eJournals Kodikas/Code 30/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Zunächst wird eine Typologie von Hüllen erarbeitet, deren Bandbreite von natürlichen Schutzorganen bis zu absichtlich errichteten Barrieren der Wahrnehmung reicht. Abschnitt 3 untersucht die senderseitigen Motive und Methoden des absichtlichen Verhüllens. Umgekehrt löst die Konfrontation mit hinderlichen Barrieren oft den Wunsch nach ihrer Überwindung aus. Abschnitt 4 stellt die wichtigsten Strategien zum Erkennen des Verhüllten vor, nämlich das Öffnen der Hülle, nicht-visuelle Prüfverfahren (Betasten, Behorchen) sowie das Durchleuchten des verhüllten Objekts. Sobald dessen Ergebnisse fixiert werden, liegt eine "Kartierung des Verhüllten" im eigentlichen Sinne vor. Der abschließende Abschnitt 5 untersucht Varianten der absichtlichen Enthüllung
2007
303-4

Eine Typologie des Ver- und Enthüllens

2007
Dagmar Schmauks
Eine Typologie des Ver- und Enthüllens Dagmar Schmauks (Berlin) A “typology of wrapping and unwrapping” is performed in three steps. (1) A spectrum of wrappings ranging from natural protection organs (like skin) to intentionally established barriers against perception (like paper or cloth) is determined. (2) Motives and methods for the purposeful wrapping by the acting person are examined. In turn, the confrontation with the hindering barrier leads to the desire to conquer it. (3) The main strategies to recognize the wrapping are presented, e.g. to open the wrapping, non-visual tests (to touch, to listen), X-ray of the wrapped objects. With this results a true “mapping of the wrapped” is done. In addition, varieties of purposeful wrapping are described. Zunächst wird eine Typologie von Hüllen erarbeitet, deren Bandbreite von natürlichen Schutzorganen bis zu absichtlich errichteten Barrieren der Wahrnehmung reicht. Abschnitt 3 untersucht die senderseitigen Motive und Methoden des absichtlichen Verhüllens. Umgekehrt löst die Konfrontation mit hinderlichen Barrieren oft den Wunsch nach ihrer Überwindung aus. Abschnitt 4 stellt die wichtigsten Strategien zum Erkennen des Verhüllten vor, nämlich das Öffnen der Hülle, nicht-visuelle Prüfverfahren (Betasten, Behorchen) sowie das Durchleuchten des verhüllten Objekts. Sobald dessen Ergebnisse fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im eigentlichen Sinne vor. Der abschließende Abschnitt 5 untersucht Varianten der absichtlichen Enthüllung. 1 Einleitung Jeder kennt vorübergehend verhüllte Artefakte vom liebevoll verpackten Geschenk bis zu Christos verhülltem Reichstag. Aber auch natürliche Hüllen verwehren den Blick auf Darunterliegendes, so ist unser Skelett von Fleisch verhüllt und das Relief der Antarktis von einer Eisdecke. Die Untersuchung konzentriert sich auf Fälle, in denen die zu überwindende Hülle materieller Art ist. Ausgeklammert bleiben also metaphorische Erweiterungen der Ausdrücke “Hülle” und “Enthüllung”, etwa - jemand hüllt sich in Schweigen, - die Psychoanalyse enthüllt unbewußte (nämlich verdrängte) Antriebe, - die Sprachanalyse macht verborgene Bedeutungen sichtbar und - journalistische Recherchen decken Korruptionsaffären auf. Voranzuschicken ist ferner, daß die absichtliche Enthüllung von etwas Verhülltem durchaus kontrovers bewertet wird. Schiller etwa warnt gleich mehrfach vor frevelhafter Neugierde. In seinem Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais kommt ein neugieriger Jüngling zu den Isis- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 188 Priestern, die ein verhülltes Bild der Wahrheit hüten. Trotz aller Warnungen lüftet er den Schleier, sieht die Wahrheit und geht daran zugrunde: Was er allda gesehen und erfahren, Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin, Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe. In Schillers Ballade Der Taucher wirft ein König seinen goldenen Becher in die “heulende Tiefe” eines Meeresstrudels und provoziert seine Untertanen, ihn wieder herauszuholen. Ein Knappe besteht diese Probe mit äußerster Mühe und erzählt vom Grauen der Tiefe: […] Es freue sich, Wer da atmet im rosigten Licht! Da unten aber ist’s fürchterlich, Und der Mensch versuche die Götter nicht Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, Was sie gnädig bedeckten mit Nacht und Grauen. Der König jedoch möchte mehr über die menschenferne Tiefsee erfahren, setzt seine Tochter als Preis aus und schleudert den Becher ein zweites Mal ins Meer. Der verliebte Jüngling wagt zwar wieder als Einziger den Tauchgang, bleibt aber verschollen. Auch der Mythos von Pandora plädiert für das Respektieren von Geheimnissen. Pandora wurde von den Göttern zu den Menschen geschickt, um diese für den Raub des Feuers zu strafen. Sie trägt eine versiegelte Büchse bei sich, die alle Krankheiten und Plagen der Menschheit enthält. Entgegen der göttlichen Warnungen öffnet sie neugierig die Büchse und die Plagen entweichen. Entsetzt versucht sie die Büchse wieder zu schließen, ist aber zu langsam - zurück bleibt nur die Hoffnung, die die Götter unter all die Übel gelegt hatten. 