eJournals Kodikas/Code 31/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2008
313-4

Gewalt als Erlebnis. Die somatische Decodierung als Strategie des Filmerlebens in CLOVERFIELD

2008
Lars Grabbe
Patrick Kruse
Gewalt als Erlebnis. Die somatische Decodierung als Strategie des Filmerlebens in CLOVERFIELD. Lars Grabbe M.A. und Patrick Kruse M.A. The narrative perspective of a movie provides not only the focus of the narrative information given to the audience, but also size the mediated spatial impressions. The view through the lens of the camera puts the viewers right into the action. The textual method of the continuous Point-of-View Shot and the numerous Reaction-Shots that are used in CLOVERFIELD (USA 2008, Matt Reeves) turn into the restricted point of view of the audience. So the closenes of the viewer to the characters is imposed by the movie. To see what the character sees can make a remarkable difference in experiencing the movie: the POV Shot supports the role-taking as a partly process of empathy, the movement of the camera becomes a somatic aspect of the emotional and intentional expressive behaviour of the characters. So the diegetic trauma becomes the visual trauma of the viewer. The camera acts of violence against the viewer and underlines the representation of violence within the movie picture. The affective responses of the audience are central in CLOVERFIELD the dimension of the affect must be understood as dimension of response on which processes of somatic empathy take effect. The main focus of this essay is therefore in the somatic response of the viewer and what we call somatic decoding. The somatic decoding of the cinematic code as mode of understanding the film is parallel to the decoding of cinematic violence issues. The method of POV Shots represents not only a look at the violence, but also allows the audience a high degree of participation because of the violent view of the camera: The violence in (and on) the cinematic image becomes the violence on the viewer. 1. CLOVERFIELD und das Kino der Affekte 1.1 Thesen - Einleitung in das Arbeitsfeld Der Shot bzw. die Perspektive bestimmt nicht nur den Fokus der narrativen Informationsvergabe an den Zuschauer, sondern dimensioniert auch den vermittelten Raumeindruck. Der Blick durch das Objektiv der Kamera versetzt den Zuschauer mitten ins Geschehen. Die textuellen Verfahren des durchgängigen Point-of-View-Shots [im Folgenden POV-Shot] und zahlreichen Reaction-Shots werden zur (beschränkten) Perspektive des Zuschauers. Durch Verengung des Raums - einer Verdichtung der Diegese - verkleinert sich das Blickfeld des Zuschauers. Dadurch wird ihm die Nähe zu den Figuren geradezu aufgezwungen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Lars Grabbe und Patrick Kruse 300 Zu sehen, was die Figur sieht, kann innerhalb des Filmerlebens einen bedeutungsvollen Unterschied ausmachen: Der POV-Shot unterstützt das Role-Taking als Teilprozess der Empathie, Bewegungen der Videokamera werden zu einem somatischen Aspekt des emotionalen und intentionalen Ausdrucksverhaltens der Figuren. Es gibt Momente mit hohem Grad der Deckungsgleichheit von Signifikant und Signifikat im Sinne eines Ikons: “Was man unmittelbar sieht (Signifikant) ist auch die Bedeutung des Bildes (Signifikat)” (Mikunda 2002: 300). Das diegetische Trauma wird somit zum visuellen Trauma des Rezipienten: Die Kamera übt Gewalt gegen den Zuschauer aus und unterstreicht die Gewaltdarstellungen innerhalb des Bildes. CLOVERFIELD (CLOVERFIELD, USA 2008, Matt Reeves) zeichnet sich dadurch aus, dass man aufgrund der wackelnden und extrem dynamisierenden POV-Kamera