eJournals Kodikas/Code 30/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
An fünf Beispielen wird die Tradition des Körpergeheimnisses ästhetisch aufgezeigt: Tilmann Riemenschneiders "Hl. Maria Magdalena mit Engeln", Fresko "Die Liebesabenteuer des Gottes Mars und der Nymphe Ylia", "Das Zimmer" von Balthus, Helmut Newtons "Walking Women" und Rebecca Horns "Sanfte Gefangene" aus dem Film "Der Eintänzer". Sie leiten die Beschreibung der multimedialen Installation "Berührtes ist unsichtbar" ein. Der Sinn der Bilder in der Installation ist weniger durch ihre Abbildhaftigkeit erfahrbar als durch Wahrnehmungskonflikte an der Grenze der Abbildhaftigkeit. Das Ziel des Projekts ist es, einen komplexen Erfahrungsprozess in Gang zu setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergesslich macht.
2007
303-4

Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst

2007
Vessela Posner
Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst Vessela Posner (Berlin) “Ich erinnere mich nicht, ob du schön warst … Manchmal verlieren die Augen wegen der Nähe ihre Kraft, die nahen Dinge zu sehen …” Aus einem bulgarischen Schlager der 70er Jahre This article discusses the tradition of the body secret in art by presenting five examples: “Holy Maria Magdalena with Angels” by Tilmann Riemenschneider, the fresco “The Love Adventures of Mars and the Nymph Ylia”, the painting “The Room” by Balthus, Helmut Newton’s “Walking Women” and Rebecca Horn’s “Soft Prisoner” from the movie “The Gigolo”. After this introduction, the project of a multimedia installation is described, which has the title “What is touched becomes invisible”. The pictures displayed in this installation are to be experienced less through what they depict than through the perceptual conflicts which arise in the beholder when what they depict is touched and thereby made invisible. The project is intended to initiate a complex process of multimedia perception which has the power to make the aesthetic information conveyed unforgettable. An fünf Beispielen wird die Tradition des Körpergeheimnisses ästhetisch aufgezeigt: Tilmann Riemenschneiders “Hl. Maria Magdalena mit Engeln”, Fresko “Die Liebesabenteuer des Gottes Mars und der Nymphe Ylia”, “Das Zimmer” von Balthus, Helmut Newtons “Walking Women” und Rebecca Horns “Sanfte Gefangene” aus dem Film “Der Eintänzer”. Sie leiten die Beschreibung der multimedialen Installation “Berührtes ist unsichtbar” ein. Der Sinn der Bilder in der Installation ist weniger durch ihre Abbildhaftigkeit erfahrbar als durch Wahrnehmungskonflikte an der Grenze der Abbildhaftigkeit. Das Ziel des Projekts ist es, einen komplexen Erfahrungsprozess in Gang zu setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergesslich macht. Vorbemerkung Für die folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf eines der langfristigen Themen meiner künstlerischen Arbeit, die ich als “Lob des Körpers” bezeichne. Der folgende Text ist aber speziell für den Workshop “Kartographie des Verhüllten” entstanden, der von Dieter G. Genske und Monika Huch im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS e.V.) organisiert wurde. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Vessela Posner 276 Abb. 1: Tilman Riemenschneider, Die hl. Maria Magdalena mit Engeln, 1490/ 92 Abb. 2: Die Liebesabenteuer des Gottes Mars und der Nymphe Ylia, Fresko von Francesco del Cossa, 1476. Palazzo Schifanoia, Ferrara “Nähe und Entfernung” Deswegen beginne ich meine künstlerische Selbstanalyse mit dem Eingangssatz der Organisatoren: “Verhülltes weckt Neugierde - auf das Verhüllte, aber auch auf die Hülle” (Genske & Huch 2005). Die Opposition Verhülltes vs Hülle versuche ich mit meinen grundsätzlichen Begriffen Nähe und Entfernung zusammen zu bringen und wechselseitig zu erklären. In diesem