eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Neben den bekannten Formen der Kommunikation, wie sie von John Searle in den fünf Sprechakten Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv klassifiziert wurden, gibt es "kommunikative Randphänomene" wie mehr oder weniger unkooperative Kommunikation, Simulation, Manipulation, 'Herbeireden', Selbstgespräche, Lüge und Selbstbelügung. Da diese Phänomene an der Peripherie des gewöhnlich als "Kommunikation" Bezeichneten liegen, können sie von den üblichen Beschreibungsmechanismen nicht ohne weiteres erfasst werden. In dieser Arbeit werden Textstellen aus einem Theaterstück von Botho Strauß zum Anlass genommen, um kommunikative Randphänomene zu analysieren. Hierbei wird zum einen die von Emanuele Arielli entwickelte Theorie der Unkooperativität angewendet, zum anderen das von Roland Posner entwickelte semiotische Kommunikationsmodell, welches ausgehend von grundlegenden Zeichentypen die fünf Sprechakte von Searle formal erfasst. Dabei gelingt es einerseits, die Praxistauglichkeit beider Theorien in der Textanalyse zu demonstrieren, wobei einige theoretische Schwierigkeiten geklärt werden. Zum anderen kann exemplarisch die Bedeutung der kommunikativen Randphänomene für den dramatischen Schreibstil von Botho Strauß gezeigt werden. Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine Methode der Literaturwissenschaft.
2008
311-2

Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in "Die Zeit und das Zimmer" von Botho Strauß

2008
Martin Siefkes
Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in “Die Zeit und das Zimmer” von Botho Strauß Martin Siefkes Neben den bekannten Formen der Kommunikation, wie sie von John Searle in den fünf Sprechakten Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv klassifiziert wurden, gibt es “kommunikative Randphänomene” wie mehr oder weniger unkooperative Kommunikation, Simulation, Manipulation, ‘Herbeireden’, Selbstgespräche, Lüge und Selbstbelügung. Da diese Phänomene an der Peripherie des gewöhnlich als “Kommunikation” Bezeichneten liegen, können sie von den üblichen Beschreibungsmechanismen nicht ohne weiteres erfasst werden. In dieser Arbeit werden Textstellen aus einem Theaterstück von Botho Strauß zum Anlass genommen, um kommunikative Randphänomene zu analysieren. Hierbei wird zum einen die von Emanuele Arielli entwickelte Theorie der Unkooperativität angewendet, zum anderen das von Roland Posner entwickelte semiotische Kommunikationsmodell, welches ausgehend von grundlegenden Zeichentypen die fünf Sprechakte von Searle formal erfasst. Dabei gelingt es einerseits, die Praxistauglichkeit beider Theorien in der Textanalyse zu demonstrieren, wobei einige theoretische Schwierigkeiten geklärt werden. Zum anderen kann exemplarisch die Bedeutung der kommunikativen Randphänomene für den dramatischen Schreibstil von Botho Strauß gezeigt werden. Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine Methode der Literaturwissenschaft. 1. Einleitung Ein faszinierender Aspekt der Theaterstücke von Botho Strauß besteht darin, dass sie ungewöhnliche Kommunikationssituationen darstellen und in ihrer Logik durchspielen. Immer wieder stoßen sie uns auf Kommunikation, die schon fast keine mehr ist: Die Menschen reden aneinander vorbei; sie reden manchmal eher mit sich selbst als über sich selbst; sie verstehen sich falsch, und zwar oft so entschieden, dass es wie absichtlich aussieht, was aber hieße, dass sie sich sehr wohl verstanden hätten; und bisweilen sind es nicht einmal nur die Menschen, die reden … doch dazu später. Einige dieser ‘kommunikativen Randphänomene’, wie ich diese unterschiedlichen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit bezeichnen möchte, sollen in dieser Arbeit analysiert werden. Dabei beziehe ich mich auf zwei semiotische Ansätze, die die exakte Erfassung solcher Phänomene ermöglichen: Das von Prof. Roland Posner entworfene semiotische Kommunikationsmodell 1 und die von Emanuele Arielli in seiner Dissertation vorgelegte Theorie der “Unkooperativität in der Kommunikation”. 2 Die Arbeit wird versuchen, diese beiden Theorien auf ein literarisches Werk anzuwenden. Dabei sollen nicht gezielt solche K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Siefkes 92 Phänomene ausgesucht werden, auf die bestimmte theoretische Gesichtspunkte exakt zutreffen (die z.B. den Tatbestand der Unkooperativität eindeutig erfüllen); vielmehr möchte ich einige besonders auffällige und interessant erscheinende Passagen des Stückes herausgreifen und dann erproben, ob mit Hilfe der genannten Theorien Erkenntnisse zu gewinnen sind. Im folgenden sollen einzelne Gesprächssituationen aus dem 1988 veröffentlichten Stück “Die Zeit und das Zimmer” 3 untersucht werden. Die gründliche Analyse der Passagen macht eine Einordnung in eine Gesamtinterpretation des Strauß-Stückes in diesem Rahmen unmöglich. Diese Vorgehensweise erscheint auch deshalb möglich und sinnvoll, weil das Stück als ‘Collage’ angelegt ist, 4 worin die Einzelszenen als in sich geschlossene Einheiten die stärkste Wirkung entfalten, während der übergreifende Hintergrund vage bleibt. Da aber der unverkennbare Stil, der die Werke von Botho Strauß auszeichnet, viel mit den genannten Phänomenen zu tun hat, sind die hier gewonnenen Erkenntnisse auch für die Strauß-Forschung relevant. 2. Unkooperativität 2.1 Zwei auf der Suche Die folgende Textpassage aus “Die Zeit und das Zimmer” ist kennzeichnend für das, was man den ‘Kommunikationspessimismus’ von Botho Strauß nennen könnte. Er zeigt häufig eine Kommunikation, die mehr ein Kampf als ein Miteinander genannt werden muss. Diese Stelle soll exemplarisch für viele andere stehen: 5 Der Türbrummer geht. Die Ungeduldige tritt auf und durch die rechte Tür steckt Der Mann ohne Uhr seinen Kopf. a1: D IE U NGEDULDIGE : Ich wollte Sie wiedersehen. b1: D ER M ANN OHNE U HR tritt herein. Was für ein Zufall! Ich kam her, um nach etwas zu suchen, das ich verloren habe. Wie geht es Ihnen? a2: D IE U NGEDULDIGE : Gut. Ich habe sehr unruhig geschlafen. b2: D ER M ANN OHNE U HR : Ich auch. Irgend etwas war. Ich spürte, daß ich etwas verloren hatte, als ich heute früh aufwachte. a3: D IE U NGEDULDIGE : Ich glaubte, etwas gewonnen zu haben. b3: D ER M ANN OHNE U HR : Ich wachte auf und wollte auf meine Uhr sehen. Da merkte ich, daß sie nicht neben mir auf dem Nachttisch lag. […] Es ist deutlich erkennbar, dass die beiden über verschiedene Dinge sprechen. a interpretiert das Gespräch als Beziehungsdialog oder (da es wohl noch keine Beziehung gegeben hat) als Flirtsituation. b dagegen scheint sich der Tatsache nicht bewusst zu sein, dass a ganz offenbar ,etwas von ihm will’. In a1 äußert die Frau, dass sie die Absicht hatte, b wiederzusehen. Da sie ihm in diesem Augenblick bereits gegenübersteht (und die Absicht somit, als selbständiges Handlungsziel, keine Rolle mehr spielt), wird es zu einer reinen Aussage über ihre Gefühle für b. Wenn man die drei Aussagen der verschiedenen ,turns’ zusammennimmt, könnte man sagen, sie flirtet. Allerdings handelt es sich nicht um erotische oder kokette Flirtversuche, sondern um emotionale. Sie wirft sozusagen ihre Gefühle in die Waagschale und hofft, Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 93 dadurch sein Interesse zu wecken bzw. ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er Chancen bei ihr hat: f 1 : In a1 drückt sie den Wunsch aus, ihn wiederzusehen; sie gibt also einen inneren Zustand wieder (Expressiv). f 2 : In a2 berichtet sie, dass sie schlecht geschlafen habe, d.h., sie teilt ein (prinzipiell objektiv verifizierbares) vergangenes Geschehen mit (Assertiv). f 3 : In a3 drückt sie wieder einen inneren Zustand oder eine Erkenntnis (“ich glaubte”) aus (Expressiv). In a1 und a3 ist f also ein Expressiv, in a2 ein Assertiv. Im Zusammenhang gesehen ist jedoch auch in der Aussage, dass sie schlecht geschlafen habe, ein Expressiv impliziert: Sie hat schlecht geschlafen, weil sie noch an den Abend vorher denken musste. Man kann daher sagen: In a1 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs. (“Mir liegt an Ihnen.” wird ausgedrückt durch “Ich wollte Sie wiedersehen.”) In a2 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs, der wiederum mit Hilfe eines Assertivs vollzogen wird. (“Sie bedeuten mir sehr viel.” wird ausgedrückt durch “Ich war heute nacht emotional aufgewühlt, weil ich an den Abend vorher denken musste”, was wiederum ausgedrückt wird durch “Ich habe heute nacht schlecht geschlafen.”) In a3 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs. (“Ich glaube, dass wir füreinander in der Zukunft bedeutsam sein werden.” wird ausgedrückt durch “Ich hatte gestern nacht das Gefühl, etwas gewonnen zu haben.”) Alle drei Ereignisse f 1,2,3 zusammengenommen lassen beim Leser den Schluss zu, dass sie verliebt ist, der sich als einzige gemeinsame Begründung für die unterschiedlichen Ausdrucks-Inhalte “Mir liegt an Ihnen”, “Sie bedeuten mir sehr viel”, “Ich glaube, dass wir füreinander in der Zukunft bedeutsam sein werden” ergibt. So lässt sich erklären, dass der Leser bereits nach diesen drei ,turns’ schlussfolgern kann, dass a mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in b verliebt ist, obwohl dies keiner der drei ,turns’ für sich genommen rechtfertigen würde. 2.1.1 Varianten der Unkooperativität Betrachten wir nun das Verhalten von b. Drei Interpretationen dafür sind denkbar: 1) b hat die Ereignisse des vorigen Abends ,nicht mehr präsent’, weil er ganz mit der Suche nach der Uhr beschäftigt ist; 2) b hat den vorigen Abend anders interpretiert als a, die offenbar eine sich anbahnende Liebesbeziehung erlebt zu haben glaubt; 3) b will die Ereignisse des Vorabends leugnen. Welche der drei Interpretationen zutrifft, lässt sich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig feststellen, da wir keine Hinweise auf den Verlauf des Vorabends von ihm erhalten und daher die Aussagen der Frau nicht relativieren können. Klar ist jedoch: b verhält sich unkooperativ gegenüber a, indem er auf ihre Flirtversuche nicht eingeht. Die Unkooperativität liegt dabei jedoch nicht in seiner Ablehnung ihrer Martin Siefkes 94 Werbung, sondern vielmehr im Ignorieren ihres Äußerungsziels: Unkooperativität als Missachtung der Wollens-Erwartung des anderen, die dieser mit der Kommunikation verbindet. b1: Nichtbeachtung (ihres Kommunikationsziels) durch Ausbeutung (ihrer Aussage) 6 b2: Nichtbeachtung durch Ausbeutung b3: Nichtbeachtung durch Nichtbeachtung In b1 u. b2 gelingt es ihm noch, sich formal auf ihre Äußerung einzulassen, wobei er aber sorgfältig darauf achtet, die von ihr verfolgte Absicht (ein Gespräch über den vorigen Abend bzw. ihre Gefühle) zu durchkreuzen: er beutet ihre Aussage zu dem Zweck der Nichtbeachtung ihres Kommunikationsziels aus. In b3 gelingt es ihm nicht mehr, an ihre Aussage anzuknüpfen; er fährt stattdessen fort, als hätte sie gar nichts gesagt (in b2 beendet er den Bericht mit seinem Aufwachen; in b3 führt er ihn mit einer Wiederholung dieses Punktes weiter fort). Könnte man nicht auch in allen drei Fällen von Sabotierung des Kommunikationsziels sprechen? Nein; denn eine Sabotierung würde eine offene Missachtung des Kommunikationsziels bedeuten, während hier immer noch auf formaler Ebene so getan wird, als ob er dieses nicht wahrnehmen würde. 