nicht zwangsläufig klare Bildinhalte erkennen kann. Diese semantisch-narratologische Unschärfe und vor allem die bildliche Unschärfe transformieren die filmisch dargestellte Flucht-Metaphorik hin zu einem eingelösten Authentizitätsversprechen auf der Rezipientenseite: Der Zuschauer erfährt am eigenen Leib, wovor ihn die Distanz zwischen Leinwand und Kinosessel doch eigentlich schützen sollte. Die Authentizität 1 stiftenden textuellen Verfahren in CLOVERFIELD evozieren - rekurierend auf eine filmische Realität, die als deckungsgleich mit der Zuschauer-Realität angesehen wird - somatische Reaktionen wie die der motor mimicry (Nachahmung). Die erforderte Rolle, die der Rezipient darin einzunehmen hat, ist eine aktive und somatisch partizipierende: Die Grenze zwischen Kinosessel und Leinwand bietet somit nicht mehr länger Schutz und Ruhe, sondern fordert vom Rezipienten alles ab, inklusive körperlicher Reaktionen. Die somatische Reaktion resp. Empathie des Rezipienten ist dabei als Dekodierungseffekt des vermittelten Codes anzusehen. Der Shot als Aspekt des Codes (Opl 1990: 55f.) wirkt unmittelbar durch somatische Decodierung auf affektiver Ebene: Der Rezipient wird erschüttert. Die Affektreaktionen des Rezipienten sind in CLOVERFIELD zentral und sind nicht als unrelevanter Modus des Unkontrollierten zu betrachten, da eben jenes Unkontrollierte auf Zeichenebene relevant wird, um Bedeutung zu strukturieren: Die Affektebene ist als Reaktionsebene zu verstehen auf der somatische Empathieprozesse wirken - der Affekt wird zum Verstehenseffekt. Die somatisch induzierten Realitätseffekte sind als textuelle/ semiotische Effekte zu verstehen. Das Hauptaugenmerk des vorliegenden Aufsatzes liegt daher in der somatischen Reaktion des Rezipienten. Die somatische Decodierung des filmischen Codes als Modus des Filmverstehens wird hier zur parallel verlaufenden Decodierung filmischer Gewaltaspekte. Die Darstellung und Vermittlung von Gewalt in CLOVERFIELD vollzieht sich also auf verschiedenen Ebenen des filmischen Codes und ist stark von der Perspektive abhängig. Das textuelle Verfahren des POV-Shots repräsentiert daher nicht nur einen Blick auf die Gewalt, sondern ermöglicht dem Zuschauer, durch den gewalttätigen Blick der Kamera, einen ausgeprägten Grad der Teilhabe: Die Gewalt im (und am) Bild wird zur Gewalt am Zuschauer. 1.2 Synopsis In der Anfangssequenz des Films erfährt der Zuschauer - mit dem Blick durch das Kameraobjektiv einer kleinen Handkamera (POV-Kamera) - von Rob Hawkins Liebesbeziehung zu Gewalt als Erlebnis 301 Beth McIntyre und ihrem Ausflug zum Coney Island Vergnügungspark. Einen Monat später organisiert Rob’s Bruder Jason zusammen mit seiner Freundin Lily Ford eine große Abschiedsfeier in New York. Rob hat ein Jobangebot in Japan angenommen und steht kurz davor die USA zu verlassen, und die Party soll dazu dienen, dass sich Freunde und Verwandte mittels Videokamera verabschieden können. Eigentlich soll Jason die Kamera tragen und die unterschiedlichen Gäste zu einem Abschiedsgruß bewegen, doch er gibt die Kamera an seinen Freund Hudson “Hud” Platt weiter. Hud nutzt die Kamera, um die attraktive Marlena Diamond kennen zu lernen und überredet sie ebenfalls zu Abschiedsgrüßen. Das Erscheinen von Beth in Begleitung ihres neuen Freundes entfacht eine Konfliktsituation zwischen ihr und Rob, so dass sie frühzeitig die Party verlässt, um nach Hause zu fahren und Rob sich zögernd noch vorhandene Emotionen für sie eingesteht. Plötzlich folgt ein Stromausfall mit diversen Erdstößen und die Nachrichtenmagazine berichten von Erdbeben in New York und einem nahe der Freiheitsstatue havarierten