Aufsatz habe ich nicht die Möglichkeit, ausführlich über die verschiedenen Darstellungsweisen eines “Verhüllten Körpers” in der Bildenden Kunst und bzw. die verschiedenen Darstellungsweisen seiner “Enthüllung” zu sprechen. Die folgenden Beispiele, die ich rein eklektisch nach meinem eigenen Geschmack ausgewählt habe, benutze ich nur zur Einführung in die vergangene Tradition des Körpergeheimnisses und ihre ästhetischen Aspekte. Die Selbstdarstellung des Menschen im Alltag beruht auf dem Stil seiner Bekleidung. Die Darstellung des Menschen in der Kunst spielt mit dem Stil seiner Verkleidung. Eine Maria Magdalena von Riemenschneider ist durch ihr Haar verkleidet, bzw. verhüllt. Die angedeutete nackte rechte Brust zeigt, dass die Haarlocken auf dem Körper keine biologische Behaarung wie bei einem Affen, sondern eine konventionelle Körper-Verhüllung sind. Die “Absurdität” dieser “Bekleidung” liegt darin, dass die Frau (Maria Magdalena) nackt ist und man ihren Körper selbstverständlich sehen kann. Entsprechend den Normen der Epoche aber wird die Stilistik der “Verhüllung” benutzt, und der Betrachter wird auf keinerlei Weise aufgefordert, einen nackten Körper zu entdecken: die biblische Geschichte ist das Einzige, an das man bei dieser Skulptur denken soll (vgl. Abb. 1). Aus ungefähr derselben Zeit stammt das folgende Fresko, das ein nacktes Liebespaar evoziert, und zwar durch die ausgezogene individuelle Körperverhüllung (die Kleider vor dem Bett) und die gemeinsame “Verhüllung” (den weißen Stoff über den Körpern im Bett) (vgl. Abb. 2). Fast ohne nackte Körperteile zu malen, deutet der Künstler an, dass die beiden Körper hinter den leeren Kleidern nackt sind, wobei die Falten des bedeckenden Stoffes den Konturen der Körper nicht genau folgen. Diese, auf den ersten Blick von den gesellschaftlichen Konventionen geforderte “Bedeckung”, lässt aber dem Betrachter unbegrenzte Möglichkeiten, mit der Mitteln der schönen Hülle das Verhüllte zu entdecken. Die Verhüllung der beiden nackten Körper bei der Liebe provoziert die Fantasie mehr, als wenn sie unbedeckt wären. Heute, nach allen sexuellen Befreiungsbewegungen, scheint uns dies selbstverständlich. Ich bin sicher, dass Francesco del Cossa im 15. Jahrhundert auch viel mehr wegen des Imaginationspotenzials der Opposition “Verhüllt vs Enthüllt” als wegen der kirchlichen Beschränkungen die nackten Körper so schön malerisch “verhüllt” hat. Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 277 Abb. 3: Balthasar Klossowski, gennant Balthus. Das Zimmer, 1952-1954) Abb. 4: Nelmut Newton, “Walking Women”, French Vogue, Paris 1981 Abb. 5: Rebecca Horn, Die sanfte Gefangene, aus dem Film “Der Eintänzer”, 1978 Im 20. Jahrhundert geht Balthus viel “frecher” zu Werke: das Licht “ent-deckt” den ganzen Körper. Was aber? ! Einen Mädchenkörper in einer sexuell provokativen Stellung? Dieser Körper, der erotisch fast pervers sein soll, ist tatsächlich wie eine grobe Steinskulptur gemalt. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die ästhetisierte Erregung nicht in der visuellen, sondern in der Einfallskraft des Betrachters liegt, eine weitere “Enthüllung” fortzusetzen (vgl. Abb. 3). Ungefähr 30 Jahre später, im Kontext der reinen Konsumgesellschaft, fotografiert Helmut Newton zweimal dieselben Models in (fast) denselben Posen: bekleidet und unbekleidet. Auf welchem der beiden Fotos sind die Frauen (Models) “nackter”? Dort, wo sie keine Kleidung haben, und nur einen nach Model-Klischee perfekten Körper oder dort, wo sie die für diesen Sozial-Status vorgeschriebenen Kleider anhaben? Die Botschaft scheint mir klar: der Körper (nackt oder “angemessen” bekleidet) ist schon - und nur - eine der Gesellschaft angemessene Bedeckung der Persönlichkeit bzw. des konkreten Körpers. Die ästhetische Form der Fotografie