7 So könnte man sich vorstellen, dass die Frau, um ihn zur Beachtung ihrer Aussagen zu zwingen, sagen würde: a3 fiktiv : D IE U NGEDULDIGE : Mir liegt sehr viel an Ihnen! Wenn b nun weiterhin sein Ziel verfolgen wollte, sich nicht auf ein Gespräch über den vorigen Abend/ über ihre Gefühle einzulassen, müsste er zum Mittel der Sabotierung greifen und z.B. sagen: b3 fiktiv : D ER M ANN OHNE U HR : So viel, dass Sie mich jetzt in Ruhe meine Uhr suchen lassen? (Sabotierung durch Ausbeutung) oder gar: b3 fiktiv *: D ER M ANN OHNE U HR : Lassen Sie mich jetzt doch bitte meine Uhr suchen! (Sabotierung durch Nichtbeachtung) Beides wären Fälle von Sabotierung, da er ihre Aussage benutzt, um ihr Kommunikationsziel offen abzulehnen. Interessant ist, dass in beiden Fällen Unkooperativität vorliegt, sie aber sehr verschieden wahrgenommen wird. In der fiktiven Variante nimmt man die Unkooperativität von b als Grobheit wahr. Die in der Textvariante verwendete Nichtbeachtung durch Ausbeutung (b1,b2) wird man ihm dagegen wohl als formal kooperativ durchgehen lassen; bei b3 (Nichtbeachtung durch Nichtbeachtung) könnte man von ‘formaler Unaufmerksamkeit’ sprechen. (Das Wort ‘formal’ verwende ich hier für ein Phänomen der Sprachoberfläche, das zwar leicht als Strategie durchschaubar ist, aber gewissermaßen auf der Oberfläche der Kommunikation die Abwesenheit von Unkooperativität bedeutet, denn auch eine Unaufmerksamkeit ist noch keine Unkooperativität.) Ein Mittel wie die ‘Nichtbeachtung durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung’ ist schon deshalb gesellschaftlich akzeptiert, weil es möglich sein muss, den Kommunikationszielen anderer auszuweichen und auf formal kooperative Weise deutlich zu machen, dass man über eine Sache nicht sprechen will. Das Vorgehen in der fiktiven Variante (Sabotierung durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung) gilt dagegen als Grobheit (d.h., als nicht gesellschaftlich akzeptiert), Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 95 weil es offene Unkooperativität bedeutet und damit die Kooperation auch formal beendet. Dadurch wird aber die ganze Kommunikation sinnlos; tatsächlich ist das einzige Mittel, das nach einem solchen Schritt bleibt, ein Appell der anderen Seite, zur Kooperation zurückzukehren. Wird es nicht angewendet, ist das Ende der Kommunikation erreicht. Diese offene Unkooperativität wird schon deshalb von uns als grob (d.h. als gesellschaftlich nicht akzeptabel) wahrgenommen, weil sie äußerst gefährlich ist. Wie oben erläutert, macht sie ein Ende der Kommunikation fast unvermeidlich bzw. legt die Entscheidung, ob diese fortgeführt wird, ganz und gar in die Hand des Gesprächspartners. Dies aber kann in ernsthafteren Konflikten als dem vorliegenden schnell den Übergang zur Gewalt bedeuten. 2.1.2 Die Bedeutung der formalen Kooperativität Sowohl in der Textvariante als auch in der fiktiven Variante wird deutlich, dass die Ausbeutung der Aussage einen Sonderstatus besitzt: b1 und b2 sind weniger unhöflich als b3, da sie sich formal auf die Aussage der Frau einlassen. Ebenso in der fiktiven Variante: b3 fiktiv ist weniger unhöflich als b3 fiktiv *, es wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch, sich ihrem Werben zu entziehen (vor allem, wenn der Mann dabei lächelt, könnte er es als einen unvermeidlichen Akt der Unhöflichkeit markieren, zu dem er wider Willen von a durch ihre zu große Offenheit genötigt wurde). Im Falle der Textvariante dient die Ausbeutung der Aussage einer Nichtbeachtung, in der fiktiven Variante einer Sabotierung; daher scheint die Ausbeutung der Aussage unabhängig davon, wozu sie verwendet wird, weniger unhöflich zu sein als die Nichtbeachtung der Aussage. Darauf stützt sich die hier verwendete Terminologie, worin die Ausbeutung der Aussage als ‘formal kooperativ’ bezeichnet wird (sie geht formal auf die Aussage des Gesprächspartners ein, wenn sie sie auch zu eigenen Zwecken verwendet, also ausbeutet). Formale Kooperation bei tieferliegender Unkooperativität ist, wie oben erläutert, ein wichtiges Mittel zur Gesprächssteuerung; wäre sie nicht akzeptabel, müsste die Kommunikation sehr viel vorsichtiger vollzogen werden, da jede Aussage zu einer Nötigung des Gegenübers werden könnte, was die Kommunikation ständig gefährden würde (nämlich immer dann, wenn die Nötigung für den Gesprächspartner unangenehmer ist als die Beendigung der Kommunikation). Eine an diesem Punkt ansetzende Untersuchung verschiedener Kulturen würde vermutlich zu dem Schluss führen, dass die Anwendung der formalen Kooperation bei zugrundeliegender Unkooperativität verschieden häufig ist. Vor allem in bestimmten traditionellen arabischen und asiatischen Kulturen dürfte sie gängiger sein als z.B. in Deutschland, was zu dem Missverständnis gegenüber diesen Kulturen führen kann, dort würde ‘freundlich getan’ oder ‘um den heißen Brei herumgeredet’. Tatsächlich dürfte der Grund in unterschiedlicher Toleranz gegenüber offener Unkooperativität zu suchen sein; dort, wo offene Unkooperativität (z.B. ein Satz wie: “Das kommt gar nicht in Frage! ”) als sehr unhöflich empfunden wird, muss notwendigerweise die nur formale Kooperation eine größere Rolle spielen. Martin Siefkes 96 2.2 Unkooperativität als Strategie Direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle nimmt das Gespräch folgenden Verlauf: a4: D IE U NGEDULDIGE Und? Haben Sie sie wiedergefunden? b4: D ER M ANN OHNE U HR Nein. Ich bin gar nicht sicher, ob es hier war, wo ich sie verloren habe. a5: D IE U NGEDULDIGE Merkwürdig. Sie sind ganz anders zu mir als gestern abend. b5: D ER M ANN OHNE U HR Ja, gestern war ich noch sehr zurückhaltend - a6: D IE U NGEDULDIGE Aber nein! Sie waren gar nicht zurückhaltend. Im Gegenteil. Sie haben sich um mich bemüht. Sie haben mich förmlich überfallen mit Ihren Komplimenten. b6: D ER M ANN OHNE U HR Inzwischen bin ich Ihnen etwas nähergekommen und nehme mir gleich zuviel heraus, so ist es nun mal. a7: D IE U NGEDULDIGE Und mir macht es den Eindruck, als wüßten Sie gerade jetzt nichts Rechtes mit mir anzufangen. Als langweilte ich Sie. Sie tun nicht das gleiche wie gestern abend. b7: D ER M ANN OHNE U HR Ich muß Ihnen äußerst aufdringlich erscheinen. a8: D IE U NGEDULDIGE Nein, gerade nicht. Ich hatte es eigentlich erwartet. b8: D ER M ANN OHNE U HR Seltsam. Und ich hatte das Gefühl: Jetzt gehst du zu weit. Jetzt wirst du ihr lästig. a9: D IE U NGEDULDIGE Ach, Sie bleiben weit hinter gestern zurück. b9: D ER M ANN OHNE U HR Tatsächlich? Wie spät haben Sie übrigens? Deutlich ist, dass die Unkooperativität gegenüber dem ersten Teil des Gesprächs noch zugenommen hat. Der Mann ignoriert weiterhin (wie auch schon anfangs), dass sie sich über sein verändertes Verhalten gegenüber dem Vorabend wundert (a5). Sie macht zunächst sehr deutlich, dass sie sein Verhalten am Abend als ganz anders erlebt hat (a6, a7) als er es behauptet (b5). Schließlich sagt sie auch noch explizit, dass sie sein energisches Verhalten vom Vorabend als angenehm empfunden hat und es gerne weiterhin so hätte (a8, a9). Die Unkooperativität liegt wieder beim Mann: b5: Hier verhält er sich ausbeutend, da er aufgrund von a1, a2, a3 und a5 schon wissen muss, dass sie ihn am Abend vorher nicht als zurückhaltend erlebt hat. Er benutzt ihre indirekte Ausdrucksweise in a5 (“ganz anders”), um ihre Aussage in eine Richtung umzudeuten, die sie ganz offensichtlich nicht gemeint haben kann, die jedoch seiner Absicht entspricht. Er beutet ihre Aussage aus, um ihr Kommunikationsziel gezielt zu sabotieren: Sabotierung durch Ausbeutung. b6/ b7: Hier verhält er sich nichtbeachtend. Er vermeidet es gezielt, auf die Aussagen der Frau einzugehen: Sabotierung durch Nichtbeachtung. Wieso kann man hier von Sabotierung (durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung) sprechen, während wir bei den ersten drei ‘turns’ (siehe Abschnitt 2.1) von Nichtbeachtung ausgegangen sind? Im Gegensatz zu dort ist hier eine Strategie des Mannes erkennbar, die darauf zielt, Ansprüche der Frau oder auch Vorwürfe wegen seines ‘Stimmungswandels’ abzuwenden, indem er vorgibt, die Situation ganz anders erlebt zu haben. 8 Er tut einfach so, als sei er am Vorabend (noch) zurückhaltender gewesen als heute. Dass dies nicht stimmen kann, sondern vielmehr als Strategie zu werten ist, lässt sich belegen: Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 97 - b6/ b7: Würde er wirklich glauben, am Vorabend zurückhaltender als jetzt gewesen zu sein, dann dürfte man spätestens hier Nachfragen oder einen Ausdruck der Verwunderung erwarten. Stattdessen gibt er sich Mühe, ihre Aussagen möglichst zu ignorieren. - Seine Beteuerung, die Situation anders erlebt zu haben, kann nicht ehrlich sein, da sie maßlos übertrieben durchgeführt wird. Würde er einfach ableugnen, am Vorabend ‘interessiert’ gewesen zu sein, könnte es glaubwürdig sein; doch er behauptet ja, heute morgen zudringlich zu sein, obwohl er die ganze Zeit nur seine Uhr sucht und dabei die Frau loszuwerden trachtet. Dabei benutzt er mehrere Varianten der Unkooperativität: 1) kommunikativ unkooperativ a) Sabotierung durch Ausbeutung (b5) b) Sabotierung durch Nichtbeachtung (b6/ b7) 2) kommunikativ kooperativ, jedoch gesellschaftlich unkooperativ (b8/ b9): Hier zeigt er jeweils, dass er die Aussage der Frau verstanden hat, weigert sich jedoch, auf ihr Anliegen (mit ihm über den vorigen Abend zu sprechen) einzugehen. 9 Für sich genommen, sind einige Äußerungen des Mannes nicht verständlich, scheinen teilweise sogar unsinnig zu sein; seine Entschuldigungen dafür, heute morgen aufdringlich zu sein (b6 - b8), werden allzu deutlich durch die Situation widerlegt. Nur durch die Annahme einer das ganze Gespräch bestimmenden Strategie, die verschiedene Varianten der Unkooperativität für ein Kommunikationsziel benutzt, sind auch diese Äußerungen sinnvoll erklärbar. 2.3 Unkooperativität - oder nur ein Missverständnis? a1: D ER M ANN OHNE U HR Ich habe gehört: Es soll dir sehr schlechtgegangen sein. b2: M ARIE S TEUBER Du hast davon gehört? Ich kann es dir auch selbst erzählen, wenn du willst. 10 Der Mann ohne Uhr vollzieht hier eine eher konventionelle Gesprächseröffnung; er macht Marie das Angebot, über ihre Krankheit zu sprechen. Er meint mit seiner höflich formulierten Aussage wohl etwa: “Ich bin bereit, mit dir über deine schwere Krankheit zu sprechen; aber wenn du nicht ganz offen sprechen möchtest, kannst du auch einfach sagen: ‘Die Leute übertreiben, so schlimm war es gar nicht.’” (Die hier formulierte Bedeutung der Aussage des Mannes besteht aus Denotation und den wichtigsten Konnotationen der wörtlichen Aussage des Mannes, wobei von der wahrscheinlichsten Variante ausgegangen wird. Natürlich könnte es auch sein, dass der Mann ohne Uhr Hintergedanken bei seiner Aussage hat.) Marie jedenfalls geht offenbar von einer unfreundlichen Einstellung des Mannes aus: Sie interpretiert seine Aussage etwa in der Art von (a) 1) “Ich habe mich schon über dich informiert! ” oder 2) “Du kannst nicht so tun, als sei deine Krankheit harmlos gewesen.” Ihre Reaktion fällt dementsprechend aus; ihre Aussage bedeutet in etwa: (b) 1) “Du brauchst gar nicht hinter mir herzuspionieren, ich hätte es dir auch selbst erzählt.” 