eJournals Kodikas/Code 30/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Verhülltes weckt Neugierde – auf das Verhüllte, aber auch auf die Hülle. Wie bei einem Geschenk gehört beides zusammen, auch wenn Umhüllendes und Verhülltes jeweils unabhängig voneinander betrachtet werden kann. Die folgenden Beiträge thematisieren die semiotischen Dimensionen der Visualisierung des vordergründig Nicht-Sichtbaren. Die Ver- und Ent-Hüllung des von der Natur und in der Natur Verhüllten wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt. Die Annäherung an das Thema geschieht aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Disziplin – den Sprach-, Natur- und Umweltwissenschaften, der Kunst, der Archäologie und der Geologie – im fachübergreifenden Diskurs. Dazu wurden die Beiträge paarweise angeordnet.
2007
303-4

Kartographie des Verhüllten - eine Einführung

2007
Dieter D. Genske
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Monika Huch
Kartographie des Verhüllten - eine Einführung Dieter D. Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch Wrapped objects make curious - for the wrapped object itself, but also for the wrapping. For a gift both belong together, although the cover and the interior can be seen independently from each other. The contributions in this volume talk about the semiotic dimensions of the visualisation of the primarily non-visible. They show the ways of wrapping and un-wrapping by nature and in nature from the viewpoint of each discipline - linguistic, natural and environmental sciences, arts, archeology and geology - in a transdisciplinary discourse. To underline this purpose, the contributions are arranged two by two. Verhülltes weckt Neugierde - auf das Verhüllte, aber auch auf die Hülle. Wie bei einem Geschenk gehört beides zusammen, auch wenn Umhüllendes und Verhülltes jeweils unabhängig voneinander betrachtet werden kann. Die folgenden Beiträge thematisieren die semiotischen Dimensionen der Visualisierung des vordergründig Nicht-Sichtbaren. Die Ver- und Ent-Hüllung des von der Natur und in der Natur Verhüllten wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt. Die Annäherung an das Thema geschieht aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Disziplin - den Sprach-, Natur- und Umweltwissenschaften, der Kunst, der Archäologie und der Geologie - im fachübergreifenden Diskurs. Dazu wurden die Beiträge paarweise angeordnet. 1 Das Ver- und Enthüllte an sich Was nicht unmittelbar zutage tritt, das Verhüllte und Verborgene, enthüllt sich uns nur durch die Deutung von Zeichen. Zum in den Kultur- und Naturwissenschaften gleichermaßen aktuellen Thema der Verhüllung und Enthüllung versammelt dieses Themenheft Beiträge von Geologen und Germanisten, Linguisten und Stadtplanern, Archäologen und Künstlern, die ihre fachübergreifende lingua franca in der Semiotik zu finden hoffen. Ein Teil der Beiträge ging aus Referaten eines Workshops im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik in Frankfurt/ Oder 2005 zum Thema “Kartographie des Verhüllten” hervor, der nun dem Heft den Titel gibt. D AGMAR S CHMAUKS von der Arbeitstelle für Semiotik an der TU Berlin zitiert Schiller, der vor frevelhafter Neugierde warnt. Gilt das in unserer heute so aufgeklärten, internetbasierten Welt immer noch? Oder hat das Ver- und Enthüllen gerade durch die Aufklärung einen neuen Stellenwert bekommen? Wilhelm Trampe verweist auf das seit Ende der 1980er Jahre etablierte kognitivistische Paradigma in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften und die damit insbesondere Metaphern zugemessene Schlüsselfunktion. Während Dagmar Schmauks Hüllen, Verhülltes und den Akt des Enthüllens vor allem am Beispiel von Alltagsphänomenen thematisiert, geht Wilhelm Trampe auf den Sinn “dahinter” ein - Metaphern bzw. metaphorische Konzepte haben eine Schlüsselrolle bei der Kon- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 180 Abb. 1a: Gott zögert noch, die Erde zu enthüllen (Schmauks) Abb. 1b: Naturmetaphern (Trampe) struktion von Wirklichkeit. Wir wollen uns ein Bild machen, und sei es ein übertragenes. Und wir wollen “unser” Bild verifizieren - durch Betasten, Beschnuppern, Schütteln und letztlich Enthüllen, Öffnen. Das sind Urbedürfnisse, die jedes Kleinkind hat und die auch dann noch in uns schlummern, wenn wir älter werden. Dagmar Schmauks greift dieses latente Urbedürfnis auf, wenn sie die beiden Pole der absichtlichen Enthüllung, nämlich die widerrechtliche und die als Ereignis inszenierte legale Enthüllung anspricht. Aber auch Metaphern verhüllen oder enthüllen. W ILHELM T RAMPE (Osnabrück) zeigt an mehreren Beispielen, daß Metaphern keine Abbilder der Wirklichkeit sind. Als Medium des menschlichen Selbst- und Naturverständnisses erweisen sich Metaphern vielmehr als Vehikel spezifischer Beziehungs- und Bedeutungsstiftung im Umgang mit Natur. Er unterscheidet bei den Naturmetaphern zwischen anthropozentrischer und bio- oder ökozentrischer Perspektive und sieht die nicht-anthropozentrische Metaphorik als einen wichtigen Schritt hin zur Etablierung eines nachhaltigen Naturschutzes, der diese Bezeichnung auch verdient. 2 Das Verhüllte im Fremden und im Vertrauten Fremdes ist uns a priori verhüllt. Wir “enthüllen” es, indem wir uns mit ihm vertraut machen. Dann ist es uns nicht mehr fremd, auch wenn wir es nicht unbedingt in unseren Kulturkreis assimilieren müssen. Auf Reisen kommen wir u.U. mit uns fremden Kulturen in Kontakt, und begegnen einander im Ritual des Grußes als universaler Ausdrucksform höflichen Verhaltens. Im engeren Bezirk der heimischen Umgebung gewinnt die lokale Identität ihren Ausdruck im Dialekt, dessen historische Entwicklungsschichten vielen Sprechern kaum mehr bewußt sind. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) und D JOUROUKORO D IALLO (Bamako, Mali) resümieren in ihrem Beitrag die anthropologische, semiotische und linguistische Forschungstradition der kulturübergreifenden Erforschung höflichen Grußverhaltens, werfen einen kurzen Blick auf interkulturelle Unterschiede bei Ritualen des Grüßens und untersuchen exemplarisch Routinen des Grüßens im malischen Bambara als Objekt interdiszi- Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 181 Abb. 2b: Bambara in Mali (Hess-Lüttich & Diallo) Abb. 2a: Die mehrsprachige Schweiz (Hess-Lüttich & Leiggener) plinärer Höflichkeitsforschung. In einem knappen Fazit versuchen sie zugleich eine begriffs- und problemsystematische Synopsis. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) und H ANS C HRISTIAN L EIGGENER (Biel/ Bienne) berichten sodann über ein Projekt digitaler Dialektkartographie zur Integration von mehreren Typen dialektologischer Daten in verschiedenen Codes. Dabei legen sie besonderes Gewicht auf die kartosemiotischen Fragen und technischen Probleme angemessener Datenrepräsentation in multimedialen Umgebungen zur interaktiven Nutzung. 