schließt jede Möglichkeit zu einer weiteren “Enthüllung” aus (vgl. Abb. 4). Die Installationen der Kunst der Gegenwart experimentieren bereits mit der Inszenierung einer möglichen “Enthüllung” des Körpers. “Die sanfte Gefangene” von Rebecca Horn ist ein Beispiel für ein besonders poetisches Werk, das die Metapher der “Verhüllung” benutzt. Die harmonische Bewegung der Vogel-Frau versteckt und zeigt ihren Körper. Das ist eine Form des Fliegens, nicht aber in einem äußeren, sondern in einem inneren Raum: statt großartiger Landschaften entdeckt der Betrachter dort die Geheimnisse eines Körpers. Verglichen mit den anderen visuellen Praktiken ermöglicht die Bewegung hier eine viel deutlichere Darstellung des Prozesses “Verhüllung vs Enthüllung”. Aber auch hier ist es der Künstler, der die Form und den Rhythmus des “Zeigens und Verdeckens” bestimmt. Der Betrachter akzeptiert es nur auf der visuellen Ebene und kann nicht in das Spiel eintreten: wie früher hat er nur seine Augen, um zu “entdecken”, und es geht nicht um’s Berühren (vgl. Abb. 5). Vessela Posner 278 Die bis jetzt beschriebene Situation ist typisch für den Status der Bildenden Kunst, die durch die Institution des Museums der Moderne bestimmt ist. “Berührtes ist unsichtbar” Heute ist in der multimedialen Kunst eine im Prinzip neue Entwicklung zu beobachten, die interaktiv und performativ ist. Ihre Schöpfungen sind digital und multimedial, manchmal nur für das Internet realisiert, und in ihnen lässt sich der reale Körper kaum vom virtuellen Körper unterscheiden. Die Künstler versuchen nicht mehr, eine schlüssige Körperdarstellung zu entwickeln, sondern jetzt wird der Betrachter provoziert, mit dem Künstler mitzuspielen und zusammen mit ihm hinter der “Hülle” das “Verhüllte” zu entdecken. In dieser Richtung wurde das Kunstprojekt “Berührtes ist unsichtbar” von Roland Posner und mir als eine multimediale dreiteilige Raum-Installation mit Fotos, Ölmalerei, Dias und interaktiven Bildschirmen entworfen, das ich nun als Beispiel analysiere. In dieser interaktiven Installation wird vom Betrachter - ganz gegen die Gepflogenheiten der traditionellen Kunst - verlangt, sich einem dargestellten Körper zu nähern und ihn durch Berührung zu entdecken. Wie sich herausstellt, wird von diesem Körper immer weniger sichtbar, je mehr der Betrachter sich ihm nähert, und wird umso mehr an diesem Körper verdeckt, je mehr der Betrachter von ihm berührt. Das Erlebnis des Körpers liegt hier nicht mehr in seiner visuellen Wahrnehmung, sondern in der dialektischen Spannung zwischen Nähe und Sichtbarkeit, zwischen Berührung und Verdeckung. Das verlangte interaktive Betrachten wird zum betrachteten Berühren. Der Kunstkonsument tritt ein in eine psychotherapeutische Beziehung - nicht zu anderen Körpern, sondern zu anderen Zeichen gegebener Körper. Diese Zeichen produziert er jedesmal selbst. Inhaltlich basiert das Projekt “Berührtes ist unsichtbar” auf allen bekannten Körpererfahrungen. Wer sich auf diese Installation einlässt, kann die paradoxe Erfahrung kennenlernen, die wir alle machen, wenn wir uns näherkommen wollen: Je näher wir uns kommen, um so weniger können wir voneinander sehen; je weiter wir uns entfernen, um so weniger können wir einander berühren. Berührung und Blick sind komplementär zueinander. Das hat Auswirkungen auf die Art, wie wir Gegenstände erfassen, auch künstlerische Objekte. Bilder betrachten wir von vorne (“Berühren verboten! ”), und wir sehen sie ganz. Körper betrachten wir auch von der Seite und von hinten, aber wir sehen sie nie ganz. Um sie ganz zu erfassen, müssen wir sie nicht nur betrachten, sondern auch zugleich berühren. Erst wenn Sehen und Tasten sich ergänzen, wird das Wahrgenommene dreidimensional. Den Körper des anderen sehen wir von vorne, betasten wir von der Seite und berühren wir