2) “Ich habe gar nicht die Absicht, etwas zu verschweigen; ich rede offen darüber.” Martin Siefkes 98 Aber natürlich sagt sie das so nicht, da ihre Antwort dann unsinnig wirken würde. Vielmehr wählt sie eine Art ‘Rückübersetzung’ in das Höflichkeitsniveau, das sie beim Mann annimmt, und sagt es eben ‘durch die Blume’. Trotzdem ist leicht zu erkennen, dass sie Hintergedanken beim Mann vermutet. Zu beachten ist also, dass hier eine teilweise unkooperative Kommunikation stattfindet, die jedoch auf der Oberfläche kooperativ bleibt. Rein formal geht Marie auf die Aussage des Mannes (“Ich habe von deiner Krankheit gehört.”) und, was ebenso wichtig ist, auch auf die Kommunikationsabsicht (Eröffnung eines Gesprächs über Maries Krankheit) ein. Die Unkooperativität liegt auf einem tieferen Level. Auf welche Art ist Marie unkooperativ? Sie verändert die Relevanz der Aussagen “Ich habe gehört: ” und “Es soll dir sehr schlechtgegangen sein”, indem sie die erste der beiden als die wichtigere nimmt und vor allem darauf eingeht; während dieses “Ich habe gehört” vom Mann ohne Uhr vermutlich nur als relativierende Floskel, als höfliches Betonen der Indirektheit seines Wissens über sie gemeint war. Interessant ist auch die Überlegung, ob Marie die Aussage wie oben beschrieben versteht oder nur so tut, als ob sie sie so verstünde. Im ersteren Falle könnte von einer bewussten Unkooperativität nicht die Rede sein; Marie wäre dann Opfer ihrer Überempfindlichkeit. Sie würde dann quasi eine der unter (a) beschriebenen Bedeutungen (d.h. in meinem Sinne: Denotation + Konnotationen) tatsächlich hören und völlig kooperativ (wenn auch leicht gereizt) darauf reagieren. Im letzteren Falle würde sie genau dieses simulieren; es würde sich um einen Täuschungsversuch handeln. Auch denkbar ist die noch komplexere Variante, worin sie aus purer Gereiztheit so reagiert, als hätte sie eine der Bedeutungen in (a) tatsächlich gehört, obwohl sie weiß, dass ihr Gesprächspartner dieses nicht glauben wird. Dies ist ein raffinierter gesprächstaktischer Zug, der jedoch gar nicht so selten ist. Er zwingt den Mann dazu, etwas abzuleugnen, von dem er sowieso weiß, dass keiner der beiden daran glaubt (nämlich, dass er seine Aussage wie in (a) gemeint hat). 11 Hat Marie Recht mit ihrer Interpretation der Aussage des Mannes? Das ließe sich nur aus dem Kontext klären; aus der Vorgeschichte des Mannes, dem Tonfall und Gesichtsausdruck während seiner Aussage, seinem Charakter - Informationen, die wir nicht haben. Für den Leser bleibt nur die Vermutung, dass es sich hier um die Beschreibung eines Phänomens handeln könnte, das man immer wieder bei Kranken beobachten kann: Die große Empfindlichkeit gegenüber Aussagen, die als Anspielen auf die eigene Schwäche empfunden werden. Somit wird für die Interpretation der Stelle die Wahrscheinlichkeit, dass Marie hier überempfindlich reagiert, größer zu bewerten sein als die Variante des sie absichtlich quälenden Mannes, da es hierfür keine weiteren Anhaltspunkte gibt. 3. Ist das noch Kommunikation? 3.1 Signalisier-Handlung b1: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Sie wissen nicht, wer ich bin? a1: D IE ANDEREN Nein. b2: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Sie sprechen mit einer Stimme. Das sollte mich überzeugen. Ich wüßte nicht, was ich mit ihr gemacht hätte. Ich wüßte wirklich nicht, wozu ich imstande gewesen wäre - Ektoplasma? a2: D IE ANDEREN Wie? Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 99 b3: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Ektoplasma? Sagt Ihnen nichts? a3: D IE ANDEREN Nein. b4: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Na gut. Dann wissen Sie wirklich nicht, wer ich bin. 12 Was geschieht, wenn a das Wort “Ektoplasma” in den Raum wirft? Er erwartet nicht, dass die anderen wissen, mit welchem Hintergedanken er dieses Wort ausspricht. Vielmehr geht er davon aus, dass sie darauf automatisch irgendwie auf eine erkennbare Art reagieren; die Tatsache, dass sie nichts damit anfangen können, beweist, dass sie ihn wirklich nicht kennen. Von einer Kommunikation kann hier nicht die Rede sein; nach der Klassifikation von Zeichen-Typen von Posner 13 handelt es sich vielmehr um eine Signalisier-Handlung: (1) T(b,f) I(b, E(f) T(a,r)) Die Formel drückt aus, dass das Ereignis f von b (dem Sender) verursacht wird und dass b beabsichtigt, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a (der Empfänger) wiederum die Handlung r durchführt. 14 Das Aussprechen des Wortes “Ektoplasma” ist das Signal f: (2) E(f) T(a,r) T(a,r) ist der Interpretant (d.h. die Reaktion des Empfängers a des Signals f), den b beabsichtigt. Aus b’s Worten können wir den Schluss über die Annahmen ziehen, die ihn zu diesem Handeln veranlassen: Annahme (1): Das Wort “Ektoplasma” ‘gehört’ gewissermaßen ‘zu ihm’ (es könnte sich beispielsweise um sein Forschungsgebiet handeln). Annahme (2): Wer dieses Wort hört und einmal von ihm gehört hat, der erkennt ihn wieder. Diese beiden Annahmen kann b durch seinen Test nicht auf die Probe stellen; sie sind Prämissen des Tests, den er durchführt. Was ist jedoch der Interpretant T(a,r), den er beim Empfänger a hervorrufen will? Ist es das Wiedererkennen von b? Nein, denn dies ist nur ein mögliches Ergebnis des Tests; für den Erfolg des Tests kommt es jedoch nur darauf an, dass a eine Reaktion r zeigt, aus der b ablesen kann, ob a weiß, wer er ist. Der Interpretant T(a,r) besteht also darin, dass a offenbart, ob er b kennt oder nicht. Da b die Prämissen (1) und (2) für erfüllt hält, rechnet er in b4 damit, dass er die in a1 gegebene Antwort verifiziert hat. 3.2 Simulation und Manipulation Im folgenden Textabschnitt führt der ‘Mann ohne Uhr’ mit Marie Steuber ein Gespräch über ihre zurückliegende, offenbar psychosomatische Erkrankung. 15 a1: D ER M ANN OHNE U HR Ich habe gehört: Es soll dir sehr schlechtgegangen sein. b1: M ARIE S TEUBER Du hast davon gehört? Ich kann es dir auch selbst erzählen, wenn du willst. […] Martin Siefkes 100 a2: D ER M ANN OHNE U HR Man kann es ausleben, das Übel. Mit den Jahren. So wie ein Baum eine Wunde von seinem Organismus isoliert, abschließt und doch als ein verholztes, totes Ende immer bei sich bewahrt. Er wächst darüber hinweg - und du wächst auch. b2: M ARIE S TEUBER Ich habe es zweimal versucht. Ich habe mein Bestes getan. Ich kann nicht leben. Ich werde es auch ein drittes Mal versuchen, wenn die Zeit kommt und ich noch Kraft genug habe. Das da drinnen, der Elefant, der mich zertrampeln will, wurde nur mit Betäubungsmitteln beschossen und wacht irgendwann im Zoo wieder auf. Der Mann ohne Uhr geht zu der Ungeduldigen. c1: D IE U NGEDULDIGE Sie haben sich mit Marie unterhalten? Mein Gott, ich trau mich gar nicht, mit ihr zu sprechen. Wie spricht man denn mit jemandem, der so etwas hinter sich hat? a3: D ER M ANN OHNE U HR Ich glaube, ich hatte ihr etwas zu sagen. Wahrscheinlich wird sie jetzt darüber nachdenken. Ich habe ihr einen Begriff von ihrer Krankheit gegeben, mit dem sie leben kann. Man muß vernünftige Worte wählen. Vollkommen vernünftig sein. Das strahlt positiv ab auf solch labile Menschen. c2: D IE U NGEDULDIGE Das könnte ich nie. Sie zündet sich hastig eine Zigarette an. Die überraschende Wendung der Textstelle besteht darin, dass der Mann ohne Uhr scheinbar recht plötzlich Marie stehen lässt und zu der Ungeduldigen geht. Ihr gegenüber, die ein Gespräch mit Marie für schwierig hält und es sich selbst nicht zutraut (c2), gibt er sich souverän; er erläutert ihr genau seine Methode bei solchen ‘Krankengesprächen’ (a3). Deutlich wird, dass ihm diese längere Erläuterung seines Gesprächs gegenüber c (in a3) offenbar wichtiger ist als die eigentliche Mitteilung an Marie (in a2). Das lässt sich daraus entnehmen, dass er sich auf Maries detaillierte Antwort in b2 gar nicht einlässt, obwohl sie seinen vorhergehenden Allgemeinplätzen widerspricht (sie geht nicht von einem einfachen Heilungsprozess, ein natürliches ‘Ausleben’ und ‘Auswachsen’ des ‘Übels’ aus, sondern fürchtet ein erneutes Ausbrechen der Krankheit). Stattdessen geht er zu der Ungeduldigen und lässt Marie alleine. Ginge es dem Mann ohne Uhr in a2 vordergründig um Marie, müsste er auf b2 reagieren. Sein Schweigen stellt eine Missachtung ihres Gesprächsbeitrags b2 dar und sabotiert ihr Kommunikationsziel durch Nichtbeachtung ihrer Aussage (Sabotierung durch Nichtbeachtung). 16 Für die hier vorzunehmenden Überlegungen gehe ich aufgrund dieser Hinweise im Text davon aus, dass der Mann seine ‘guten Ratschläge’ in a2 mit dem Hintergedanken gibt, dass c sie auch hört und entsprechende Rückschlüsse auf ihn selbst zieht: Er möchte ihr etwas über sich selbst (sagen wir: seine ‘psychologischen Fähigkeiten’) mitteilen. Man könnte daher zunächst vermuten: Hier wird mit Hilfe eines Assertivs, den b an a richtet, ein Expressiv von b gegenüber c durchgeführt. Doch damit wird man dem Tatbestand nur teilweise gerecht; zeigt doch die Formel des Assertivs, dass b daran glauben muss, dass seine Aussagen gegenüber a auch wirklich etwas bewirken: (3) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] 17 Erläuterung: 18 Die erste Zeile der Formel besagt (etwas verkürzt wiedergegeben), dass b f tut und die Absicht (Intention) hat, dass a aufgrund von f glaubt, dass b f mit der Absicht getan Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 101 habe, dass a die Proposition p glaube. b tut also f mit der Absicht, a zu erkennen zu geben, dass er ihn dazu bringen will, p zu glauben. Die zweite Zeile der Formel drückt aus: b glaubt, wenn f a dazu bringe zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f a dazu bringt, p zu glauben, dann werde f a auch tatsächlich dazu bringen, p zu glauben. 19 Wenn man aber annimmt, dass der eigentliche Zweck dieses Gesprächs darin besteht, dass a später vor c mit seinem psychologischen Verständnis und seiner Feinfühligkeit renommieren kann - dann können wir nicht davon ausgehen, dass dieser Glauben, wie er in der zweiten Zeile der Assertiv-Formel ausgedrückt wird, wirklich bei b existiert. Für diesen Zweck würde es völlig reichen, wenn b, wie es in der ersten Zeile ausgedrückt ist, die Absicht hat, dass f a dazu bringt zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f a dazu bringt, p zu glauben: (4) E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p))) Dies ist nicht zufällig die Gelingensbedingung (sekundäre Erfolgsbedingung) des Assertivs; sie bedeutet, dass f beim Adressaten a dazu führt, dass er versteht, dass der Sender b mit der Produktion von f eine bestimmte Primärhandlung vollzogen hat. Dies ist deshalb auch hier notwendig, weil b ja nicht möchte, dass a nachfragt (“Was meinst du? ”); er müsste dann nur noch weiter erklären, während sein eigentliches Ziel ja darin besteht, hinterher zu c zu gehen. Die folgende Formel beschreibt daher die in a2 vollzogene ‘Kommunikation’ (man könnte von einer Mischform aus einem simulierten 20 Assertiv gegenüber a mit einem Expressiv gegenüber c sprechen): (5) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] I[b, G[c, G(b, (E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))) (E(f) G(a,p)))] G(c, Z(b))] Handelt es sich um Kommunikation? In der ersten Zeile lesen wir, dass b f tut mit der Absicht, dass der Assertiv gegenüber a gelingt. In Zeile 2 steht bei der gewöhnlichen Assertiv-Formel (siehe oben unter (3)), dass b folgendes glaubt: (6) [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)] Dies ist die Kommunikationsbedingung des Assertivs. 