2 Arten von Hüllen Eine naheliegende erste Unterscheidung ist die von natürlichen und künstlichen Hüllen. Menschen haben als natürliche “Hülle” ihre Haut, im Tierreich finden wir vielgestaltige Varianten: trockene und schleimige Häute, seidiges und borstiges Fell, Schuppen und Federn, Panzer und Schalen. Bäume haben Borken oder Rinden, und Früchte werden von Schalen, Hülsen oder Schoten geschützt. Auch Organe und Zellen als kleinere Einheiten des Lebendigen sind von Häuten umhüllt. Die Häute von Lebewesen sind eigenständige Organe, die gegenläufige Aufgaben erfüllen: als Grenzorgane bilden sie eine (durchlässige) Barriere zwischen Lebewesen und Umwelt, als Kontaktorgane bewirken sie körperliche Nähe mit den beiden Polen Liebe und Kampf. Sie wachsen mit, heilen nach Verletzungen wieder, leisten einen Temperaturausgleich und schützen vor schädlichen Umwelteinflüssen. In der unbelebten Natur finden wir statt Häuten nur Schichten. Beim Schalenaufbau der Erde etwa folgt auf das flüssige Erdinnere die erstarrte Erdkruste, umhüllt von Atmosphäre und Ionosphäre. Viele Verhüllungen erfolgen durch künstliche Hüllen wie Kleidung oder Verpackungsfolien. Aber auch natürliche Hüllen verdecken oft etwas Darunterliegendes, so daß dessen Wahrnehmung nur durch besondere Methoden möglich ist (siehe Abschnitt 4). Beispiele sind - die Erdoberfläche wird von Sand (Wüste) oder Vegetation verhüllt - das Relief des Meeresbodens wird vom Wasser verhüllt Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 189 - das Relief der Antarktis wird von einer Eisdecke verhüllt - Bodenschätze werden durch darüber lagernde Schichten verhüllt - Tumore und andere pathologische Strukturen werden von Bindegewebe verhüllt Eine interessante Verschränkung natürlicher und künstlicher Hüllen sind historisch frühe Gefäße aus Fruchtschalen oder Tierschädeln. Hinzu kamen immer mehr künstliche Hüllen, die Objekte beim Transport schützen (Brillenetui, Plastiktüte) oder ihrer Aufbewahrung dienen (Schatulle, Kleiderschrank). Wenn man Wände als die “Häute von Häusern” bezeichnet, ist dies zunächst nur eine metaphorische Redeweise. Sie erhält jedoch reale Bedeutung, sobald eine bionisch inspirierte Architektur geschmeidige Hauswände schafft, die auch die Temperatur des Inneren regulieren. Ein semiotisch interessanter Sonderfall sind Kuttelwürste. Denn während andere “Hüllen” von Lebensmitteln entweder natürliche Hüllen sind (Orangenschalen), bei der Zubereitung von selbst entstehen (Brotkruste) oder vom Inhalt substantiell verschieden sind (künstliche Wursthaut), liegt hier ein “rekursiver Fall” vor: die Hülle der Kuttelwurst und ihr Inneres sind materialidentisch und nur strukturell verschieden (zusammenhängender vs. geschnittener Darm). 3 Motive und Methoden des Verhüllens Die komplementären Verben “verhüllen” und “enthüllen” bezeichnen das absichtliche Errichten bzw. Überwinden von Wahrnehmungsbarrieren. “Verhüllen” ist darum abzugrenzen von verwandten Verben wie “verdecken” und “abdecken”, die Handlungen mit anderer Zielsetzung beschreiben. So ist es nicht notwendigerweise beabsichtigt, daß ein herumliegendes Buch ein anderes verdeckt, und reine Schutzmaßnahmen wie das Abdecken von Teppichen beim Tapezieren machen diese nur als Nebeneffekt “unsichtbar”. Weitere Schutzhüllen sind Pflaster und Verbände, Panzer und Rüstungen. Typische Verhüllungen sind demgegenüber alle Kleidungsstücke, die Berührungen und Blicke verhindern. Multifunktionalität ist jeweils der Normalfall, denn Kleidung hat viele weitere Aufgaben: sie schützt gegen Kälte oder Hitze, sie schmückt und kodiert manchmal den sozialen Rang. 3.1 Hüllen als Wahrnehmungsbarrieren Die Wahrnehmung von Objekten kann durch Barrieren be- oder verhindert werden (vgl. Schmauks 1998 und 2002: 14ff). Kultursemiotisch besonders interessant sind künstliche Barrieren, weil hier gegenläufige Interessen dazu motivieren, sie zu errichten oder zu überwinden. Zahlreiche Barrieren schützen Territorien vor unerwünschten Einflüssen: Fensterläden vereiteln neugierige Einblicke, Wohnungstüren verhindern unerwünschten Zutritt, und hinreichend massive Wände schützen vor Lärmbelästigung. Umgekehrt wollen manche Personen solche Barrieren gezielt überwinden: sie bohren Löcher in die Fensterläden, um andere zu beobachten, brechen Türen auf, um sie zu bestehlen, und belauschen sie mit Hörhilfen durch die Wände hindurch. Der Zusammenstoß gegensätzlicher Interessen führt oft zu einer “Rüstungsspirale”, in der beide Seiten immer ausgefeiltere Strategien und Geräte einsetzen. Die einzelnen Sinnesmodalitäten können in unterschiedlichem Ausmaß ausgeblendet werden. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Tasten und Sehen, die beim Ver- und Dagmar Schmauks 190 Enthüllen am wichtigsten sind. Nicht eigens behandelt werden die Materialeigenschaften der Hülle. So versteht es sich von selbst, daß nur geschmeidige Folien sich zum flächendeckenden Umhüllen unregelmäßig geformter Objekte eignen. 3.2 Tastbarrieren Durchsichtige Folien über Fleisch und empfindlichen Früchten verhindern eine haptische Prüfung der Ware, gestatten aber eine visuelle Prüfung zumindest der “Schauseite” (zur Terminologie: “haptisch” bezeichnet nur die Eindrücke des aktiven Ertastens, der Oberbegriff “taktil” hingegen alle Eindrücke des Hautsinns, also auch solche beim passiven Berührtwerden). Ihr Motiv sind gestiegene Hygieneanforderungen, die das früher und in anderen Kulturkreisen übliche Betasten von Lebensmitteln verpönt machten, wie das abwertende Verb “betatschen” klarstellt. Ohne haptische Prüfung der Konsistenz und Frische von Lebensmitteln stellt der Kunde jedoch oft erst zu Hause fest, daß das Bratenstück sehnig ist oder die Gurke bereits faule Stellen hat. Wie stark unser Bedürfnis nach Tasteindrücken ist, belegen die Bestrebungen der Informatik, den Tastsinn durch spezielle Geräte (Datenhandschuh, Datenanzug) in die Mensch-Maschine-Interaktion und in die multimodale Telekommunikation (Schlagwort “Cybersex”) einzubeziehen. Wenn unempfindliche aber sehr kleine Objekte wie die Aufsätze von Bohrmaschinen in Blisterpackungen eingeschweißt werden, soll dies vor allem den Ladendiebstahl erschweren. Glasvitrinen in Kirchen und Museen erlauben ein Betrachten der enthaltenen Objekte und schützen diese zugleich vor (profaner) Berührung und Beschädigung, sowie vor Einstauben und Verwitterung. 3.3 Sichtbarrieren Im umgekehrten Fall ist die Hülle für das alltägliche Sehvermögen undurchsichtig, erlaubt aber eventuell ein Betasten des Inhalts. “Verhüllt” ist also nicht synonym mit “unsichtbar”, denn es ist nicht alles Verhüllte unsichtbar (etwa folienumhüllte Lebensmittel, vgl. Abschnitt 3.2) und umgekehrt nicht alles Unsichtbare verhüllt. So sind Spuren von abgewaschenem Blut an einem Tatort nicht verhüllt, werden aber erst durch Kontakt mit bestimmten Chemikalien sichtbar gemacht. Verhüllt werden vor allem folgende Objekttypen: - der menschliche Körper, insbesondere das Gesicht, - private Räume, Orte und Nachrichten sowie - Kunstwerke und sakrale Objekte zu besonderen Gelegenheiten. Das primäre Objekt aller Verhüllungsstrategien ist der menschliche Körper. Jede Kultur und jede Epoche legt fest, welche Körperteile (ständig oder in besonderen Kontexten) sichtbar sein dürfen und welche fremden Blicken entzogen werden sollen oder müssen. Diese Regulierung von Sichtbarkeit erfolgt meist in geschlechtsspezifischer Weise (vgl. Duerr 1988-1997, vor allem den ersten Band “Nacktheit und Scham”). Wenn man nackte Personen überrascht, bedecken sie tabuisierte Körperteile mit den Händen - man denke an die typische Geste der Venus pudica. In multikulturellen Gesellschaften gibt es zahlreiche hochspezialisierte Kleidungsstücke von “züchtig verhüllend” bis “aufreizend”. An einem Pol liegt etwa der Tschador, am anderen die Vielfalt verlockender Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 191 Dessous. Adjektive wie “blickdicht” vs. “transparent” beschreiben jedoch nur einen Aspekt der Sichtbarriere. Hinzu kommt die “Figurbetontheit”, denn eine zwar blickdichte aber eng anliegende Hülle (etwa aus Plastik oder Gummi) läßt sich gezielt als Blickfang einsetzen. Ferner werden die statischen Aspekte von Kleidung natürlich immer durch Umgangsweisen modifiziert. Gerade wegen des Kontrastes gehören “keusche Gewänder” wie das Nonnenhabit und die Krankenschwestern-Uniform oft zum Rollenspiel-Fundus von Prostituierten. Enthüllungstabus bzgl. bestimmter Körperteile gelten analog auch für deren Abbildungen. Da sie “private parts” verhüllen und von einem nachgeschalteten Zensor stammen, haben die sprichwörtlichen Feigenblätter christlich entschärfter Gemälde dieselbe Funktion wie die schwarzen Balken auf Filmplakaten der 1960er Jahre. Sogar das Bett als intimer Ort bedarf im bürgerlichen Kontext einer Verhüllung, wobei der Terminus “Tagesdecke” auch sprachlich die Phantasie ihres Betrachters von der Nacht weglenkt. Viele Tiere entgehen ihren Feinden aufgrund ihrer Tarnfärbung. Daß entsprechende Wünsche auch beim Menschen vorhanden sind, belegen die vielen Märchen über Tarnkappen und über Zaubertränke, die unsichtbar machen. Eine bescheidene Realisierung ist die militärische Tarnkleidung, deren (durch den Jaguar inspiriertes) Fleckenmuster mit dem Hintergrund verschwimmt. Diese Kleidung soll also nicht bestimmte peinliche Körperteile, sondern