von hinten. Wenn wir ihn umarmen, können wir ihn nicht mehr sehen. Was wir sehen, können wir nicht zugleich berühren, wir würden es dabei verdecken. Was wir berühren, können wir nicht zugleich betrachten. Selbst Teile eines Körpers können wir nur entweder betrachten oder betasten. Beides zugleich ist unmöglich. Der Gegensatz ist nur aufhebbar durch die Zeit. Wir berühren, was wir zuvor gesehen haben, und wir betrachten, was wir dann berühren werden. Sehen und Berühren ergänzen einander in der Zeit. Gehen wir aufeinander zu, um uns zu umarmen, so berühren wir uns zuerst mit dem Blick. Der Blick kann den Körper des anderen abtasten, der Blick kann den anderen auch tief berühren, doch beides geschieht metaphorisch. Berührungen können den Körper des anderen Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 279 erkunden, Berührungen können den anderen in seinem Wesen erkennen (“… und sie erkannten einander” …), doch auch das geschieht metaphorisch. Zwischen unseren Körpern liegt unsere Kleidung. Sie ist, was wir sehen, wenn wir uns betrachten. Wollen wir uns berühren, so ziehen wir die Kleidung aus. So glauben wir uns ganz nahe zu kommen. Doch Berühren ist Bedecken. Wo die Hand den Körper des anderen berührt, ist dieser nicht sichtbar. Für einen Augenblick ist die Hand wie die Kleidung. Um den Körper des anderen zu sehen, müssen wir sie von ihm nehmen. Um den Körper des anderen zu berühren, müssen wir ihn verdecken: Toucher c’est couvrir. Um den Inhalt dieser Bemerkungen erfahrbar zu machen, benutzen wir in drei Teilen der Installation drei verschiedene Typen von Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter, und dabei wird das performative Potenzial der Kunst Schritt für Schritt verstärkt. Deswegen ist es notwendig, bevor man mit der Beschreibung und Analyse des Projekts anfängt, den Begriff der “Performativität” in Bezug auf die visuelle Kunst zu klären. Die Performativität des künstlerischen Ausdrucks (énonciation) entspringt dem Vermögen der Kunst, direkt auf die Umgebung (außerhalb der Kunstwelt) einzuwirken und eine Reaktion des Rezipienten zu bewirken, die nicht nur im Beobachten oder Nachdenken besteht. Diese Auffassung ist unmittelbar verbunden mit der semiotischen Konzeption einer “erfolgreichen Kommunikation” (vgl. Searle 1969 und Posner 1993: 239ff). Damit sich eine Mitteilung als “performative Kunst-Kommunikation” entwickeln kann, sind einige Voraussetzungen erforderlich: die Kommunikationspartner (der Künstler und seine Adressaten) identifizieren vorgegebene Artefakte, Installationen oder Situationen als Kunstwerke; sie sind bereit, abwechselnd die Rolle des Senders und des Rezipienten einzunehmen; sie beherrschen weitgehend gemeinsame Codes, die ihnen den Meinungsaustausch und insbesondere die Bestätigung, Aufhebung oder Verschiebung von Zweifeln ermöglichen. Diese etwas trockene Beschreibung der “nicht erfassbaren ästhetischen Erfahrung” (Greimas 1987) galt bereits, bevor sich die Künstler ihrer bewusst wurden. Wirklich neu ist in der Kunst der Gegenwart jedoch das Bemühen der Künstler, an die Stelle des zeitlosen Kunstwerks die Kommunikation in Echtzeit zu setzen - in der berechtigten Hoffnung, dass ihre Kunst eher als Einladung zum Dialog denn als ewiges Ausdrucksmittel aufgefasst wird. Für dieses Ziel ist das Bild nicht mehr das wichtigste Instrument, noch weniger das wichtigste Artefakt. Wichtiger sind die rhetorischen Mechanismen, mit denen sich die Kunst in Opposition gegen die Bilder alten Typs und gegen deren Allgegenwart und Allmacht in einer visuell ausgerichteten Gesellschaft durchsetzt. Diese Opposition ist unmittelbar verbunden mit dem Ziel der Wiederherstellung der Ganzheit des Wahrnehmens, die keine Beschränkung auf das Visuelle mehr erzwingt, sondern auch die anderen Wahrnehmungskanäle einbezieht (also