21 Charakteristisch für Kommunikation ist, dass der Sender (beim Assertiv) die Anzeige einer Anzeige-Handlung dazu verwendet, diese Anzeige-Handlung wirklich durchzuführen. 22 Dies drückt sich in der Kommunikationsbedingung aus. Die zweite Zeile unserer variierten Formel (5) enthält die Kommunikationsbedingung des Assertivs, eingebettet in eine zusätzliche Bedingung der Art: I(b, G(c … Es ist mithin die Absicht von b, dass c glaubt, dass die Kommunikationsbedingung erfüllt wird; b’s Glaube selbst braucht dies nicht notwendigerweise zu sein. b könnte beispielsweise aus früheren Gesprächen mit a genau wissen, dass sie auf seine Argumente gar nicht hört (es ist ja auch tatsächlich zweifelhaft, ob bei einer offenbar langen und schweren psychischen Erkrankung weise Worte der Art “Man kann es ausleben, das Übel.” wirklich angebracht sind). Es ist also gut möglich, dass b selbst nicht an die Kommunikationsbedingung glaubt; er beabsichtigt jedoch, dass c glauben wird, dass er sie glaubt. Dies drückt die 2. Zeile von (5) aus. Martin Siefkes 102 Dies wiederum soll dazu führen, dass c gewisse Rückschlüsse auf b’s inneren Zustand ziehen soll (etwa, ihn für psychologisch geschickt und sensibel zu halten). Dies drückt die 3. Zeile aus; hier zeigt sich die Expressivkomponente gegenüber c. Die Kommunikationsbedingung drückt die Tatsache aus, dass das Gelingen der Kommunikation zu ihrem Erfolg führt. Reicht es aus, wenn nicht der Sender, sondern eine dritte Person die Kommunikationsbedingung glaubt (Zeile 2)? Wohl kaum; denn im eben überlegten Falle, dass a tatsächlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit b’s Worte als hohle Worthülsen ansieht und dass darüber hinaus b dies auch weiß, wäre der Glauben von c ja eine reine Illusion, die auf einer Täuschung durch b besteht. Aber findet nicht eine Kommunikation mit c statt? Nein; hier handelt es sich um eine bloße Manipulation: 23 (7) T(b,f) I(b, E(f) G(a, Z(b))) Dies ist eine Ausdrucks-Handlung, die Vorstufe eines Expressivs, der gegenüber diesem allerdings mehrere Reflexionsstufen fehlen; denn weder weiß c um die Absicht von b, noch ist es b’s Absicht, dass sie es wisse. Z(b) bezeichnet hier b’s Interesse für Marie und seinen ‘Mut’, mit ihr zu sprechen, oder, allgemeiner gesagt, seine ‘Sensibilität’ - die unter Beweis zu stellen er offenbar für nötig hält. b simuliert also eine Kommunikationshandlung mit a und manipuliert gleichzeitig c mittels einer Signalisier-Handlung. Wir könnten im Falle von dem, was die Formel (5) beschreibt, von einer ‘pervertierten Kommunikation’ oder einer ‘Pseudo-Kommunikation’ sprechen. 4. Deklaration 4.1 Die Deklaration und ihre Grenzen Die Deklaration (Handlung mittels Anzeige einer Handlung) ist die Grundform aller Kommunikation, aus dem als Spezialformen die anderen Typen von Kommunikationsakten ergeben, wie sie bereits Searle 1979 vorgeschlagen hat. 24 Zugleich ist die Deklaration selbst (d.h. eine Deklaration, die nicht zugleich ein Direktiv ist) nicht allzu häufig. Dass mittels Anzeige einer Handlung gehandelt wird, ohne dass ein reagierendes System dazwischen tritt, finden wir wohl vor allem im rechtlichen und politischen Bereich. Ähnlich wie beim Schamanen- Beispiel 25 könnte man auch in unserem Kulturkreis bei Akten, die kraft eines Amtes, eines Gesetzes o.ä. durchgeführt werden (d.h. insbesondere rechtlichen oder politischen Handlungen), von Deklarationen sprechen. Wenn jemand seine Unterschrift unter ein Dokument setzt oder einen geschäftlichen oder politischen Vertrag unterschreibt, dann ist keine Reaktion von anderen vonnöten, um diesen Akt rechtlich gültig werden zu lassen: D.h., es handelt sich nicht um einen Direktiv, der mit der Erwartung geschieht, dass jemand anderes etwas Bestimmtes tut. Kann man jedoch, wenn jemand beispielsweise sein Testament unterschreibt, von Kommunikation sprechen? Der Unterschied zum Fall des Schamanen besteht in der zeitlichen Verzögerung. Ein Testament wird unterschrieben und damit gültig, kann aber jahrelang im Tresor liegen, bevor es jemand zu sehen bekommt. Dennoch handelt es sich um eine gewöhnliche Deklaration, bei Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 103 der man beabsichtigt, dass das eigene Unterschreiben (E(f)) beim Leser des Testaments dazu führt, dass er glaubt, dass man beabsichtigte, ein gültiges Testament zu machen (E(e)) - man beabsichtigt die Gelingensbedingung der Kommunikation: (1) E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))) Gelingensbedingung 26 Ebenso glaubt man in der Regel daran, dass das Gelingen der Kommunikation dazu führt, dass man durch sein Unterschreiben (E(f)) wirklich sein Testament gemacht hat (E(e)) - man glaubt die Kommunikationsbedingung: (2) (E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))) (E(f) E(e)) Kommunikationsbedingung 27 Aus der Beabsichtigung der Gelingensbedingung beim Tun T (b,f) und dem gleichzeitigen Glauben der Kommunikationsbedingung ergibt sich die Formel der Deklaration: (3) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] 28 Erläuterung: Die erste Zeile der Formel besagt, dass b f tut und die Absicht (Intention) hat, dass a aufgrund von f glaubt, dass b f mit der Absicht getan habe, dass dieses das Eintreten des Ereignisses e bewirke. b tut also f mit der Absicht, a zu erkennen zu geben, dass er mit dem Tun von f das Ereignis e bewirken will. Die zweite Zeile der Formel drückt aus, dass b etwas Bestimmtes glaubt, nämlich die Kommunikationsbedingung der Deklaration: b glaubt, wenn f a dazu bringe zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f zum Eintreten von e führe, dann werde das Eintreten von f auch tatsächlich dazu führen, dass e eintrete. Nehmen wir an, ein alter Mensch, dessen Krankheit sich verschlimmert hat, hat seine Unterschrift so krakelig unter das Dokument gesetzt, dass er zweifelt, ob man es als seine Unterschrift anerkennen wird. Er fürchtet, dass die Tatsache, dass die anderen nicht glauben werden, dass er wirklich die Signalisier-Handlung des Unterschreibens T(b,f) I(b, E(f) E(e)) vollzogen hat, dazu führen könnte, dass seine Unterschrift nicht dazu führt, dass er sein Testament gemacht hat: E(f) -E(e) Die abgewandelte Formel für diesen Fall lautete dann: (4) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) -G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) -E(e)]] Vorstellbar ist auch, dass jemand in einem Land lebt, das - z.B. aufgrund eines Staatsstreichs - im Chaos versinkt. Die Putschisten stehen im Ruf, sich die Vermächtnisse wohlhabender Menschen selbst anzueignen, selbst wenn ein einwandfreies Testament vorliegt. Der Mann hat sein Testament unterschrieben, aber glaubt nicht daran, dass es wirksam werden wird: (5) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] -G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] Allerdings könnte der Betroffene sich damit trösten, dass er ja trotz allem ein Testament in gültiger Weise macht; damit wäre der Kommunikationsakt eben doch eine gewöhnliche Martin Siefkes 104 Deklaration. Er würde damit zwischen der rechtlichen Gültigkeit des Testaments und der tatsächlichen Ausführung unterscheiden. In diesem Fall würde E(f) E(e) eintreten; das Testament würde rechtlich gültig werden; und die Formel wäre die unter (3) dargestellte. Er hätte sein Testament korrekt gemacht, und dies hätte auch dazu geführt, dass es gültig wird (E(f) E(e)); und wenn sich einer nicht daran hält, ist das eben Rechtsbruch. Tatsächlich kann es unter bestimmten Umständen schwierig sein, festzustellen, wie ein solcher Fall genau zu bewerten ist. Um uns dies klarzumachen, verändern wir unser Szenario und stellen uns vor, es handle sich nicht um einen Putsch, sondern Gesetze seien beispielsweise durch eine Revolutionsregierung verändert worden. In der Anfangsphase der neuen Regierung herrscht in Teilen der Bevölkerung der Glaube, es handele sich schlicht um Putschisten; eine bereits durchgeführte Wahl wird von den Anhängern des alten Regimes als manipuliert dargestellt. Der Mann macht sein Testament in der alten Weise, ohne Berücksichtigung der neuen Gesetze. Möglicherweise sähen sich später die Gerichte damit konfrontiert, klären zu müssen, ob der Mann glaubte, sein Testament korrekt gemacht zu haben, wodurch es als Deklaration zu werten wäre (3) und wie ein vor dem Regierungswechsel gemachtes Testament behandelt werden müsste; oder ob er nur aus Sturheit oder politischem Ärger über die neue Regierung sich geweigert hätte, die neuen Gesetze anzuerkennen (5). Das Gericht könnte dann argumentieren, dass es sich nicht um eine Kommunikation gehandelt habe, sondern nur um die Simulation einer Kommunikation. 29 Man sieht also: die Frage, ob der Sender die Kommunikationsbedingung für erfüllt hält oder nicht, kann eine sehr konkrete Rolle spielen. In (5) glaubt der Mann nicht daran, dass die Kommunikationsbedingung erfüllt ist; man kann daher von der Simulation einer Kommunikation sprechen. Das Gericht hätte unter Umständen zu klären, ob der Mann wirklich glaubte, dass die Regierung unrechtmäßig sei; denn dann gälte wiederum eine veränderte Formel: (6) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] -[E(f) E(e)]] Der Mann hätte also sein Testament gemacht im Glauben, die anderen würden seine Absicht verstehen: E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))). Die Kommunikation wäre damit gelungen. Allerdings würde, wie die zweite Zeile es ausdrückt, das Verstehen der Absicht nicht dazu führen, dass man sie umsetzt: E(f) E(e), die primäre Erfolgsbedingung, würde nicht eintreten. Er wäre im Glauben gestorben, dass man wüsste, dass er ein korrektes Testament gemacht hätte, aber sich nicht nach seinen Anweisungen richten wird (d.h. im Glauben an die Erfolglosigkeit seiner Kommunikation). Im Gegensatz zu (5) handelt es sich jedoch eindeutig um eine Kommunikation (und nicht um eine Simulation), und das Gericht würde wohl zum Schluss kommen, dass sie entsprechend zu werten wäre. 4.2 Die Kraft der Worte Kehren wir jedoch zu unserem Strauß-Text zurück und betrachten folgende Textstelle: 30 b1: M ARIE S TEUBER halb aus dem linken Fenster blickend. Zwischen den Menschen knirscht es und hält durch sie hindurch die Große Maschine an. Da, sie purzeln vorwärts durcheinander, sie stürzen kopfüber aus ihrem geraden Lauf. Dann eiserne Stille. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 105 a1: J ULIUS Sie reden es herbei. Vorsicht! b2: M ARIE S TEUBER Manch einer rückt noch seinen Tisch vors Fenster oder seinen Schrank neben das Bett. Sie rücken noch einmal ein bißchen in ihrer Wohnung herum und tragen frische Wäsche von einem Raum in den anderen. Oder huschen geduckt unter den Spiegeln vorbei. Dann wird es ganz still. a2: J ULIUS Sie reden es herbei, Sie reden es herbei … Julius befürchtet, dass Marie durch ihre düsteren, fast apokalyptischen Visionen reales Verhängnis herbeiführt. Ein solcher Glauben an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Worte ist gar nicht so selten, wenn er sich auch gewöhnlich weniger deutlich als in dieser Textstelle artikuliert. Beispielsweise gibt es den umgangssprachlichen Ausdruck “Beschreien wir’s mal nicht! ”, der ausdrückt, dass über eine bestimmte, nicht zu wünschende Sache so wenig wie möglich geredet werden soll. In eine ähnliche Richtung geht die weit häufigere Aussage: “Reden wir lieber nicht davon.” Am deutlichsten ist die hier von Julius geäußerte Furcht in der Redewendung “Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt” ausgedrückt. Kann man hier von einer Deklaration sprechen? Man kann es dann, wenn man annimmt, dass Marie die von Julius befürchtete Wirkung tatsächlich hervorbringen möchte. Dafür spricht einiges: Während wir uns über Julius plötzliche Befürchtung in a1 wundern, lässt Marie sich gar nicht irritieren. Hielte sie seine Einwürfe für gänzlich falsch, würde sie wohl widersprechen; und auch die Überraschung, die den Leser angesichts einer solchen Deutung ihrer Worte befällt, scheint sie nicht zu teilen. Man kann also davon ausgehen, dass sie zumindest mit der Möglichkeit des ‘Herbeiredens’ spielt, wenn sie vielleicht auch nicht ganz fest daran glaubt. Ihre Redebeiträge, zusammen mit den Einwürfen von Julius, die sie ganz unbeachtet lässt, erwecken zumindest den Eindruck, als ob ihre düsteren Reden auch in der Art gemeint seien, wie Julius sie versteht. (7) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] Wenn wir Maries Redebeiträge als Deklarationen verstehen, dann stellt sich eine interessante Frage: Wer nämlich ist der Empfänger a? Handelt es sich um die Zuhörerschaft (also Julius und die anderen Personen, die sich zur der Zeit im Raum befinden) oder um eine Art ‘höheres Wesen’? Diese Frage ist recht komplex; wir wollen sie mit Hilfe des Schamanen-Beispiels zu klären versuchen. 31 4.3 Probleme der Deklaration Ein interessanter Aspekt bei der Deklaration ist, dass es unterschiedliche Meinungen dazu geben wird, wie nun eigentlich diese “Handlung durch Anzeige einer Handlung” genau funktioniert; dies wollen wir uns kurz verdeutlichen. In unseren Augen besteht E(e), die beabsichtigte Primärwirkung (‘diese beiden sind nun ein Paar’), in einer gesellschaftlichen (und auch juristischen) Realität; für den Schamanen selbst, und wohl auch seine Anhänger, ist E(e) dagegen eine metaphysische Realität, die zu leugnen blasphemisch, aber auch sinnlos wäre, weil eine solche Leugnung ja nichts am Tatbestand ändern würde. Martin Siefkes 106 Heißt das aber nicht, dass wir verschiedene Empfänger ‘a’ der Deklaration vermuten? Dann wäre a für den Schamanen ein ‘höheres Wesen’, für uns dagegen seine Anhängerschaft? Dies wäre jedoch ein Irrtum, der davon ausgehen würde, dass a für das Eintreten von E(e) verantwortlich ist; die Formel zeigt jedoch deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Das Eintreten von E(e) geschieht nicht durch eine Handlung von a, sonst hätten wir es ja mit einem Direktiv mit der Erfolgsbedingung E(f) T(a,r) zu tun. Dennoch hängt die Deklaration von a ab; die Gelingensbedingung E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))) sagt aus, dass die Deklaration nur dann gelingt, wenn a glaubt, dass b f mit der Absicht tut, dass f dazu führt, dass die beiden ein Paar werden. Sobald dies gegeben ist, tritt E(e) ein. Der Empfänger der Deklaration a ist also in jedem Fall die Anhängerschaft des Schamanen. Trotzdem besteht Raum für die unterschiedlichen Interpretationen, die ein ‘westlicher’ Beobachter und der Schamane selbst von dem Vorgang haben. Der Unterschied liegt in der Interpretation von E(e). Für den Schamanen selbst, und auch für seine Anhänger, ist E(e), der Tatbestand der Vermählung, eine metaphysische Realität. Zugleich ist jedoch auch die Tatsache wichtig, dass die Menschen von der Absicht des Schamanen, die Vermählung vorzunehmen, Kenntnis haben, wie es die Gelingensbedingung ausdrückt. Ist diese erfüllt, d.h. haben die Anhänger des Schamanen verstanden, dass der Schamane die Vermählung E(e) beabsichtigt, hängt es nicht mehr von ihnen ab, ob diese vollzogen wird oder nicht: E(f) E(e) Das entspricht wohl durchaus der Auffassung dieser Menschen, die sicherlich nicht glauben würden, dass die Vermählung selbst nur in ihren Köpfen stattfindet. Für einen ‘westlichen’ Zuschauer dagegen bedeutet dieses Vermählt-Sein die Tatsache, dass alle Anhänger an die erfolgreiche Vermählung glauben; es handelt sich um eine gesellschaftliche Realität. Wenn man trotzdem von einer Deklaration sprechen möchte, muss man E(e) daher als “gesellschaftliche Realität” einer Vermählung definieren. Es ist jedoch schwer einzusehen, warum es sich dann nicht um einen Assertiv handelt; schließlich würde für einen westlichen Beobachter der Erfolg der Vermählung davon abhängen, ob die Anhänger diese anerkennen: E(f) G(a,p) Eine erfolgreiche Vermählung jenseits ihrer Anerkennung, d.h. die metaphysische Realität des Geschehens, könnte er wohl nicht erkennen, und es ist daher nicht einzusehen, wie er die logische Notwendigkeit von E(f) E(e) begründen sollte: Denn diese suggeriert ja eine unabhängig vom Empfänger a eintretende Primärwirkung E(e), die jedoch (die Gelingensbedingung zeigt es! ) davon abhängt, dass a die Absicht verstanden hat, die sich mit E(f) verbindet! Dieser Tatbestand ist im Verständnis des Schamanen dadurch erklärt, dass eine solche Vermählung öffentlich, vor den Menschen stattfinden muss (die Menschen müssen sie verstehen), aber dennoch letztlich nicht von ihnen abhängt. Wie ein rationalistisch eingestellter Beobachter diesen Widerspruch auflösen soll, ohne von einem Assertiv auszugehen, wobei die Tatsache der Vermählung eben doch von der Anerkenntnis derselben durch die Anhängerschaft abhängt, ist dagegen nicht klar. An dieser Stelle wirft die Deklaration also noch Fragen auf. 4.4 Die Rolle der Zuhörer Wie sich gezeigt hat, hat die Problematik der beabsichtigten Primärwirkung E(e) in Relation zum Empfänger a zu einem grundsätzlichen Problem der Deklaration geführt. Doch zurück zu unserer Textstelle: Zunächst ist deutlich geworden, dass a auf keinen Fall ein ‘höheres Wesen’ sein kann; sonst handelte es sich um einen Direktiv. a sind also auch im Falle von Maries unheimlichen Aussagen die Zuhörer, die sich grade im Zimmer befinden. Doch wie wir gesehen haben, geht es ganz ohne die Annahme eines (von Marie geglaubten) meta- Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 107 physischen Wirkungszusammenhangs auch nicht, sonst hätten wir es mit einem Assertiv zu tun, bei dem Marie gedenkt, den anderen Angst zu machen, d.h., sie an unheimliche Vorgänge vor den Fenstern glauben zu lassen. Wenn wir hier also eine Deklaration annehmen, dann müssen wir davon ausgehen, dass Marie einerseits die Anwesenheit der Personen und ihr Verständnis, dass sie etwas ‘herbeireden’ will, für entscheidend hält, andererseits jedoch das Eintreten der beabsichtigten Primärwirkung von ihnen unabhängig sieht: E(f) E(e) Das heißt also, sie muss davon ausgehen, dass ein ‘höheres Wesen’ oder eine Kraft irgendeiner Art den simplen Kausalprozess E(f) E(e) dann und nur dann durchführt, wenn a verstanden hat, dass b beabsichtigt, ihn durchzuführen. Diese Bedingungen sind so widersprüchlich, dass sie eine Deklaration zunächst unwahrscheinlich machen; allerdings nur, bis man sich klarmacht, dass es sich um ein allgemeines Problem der Deklaration handelt. Machen wir uns das Problem noch einmal klar: Genau wie auch beim Schamanen-Beispiel erscheint es denkbar, dass eine Wirkung unabhängig von den Zuhörern (bzw. Zuschauern) beabsichtigt ist. Man könnte vermuten, dass der Schamane sein schlichtes Hochzeitsritual unabhängig von Zuschauern und selbst von dem Bewusstsein der Getrauten selbst für gültig hält; dieser Fall scheidet jedoch aus, weil es sich dann um gar keine Kommunikation handeln würde. Man könnte auch vermuten, dass der eigentliche Empfänger a des Rituals für den Schamanen gar nicht die Zuschauer sind, sondern ein ‘höheres Wesen’; doch auch dieser Fall ist hier nicht relevant, da es sich um einen Direktiv handeln würde. Dies macht die seltsame Konstruktion nötig, die wir auch im Fall der besprochenen Textstelle ansetzen mussten. 5. Kommunikation als Merkmal 5.1 Zwei Ausgestoßene begegnen sich Die Szene, aus der nun zitiert werden soll, gehört sicherlich zu den Höhepunkten des Stücks; zeigt sie doch, wie Strauß dazu in der Lage ist, kleine, eigengesetzliche Gedankenspiele (oder sollte man sagen: Welten? Paradigmen? ) auf engstem Raum zu schaffen, deren Regeln und Konsequenzen dann ausgelotet und durchgespielt werden; zugleich gelingt es ihm, umwerfend komisch zu sein. 32 Marie Steuber lehnt an der Säule und blickt zum Fenster hinaus. a1: M ARIE S TEUBER Ich wohne inmitten der Stadt und mitten im tosenden Verkehr umgeben mich die großen stillen Räume, in denen niemand zuhaus ist. Nicht einmal mein Brot, mein Tisch, mein Radio, meine Zuckerdose. Wir alle sind hier lediglich vergessen worden. Stehen- und liegengelassen. Nicht aufgeräumt. Hals über Kopf Vermachtes, das sind wir, mein Zeug und ich. Ich wohne: Ich teile die unendliche Passivität meines Tischs. Meiner Zuckerdose, meines Radios. Ich höre, ich weile. b1: D IE S ÄULE Jahr um Jahr tiefer und tiefer. Um soviel wie die Glücklichen wachsen. a2: M ARIE S TEUBER Du redest? Wie kannst du reden? b2: D IE S ÄULE Alles spricht. So auch ich. a3: M ARIE S TEUBER Sprich nicht! b3: D IE S ÄULE Wenn man so lange schwieg, findet man nicht gleich die passenden Worte. a4: M ARIE S TEUBER Keine passenden - gar keine Worte! Sprich nicht! Du bist meine Zuflucht. Deine Stille suche ich. Du bist das Ding, an dem ich lehne, wenn mich alle Kräfte verlassen haben. Vertreib mich nicht mit Sprecherei! Martin Siefkes 108 b4: D IE S ÄULE Zu spät … a5: M ARIE S TEUBER Du hast die Jahre nur geschwiegen? Du schwiegst? b5: D IE S ÄULE Ja. a6: M ARIE S TEUBER Du hättest immer eine Antwort gehabt - und schwiegst? So war alles nur Schweigen und niemals Dingruhe - letzte Stille? b6: D IE S ÄULE Ich die Säule der Pfahl. Männlich weiblich. Schmerzlich. Ich habe es versucht. Ich fand den Ton. Ich war in den Worten. Es war die Hölle. a7: M ARIE S TEUBER Viel Unglück weißt du von mir. Aber jetzt ist ein Unheil geschehen. b7: D IE S ÄULE Verzeih mir, Mensch. Ich bin aus dem Herzen der Dinge verstoßen. a8: M ARIE S TEUBER Jahr um Jahr tiefer um tiefer, um soviel wie die Glücklichen wachsen. Marie empfindet sich inmitten des geschäftigen Treibens und des endlosen Beziehungsgeflechts einer Großstadt als vereinsamt (a1), was sich im Zusammenhang des Stückes aus ihrer Krankheit mit einem längeren Klinikoder, wahrscheinlicher, Psychiatrieaufenthalt erklärt. 