Öltanker. Die Partygäste begeben sich daraufhin auf das Dach des Hauses, in der Hoffnung etwas sehen zu können, und beobachten von dort eine große Explosion aus Richtung Downtown Manhattan. Völlig erschrocken und sprachlos rennen sie auf die Straße und werden Zeuge, wie dicht neben ihnen der abgetrennte und mit riesigen Kratzern versehene Kopf der Freiheitsstatue einschlägt. Rob, Jason, Lily, Hud und Marlena beschließen daraufhin die gemeinsame Flucht und Rob erhält einen Anruf von Beth und erfährt von ihrer hilflosen Situation, denn sie liegt eingeklemmt zu Hause und kann sich nicht bewegen. Sie schließen sich dem Flüchtlingsstrom über die Brooklyn Bridge an, bei der jene zerstört und Jason von einer unbekannten und riesigen Kreatur getötet wird. Mittlerweile bekämpft das Militär die Kreatur, welche scheinbar zahllose kleinere Wesen verliert, die besonders aggressiv Jagd auf Zivilisten und Soldaten machen. Rob, Lily, Hud und Marlena flüchten in eine verlassene U- Bahn-Station. Dort beschließt Rob Beth zu retten und durch den Tunnel zu ihrem Haus zu gelangen. Im Tunnel wird Marlena von einer der kleinen Kreaturen schwer verletzt, doch die Gruppe kann sich im letzten Moment retten und wird kurze Zeit später vom Militär in ein Erste-Hilfe-Lager überführt. Im Lager erliegt Marlena ihren Verletzungen. Rob, Lily und Hud erfahren von der letzten Evakuierungsmöglichkeit um 06: 00, da das Militär plant, ganz Manhattan zu bombardieren. Sie machen sich daraufhin auf den Weg zu Beth’ Apartment, befreien sie und schaffen es gerade noch rechtzeitig zur Evakuierung zurück zu sein. Lily findet einen Platz im ersten Hubschrauber, Rob, Beth und Hud nehmen den letzten und können den Bombenabwurf genau beobachten. Doch die Kreatur überlebt die Bomben, springt aus den Flammen und bringt den Hubschrauber zum Absturz, der im Central Park notlanden muss. Rob, Beth und Hud überleben den Absturz und versuchen zu flüchten, dabei verliert Hud die Kamera, versucht diese zu retten und wird von der Kreatur getötet. Rob und Beth schaffen es noch rechtzeitig die Kamera zu greifen und sich unter einer Brücke in Sicherheit zu bringen und eine Abschiedsbotschaft aufzunehmen bevor weitere Bomben fallen und die Brücke zusammenbricht. In der Endsequenz sieht man eine Bandaufnahme von Rob und Beth im Riesenrad von Coney Island. 1.3 Kino der Attraktionen und Kino der Affekte “Die Leute müssen das sehen.” Diese Antwort des Kameramanns Hud stellt das zentrale Element des Films heraus: Das Sehen. Die Sensation im Sucher. CLOVERFIELD ist ein Film des Kinos der Attraktionen, wie Tom Gunning (1986: 66f.) in seinem Aufsatz “The Cinema of Attractions” eine bestimmte Art des Kinos beschreibt. Ein Lars Grabbe und Patrick Kruse 302 Abb. 1: Bildlegende Kino, dessen Narration in den Hintergrund tritt, das seine Essenz im Zeigen hat - in der Attraktion: “An attraction aggressively subjected the spectator to ‘sensual or psychological impact’” (Gunning 1986: 66f.) Auf eben dieses Kino bezieht sich auch Drehli Robnik, wenn er von “narrativer Skelettierung” und dem “postklassischen Hollywood” spricht (Robnik 1998: 237). Er schreibt in seinem Aufsatz, dass das Kino Bilder hervorbringt, “die die Wahrnehmung schmerzhaft attackieren, erschüttern und ihr den Überblick rauben.” Es geht hier “um grundsätzliche Beziehungen zwischen dem Bild und dem wahrnehmenden Subjekt in ihrer jeweiligen Körperlichkeit” (Robnik 1998: 237). Zudem mangelt es diesem Kino an “gebührender ästhetischer Distanz” und es erzeugt “ein Gefühl der Über-Involvierung in Sensationen und Emotionen” (Williams 1991: 4f.). Dennoch muss der Unterschied herausgehoben