den Gehörssinn, Geruchssinn, Tastsinn, Geschmackssinn). In diesem Rahmen spielt im Umgang des Künstlers mit dem Kunstliebhaber die Berührung des Kunstwerks wieder eine wichtige Rolle. Heutzutage beschäftigt diese Problematik, Kunst als erfolgreiche Kommunikation und synästhetische Erfahrung auszuweisen, immer mehr Künstler, und unser Projekt ist nur ein Beispiel unter vielen. Vessela Posner 280 Abb. 6 Die Installation in 3 Phasen Für die Installation “Berührtes ist unsichtbar” benutzen wir als Ausgangsmaterial eine Reihe von Fotos (z.B. Abb. 6). Auf ihnen sind Frauenkörper in natürlicher Größe und ohne Gesicht dargestellt. Diese Körper können aber von den Adressaten nicht als ganze gesehen werden; sie sind nur in ihrer Bearbeitung durch andere Medien zugänglich. Die ästhetische Kommunikation findet in drei Phasen statt, die in drei nebeneinander liegenden Räumen ablaufen: 1) Die erste Phase evoziert die Museumssituation. In der Situation des Kunst-Museums darf man dem Kunstwerk nicht zu nahe kommen und keinesfalls es berühren. Ein Status quo, der erst nach der Institutionalisierung des Museums im 18. Jahrhundert für die Werke der bildenden Kunst in den europäischen Gesellschaften wichtig wurde. In der Antike und im gesamten Mittelalter waren künstlerische Werke zu einem klaren Zweck geschaffen worden, und wenn damals der Zugang zu ihnen streng reglementiert wurde, so geschah das nur wegen ihrer religiösen oder magischen Funktion für die Gesellschaft. In einer orthodoxen Kirche zum Beispiel kann der Betende auch die wertvollste Ikone küssen, streicheln, an seinen Körper drücken, mit seinen Tränen bedecken. Auf solche Weise - über die Vermittlung der Kraft des Dargestellten durch die Nähe zum Bildträger (dem Bild oder der Plastik) - teilt sich dem Wallfahrer in San Pietro in Rom, wie auch auf der gotischen Grande Place in Brüssel und an vielen anderen Orten, die inhaltliche Kraft des Objekts mit. Man kann sagen, die rituelle Berührung ist eine notwendige Bedingung dafür, dass das sichtbare Objekt einen performativen Akt vollbringt. In einem Museum aber ist ein derartiges Verhalten absolut ausgeschlossen. Das Museum, als eine der Hauptinstitutionen im Disziplinierungssystem der Moderne (Foucault), beansprucht das Recht, bestimmte Artefakte nach den vorherrschenden moralischen und ästhetischen Codes als ‘Kunstwerke’ auszuwählen und ihnen einen entsprechenden Wert zuzusprechen. Auf diese Weise wertvoll geworden, schienen sie durch ein Berührungs- und Besprechungs-Verbot gegen Abnutzung und Missbrauch geschützt werden zu müssen. Der Mechanismus der Tabuisierung beruht in der Darstellungspraxis der Post- Renaissance auf der Voraussetzung, dass das Kunstwerk in Distanz zur Wirklichkeit entstanden ist, in Distanz zur Wirklichkeit funktioniert und deshalb nur in gehöriger Distanz intellektuell betrachtend wahrgenommen werden soll. Um das Werk für die Ewigkeit zu schützen, wird verboten, ihm zu nahe zu kommen und es in die Hände zu nehmen. Rein motorisch bedingt entstand so eine Aura, die zum Hauptkennzeichen des Kunstwerks wurde; sie disponierte zur andauernden Betrachtung aus der Ferne und motivierte eine spezifisch bühnenbildnerische Gestaltung der Umgebung; der Zugang zum Kunstwerk wurde auf die visuelle Wahrnehmung eingeschränkt, und als Konsequenz ergab sich eine totale Vernachlässigung der anderen Sinne zugunsten des Sehens (vgl. Posner 2004). Dafür kontrolliert das Museum den Betrachter (der a priori schon ein respektvoller Kunstliebhaber ist) im musealen Raum durch die banale “rote Kordel”, die die amtlich vorgeschriebene Betrachtungsdistanz signalisiert (mittlerweile benutzt man dafür oft elektronische Sensoren, die viel diskreter sind, aber genau dem selben Zweck dienen), und zusätzliche Schilder “Bitte nicht berühren” (sie gibt es weiter …). Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 281 Abb. 7 Abb. 8 Präsentiert wird nun eine Reihe von Bildern in Ölmalerei (aus der Serie “Körperportraits”, z.B. Abb. 7), die nach den Fotos gemalt sind, aber ihre Gegenstände viel abstrakter darstellen. Wie in einer traditionellen Museumsausstellung sind sie in gewisser Distanz zum Museumsbesucher aufgehängt, und diese wird hervorgehoben durch eine rote Kordel zwischen zwei Ständern, an der das Schild “Nicht berühren! ” hängt (Abb. 8). Die in den Fotos direkt abgebildeten konkreten weiblichen Körper sind hier ‘verdeckt’ durch die Materie der Malerei; ihre Einzelheiten sind also nur teilweise zu identifizieren und nur aus der Ferne zu erahnen. Der einzelne Frauenkörper erscheint nicht als Objekt der Begierde, sondern als Konfiguration plastischer Formen, und sein Betrachter ist festgehalten in den strengen Grenzen des Museumsreglements. 2) Die zweite Phase spielt mit der Chance, den Frauenkörper in intimer Umgebung zu berühren, sie eröffnet eine Gelegenheit und macht sie doch zugleich zunichte. Hier kommt schon das erotische Element im Projekt ins Spiel, das dem ewigen Problem der Künstler entspricht: ein Körper lässt sich nicht in derselben Weise wie eine Landschaft oder ein Stillleben als Kunst-Objekt interpretieren; ein Körper ist, vor allen anderen symbolischen Verwendungen, ein Objekt der erotischen Begierde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versuchen die provokantesten modernen Künstler, das für das Sprechen über Sexuelles (in allen seinen Erscheinungsformen), über Frustration und über Phobien geltende Tabu zu brechen. Der visuelle Diskurs, den Rodin, Klimt, Schiele, Freud, Bacon und andere über diese Themen führen, bringt ihnen, je nach Epoche und Milieu, entweder Ruhm oder Gefängnisstrafen ein (oder beides). Sie alle bewegen sich in Richtung auf einen künstlerischen Diskurs über Körper als Objekte und Subjekte sexueller Begierde und sexueller Praktiken. Doch bleibt in all diesen Beispielen das Tabu der körperlichen Berührung des Kunstwerks selbst erhalten, ja es liefert sogar das Alibi für den in anderer Hinsicht enttabuisierten Diskurs. Die heutige Kunst greift dieses Tabu nun selbst an, und die angeführten Beispiele zeigen das. Sie setzen Tabus aus dem realen Alltagsleben in Beziehung zu solchen aus der traditionellen bildnerischen Praxis (Bildproduktion und Bildbenutzung) und thematisieren damit das System der Kunsttabus. Das Tabu, einem fremden weiblichen Körper zu nahe zu kommen, scheint sich kaum zu unterscheiden von dem Tabu, einem Kunstwerke zu nahe zu kommen, und das Vergehen, eine fremde Frau anzufassen, wird gleichgesetzt mit dem Vergehen, ein Kunstwerk anzufassen. Thematisiert wird die Tatsache, dass wir Frauen und Kunstwerke gleichermaßen als ‘okkulte Gegenstände’ behandeln; aufgefordert wird dazu, diese Haltung zu ändern. Dieser zweite Raum (Abb. 9 und 10) der Installation “Berühren ist unsichtbar” ist fast das Gegenteil des inszenierten Museums-Raums im ersten Teil. Er ist verdunkelt und vertraulich, die kleinen Projektionen der Fotos (konkrete und realistische) “blinken” auf der Wand wie Vessela Posner 282 Abb. 9 Abb. 11 Abb. 10 vielversprechende und verheißungsvolle Fensterchen. Alles ist erlaubt, und der Betrachter darf so nahe zum Bild gehen, wie er es will …, sogar es berühren. Zu sehen sind dieselben Körper wie in der ersten Phase, nur handelt es sich diesmal um Diaprojektionen der Ausgangsfotos. Die Projektionen sind konkret und klar, aber die Anordnung der Projektoren und Wände zwingt jeden, der sich einem der projizierten Körper nähern will, diesen beim Näherkommen durch den Schatten des eigenen Körpers teilweise oder ganz zu verdecken (Abb. 11). Der begehrende Körper selbst bringt also das Objekt der Begierde zum Verschwinden. Der Interaktionsversuch führt zur Auslöschung des Interaktionspartners. Wer dem Körper auf der Leinwand ganz nahe kommt, sieht nur noch sich selbst - als Schatten. 