33 Doch aus a5 ergibt sich, dass Marie offenbar auch schon jahrelang zuvor das Bedürfnis hatte, sich aus der menschlichen Gemeinschaft zurückzuziehen (a4) und jemandem ihr Unglück zu klagen (a7). Warum aber spricht die Säule - was doch recht ungewöhnlich ist? Offenbar hat sie dieselben Gründe, die Kommunikation mit dem Menschen zu suchen, die auch Marie zum Reden mit einem “Ding” (a4) bewogen haben: Sie ist “aus dem Herzen der Dinge verstoßen” (b7). Der Schmerz (b6), der sich später als der Schmerz des Ausgestoßenseins erklärt, macht Reden zu einer Notwendigkeit. Die Säule hat mit der Kommunikation eine Asymmetrie aufgehoben. Während zuvor nur Marie ihr Leid klagte und die Säule, wider alles Erwarten, offenbar tatsächlich zuhörte (dass sie auch zuvor schon hören konnte, was Marie sagt, bestätigt sie indirekt in b5), ist jetzt durch die Aufnahme einer Kommunikation eine Symmetrie hergestellt; jeder der beiden hat die Möglichkeit, von sich zu erzählen und sein eigenes Schicksal mit einem Gegenüber zu teilen (a1, a4; b6, b7). Dabei stellt sich jedoch eine neue Asymmetrie in einem anderen Bereich her; um sie zu verstehen, müssen wir die Motivationen beider Gesprächspartner genauer betrachten. 5.2 Was Säulen wünschen … Zwar besteht für jeden der beiden, die aus ihrem jeweiligen Bereich verstoßen sind, 34 der Trost darin, sich an den anderen zu wenden. Dabei ist jedoch für Marie wichtig, dass sie nicht kommuniziert (a3; a4), für die Säule dagegen scheint es zu einem Bedürfnis geworden zu sein, sich auszudrücken. Beide tun also das Gegenteil von dem, was sie in ihrem Bereich gewöhnlich zu tun haben: Marie möchte nicht kommunizieren, sondern ihr Leid klagen und dabei nur “Dingruhe” als Antwort empfangen. Sie möchte sich ausdrücken, ohne dass jemand von ihrem Unglück erfährt (a4), sie will keine Antwort. Für die Säule jedoch, so können wir schließen, ist durch das lange Zuhören das Reden als Mittel der Erleichterung verständlich geworden; sie hat einen Weg gefunden, zu sprechen, obwohl es ihr sehr schwer gefallen ist (b6). Die Säule also möchte kommunizieren, wenn sie Marie trifft; ist es doch das, was sie im Reich der Dinge nicht tun kann. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 109 Weder die Säule noch Marie zeigt ein besonderes Interesse an der Welt des anderen; Marie erkundigt sich nicht nach dem Leben der Säule im “Herzen der Dinge” (b7) und dem Grund für ihr Ausgestoßen-Sein von dort; und auch die Säule fragt nicht weiter nach Maries Lage, wie sie diese in a1 beschreibt. Es geht beiden beim Kontakt mit dem jeweils anderen (dem “Mensch” (b7); dem “Ding” (a4)) offensichtlich nur um die veränderte Kommunikationssituation: Für die Säule ist es ihr erstes Gespräch; für Marie ein Ausruhen von dem ewigen, sinnlosen Reden voller Missverständnisse, wie es exemplarisch wieder in der direkt folgenden Szene 35 deutlich wird. So hat die Säule die Asymmetrie des Sprechens und Zuhörens zugunsten einer ausgewogenen Kommunikation verändert. Dabei hat sie jedoch eine neue Asymmetrie hergestellt: Maries Wollens-Erwartung wird ja gerade durch eine Kommunikation nicht mehr erfüllt, da sie die “Dingruhe” der Säule, einen Ansprechpartner, der nicht antwortet, gesucht hat; die Wollens-Erwartung der Säule dagegen besteht in einem Gespräch. Beide möchten, als Linderung ihres Ausgestoßen-Seins aus der jeweils eigenen Welt der Menschen (a1) bzw. der Dinge (b7), die Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation, die das Reich des anderen charakterisiert. Deshalb können sie nicht ‘zusammenkommen’, deshalb ist hier kein erfolgreicher Austausch möglich. Trotz ihrer offensichtlichen Komik 36 hat die Situation daher auch etwas Tragisches. Beide möchten ja gerade Urlaub von ihrem ‘Mensch-Sein’ (mit ständiger “Sprecherei”; a4) bzw. ‘Ding-Sein’ (wo der Versuch, zu sprechen, offenbar “die Hölle” ist; b6). Wenn die beiden sich nicht ausgerechnet den Aspekt der Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation als das ausgesucht hätten, was sie an der Menschenbzw. Dingwelt am meisten interessiert, dann wäre ein erfolgreicher Austausch (kommunikativ) bzw. ein erfolgreiches Beisammensein (nicht-kommunikativ) vielleicht möglich. So jedoch ist das Scheitern unvermeidlich. Es handelt sich bei dieser kurzen Szene um eine Abwandlung der Fabel; wenn dort (wider alle Erfahrung) die Tiere sprechen können, ist es hier ein Ding. Und wie bei der Fabel lässt sich auch hier eine Moral ablesen. Wenn Marie das altertümlich-schwergewichtige Wort “Unheil” gebraucht, dann könnte man das so verstehen: Es gibt Schwellen, die nicht überschritten werden dürfen; und die Schwelle zwischen einer Welt der Nicht-Kommunikation und der Kommunikation gehört dazu. Tut man es doch, dann ist die mindeste Konsequenz die, dass die vorige Gemeinschaft der Säule mit Marie, in der jeder seiner Welt angehörte (Marie sprach; die Säule schwieg), unwiederbringlich zerstört ist. Denn wie soll Marie, die doch die Einsamkeit sucht, noch ihr Leid klagen können; war doch gerade die Voraussetzung dafür die “Dingruhe” (a6) der Säule? In diesem Sinne meint sie es wohl, wenn sie von “Unheil” spricht (a7); und auch die Säule sagt “zu spät” (b4). Wenn die Säule auch wieder schweigen würde; das Wissen darum, dass sie hören und reden kann, kann nicht mehr ausgelöscht werden. 5.3 Selbstgespräche: ein ‘Randphänomen’ Schließen wir die Analyse dieser unkonventionellen Stelle mit einer kurzen formelbezogenen Überlegung ab. Es sei t 2 der Zeitpunkt, an dem die Säule überraschend zu sprechen beginnt; weiterhin sei f 1 das Sprechen von Marie in der Nähe der Säule zu einem Zeitpunkt t 1 vor t 2 , und f 3 das Sprechen von Marie mit der Säule zu einem Zeitpunkt t 3 nach t 2 : (1) T (b,f 1 ) -I[b, E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] -G[b, [E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] [E(f 1 ) G(a,p)]] Martin Siefkes 110 (2) T (b,f 3 ) I[b, E(f 3 ) G(a, T(b,f 3 ) I(b, E(f 3 ) T(a,r)))] G[b, [E(f 3 ) G(a, T(b,f 3 ) I(b, E(f 3 ) G(a,r)))] [E(f 3 ) T(a,r)]] Zu (1): Da Marie, wenn a1 als exemplarisch angenommen wird, Tatsachen über ihr Leben berichtet, kann man für f 1 die Formel des Assertivs zugrundelegen; dort, wo sie über sich spricht (“Ich höre, ich weile.” (a1)), können wir die Formel des Expressivs zugrundelegen, worin der Primärprozess ein Ausdruck ist: E(f 1 ) G(a,Z(b)) Führt Marie eine Handlung durch? Betrachten wir die Formel für die Handlung: T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) E(e)) Mit ihrem Sprechen ohne Zuhörer verfolgt Marie wohl kaum die Absicht, dass ein Ereignis E(e) eintritt. Zwar möchte sie sich wahrscheinlich ‘das Herz erleichtern’; doch dies betrifft keinen bestimmten äußeren Kausalprozess, wie er durch E(f) E(e) beschrieben wird. Von einer Handlung kann daher nicht gesprochen werden. Vor allem aber glaubt sie nicht, zu kommunizieren. Die Kommunikationsbedingung des Assertivs ist: [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p))] [E(f) G(a,p)] Marie glaubt zum Zeitpunkt t 1 nicht, dass sie erfüllt ist: -G[b, [E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] [E(f 1 ) G(a,p)]] Zu (2): Hier als Beispiel den (zum Zeitpunkt t 1 noch nicht möglichen) Fall eines Direktivs, worin der Primärprozess ein Signal ist: E(f 3 ) T(a,r) Was tut Marie zum Zeitpunkt t 1 ? Kommuniziert sie? Sicherlich nicht. Simuliert sie eine Kommunikation? Auch das nicht, denn auch dafür ist ein Gegenüber erforderlich. 37 Tatsächlich findet auch unsere Umgangssprache keinen präzisen Ausdruck dafür, wenn Menschen ohne ein Gegenüber sprechen; wenn sie (durchaus ein literarisches Topos) den Sternen, den Bäumen oder, wie in Schuberts ‘Schöner Müllerin’, dem Bach ihr Leid klagen; oder wenn sie einfach nur mit sich selbst sprechen. Mit Abwandlungen wie unter (1) der von Posner vorgeschlagenen Formeln für die Sprechakte lässt sich ein solcher Sachbestand jedoch präzise wiedergeben. Es scheint durchaus möglich, dass dies auch für manch andere nichtkommunikative, aber kommunikationsverwandte Verhaltensweisen von Menschen gelingt. 6. Lügen und andere Unstimmigkeiten 6.1 “Belüg mich doch bitte! ” In der letzten Textstelle hatten wir es mit einer explizit fiktiven Situation zu tun. Doch auch im Bereich realen menschlichen Verhaltens gelingt es Botho Strauß immer wieder, ungewöhnliche Kommunikations-Situationen auf exemplarische Weise einzufangen. Sein Stilmittel ist dabei meistens eine Übertreibung und Zuspitzung des beobachteten Phänomens, über dessen Realitätsnähe man sich jedoch dadurch nicht täuschen lassen sollte. So auch im folgenden Falle: 38 Im Nebenzimmer läutet das Telefon. […] a1: O LAF Wer war es? b1: J ULIUS Ansgar. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 111 a2: O LAF Und? Hat er mich grüßen lassen? b2: J ULIUS Hat er vergessen. a3: O LAF Hm. Hat mich nicht einmal grüßen lassen. Bin ich also Luft für ihn. b3: J ULIUS Nun mußt du nicht gleich wieder trübsinnig werden. a4: O LAF Warum hat er nicht ein einziges Wörtchen für mich übrig? Er weiß doch, wie sehr ich mich freue über einen kleinen Gruß, ganz nebenbei. b4: J ULIUS Er hat dich so oft grüßen lassen, und es war dir piepegal. […] a5: O LAF […] Im übrigen hättest du mich vor dieser neuerlichen Belastung bewahren können, indem du mir nämlich nichtsdestotrotz seine Grüße ausgerichtet hättest, obwohl er dir nun einmal keine aufgetragen hatte. Nur um des lieben Friedens willen, verstehst du? Es wäre eine Frage des Feingefühls gewesen. Eine Geste. b5: J ULIUS So etwas tue ich nie. a6: O LAF Das ist eben deine Art Aufrichtigkeit, die keine Rücksicht auf den Mitmenschen nimmt. Du nimmst es lieber in Kauf, dass ich eine Stimmungsniederlage erleide, anstatt mir mit einer kleinen Gefälligkeitslüge darüber hinwegzuhelfen. b6: J ULIUS Jetzt hast du es mit deinem Herumbohren in der Wunde immerhin soweit gebracht, dass, falls er wieder anruft und dir wirklich Grüße ausrichten läßt, und ich sag’s dir dann, du sowieso nicht daran glaubst und mir erklärst, ich kenn dich doch, in deinem abgrundtiefen Mißtrauen, es handle sich wohl nur um eine Gefälligkeitslüge meinerseits […] Olaf (a) verlangt in (a5) von Julius (b), ihn in bestimmten Situationen zu belügen. In diesem Fall hätte er gerne auf seine Frage in a2, ob der Anrufer ihm habe Grüße ausrichten lassen, eine bejahende Antwort gehabt. a erwartet also einen Assertiv von b, dessen Aufrichtigkeitsbedingung G(b,p) nicht erfüllt ist: -G(b,p) Einen solchen Assertiv mit nicht erfüllter Aufrichtigkeitsbedingung nennt man sinnvoller Weise Lüge. 39 a will also, dass b ihn belügt. Wie lässt sich der Sachverhalt einer Lüge formelbezogen darstellen? Zunächst noch einmal die Formel des Assertivs: (1) T (b, f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] b belügt a: (2) T (b, f) -G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] Martin Siefkes 112 Doch die Sache verhält sich ja komplizierter: A verlangt von b, ihn zu belügen. Um zu komplizierte Formeln zu vermeiden, soll der Expressiv von a, der den Wunsch, belogen zu werden, ausdrückt, mit S (a, r) ausgedrückt werden. In diese Formel können wir (2) einsetzen: (3a) S (a, r) I (a, r (Formel 2)) Setzen wir (Formel 2) ein, erhalten wir: (3b) S (a, r) I[a, r [T (b, f) -G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]]]] Lässt sich b darauf ein, dann folgt jedoch aus dieser Formel, dass a weiß, dass b ihn belügen wird: (4a) G(a, (Formel 2)) Setzen wir (Formel 2) ein, erhalten wir: (4b) G[a, [T (b, f) G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]]]] Aus dieser Formel ergibt sich jedoch, dass die Kommunikation nicht erfolgreich sein kann. Wenn nämlich a erkennt, dass b gar nicht p glaubt, sondern eine Lüge beabsichtigt, wird die Erfolgsbedingung E(f) G(a,p) nicht erfüllt werden: -(E(f) G(a,p)) (5) G(a, (Formel 2)) -(E(f) G(a,p)) Es ist zu beachten, dass dies nichts über a’s Glauben bezüglich p aussagt. Es könnte sein, dass er p sogar für wahr hält: G(a,p), aber trotzdem davon überzeugt ist, dass b ihn belügen will. Möglich ist auch, dass a nicht weiß, ob p nun wahr ist oder nicht: -G(a,p) -G(a, -p) Entscheidend ist hier nur, dass der Assertiv mit nicht erfüllter Aufrichtigkeitsbedingung (d.h., die Lüge) nicht erfolgreich sein kann, wie in (5) ausgedrückt. Wie gesagt, folgt (5) aus (4), und (4) aus (3). Kombinieren wir jedoch (5) mit (3), erhalten wir einen Widerspruch: (6) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p)) Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 113 Der erste Teil der Formel (Zeile 1-2) drückt aus, dass a von b erwartet, ihn zu belügen, wobei zu einer solchen Lüge notwendig auch der Glaube an ihre Erfolgsaussicht gehört (Zeile 3). Zugleich ergibt sich aus Zeile 6 bereits die Erfolglosigkeit der Lüge. 6.2 Selbstbelügung Wie kann man den Widerspruch lösen? Die Konsequenz, dass sich aus dem Glauben an eine Lüge beim zu Belügenden deren Erfolglosigkeit ergibt, ist eine zwingende logische Notwendigkeit; daher müsste man a Unfähigkeit zum logischen Denken unterstellen, wenn er nicht daran glaubte, wie es die folgende Formel ausdrückt: (7) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) -G(a, G(a, (Formel 2)) -(E(f) G(a,p))) Zeile 3 drückt jetzt aus, dass a nicht daran glaubt, dass sein eigener Glaube an die Lüge die einzig logische Konsequenz hat, nämlich die Lüge erfolglos zu machen. Wahrscheinlicher, als dass a gleich das logische Denken über Bord wirft, wie in (7) ausgedrückt, ist jedoch, dass er beabsichtigt, wieder zu vergessen, dass b ihn belügen wird. Er denkt vielleicht: Meine Forderung nach einer kleinen “Gefälligkeitslüge” (a6) dann und wann bezieht sich ja auf die Zukunft; und ich werde ja niemals sicher wissen, ob b nun gerade zur Gefälligkeitslüge greift oder nicht. Im Einzelfall werde ich gar nicht davon ausgehen können, dass ich belogen werde. (8) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) G(a, -G(a, (Formel 2)) -G(a, -(Formel 2))) Wie wir in Zeile 3 im Vergleich mit der Formel (6) sehen, kann die Lüge so immer noch nicht erfolgreich sein, da ja a trotz allem jederzeit damit rechnen muss, belogen zu werden. Um G(a,p) zu ermöglichen, muss er schon explizit die Absicht haben, nicht an eine Lüge zu glauben, und sich im speziellen Fall einreden, dass ihn jetzt gerade der andere nicht belügt: (9) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) I(a, -G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p))) Nun bedeuten Zeile 1-2, dass a b dazu auffordert, ihn zu belügen; und Zeile 3 gibt die Absicht von b wieder, später nicht daran zu glauben, so dass die Lüge erfolgreich sein wird. Das klingt merkwürdig genug; dennoch wissen wir, dass Situationen wie die in der Textstelle beschriebene gar nicht so unrealistisch sind, wie man denken sollte (hätte der Autor nicht so einen marginalen Anlass für a’s Wunsch gewählt, würde die Stelle noch realistischer wirken). Martin Siefkes 114 Den in (9) in Zeile 3 ausgedrückten Sachverhalt kann man als “Selbstbelügung” bezeichnen. Es handelt sich um einen Spezialfall von Selbsttäuschung. Als distinktives Merkmal für die “Selbstbelügung” ist die folgende Struktur anzusehen: (10) I(a, -G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p))) Dabei drückt (Formel 2) den Sachverhalt einer Lüge gegenüber a aus. Charakteristisch für die Selbstbelügung ist damit die Absicht, nicht daran zu glauben, dass man belogen wird, sondern stattdessen, soweit irgend möglich, den minimalen Propositionsgehalt p zu glauben. Da aber Glauben nicht ausschließlich vom Willen abhängt, 40 ist eine Selbstbelügung nur dann möglich, wenn man nicht explizit weiß, dass man belogen wird; diese Bedingung ist jedoch in diesem Fall gegeben, wie es sich in (8) ausdrückt. 6.3 Streit um den Kooperationsbegriff Jetzt erkennen wir, warum die Forderung von a an b, ihn zu belügen, beim Leser Schmunzeln hervorruft. Denn was man intuitiv sofort erkennt - dass nämlich a auf seine Autosuggestionskraft (9), Vertrauensseligkeit oder sogar, wie in Formel (7) dargestellt, Unfähigkeit zum Ziehen logischer Schlüsse angewiesen ist, um die Forderung an b überhaupt stellen zu können -, lässt sich nun im Detail nachvollziehen. a kann natürlich, bezogen auf den vorliegenden Fall, nichts mehr erreichen. Er benutzt jedoch die Gelegenheit, um b zum Vorwurf zu machen, seine Wollens-Erwartung (nämlich, in dieser Frage belogen zu werden) nicht erfüllt zu haben. Damit wirft er b vor, unkooperativ gewesen zu sein. Diesem Vorwurf liegen verschiedene Vorstellungen davon zugrunde, wie weit Kooperation zu gehen hat. b geht davon aus, dass a seine Wollens-Erwartung auch dann erfüllen muss, wenn diese eine Lüge enthält. Wir können vermuten, dass a nicht absichtlich unkooperativ gewesen ist; er dachte vielmehr, dass Kooperation nicht so weit geht, wie b sie definiert. Auch er ging davon aus, dass Kooperation die Erfüllung der Wollens-Erwartung des anderen bedeutet; doch er setzte die Grenze dahingehend, dass eine Lüge zur Erfüllung dieser Wollens-Erwartung nicht nötig ist, um kooperativ zu bleiben. Für den umstrittenen Sachverhalt, nämlich eine zum Zwecke der Erfüllung der Wollens- Erwartung des anderen vorgenommene Lüge, erfindet a den Begriff der “kleinen Gefälligkeitslüge” (a6); er hätte auch “kleine Kooperationslüge” dazu sagen können. (Klein bezieht sich ganz offenbar darauf, dass es sich um unwichtige Dinge wie einen Gruß handelt, der aufgetragen oder nicht aufgetragen wurde; in entscheidenden Punkten, bei denen eine Lüge erhebliche Konsequenzen haben könnte, erwartet b scheinbar keine Lüge. Auch für ihn haben die Anforderungen an die Kooperation ihre Grenzen, jedoch zieht er sie anders als a.) b sagt deutlich, dass er niemals zu einer Lüge greifen würde (“So etwas tue ich nie.” (b5)). Die Grundsätzlichkeit dieser Aussage lässt den Rückschluss zu, dass er die Lüge nicht in den Bereich der Kooperationsverpflichtungen rückt, denn dies wäre ein Argument für die Möglichkeit der Lüge. Zwar wäre es trotzdem denkbar, dass b sie prinzipiell ablehnt, er würde dann aber wohl etwas sagen wie: ‘Ich lüge grundsätzlich nicht, lieber stoße ich mein Gegenüber vor den Kopf/ lieber bin ich unkooperativ.’ Wir können daher schließen, dass b sich nicht für unkooperativ hält. a hingegen erwartet geradezu die Lüge; er macht b für seine “Stimmungsniederlage” verantwortlich (a6). Er scheint die “Gefälligkeitslüge” für ein Gebot der Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 115 Kooperation zu halten. Beide streiten sich also eigentlich über die Extension der kommunikativen Kooperation. 7. Fazit Als “kommunikative Randphänomene” habe ich zu Beginn dieser Untersuchung jene Stellen bezeichnet, mit denen ich mich auseinandersetzen wollte. Wie sich gezeigt hat, lassen sich einige dieser Situationen mit Unkooperativität erklären, auf die anderen lassen sich die Formeln des semiotischen Kommunikationsmodells in jeweils abgewandelter Form anwenden. Die vorgenommenen Abwandlungen sind in der Lage, einige jener Merkwürdigkeiten zu erklären, die in der menschlichen Kommunikation immer wieder auftreten, ja möglicherweise in ihrem vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Wesen schon angelegt sind. Interessant ist die Frage nach der Häufigkeit solcher Phänomene, wie sie uns Botho Strauß so wunderbar zugespitzt präsentiert. Jene kommunikationsnahen Formen, bei denen die Standardformeln für die Sprechakte Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv in veränderter Form angewandt werden müssen, sind möglicherweise alltäglicher als man vermuten könnte. Nur ein Beispiel zeigt dies: Eine Situation, in der ein Mensch (a) ‘laut denkt’ (sagen wir, er spricht über seine Gefühle), aber durchaus den Hintergedanken hat, dass ein anderer (b) daraus seine Schlüsse zieht, lässt sich mit der Standardformel des Expressivs eindeutig nicht korrekt wiedergeben. Schließlich beabsichtigt a gerade nicht, dass b erkennt, dass er ihm etwas mitteilen will; er möchte es vielmehr offen lassen. Ähnliches gilt für Eltern, die wissen, dass ihr Kind an der Tür horcht, und ihr Gespräch darauf einstellen. Insbesondere konnte eine Ausdrucksform für die Lüge sowie eine differenzierte Beleuchtung des Phänomens der “Selbstbelügung” gefunden werden. Ein innerer Widerspruch bei der Deklaration scheint auf ein tieferliegendes Problem dieses Sprechakts und seiner Definition hinzuweisen. Es bleibt zu hoffen, dass die zugleich poetische und treffsichere Phantasie und die realistische Eleganz von Botho Strauß bei der formelreichen analytischen Annäherung nicht auf der Strecke geblieben sind. Zwar kann die Analyse mit Hilfe der semiotischen Kommunikationstheorie, wie sie hier exemplarisch gezeigt wurde, nur spezifische Dialogphänomene erfassen; in diesem Bereich erbringt sie jedoch lohnende Ergebnisse, da sie die genaue Struktur und Funktionsweise der getätigten Kommunikation offen legt. Bei einem Autor wie Botho Strauß, für dessen Stücke Unkooperativität und andere “kommunikative Randphänomene” charakteristisch sind, ist die Analyse dieser Phänomene mehr als nur eine Spielerei: Sie zeigt uns, auf welche Art der Autor die spezifischen Wirkungen an bestimmten Dialogstellen erzeugt, welche Mechanismen dabei wirken, und welche Abweichungen von den ‘normalen’ Formen der Kommunikation uns präsentiert werden. Genau diese Abweichungen sind es jedoch, die die Stücke von Botho Strauß so eindrucksvoll machen. Sie werden in einer Dichte und analytischen Zuspitzung präsentiert, in der sie uns sonst nicht begegnen. Daher kann die semiotische Kommunikationstheorie tatsächlich eine Antwort auf die spannende Frage geben, warum wir ins Theater gehen, um uns etwas vorführen zu lassen, was uns im Alltag doch schon beständig umgibt: nämlich Kommunikation! Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine literaturwissenschaftliche Methode, die beanspruchen kann, neben andere solche Methoden (wie Strukturalismus, Psychoanalyse, Dekonstruktion, feministische oder postkoloniale Literaturanalyse) gestellt zu werden. Martin Siefkes 116 Anmerkungen 1 Posner 1994. Dies ist eine gekürzte deutsche Fassung von Posner 1993, welche jedoch die für die vorliegende Arbeit wesentlichen Teile vollständig enthält. Mit kleineren Korrekturen ist sie erneut erschienen als Posner 1996. 2 Arielli 2005. 3 Strauß 1991. 4 Faber 1994. 5 Strauß 1991: 323. 