das Vorhandensein der ganzen Person verbergen. Das Gesicht ist ein besonders informativer Zeichenkomplex und wird deswegen häufig ganz oder teilweise bedeckt. Weil die Gesichtszüge eine Identifikation der Person erlauben, tragen sowohl Karnevalsteilnehmer (vgl. Abschnitt 5.2) als auch Geiselnehmer eine Maske. Im Mittelalter mußten verurteilte Personen sog. “Schandmasken” tragen, deren Gestaltung auf das begangene Delikt hinwies. Wer sich etwa durch Trunksucht und Zotenreißen “wie ein Schwein” benommen hatte, wurde mit einer Schweinemaske an den Pranger gestellt. In anderen Situationen soll die Mimik ausgeblendet werden, weil sie die Stimmung verrät. Wer Trauer im wörtlichen Sinn “verschleiern” will, “verhüllt sein Haupt”. Eine besonders rätselhafte Gesichtsverhüllung beschreibt Hawthorne (1836) in seiner Erzählung “Des Pfarrers schwarzer Schleier”. Ohne erkennbaren Anlaß und ohne Begründung verhüllt der Titelheld eines Tages sein Gesicht mit einem schwarzen Tuch, wird in Zukunft von allen Menschen gemieden und nimmt den Schleier und dessen Geheimnis mit ins Grab. Auch der Gesichtsausdruck einer Theatermaske kann betont “nichtssagend” oder stark konventionalisiert sein (Komödie, Tragödie). Auch hochwertige Puppen und Plüschtiere haben eine betont neutrale Mimik, damit das Kind seine augenblickliche Stimmung in sie hineinprojizieren kann. Das Auge kann (im Unterschied vor allem zum Ohr) bei seiner Wahrnehmungstätigkeit beobachtet werden und informiert über die Aufmerksamkeit, Anteilnahme usw. des Sehenden. Eine verspiegelte Sonnenbrille, die das Blickverhalten verdeckt, bewirkt daher eine asymmetrische Gesprächssituation, die den meisten Menschen unbehaglich ist. Der menschliche Körper bleibt auch nach dem Tod ein Objekt, dessen Betrachtung kulturell reglementiert wird. Eine Aufbahrung findet nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten statt, und vor dem Begräbnis wird der Leichnam durch ein Leintuch oder durch einen Sarg fremden Blicken entzogen. Ein ganz anderes Motiv zum Verhüllen von Körperteilen ist die Vermeidung von Ablenkung. So werden bei einer Operation nicht betroffene Körperteile verdeckt, damit sich der Chirurg besser konzentrieren kann. Auch private Räume als nächstgrößere “Körperhülle” werden vor fremden Blicken geschützt. Mauern und Jalousien schirmen Einblicke vollständig ab, Wandschirme machen Dagmar Schmauks 192 zumindest eine Zimmerecke zum Privatraum. Auch hier gibt es wieder asymmetrische Sichtverhältnisse, denn Einwegscheiben und spezielle Vorhänge erlauben zwar einen Blick nach draußen, aber keinen von außen hinein. In allen Fällen geht es darum, den Unterschied von Innen und Außen zu zelebrieren und um das scheinbar paradoxe Ziel, Abgeschlossenheit zur Schau zu stellen. Manche Sichtbarrieren sind offensichtlich wie Briefumschläge, raffiniertere Varianten hingegen sind gar nicht als solche erkennbar (ähnlich wie Tarnkleidung, s.o.). Scheinbare Vorgartensteine verstecken den Ersatzschlüssel, scheinbare Buchrücken die Hausbar. Tarnschuber verwandeln pornographische Bücher in unbedenkliche, wobei möglichst langweilige Titel sicherstellen, daß niemand darin schmökert. Das Militär beschäftigt Camouflage-Fachleute, die Bunker wie Erdhügel und Hangars wie Scheunen aussehen lassen. Es überrascht nicht, daß ganz ähnliche Tarnungen auch in virtuellen Welten vorkommen. Wer während seiner Arbeitszeit in peinlichen Regionen des Internets surft, kann beim Auftauchen eines Vorgesetzten durch nur einen Tastendruck den aktuellen Bildschirminhalt durch einen arbeitsbezogenen “überlagern” (wobei die suggerierte räumliche Schichtung natürlich nur eine Metapher ist). Ein weiterer Typ von Sichtbarrieren wird in den Kontexten von Kunst und Ritual eingesetzt. So werden Denkmale und andere Kunstwerke gegenüber “vorzeitigen” Blicken abgeschirmt, bleiben also während ihrer Herstellung verhüllt. Diese Vorgehensweise steigert die Neugier auf die feierliche Enthüllung des fertigen Werkes (siehe Abschnitt 5.2). Ferner ähnelt das Enthüllen eines Kunstwerks der letzten Phase einer Geburt, bei der etwas Neues “augenblicklich” sichtbar wird. Ganz ähnlich kann man Objekte, die man ständig sieht, zeitweise verhüllen und damit die bereits “automatisch” gewordene Wahrnehmung unterlaufen. Hierher gehört die jährliche Kreuzverhüllung in der Karwoche als “Fasten der Augen” ebenso wie Christos Verhüllter Reichstag (Berlin 1995). Als letztes Beispiel sei die Kunstlegende vom Wettstreit zwischen zwei antiken Malern erwähnt (Möller 2000: 173). Zeuxis hatte Weintrauben so täuschend echt gemalt, daß Vögel an ihnen pickten. Das Bild von Parrhasios hingegen schien von einem leinenen Vorhang verhüllt zu sein - doch dann erwies sich auch dieser als “nur gemalt” und Parrhasios hatte gewonnen. 