3) Die dritte Phase versetzt den Betrachter noch deutlicher in die Rolle des Betrachteten. Er befindet sich gegenüber einer Reihe von Rahmen mit weißer Leinwand im gleichen Format wie die anderen Bilder (Abb. 12 und 13). ‘Hinter’ jedem Rahmen befindet sich jeweils der virtuelle Körper einer der Personen, die in den Ausgangsfotos abgebildet sind. Er kann vom Betrachter allerdings nur durch Berühren (der Leinwand) wahrgenommen werden. Die Leinwandfläche wird im Umkreis von einer Handbreit um die Berührungsstelle (also insgesamt zwei Handflächen) aktiviert und bleibt bis etwa fünf Sekunden nach dem Ende der Berührung aktiv. Die virtuelle Person ‘hinter dem Rahmen’ wird durch die Berührung also nur zeitweise und nur partiell sichtbar (Abb. 14, 15, und 16). Eine Berührung mit der Fingerkuppe macht von ihrem Körper zwei Handbreit zugänglich. Will der Betrachter ihren ganzen Körper (wenigstens von einer Seite) wahrnehmen, so wird er versuchen, seinen eigenen Körper in ganzer Größe auf die Leinwand zu drücken (Abb. 17), oder er wird sich mit anderen Betrachtern zusammentun und die Leinwand vereint mit ihnen an vielen Stellen (fast) gleichzeitig berühren (Abb. 18). Wie er es aber auch anstellt, er wird den Wunschpartner nicht einmal von einer Seite vollständig wahrnehmen können. Entweder hat er sich ganz an ihn gedrückt (und wird so nur mit seinem eigenen Verlangen, mit seiner eigenen Imagination, mit sich selbst wie in einem Spiegel konfrontiert), oder er wird abgelenkt durch eine Performance mit mehreren Teilnehmern, die ihm keinen Raum und keine Zeit für eine intimere Beschäftigung mit dem Gegenstand seines Interesses lässt. Dieser präsentiert sich als ein Gegenüber, das zwar durch Berührung zugänglich wird, aber niemals voll präsent ist. Es Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 283 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 16 Abb. 15 Abb. 17 Abb. 18 Vessela Posner 284 muss durch die Einbildungskraft des Betrachters vervollständigt werden. Dabei wird der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen, auf das mehr oder weniger große Spektrum intimer Seh- und Tastempfindungen, die er aus seiner Erinnerung kennt. In dieser Installation verwandelt sich der Betrachter in einen betrachteten Berührer. Im Unterschied zum “Internet-Voyeurismus”, welcher beim individuellen Konsum der neuen Technologien stehen bleibt und sich diskret und öffentlich unbemerkt vollzieht, verwandelt die Körperwahrnehmung sich hier nicht bloß in eine öffentliche Angelegenheit, sondern sogar in ein öffentliches Spektakel. Wahrnehmungskonflikte und ihr Preis Die drei Teile der Installation richten die Aufmerksamkeit der Besucher auf individuelle nackte Körper, die in verschiedener Weise durch Bilder vergegenwärtigt werden. Die Bilder fordern die Besucher durch ihre Präsentationsweise zu einer viel direkteren Interaktion mit diesen Körpern (bzw. mit den Personen, denen sie gehören) heraus als im traditionellen Museum. Jeder einzelne Besucher kann konkret erfahren, dass diese Interaktion nur möglich ist um den Preis der Negierung des Bildes und im Konflikt mit den Konventionen der Bildwahrnehmung. Im dritten Teil ist der Betrachter aufgefordert, die folgenden Verbote zu übertreten: (1) das Verbot, einen fremden weiblichen Körper zu berühren - welches zu den weltweit am meisten verbreiteten Tabus gehört; (2) das Verbot, ein Kunstwerk zu berühren - was nur bei Menschen wirksam ist, die durch die Kultur der Moderne des Westens geprägt sind. Diese ästhetisierte “Enthüllung” des verbotenen “Verhüllten” geschieht als Reaktion auf eine Wirklichkeit, die sich immer mehr auf die Selbst-Inszenierung