6 Siehe hierzu und zu dem folgenden: Arielli 2005: Abschnitt 5.2.2; 143ff. 7 Arielli zufolge (Arielli 2005: Abschnitt 5.2.2., insbesondere 5.2.2.1) ist für die Kategorie der Nichtbeachtung entscheidend, dass b das Kommunikationsziel von a gleichgültig ist, während bei der Sabotierung eine absichtliche Durchkreuzung vorliegt. Damit würde er hier vermutlich von ‘Sabotierung’ sprechen; ist doch aus dem weiteren Verlauf des Gesprächs eindeutig genug entnehmbar, dass b gezielt versucht, sich vor dem Gespräch über die Gefühle von a zu drücken, welches sie beabsichtigt (siehe Abschnitt 2.2). Im Gegensatz zu Arielli bevorzuge ich eine ‘externe’ Deutung, die darauf verzichtet, die wahre Absicht des Sprechers herauszufinden, und sich auf die Wirkung der Kommunikation bezieht. Deshalb spreche ich hier von ‘Nichtbeachtung’, da dem Sprecher a zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachzuweisen ist, dass er gezielt vorgeht. Die Vorteile dieser Abwandlung bei einer interpretierenden Anwendung der Theorie liegen auf der Hand. Die bei Arielli verwendeten Formeln, z.B. für die Nichtbeachtung: T(b, f) I(b, E(g)) G(b, W(a, T(b, h))) -(E(f) E(h)), sind natürlich unverändert gültig; allerdings wären sie nicht im Sinne einer inneren Realität der Gesprächspartnern, sondern im Sinne der durch einen aufmerksamen Zuhörer zum Zeitpunkt des Sprechens feststellbaren Wirkung zu verstehen. Damit entkommt man dem Dilemma, Aussagen über den inneren Zustand einer Person machen zu müssen, der weder von außen noch von der Person selbst definitiv festgestellt werden kann; Aussagen, die sich im übrigen noch sehr viel später als falsch erweisen können, was aber für eine Analyse der Kommunikation keine Relevanz hat. Zur schlüssigen Analyse eines Gesprächs reicht es aus, die Wirkung einer Aussage zu demjenigen Zeitpunkt zu analysieren, an dem der Gesprächspartner eine Antwort darauf gibt. 8 Rückwirkend können wir zwar darauf schließen, dass er diese Strategie auch schon bei den ersten drei ‘turns’ angewendet hat; doch sinnvoller Weise sollte man sich (wie oben angemerkt) auf die Wirkung konzentrieren. Andernfalls könnte man niemals sicher vor rückwirkenden Schlüssen auf den inneren Zustand der Person sein, der jede endgültige Analyse unmöglich machen würde. Daher ist es sinnvoll, bei b1-b3 von Nichtbeachtung zu sprechen. 9 Könnten wir statt von gesellschaftlicher Unkooperativität auch von ‘formaler Kooperation’ (siehe Abschnitt 2.1.1) sprechen? Beide Phänomene haben gemeinsam, dass sie auf der Oberfläche kooperativ erscheinen. Doch die ‘formale Kooperation’ ist eine Erscheinung kommunikativer Unkooperativität, wie oben am Beispiel von b1/ b2 gezeigt werden konnte, wobei es sich um ‘Nichtbeachtung durch Ausbeutung’ handelte. Gesellschaftliche Unkooperativität dagegen ist kommunikativ kooperativ. In b8 lässt sich der Mann durchaus auf die Aussage der Frau ein; mit “Seltsam” macht er deutlich, dass er diese zur Kenntnis nimmt. Trotzdem wird die Bemerkung im Zusammenhang als Teil seiner Strategie zur Durchkreuzung ihres Kommunikationsziels deutlich; daher macht die Bezeichnung als ‘gesellschaftlich unkooperativ’ Sinn. 10 Strauß 1991: 324. 11 Warum muss er dann überhaupt darauf eingehen? Er muss es, weil er sonst der Frau eine wunderbare Möglichkeit offen ließe, ihn weiter zu piesacken: Sie könnte so tun, als ob er ihre Implikation aus gutem Grund überhört hätte, und weiter auf ihrer ‘Interpretation’ seiner ersten Aussage bestehen - obwohl beide wüssten, dass es nicht der Fall ist! Es handelt sich dann um eine reine ‘Als ob’-Kommunikation (Arielli 2005: Abschnitt 6.1.3.2; 172ff). Dass sie möglich ist, verweist darauf, dass die Oberfläche einer Kommunikation unter Umständen unabhängig von den geglaubten Tatsachen beider Teilnehmer sein kann, so wie sich beispielsweise in einem Abenteuerspiel beide Teilnehmer so verhalten, als ob man reale Waffen verwendete. Was im letzteren Falle eine Regel zu nennen ist, kann bei gewöhnlichen Gesprächen als Konvention bezeichnet werden: Es ist zwar möglich, einfach zu sagen: “Hör mal, wir beide wissen doch, dass du meine Aussage absichtlich falsch interpretiert hast.” Wie im Falle des Spiels ist dieser ‘Sprung auf die Metaebene’ notwendig, und dieser führt nur dann nicht zu einem Abbruch der Kommunikation, wenn beide Partner ihn gleichzeitig vollziehen. In bestimmten Gesprächen (z.B. Beziehungsgesprächen) kann geradezu ein Kampf darum entbrennen, ob der Sprung auf die Metaebene vollzogen wird oder nicht; so könnte sich Marie, wenn der Mann entsprechend reagieren würde, weigern, ihre ungerechtfertigte Interpretation seiner ersten Aussage als solche anzuerkennen, obwohl etwa beide Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 117 wissen, dass sie in Stresssituationen öfters dieses Mittel anwendet. Man sieht daran auch die reale Schutzfunktion der Indirektheit der Kommunikation: Würde alles immer so gesagt, wie es gemeint ist und durchaus auch verstanden werden soll, fiele die Möglichkeit weg, bei Bedarf abzuleugnen, dass es diese tiefere Ebene überhaupt gab. So kann z.B. jemand, der eine Geschichte über sich selbst mit den Worten “Ich kenne jemanden, dem ist folgendes passiert” eröffnet, jederzeit noch ableugnen, dass es sich um ihn handelt - sogar wenn dies für beide offensichtlich ist und die Fiktion auch vom Erzähler als durchschaubar gedacht wurde. 12 Strauß 1991: 329. 13 Posner 1994 und 1996. 14 T ist ein zweistelliger Prädikator, dessen erstes Argument ein Verhaltenssystem ist, das die intentionalen Zustände ‘Glauben’ (G) und ‘Intendieren’ (I) realisieren kann, dessen zweites Argument eine Handlung ist und der die Durchführung der Handlung durch das Verhaltenssystem bezeichnet. I ist ein zweistelliger Operator, dessen erstes Argument ein Verhaltenssystem und dessen zweites eine Proposition ist und der die Absicht des Verhaltenssystems bezeichnet, die Proposition zu verwirklichen. (Posner 1996: 1661.) In diesem Fall ist die Proposition ein Kausalprozess, der in allgemeiner Form durch die Formel E(f) E(e) beschrieben werden kann (Posner 1996: 1660) und dessen Wirkung wiederum in der Durchführung einer Handlung durch ein Verhaltenssystem besteht. 15 Strauß 1991: 325. 16 Arielli 2005: 5.2.2.2; 148ff. 17 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b com / Spalte III. Eckige Klammern werden hier gleichbedeutend mit runden Klammern verwendet; sie sollen einer größeren Übersichtlichkeit dienen. Daher werden nur bei starker Klammerschachtelung die äußeren Ebenen der Klammerung mit eckigen Klammern vorgenommen. 18 In dieser Erläuterung und auch später im Text wird der Inhalt der Formeln gerafft wiedergegeben und damit der Alltagssprache soweit angenähert, dass er leichter verständlich ist. Man sollte das Besprochene jedoch anhand der Formeln nachvollziehen. Dies geht am einfachsten, wenn man für die verwendeten Prädikatoren und Operatoren je eine sprachliche Umschreibung präsent hat. Im folgenden sei eine Lesehilfe für die Bestandteile der Formel (3) in der Reihenfolge ihres Auftretens gegeben: “T(b,f)” - ‘b tut f’; “ ” - ‘und’; “I(b, …)” - ‘b hat die Absicht (Intention), dass …’; “E(f) …” - ‘das Eintreten des Ereignisses f führt zu …’; “G(a, …” - ‘a glaubt, dass …’. Die ganze Formel (3) liest sich somit als: ‘b tut f und b hat die Absicht, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a glaubt, dass b f tut und dass b die Absicht hat, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a die Proposition p glaubt. Außerdem glaubt b, dass der (in Klammern stehende) Sachverhalt, (dass das Eintreten von f dazu führt, dass a glaubt, dass b f tut und dass b die Absicht hat, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a die Proposition p glaubt), dazu führt, dass das Eintreten von f [auch tatsächlich] dazu führt, dass a die Proposition p glaubt.’ Das sprachliche Element “auch tatsächlich” ist nicht in der Formel repräsentiert, kann aber verwendet werden, um die in der Kommunikationsbedingung ausgedrückte ‘Ebenenreduktion’ zu verdeutlichen, bei der ein Ereignis einen Glauben betreffend seinen Verursacher und dessen Absichten verursacht und gerade dadurch diese Absichten Realität werden lässt. Nach demselben Prinzip können auch die später verwendeten Formeln gelesen werden. 19 Vgl. die Herleitung der Formel des Direktivs in Posner 1996: 1671f, aus der sich durch Einsetzen von G(a,p) für die drei Vorkommen von T(a,r) die Formel des Assertivs ergibt (vgl. Posner 1996: Abb. 2 (1666), Zeile 2b com / Spalten II und III). 20 Entsprechend der Verwendung des Begriffs “Simulation” in Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b. 21 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 12/ Spalte III. 22 Posner 1996: 1673 und 1681f, Punkt (12). 23 Entsprechend der Verwendung des Begriffs “Manipulation” in Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 1b. 24 Posner 1996: 1673. 25 Posner 1996: 1672. 26 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 9/ Spalte I. 27 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 12/ Spalte I. 28 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Zeile 2b com / Spalte I. 29 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b. 30 Strauß 1991: 328. 31 Posner 1996: 1672. 32 Strauß 1991: 341f. 33 Strauß 1991: 324f. Martin Siefkes 118 34 a1 verweist auf Maries Einsamkeit inmitten der geschäftigen Stadt, die in ihrer Betriebsamkeit und Komplexität für die Gemeinschaft der Menschen steht; in b7 spricht die Säule über ihre Verstoßung aus dem “Herzen der Dinge”, was möglicherweise auf ihre Sprechversuche (b6) zurückzuführen ist, aber natürlich auch deren Anlass gewesen sein könnte. 35 Strauß 1991: 342ff. 36 Bei einer Aufführung des Stücks, die ich im Sommer 2002 erlebte, wurde in dem an Humor nicht armen Stück gerade hier besonders gelacht. 37 Posner 1996 (1666): Abb. 2, Stufe 2b. 38 Strauß 1991: 352f. 39 Deklaration und Direktiv besitzen keine Primärbotschaft und damit auch keine Aufrichtigkeitsbedingung, da letztere ja darin besteht, dass der Sender die Primärbotschaft glaubt (d.h., für wahr hält). Ab der Ebene des Assertivs sind Lügen möglich; Expressiv und Kommissiv sind ja in der Tat auch als Spezialfälle des Assertivs anzusehen. (Posner 1996: Abb. 3 (1678)) 40 Menschen, die sich mit religiösen Fragen beschäftigt haben, werden dies häufig bestätigen. Literaturverzeichnis Arielli, Emanuele (2005): Unkooperative Kommunikation. Eine handlungstheoretische Untersuchung. Münster: Lit. Zugl.: Diss., Technische Universität Berlin, 2002. Faber, Marlene (1994): Stilisierung und Collage. Sprachpragmatische Untersuchung zum dramatischen Werk von Botho Strauß. Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Posner, Roland (1993): “Believing, Causing, Intending: The Basis for a Hierarchy of Sign Concepts in the Reconstruction of Communication”. In: René J. Jorna, Barend van Heusden und Roland Posner (Hg.): Signs, Search and Communication. Semiotic Aspects of Artificial Intelligence. Berlin u.a.: de Gruyter. 215-270. Posner, Roland (1994): “Zur Genese von Kommunikation - Semiotische Grundlagen”. In: Karl-Friedrich Wessel und Frank Naumann (Hg.): Kommunikation und Humanontogenese. Bielefeld: Kleine. 384-429. Posner, Roland (1996): “Sprachphilosophie und Semiotik”. In: Marcelo Dascal u.a. (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin u.a.: Walter de Gruyter. 1658-1685. Strauß, Botho (1991): “Die Zeit und das Zimmer”. In: Theaterstücke. Bd. II. München u.a.: Hanser. 319-357.