4 Strategien zum Erkennen des Verhüllten Dieser Abschnitt stellt die Methoden vor, mit denen man Barrieren zu überwinden trachtet, um das von ihnen Verhüllte zu erkennen, nämlich das Öffnen der Hülle (4.1), nicht-visuelle Prüfverfahren (4.2) sowie das Durchleuchten des Objekts (4.3). Dem absichtlichen Enthüllen ist der anschließende Abschnitt 5 gewidmet. 4.1 Das Öffnen der Hülle Die radikalste Strategie zum Erkennen des Verhüllten ist das Öffnen der Hülle, das nicht immer möglich und nicht immer reversibel ist. Irreversibel ist etwa das Abtragen von Schichten - beim Ausgraben archäologischen Fundstätten und bei anatomischen Sektionen kann der ursprüngliche Zustand niemals wiederhergestellt werden. Die in Abschnitt 2 skizzierten Häute von Tieren verhalten sich je nach Tierart bei Eingriffen ins Körperinnere ganz unterschiedlich. Während Hummer und Muscheln sterben, Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 193 wenn man ihre Hülle (also das Außenskelett) öffnet, haben Säugetiere eine geschmeidige Haut, die nach Verletzungen oder chirurgischen Eingriffen wieder heilt. Es bleiben allerdings Narben, die das Geöffnet-Worden-Sein dokumentieren. Das Abziehen der gesamten Haut ist natürlich tödlich; diese “Schindung” wurde früher als besonders qualvolle Tötungsart verwendet. In einer antiken Legende wird der Quelldämon Marsyas von Apoll geschunden, weil er diesen herausgefordert hat, im Christentum erleidet der Heilige Bartholomäus dasselbe Schicksal. Wenn Artefakte eigens als Barrieren geschaffen wurden, hinterläßt ihr unbefugtes Öffnen und Wiederverschließen in der Regel Spuren, die ihren Besitzer über diese Territorialverletzung informieren. Beispiele sind Klebstoffspuren auf Briefumschlägen oder Kratzspuren an Türschlössern. Ein Grenzfall sind unauffällige voyeuristische Einblicke durch partielle Überwindung der Barriere (Loch in Jalousie) oder indirekte Methoden (mit Spiegeln unter Frauenröcke spähen). Das reversible und spurenlose Öffnen von Objekten setzt eine “eingebaute” Möglichkeit zum Öffnen voraus. Beispiele sind Transportcontainer (Koffer, Taschen), Aufbewahrungscontainer (Schränke, Schubladen) und Kleidungsstücke (Knöpfe, Reißverschlüsse). 4.2 Nicht-visuelle Prüfverfahren Bei undurchsichtigen Hüllen liegt es nahe, zum Erkennen des Inhalts andere Sinnesmodalitäten als das Sehen einzusetzen. Das Belecken scheidet aus, denn es informiert eher über die Hülle als über den Inhalt und gilt darüber hinaus als unhygienisch. Das Beschnuppern verhüllter Objekte ist zwar nicht tabuisiert, aber nur selten zielführend. Nur selbst duftende Objekte wie Seifenstücke oder Früchte können durch ihre Verpackung hindurch erkannt werden. Wesentlich aussagekräftiger sind die im folgenden skizzierten haptischen und akustischen Prüfverfahren. 4.2.1 Das Betasten des verhüllten Objekts Eine wichtige Strategie zum Erkennen des Verhüllten sind haptische Prüfprozeduren ohne Fixierung des Resultats. Wenn man dabei entsprechend behutsam vorgeht, schaden sie weder dem verhüllten Objekt noch seiner Hülle. Das Tasten durch Barrieren hindurch ist somit ein Analogon der visuellen Transparenz. Tabuisiert ist jedoch das nicht-einverständliche Betasten anderer Körper durch die Kleidung hindurch. Wie beim Enthüllen (Abschnitt 5) gibt es auch hier die komplexe Strategie, ein absichtliches Betasten als versehentlich hinzustellen. So kommt es im Gedränge der U-Bahn vor, daß (Männer! -)Hände dort auf Forschungsreise gehen, wo sie aus Sicht sozialer Normen nichts zu suchen haben. Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag ist das Befingern verpackter Geschenke bereits vor der Bescherung. Wesentlich systematischer ist die Selbst- oder Fremduntersuchung bei der Krebsvorsorge, um hautnahe Tumore etwa in Brust oder Hoden zu entdecken. Erst wenn hierbei Verdachtsmomente auftreten, ordnet der Arzt eine Durchleuchtung der betreffenden Körperteile an (vgl. Abschnitt 4.3). Einige frühere Theorien zum Erkenntnispotential des Betastens werden heute nicht mehr akzeptiert. So nahm die Phrenologie (etwa Franz Josef Gall, 1758-1828) an, daß die verschiedenen “Seelenvermögen” wie Elternliebe und Gottesfurcht in verschiedenen Teilen des Gehirns lokalisiert sind, deren Größe sich durch Betasten der äußeren Schädelhöcker feststellen läßt. Weitaus nüchterner setzt die heutige Wissenschaft kognitive Funktionen wie Dagmar Schmauks 194 Sprachverstehen oder Gedächtnis mit bestimmten Gehirnarealen in Beziehung, wohingegen die Vorstellung einer Beziehung zwischen Schädelhöckern und Charaktereigenschaften ganz aufgegeben wurde (nur der Volksmund spricht noch von einem “musikalischen Hinterkopf”). 