3 Das Verhüllte in der Interaktion Kommunikationspartner sind über Zeichen, Sprache und Emotionen in der Lage, die Emotionen ihres Gegenübers zu erkennen. Erst durch diesen ständigen wechselseitigen Lernprozeß Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 182 Abb. 3a: Einige Emotikons (von oben nach unten: lächelnd = Ur-Emotikon, Smiley; Person mit wirrem Haar; Person mit lockigem Haar; Engel; Person mit Brille; traurig; weinend; unsicher; sehr traurig, sauer (nach Sanderson 1997); 3b unten: Pure Verzweiflung (Posner) ist das friedfertige Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft möglich. Insbesondere der Ausdruck von Gefühlen nimmt in der zwischenmenschlichen Interaktion eine zentrale Stellung ein, sei es durch kaum wahrnehmbare Veränderungen in Mimik oder Positur, durch explizit ausgedrückte Freude, Wut oder Trauer oder in einem unkontrollierten Gefühlsausbruch. Die Interpretation von Emotionen setzt im Rezipienten also immer einen Prozeß in Gang, um den Hintergrund der Emotion - das vordergründig Nicht-Sichtbare - zu entschlüsseln. G ESINE L ENORE S CHIEWER (Bern) gibt eine synoptische Darstellung der verschiedenen Dimensionen von verbalen und non-verbalen Emotionsbekundungen auf Seiten des Senders, ihrer Rezeption auf Seiten des Empfängers und der sich daraus entwickelnden Kommunikation. Um die Kommunikation nicht nur von Sprache, sondern auch von Emotionen zwischen Mensch und Maschine zu ermöglichen, wäre es also notwendig, Signale und Zeichen zu entwickeln, die von beiden gleichermaßen erkannt werden können. Das emotional “Verhüllte” in der Kommunikation kann so “transparent” werden. Mit Verhüllung und Enthüllung hat auch der Beitrag von K LAUS H. K IEFER (LMU München) zu tun. Schillers Lied von der Glocke, Fontanes L’Adultera und Picassos Demoiselles d’Avignon enthüllen den weiblichen Körper, partiell oder ganz, indem die beiden Schriftsteller, wohl aus Dezenzgründen, das Faktum selbst nicht benennen. Anlaß der Entblößung ist bei Schiller die Defloration einer Braut bzw. bei Fontane der Ehebruch einer jungen Frau. Der Leser kann den “unaussprechlichen” Sachverhalt nur über andere Zeichensysteme erschließen. In Kleidung, Interieurs etc. bilden sich der stumme Körper und seine verschwiegene Sexualität zeichenhaft ab. Picassos “Demoiselles” enthüllen weniger den weiblichen Körper - Entblößung gehört ohnehin zu ihrem Gewerbe -, vielmehr arbeitet sich ihr Körper (“kubistisch”) aus der Leinwand heraus, und die sexuelle Handlung wird in den Blick des Zuschauers verlagert, den die “primitivistische” Maskerade in seinem Begehren demaskiert. Geht es bei Gesine Lenore Schiewer um Sprache und bei Klaus H. Kiefer um Literatur, so konzentriert sich die Künstlerin V ESSELA P OSNER (Berlin) in ihrer Einlage auf die Emotionen, die beim Betrachten von (ästhetischen) Objekten entstehen. Diese “stumme” Interaktion spielt sich im Wesentlichen im Betrachter selbst ab. Entgegen der gelernten Situation, in Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 183 Abb. 4a: Der Kreisgraben von Goseck (Vogt) einem Museum Kunstwerke nicht zu berühren, wird der Betrachter in der vorgestellten multimedialen Installation ausdrücklich dazu animiert, das Objekt zu berühren. Aus dem Inhalt der betrachteten und zu berührenden Objekte erwachsen allerdings Wahrnehmungskonflikte, die einen komplexen Erfahrungsprozeß in Gang setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergeßlich macht. 