werden, dass diese beiden Autoren von dargestellter Gewalt an sichtbaren Körpern innerhalb des Filmbildes sprechen. Der Unterschied zu CLOVERFIELD - der diese Gewalt (begrenzt) auch zeigt - besteht darin, dass es hierbei um die Gewalt geht, die dem Zuschauer durch die Perpektivierung und Vermittlung der Erzählung angetan wird. Der intradiegetisch anwesende Kameramann Hud tritt zu Beginn des Films zurück und überlässt dem Zuschauer seinen Platz. Der Zuschauer wird durch diese subjektive Perspektivierung im höchsten Maße in die Erzählung eingewoben - die oben zitierte Über-Involvierung tritt ein. Das Kino der Attraktionen offenbart sich als ein Kino der Affekte: Der Affekt ist [...] keine extensive, sondern eine intensive Bewegung, kein Gefühl, in dem das Ich sich expressiv seiner selbst versichert, sondern eine Empfindung, die es von außen befällt und erschauern lässt. (Williams 1991: 252) (Hervorhebungen von den Verfassern) Der Sensationscharakter des Bildes ist es, der den Zuschauer affiziert und die Perpektivierung der Erzählung ist es, die die Sensation resp. Attraktion erfahr- und erlebbar macht: “Ich als Zuschauer erfahre die Sensation nur, indem ich ins Gemälde hineintrete, indem ich die Einheit von Empfindendem und Empfundenem gelange” (Deleuze 1995: 31). 1.4 Gefahren im Kino - Warnungen vor Nausea (motion sickness) Die narrative Struktur von CLOVERFIELD ist exemplarisch und synonym für die Problemstruktur der Gewaltdarstellung im Film. Gerade im Bezug auf den Texteffekt als Realitätseffekt entsprechen die zahlreichen Warnungen der Kinobetreiber (Abb. 1) genau dem Thrill, den der Film verspricht: Die Kreation eines amerikanischen Monsters, welches wie aus dem nichts auftaucht und die Menschen Manhattans zur Flucht und dem damit verbundenen Überleben zwingt. Der Schock, den die Protagonisten erleiden, sitzt tief, als sie den abgetrennten und verkratzten Kopf der Freiheitsstatue durch die Häuserschluchten Manhattans fliegen und dann Aufschlagen sehen: Die Freiheit ist kopflos und alles was bleibt ist die Flucht! Genau in dem Maße, Gewalt als Erlebnis 303 indem die dargestellte Situation für die Protagonisten neu ist - dass ihre geliebte Freiheit so stark erschüttert wird - genau so neu ist das Gefühl der Zuschauer, denn auch ihre Freiheit ist erschüttert. Den Protagonisten bleibt nur die Flucht, dem Zuschauer nicht. Will er den Film bis zum Schluss sehen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das “riding a rollercoaster” im wahrsten Sinne des Wortes auszusitzen. Die Gefahr, die durch das Monster im Film ausgeht, ist im Kinosessel zwar weit weniger dramatisch und drastisch, dennoch sind die Übelkeit (Nausea; motion sickness) verursachenden Wackelbewegungen der POV-Kamera - die bei empfindlichen Zuschauern auftreten können - kein Vergnügen. Dennoch sind sie wahrscheinlich der Teil des Filmerlebnisses, der die Zuschauer in die Kinos getrieben hat - um die Angst der Figuren am eigenen Leib zu erleben. 2. POV-Shot und Perspektivierung - Zur Phänomenologie des Point of View 2.1 Point of View Der Begriff des Point of View ist in den Filmwissenschaften viel diskutiert (Dagrada 1995: 235f.) und seine Definition und Abgrenzung zu den Begriffen Perspektive und Fokalisierung erscheint schwierig. Autoren wie Jaques Aumont versammeln unter dem Begriff POV u.a. den “Ort der Kamera in Bezug auf den betrachteten Gegenstand”, den narrativen POV als Repräsentation des Blicks (eines Filmemachers oder einer Figur), der die Verteilung der Information auf die Figuren und Rezipienten übernimmt und den prädikativen POV, der Repräsentation einer mentalen Haltung (Aumont 2007: 15). Nach Branigan