität sein.” (Segers & Viehoff 1999: 49) 61 Zur Abgrenzung von Anderen in Nationalstaaten und zur Beziehung zwischen Nationalismus und Rassismus vgl. Hedetoft 2003. 62 Abjection dient der Identitätsbildung und beschreibt die Ränder des Selbst, aber bedroht auch die geschlossene Identität. Da das Ich sich nur durch den Verwerfungsprozess konstituieren kann, ist die Abjection die Bedingung des Ichs (vgl. Kristeva 1982). Die Kultur entwickelt Ordnungssysteme, die Abjects ausgrenzen oder einen Raum außerhalb sozialer Strukturen zuteilen. Deshalb die Oppositionen von rein - unrein, innen - außen oder Ich - das Andere (vgl. Kristeva 1982: 2 f.). 63 Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen in der Debatte um Nationalismus und Transnationalismus im Zuge der Europäischen Integration und über die Chance eines “Euronationalism” vgl. Hedetoft 1999. 64 Nicht nur in “Fremde sind wir uns selbst”, sondern auch in “Lettre ouverte à Harlem Désir” oder “Die neuen Leiden der Seele”. Oft finden sich auch Verweise auf ihre eigene Erfahrungen als Fremde in Frankreich. 65 Das Spiegelstadium stellt eine Beziehung zwischen der Innenwelt und der Umwelt her, wobei die imaginäre Einheit des Ichs keine reale Einheit darstellt und das Kind sich er- und verkennt, d. h. eine Entfremdung und Spaltung des Subjekts stattfindet (je-moi). Der/ die Andere ist dabei außerhalb des eigenen Körpers. Das Subjekt wird nicht als humanistische Einheit, die aus sich selbst heraus entsteht, sondern durch die Begegnung mit einer anderen Person begriffen. Die Sprache, die das Ich spricht, ist nicht die eigene, sondern die des Fremden. Und gerade diese Ent-Fremdung ist dann unheimlich, denn nur durch den Prozess der Verdrängung wird etwas entfremdet und so ist das Unheimliche eigentlich etwas Vertrautes (vgl. Lacan 1991b: 190). 66 Das Unheimliche ist eine Form des Heimlichen, ein Teil des Subjekts, das nach außen projiziert wird, “denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.” (Freud 1994: 264) Die Verdrängung selbst konstruiert dann das Fremde. 67 Laut Kristeva spricht Freud nicht von den Fremden, aber Ewa Ziarek verweist auf einige Stellen in Freuds Werk, in denen er auch abfällig über fremde Menschen spricht (vgl. Kristeva 1990a: 209 und Ziarek 2003: 143). Es muss darauf hingewiesen werden, dass Kristeva nicht Freuds Umgang mit Fremden beschreibt, sondern, dass sie in seinem Konzept des Unheimlichen dieselben Strukturen erkennt, wie sie im Umgang mit Fremdheit auftauchen. 68 Durch den persönlichen Schreibstil Kristevas könnte die These banal wirken und es stellt sich die Frage, ob soziale Beziehungen und besonders die Krise des Nationalen durch einen psychoanalytischen Zugang gelöst werden können. In Fremde sind wir uns selbst und Lettre ouverte lässt Kristeva die eigenen Erfahrungen mit Fremdheit in Bezug auf die Krise der nationalen Identität in Europa einfliessen. Zwar gesteht ihr Ziarek diese Erfahrung zu, kritisiert aber trotzdem die politische Ferne (vgl. Ziarek 2003: 144). Ziarek stellt Kristevas These schließlich als Interesse an Ästhetik der Politik dar und gesteht ihr politische Schlagkraft zu: “If Kristeva’s analysis of aesthetics reveals an ambivalent role of affectivity in the formation of social relations, the turn to ethics calls for the transformation of this affect - of the political love haunted by the hatred of the other - into respect for alterity.” (Ziarek 2003: 149) Das Fremde in Europa 367 69 Ein Verbund von Gleichen, deren Mitglieder sich untereinander nicht kennen, wird vorgestellt. Die Mitglieder sind begrenzt durch genau definierte Grenzen, auch wenn die Grenzen variabel sind. 70 Vgl. Ziarek 2003: 144; Kristeva 1990a sowie Bhabha 2000. In DissemiNation verweist Bhabha nicht nur auf Kristeva (vgl. Bhabha 2000: 210), sondern auch auf Bachtin und Freuds Begriff des Unheimlichen (vgl. Bhabha 2000: 214 f.). 71 Beide haben als Immigranten ähnliche und doch sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Bhabha kritisiert das von Kristeva beschriebene “Vergnügen des Exils” (Bhabha 2000: 210) ohne dass sie sich der Schattenseite bewusst wäre. Dabei vergisst Bhabha, dass Kristeva auf die Schwierigkeiten und psychischen Probleme von Flüchtlingen hinweist. “Il est urgent de trouver des pensées et des actes qui refusent les oppositions schématiques (à vous, le racisme et le nationalisme, à nous, l’humanisme et le cosmopolitisme), et cherchent les causes de la crise politique et morale.” (Kristeva 1990b: 10) Kristeva führt ökonomische, psychologische und politische Gründe der Krise auf (vgl. ebd.). 72 Exemplarisch stellt sie dies am Begriff Volksgeist dar, der zwar nicht absolutistisch oder rassistisch gemeint war (bei Montesquieu oder Herder), aber durch die Verherrlichung des eigenen Volkes zur Begründung der Unterdrückung anderer Völker wurde (vgl. Kristeva 1990b: 23-25). Die Gesetze regeln zwar Aktionen der Bürger, nicht aber die Sitten und Manieren. Aus diesem Grund ist der esprit nationale nicht nur schwierig zu aktualisieren, sondern auch zu administrieren. 73 Symbolische Nenner können nie eine Universalität beanspruchen, da sie Einflüssen unterliegen und durch andere Gedächtnisse in Frage gestellt werden. 74 Transposition beschreibt den Übergang des Semiotischen ins Symbolische, in deren Widerspruch sich das Subjekt konstituiert (vgl. Kristeva 1978: 68-71, 94-97). 75 Zur Diskussion über einen möglichen Bedeutungsverlust des Nationalstaats im Prozess der Europäisierung vgl. Segers & Viehoff 1999 und Deger & Hettlage 2007. Über die Zukunft des Nationalstaates stellt Ralf Dahrendorf fest: “Auf absehbare Zeit wird der Nationalstaat der Rahmen individueller Rechte und die Aktionseinheit der internationalen Beziehungen bleiben. Das gilt auch in und für Europa. Der Nationalstaat wird hier und da angenagt und angekratzt, bleibt aber in seinem Kern durch neuere Entwicklungen unberührt. Er ist auch der Raum, in dem Menschen Zugehörigkeitsgefühle empfinden können. Einstweilen haben wir noch nichts Besseres erfunden als den heterogenen Nationalstaat.” (Dahrendorf 1994: 760) 76 Die diachrone Dimension bezeichnet Derrida als traditionellen Diskurs des Westens (vgl. Derrida 1992: 25). 77 Lotman organisiert die Subsemiosphären in einem Koordinatensystem (vgl. Lotman 2000: 133). 78 “Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber ohne Kultur - ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Von-sich-selber-sich-Unterscheidens, des Unterscheidens, das mit einem Selbst einhergeht. Die Grammatik des doppelten Genitivs zeigt auch an, daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat.” (Derrida 1992: 12f.)