4 Das Verhüllte im Laufe der Zeit Eine Landschaft verändert sich im Laufe eines Jahres und im Verlaufe von Jahren bis Jahrtausenden. Diese Veränderungen sind im Untergrund konserviert und können rekonstruiert werden. Die Archäologie nutzt diese Informationen aus dem Boden zur Rekonstruktion eines Teils unserer Vergangenheit. U WE V OGT (Birkenwerder) stellt an drei Beispielen die Arbeitsweise der Archäologen vor - die Feldbegehung, geophysikalische Prospektionsmethoden und die Ausgrabung. Diese drei Schritte führen im Idealfall zur Enthüllung des Verborgenen und erlauben es, die nicht schriftlich überlieferte Geschichte zu erforschen. D IETER D. G ENSKE (ETH Zürich) und E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) beschreiben eine “Enthüllung” in mehreren Dimensionen am Beispiel des Spreebogens in Berlin, in dessen Untergrund eine bewegte Geschichte dokumentiert ist. In diesem begrenzten Raum untersuchen sie die zeitlich aufeinander folgenden Schichten im räumlichen Zusammenhang. Das Beispiel des Spreebogens zeigt, wie vielschichtig sich eine raum-zeitliche Spurensuche gestalten kann. 5 Das Verhüllte in der Naturwissenschaft Sozial- und Naturwissenschaftler, in diesem Fall Umwelt- und Geowissenschaftler, sind primär daran interessiert, ihren Forschungsgegenstand so weit zu “enthüllen”, daß sie ihn (besser) erkennen und ggf. verstehen können. Geowissenschaftler müssen dazu ihrem Forschungsobjekt möglichst nahe kommen und sich dabei manchmal stadtsoziologisch oder klimatisch ungünstigen Gegebenheiten stellen. Der Beitrag von D IETER D. G ENSKE (ETH Zürich) und S USANNE H AUSER (HdK Berlin) geht auf eine Internetvorlesung zurück, die für das Open Semiotics Resource Center (Toronto) als Online-Vorlesung entwickelt wurde. Er thematisiert Abfälle und Brachflächen in ihrer semiotischen Dimension und assoziiert sie mit der zivilisatorischen Maskierung, der Verschüttung und Verdeckung kulturhistorischer Schichten, die erst durch die Interpretation von Zeichen vergangener Nutzung und Benutzung sichtbar werden. Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 184 Abb. 4b: Die Schweizerische Botschaft in Berlin (Huch für Genske & Hess-Lüttich) Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 185 Abb. 5b: Forscher im Eis (Rießbeck) Abb. 5a: Bohren unterm Eis (Tessensohn) Für F RANZ T ESSENSOHN (Hannover) ist das Forschungsobjekt die Antarktis, die heute von einem mehrere Kilometer dicken Eispanzer “verhüllt” wird. Geologen und Geophysiker haben verschiedene Methoden entwickelt, um ihr Objekt auch in dieser unwirtlichen Region so gut wie möglich zu enthüllen. Auch wenn dazu alle zur Verfügung stehenden technischen Mittel eingesetzt werden, ist es der Wissenschaftler vor Ort, einzeln und im Team, der die “Enthüllung” steuert, überwacht und selbst vornimmt. In seinem Kopf kristallisiert sich ein aus vielen Einzelinformationen zusammengesetztes Bild heraus, das so vollständig wie möglich sein soll. Und auch wenn die Antarktis zu 98% von Eis bedeckt ist, wird das Puzzle des Kontinents unter dem Eis mit jeder Geländesaison Stück für Stück weiter enthüllt. G ERHARD R IE ß BECK (Bad Windsheim) hat als Maler solch eine Forschungsfahrt ins Nordpolarmeer mitgemacht und seine Eindrücke in mehreren Bilderzyklen festgehalten. Gerade die aus klimatischen Gründen notwendige “Verhüllung” der Forscher macht diese Gestalten für den Maler zu vieldeutigen Protagonisten. Für ihn sind die Verhüllung der Landschaft mit Eis und die Vermummung der Forscher Schutzmechanismen, Schutz gegen Vereinnahmung und Manipulation, aber auch Schutz vor der “Enthüllung” - und repräsentiert damit gegenüber der Neugier des Forschers das ‘Andere’, das wieder verhüllende ‘Gegenüber’ von enthüllender Wissenschaft.