4.2.2 Das Behorchen des verhüllten Objekts Auch das Gehör trägt entscheidend dazu bei, nicht sichtbare Objekte zu erkunden - insbesondere, wenn diese von sich aus Geräusche erzeugen wie ein aufgezogener Wecker oder ein lebendes Tier. “Stumme” Objekte versuchen wir zu erkennen, indem wir das sie umhüllende Paket vorsichtig schütteln. Eine ähnliche Methode ist das Erzeugen und Ausnutzen von Reflexionsschall. In der Dunkelheit gewinnen wir Information über die Größe und Struktur von Innenräumen durch den Widerhall nach einem Schnalzen oder Händeklatschen, wobei Blinde bei dieser Aufgabe weitaus geübter sind als Sehende. In der Medizin ergänzt das Horchen ins Körperinnere den Sicht- und Tastbefund; auch der Laie hört etwa den Herzschlag eines Fötus mit “bloßem Ohr”. Die Wahrnehmung solcher Schallphänomene wurde wesentlich verfeinert, seit Théophile Laennec 1819 erstmals ein Hörrohr (Stethoskop) einsetzte. Thomas Mann stellt in seinem Roman Der Zauberberg einprägsam dar, wie Hofrat Behrens den Brustkorb seiner tuberkulösen Patienten von vorne und hinten systematisch beklopft (sog. “Auskultation”), um anhand dumpferer Geräusche alte Vernarbungen und frische feuchte Stellen der Lunge zu entdecken (Mann 1967: 188ff). Die Lokalisierung wird noch genauer, wenn die Patienten vertieft atmen oder absichtlich husten. 4.3 Das Durchleuchten des verhüllten Objekts Auch das Durchleuchten eines verhüllten Objekts erlaubt dessen zerstörungsfreie Prüfung. Heute steht eine breite Palette von Methoden zur Verfügung (4.3.1). Sobald deren Ergebnisse fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im eigentlichen Sinne vor (4.3.2). 4.3.1 Methoden des Durchleuchtens Die einfachste visuelle Methode ist das einmalige Durchleuchten des Objekts ohne Fixierung des Resultats. Das bekannteste Beispiel sind die bildgebenden Verfahren in der Medizin, die heute alle Körperstrukturen erfassen. In der Diagnostik besteht ihr Ziel darin, Fremdkörper, Verletzungen und Tumore zu entdecken, in der medizinischen Grundlagenforschung sollen sie das Wissen über Struktur und Funktion des Körpers erweitern. Jahrtausendelang war der ärztliche Blick auf die Oberfläche des Körpers und seine Ausscheidungen beschränkt. Erst allmählich entstand durch die Beobachtung großer Verletzungen und durch Analogieschlüsse bei Tierschlachtungen ein Wissen über den inneren Aufbau des Körpers, das ab der Renaissance durch systematische Sektionen erweitert wurde. Diese setzen ein Krankheitskonzept voraus, das die Ursache der Krankheit im Körper lokalisiert. Ferner darf das Zerschneiden der Leiche nicht tabuisiert sein. Der Blick ins Innere des lebenden Menschen wurde erst möglich, als Konrad Röntgen 1895 eine neue Strahlenart entdeckte. Sie wurde später nach ihm benannt (“Röntgenstrahlen”), ferner ist “röntgen” eines der wenigen eponymischen Verben des Deutschen (siehe Moskopp 1995). Diese Einblicksmöglichkeit ist “nicht-invasiv”, erfordert also keine Öffnung des Körpers durch Stiche oder Schnitte. Folglich bleiben auch keine Narben zurück. Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 195 Allerdings stellte man später fest, daß zu häufige Röntgenaufnahmen bzw. zu hohe Strahlendosen schädlich sind. Im Hinblick auf “Enthüllung” allgemein ist interessant, daß schon bald nach Entdeckung der Röntgenstrahlen zahlreiche Werbeanzeigen für “Röntgenbrillen” auftauchten, die versprachen, daß man (Mann) durch die Kleidung (von Frauen) sehen könne. Mit ähnlicher Absicht zeigt eine humoristische Postkarte vom Beginn des 20. Jahrhunderts ein “Strandidyll à la Röntgen”, auf dem alle Kleidungsstücke durchscheinend sind, so daß die Körper mit den Knochen sichtbar werden. Hinzuzufügen ist, daß diese Darstellung selbst wieder euphemistisch ist, denn der voyeuristische Blick will keineswegs das (wenig verlockende und auch für Laien kaum geschlechtsspezifische) Skelett sehen, sondern das sonst von Kleidern verhüllte nackte Fleisch. In seinem Roman Der Zauberberg formuliert Thomas Mann den Gedanken, daß Röntgenaufnahmen die Verwesung vorwegnehmen, also einen Blick in die eigene posthume Zukunft erlauben. Im Kapitel “Mein Gott, ich sehe” legte Hans Castorp seine Hand auf den Leuchtschirm des Röntgenapparates und “sah, was […] eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist […]: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichts, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu milchigem Nebel gelöst, […] und zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde” (Mann 1967: 232f). Im 20. Jahrhundert sind zahlreiche weitere bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Computertomographie und Kernspintomographie hinzugekommen. Während beim klassischen Röntgen der Körper nur in einer Ebene durchleuchtet wird, bilden diese Verfahren den Körper “schichtweise” ab. Die so entstandenen Bilder werden von einem Computer zu einem (virtuell dreidimensionalen) Bild zusammengesetzt. Der Arzt kann sich dann die erfaßten Körperteile aus beliebigen