ihrer eigenen Hülle fixiert, und sie ist geeignet, den Weg in diese Wirklichkeit vielleicht ein Stück weit zu verändern. Dabei wird die “klassische Aura” des Bildes von zwei Seiten aus angegriffen: (1) Es gilt nicht mehr ohne Weiteres, dass ein ästhetischer Gegenstand einen konstanten Sinn in sich trägt, der durch seine Wahrnehmung mit den Augen zugänglich ist. (2) Es gilt nicht mehr ohne Weiteres, dass ein ästhetischer Gegenstand seinen Sinn durch Berührung verliert. Die Bilder in der Installation (Ölmalerei oder Fotos) werden weiterhin als solche präsentiert, sie sind also gegenwärtig und funktionell; aber ihr Sinn ist weniger durch ihre Abbildhaftigkeit erfahrbar als durch Wahrnehmungskonflikte an der Grenze der Abbildhaftigkeit. Sie funktionieren nicht mehr als eine “ästhetische Hülle” - perfekt geschaffen und tabuisiert -, sondern als eine öffnungsbereite Verhüllung, die nur eine von unbegrenzt vielen möglichen “Visualisierung(en) des vordergründig Nicht-Sichtbaren” (Genske & Huch 2005) vorstellt. Das Projekt versucht seinen Adressaten auf viel direktere Weise herauszufordern, als er es aus den traditionellen Museen gewohnt ist. Sein Ziel ist es nicht, visuelle Erfahrungen hervorzurufen, sondern einen komplexeren Erfahrungsprozess in Gang zu setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergesslich macht. Natürlich hat unser Projekt auch andere Dimensionen, die man thematisieren kann (z.B. die rein plastische Metamorphose zwischen Foto und Malerei; oder den Rhythmus und die Zeit, die der Betrachter braucht um die verschiedenen Elemente zu entdecken). In diesem Aufsatz habe ich mich nur auf das Thema konzentriert: was und warum verhüllt man etwas in der Kunst und wie kann es enthüllt werden, sogar ohne dass sein ästhetischer Status zerbrochen wird. Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 285 Ein Körper als Geschenk? Am Anfang habe ich bereits gesagt, dass dieser Text besonders für diesen Workshop verfasst wurde. Deswegen, aber auch weil diese Idee mich seit langer Zeit beschäftigt (in der bildenden Kunst sowie in der angewandten Semiotik), beziehe ich mich zum Abschluss gerne noch einmal auf eine von den Initiatoren des Themas benutzte Metapher: die Spannung zwischen dem Verhüllten und der Hülle ist mit der Entdeckung eines Geschenks zu vergleichen: “Wie bei einem Geschenk gehört beides / Verhülltes und Hülle/ zusammen, auch wenn Umhüllendes und Verhülltes jeweils unabhängig voneinander betrachtet werden kann.” Ist ein Körper nicht ein besonderes und ein wertvolles Geschenk! ? Sicher waren die Künstler immer überzeugt, dass er das Intimste ist, was sie dem Publikum mitteilen können, dem Publikum schenken können. Ob aus diesem Geschenk ein Kunstwerk entstehen wird, bleibt eine “offene Frage”. Der Mangel einer eindeutigen Antwort darauf modifiziert meinen Titel: das Verb sollte im Konjunktiv stehen: “Durch Verdecken und Aufdecken könnten Körper als Kunst wahrgenommen werden” … Literatur Genske, Dieter D. & Huch Monika 2005: “Kartographie des Verhüllten”, Vorlage für den 11. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik Greimas, Algirdas Julien 1987: De l’imperfection. Périgueux: Pierre Fanlac Posner, Roland 2002: “Believing, causing, intending: The basis for a hierarchy of sign concepts in the reconstruction of communication”, in: René J. Jorna, Barend van Heusden und Roland Posner (eds.) 2002: Signs, Search, and Communication: Semiotic Aspects of Artificial Intelligence, Berlin/ New York: Walter de Gruyter, S. 215-270 Posner, Vessela 2004: “Die Tabus der Kunst und die Kunst ihrer Verletzung”, in: Gloria Withalm & Josef Wallmannsberger (eds.) 2004: Macht der Zeichen. Zeichen der Macht, Wien: INST, S. 464-472 Searle, John 1969: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge: Cambridge University Press