Blickwinkeln zeigen lassen und den aktuellen Befund mit früheren Schichtbildern vergleichen. Alle diese Methoden sind zerstörungsfrei, sie lassen also das betreffende Organ ebenso wie seine Deckschichten unbeschädigt. Auch außerhalb medizinischer Kontexte werden Objekte mit denselben Methoden durchleuchtet. In den 1950er Jahre standen in US-amerikanischen Schuhgeschäften einfache Röntgenapparate, die zeigen sollten, ob ein Schuh groß genug ist. Hühnereier werden durchleuchtet, um die Höhe der Luftkammer zu prüfen, die das Alter des Eis angibt. Ferner dürfen keine Blutgerinnsel oder andere Einlagerungen sichtbar sein. Zum Schutz vor Terroranschlägen durch Bomben usw. wird Fluggepäck standardmäßig und Postgut im Verdachtsfall durchleuchtet. Das ständige Durchleuchten von Objekten ist des hohen Aufwands wegen ungebräuchlich. In einem eher metaphorischen Sinn zählt hierher ein spezifisch christliches Kindheitstrauma, nämlich der Blick des allsehenden Gottes, der auch die Bettdecke durchdringt: Ein Auge gibt’s, das alles sieht, auch was in finst’rer Nacht geschieht! 4.3.2 Die “Kartierung des Verhüllten” Sobald die Resultate einer haptischen, akustischen oder visuellen Erkundung fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im engeren Sinne vor. So entstehen bei allen in Abschnitt 4.3.1 genannten bildgebenden Verfahren der Medizin Aufnahmen, die den Befund dokumentieren und den Krankenakten beigefügt werden. Dagmar Schmauks 196 Eine der wichtigsten praktischen Aufgaben der Geologie ist die Enthüllung des Untergrundes, um das Relief unter Wüsten und Eisdecken sowie den Meeresboden kartierbar zu machen. Hinzu kommt das Aufspüren der Lagerstätten von Bodenschätzen und das Erhellen von tieferliegenden Strukturen, um Erdbeben besser vorhersagen zu können. Wo Bohrungen unmöglich sind, werden die Schichten mit Radar, künstlichen Erdbebenwellen (Seismik) usw. “durchleuchtet” (siehe den Beitrag von Tessensohn). Die Kartierung von Höhlen ist ähnlich anspruchsvoll, da ihre dreidimensionale Struktur durch Quer- und Längsschnitte nur unzureichend darstellbar ist. Zahlreiche Wissenschaften untersuchen Strukturen, die von Menschen erzeugt wurden und einander in Art eines Palimpsests überlagern. Erst moderne Aufnahmeverfahren haben es möglich gemacht, solche zeitlichen Schichtungen zu erkunden, ohne die Schichten selbst zu zerstören. Die Archäologie etwa setzt zahlreiche Verfahren ein, um Fundstätten zerstörungsfrei zu “enthüllen” (siehe den Beitrag von Vogt). Luftaufnahmen bei Schräglicht machen den Verlauf alter Wege erkennbar, während Gruben und Mauerreste sich abzeichnen, weil auf ihnen das Getreide besser bzw. schlechter wächst (Luftbildarchäologie). Metalldetektoren erlauben (leider auch Raubgräbern) das Aufspüren von Metallgegenständen. Messungen des geomagnetischen Feldes entdecken verfüllte Gräben, Mauern und andere Artefakte. Ganz ähnlich werden Entwurfskizzen unter Gemälden sowie sich überlagernde Graffiti dokumentiert. 5 Die Enthüllung des Verhüllten Im Unterschied zum Öffnen der Hülle (Abschnitt 4.1) bleibt bei der Enthüllung die Hülle unbeschädigt, sie wird lediglich abgenommen. Ferner benötigt man keine speziellen Geräte wie beim Durchleuchten (vgl. Abschnitt 4.3). Die Varianten des Enthüllens lassen sich anhand der Kriterien “absichtlich” und “legal” klassifizieren, wobei die Beteiligten bzgl. der Zuschreibung dieser Kriterien gegenläufiger Meinung sein können. Semiotisch am wenigsten ergiebig sind zufällige Enthüllungen, wie sie im Hinblick auf Kleidung öfters geschehen. Wenn etwa jemand seinen Hut verliert, kann die Ursache ein Windstoß sein (also eine “täterlose” Enthüllung), der Besitzer des Hutes selbst (der unachtsam unter einem Balken durchging) oder eine ungeschickte andere Person. Da solche Enthüllungen nicht absichtlich geschehen, kann auf sie das Kriterium “legal” nicht angewendet werden (man kann dem Enthüllenden höchstens Fahrlässigkeit vorwerfen). Raffinierter ist eine als zufällig inszenierte absichtliche Enthüllung, die physikalische Rahmenbedingungen für eigene Zwecke ausnutzt. So kennt jeder die berühmte Szene aus dem Film “Das verflixte siebte Jahr”, in der Marilyn Monroe auf den Lüftungsschacht der New Yorker U-Bahn tritt, dessen Abluft ihr weißes Kleid hochweht und ihre Schenkel entblößt. Während hier jemand selbst seinen eigenen Körper enthüllt und so tut, als sei dies ein Zufall, arbeiten Voyeure absichtlich mit gegenläufigen Strategien - so konnte in vergangenen Tagen ein Herr einer Dame aus der Kutsche helfen, dabei “versehentlich” deren Rock hochstreifen und darunteräugen. - Die folgenden Abschnitte beschreiben die beiden Pole der absichtlichen Enthüllung, nämlich die widerrechtliche Enthüllung (5.1) und die als Ereignis inszenierte legale Enthüllung (5.2). Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 197 5.1 Die widerrechtliche Enthüllung Die widerrechtliche Enthüllung eines (meist weiblichen! ) Körpers als Auftakt einer Verführung ist ein beliebtes Bildmotiv. So lüpfen bereits auf antiken Gemmen Satyre das Gewand einer schlafenden Nymphe; ein Beispiel aus neuerer Zeit ist Antoine Watteaus Gemälde Satyr und schlafende Nymphe (um 1715). Neben dieser verstohlenen Augenlust gibt es auch aggressivere Formen von Voyeurismus, die darauf abzielen, die (teilweise) enthüllte Person nicht nur körperlich, sondern auch sozial “bloßzustellen”. Gruppen von Jungen machen sich gern im Schwimmbad einen Spaß daraus, bei gleichaltrigen Mädchen den Verschluß des Bikini-Oberteils zu öffnen. Solche Angriffe sind umso schwerwiegender, je stärker die Enthüllung des betreffenden Körperteils tabuisiert ist. Dieser Aspekt entscheidet darüber, ob das Abreißen eines Kopftuchs nur ein dummer Scherz oder eine ernsthafte Ehrverletzung ist. Besonders peinlich sind Enthüllungen, wenn sie einen “Makel” des Betreffenden öffentlich machen, wie es beim Herunterreißen einer Perücke geschieht. 5.2 Die als Ereignis inszenierte Enthüllung Da Kleidung das Paradebeispiel absichtlicher Verhüllung ist (vgl. Abschnitt 3.3.), motiviert sie auch zu zahlreichen Varianten der Enthüllung. Vor allem ist die absichtliche Enthüllung des (eigenen und anderen) Körpers ein integraler Bestandteil des menschlichen Sexualverhaltens. Entsprechende Redensarten sind meist geschlechtsspezifisch, so bezeichnet “die Hüllen fallen lassen” in der Regel die Handlung einer Frau, die “Einblicke gewährt”, während “den Schleier lüften” die Handlung eines Mannes beschreibt, der sich (mit Einverständnis der Frau) Einblicke verschafft. Weil das vorangehende Verhüllen dazu dient, die Lust auf das Enthüllen zu steigern, kann Reik (1983: 296) - in Anlehnung an eine Passage aus Schillers Glocke - desillusionierend feststellen: Man muß das große Verdienst anerkennen, das sich Kultur und Religion um die Steigerung der Sexualbefriedigung erworben haben, indem sie sie zur Sünde gemacht haben. Mit dem Gürtel, mit dem Schleier würde der holde Wahn entzweireißen. Deshalb sind Gürtel und Schleier eminent erwogene Mittel. Folglich geht es auch beim Striptease um ein langsames Auskosten des Enthüllens - der Reiz der Show wäre sofort dahin, wenn die Stripperin bereits nackt auf die Bühne springen würde. Wenn am Ende des Faschings um Mitternacht der Aschermittwoch beginnt, muß die Verkleidung durch eine “Ent-Larvung” im wörtlichen Sinn enden. Da vor allem das Gesicht die Person identifiziert, fällt hier nur die Maske. Das Enthüllen von Denkmalen, Skulpturen, Wandgemälden usw. wird in komplexe Rituale eingebettet, die die Feierlichkeit des Augenblicks steigern. Vertreter der Öffentlichkeit würdigen das Werk, eventuell äußert sich auch der Künstler selbst. Falls ein Bauwerk eingeweiht werden soll, das für eine vorherige Verhüllung zu groß ist, wird stellvertretend eine Stiftertafel o.ä. enthüllt. Die Rituale des Geschenke-Überreichens belegen, wie sehr Ver- und Enthüllen kulturspezifisch organisiert sind. In Europa packt man Geschenke im Beisein des Schenkenden aus, damit dieser sieht, wie sehr man sich daran freut. Dies bringt natürlich die Gefahr mit sich, daß der Beschenkte das Geschenk so scheußlich oder peinlich findet, daß er nicht spontan Begeisterung heucheln kann und ihm “die Gesichtszüge entgleisen”. Japaner umgehen dieses Problem durch ein abweichendes Ritual: sie enthüllen das Geschenk erst nach Weggehen Dagmar Schmauks 198 ihres Gastes, damit bei einem erkennbaren Mißgriff keiner der Beteiligten das Gesicht verliert. Literatur Duerr, Hans Peter 1988-1997: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 4 Bände. Band 1: Nacktheit und Scham. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hawthorne, Nathaniel 1836: The Minister’s Black Veil. Deutsch: Des Pfarrers schwarzer Schleier. In: N. Hawthorne: Erzählungen. München: Winkler (1977): 245-262 Mann, Thomas 1967: Der Zauberberg. Frankfurt a.M.: Fischer Möller, Hans-Georg 2000: “Verführte Vögel, verschwundene Maler und vernichtetes Fett: Über Kunstlegenden und Zeichenparadigmen in China und Europa”. Zeitschrift für Semiotik 22 (2000): 171-182 Moskopp, Dag 1995: “‘Ich röntge, du röntgst, …’. Eine vergleichende Untersuchung eponymischer Verben anläßlich des 100. Jahrestages der Entdeckung der Röntgenstrahlen”. Radiologe 35 (1995): 367-372 Reik, Theodor 1925: Der unbekannte Mörder. Psychoanalytische Studien. Frankfurt a.M.: Fischer (1983) Schmauks, Dagmar 1998: Barrieren und ihre Überwindung. Zur semiotischen Struktur der Fortbewegung. Memo Nr. 17, FR Philosophie, SFB 378, Universität Saarbrücken Schmauks, Dagmar 2002: Orientierung im Raum. Zeichen für die Fortbewegung. Tübingen: Stauffenburg