würden nur der POV als Aufnahme aus dem Blickpunkt einer Figur in Bezug auf ein betrachtetes Objekt und der prädikative POV, den er als Perception Shot bezeichnet, als POVs gelten: There are various sorts, or better, levels of narration in a text. One such level is character narration, or what I will call subjectivity in a narrow sense; for instance, the point-of-view (POV) shot, in which we see what a character sees from his or her point in space. In this narrow sense, subjectivity will refer to the narration given by a character in the narrative, but it should be remembered that, in actuality, each successive level of narration implicates a new subject - a fictional or hypothetical perceiver - in an activity of seeing […] an object […]. (Branigan 1984: 2) In POV there is no indication of a character’s mental condition - the character is only ‘present’ - whereas in the perception shot a signifier of mental condition has been added to an optical POV. (Branigan 1984: 80) Dabei ist zu beachten, dass Branigan dem POV sechs Elemente der Repräsentation zuschreibt (origin, vision, time, frame, object, mind), die den POV strukturieren und der prädikative POV seine Gewichtung auf dem Element des Bewusstseins (mind) hat: “The mental condition of the character is the last element of representation which determines the types of subjectivity” (Branigan 1984: 78). Der narrative POV dagegen ist nach Schweinitz eher als interne Fokalisierung zu beschreiben. Fokalisierung bezeichnet bei Schweinitz die Erlebnisperspektive einer Figur und ist nicht zwingend an POVs und eine subjektive Kamera gekoppelt. Lars Grabbe und Patrick Kruse 304 Bei der <internen Fokalisierung> geht es um den narrativen Mitvollzug der Erlebnisperpektive, einschließlich des Wissenszuwachses einer Figur. Das heißt, die narrative Instanz [filmische Erzähldistanz] vermittelt Ereignisse nicht direkt, sondern durch den Fokus der Figur, des Fokalisators. (Schweinitz 2007: 87) Schweinitz unterscheidet zwischen handlungslogischer und bildlogischer Fokalisierung. Bei der handlunglogischen Fokalisierung steht die Erlebnisperpektive einer Figur im Vordergrund, also deren Motivlage und Wissenstand. Bei der bildlogischen Fokalisierung geht es um die Frage “Wer sieht? ” - also um den optischen POV einer Figur. Die Strukturierung dieser einzelnen Elemente der Erzählung übernimmt die narrative Instanz: Die zentrale narrative Instanz ist vielmehr als die in den jeweiligen Film ‘eingeschriebene’, die Erzählung organisierende Kraft zu verstehen, der ebenso wie dem literarischem Erzähler die Hoheit über alle Ausdrucksmittel des Mediums zuerkannt wird. (Schweinitz 2007: 89f.) In der weiteren Analyse der Erzählstruktur von CLOVERFIELD soll vor allem die subjektive (POV-)Kamera, der optische POV von Hud (dem Kameramann), und damit die bildlogische Fokalisierung (die sich in diesem Film mit der handlungslogischen Fokalisierung überschneidet), untersucht werden. Die optische Perspektive einer Figur ist als Dimensionierung von Standpunkten und Sichtverhältnissen zu verstehen - einerseits von Figuren innerhalb der Geschichte und andererseits als Blickwinkel des Rezipienten. Die Konstitution der subjektiven Perspektive ist in CLOVERFIELD als textuelles Verfahren der Authentizität und des Involvements zu verstehen, da der Zuschauer an den POV von Hud gesetzt wird, der selbst - als Charakter - in den Hintergrund tritt. Die durch die POV-Kamera induzierte subjektive Perspektive der Figur Hud evoziert somit einen direkten semiotischen Bezug des Rezipienten zum Text, da Figurenperspektive und Rezipientenperspektive in hohem Maße korrelieren. Wichtig ist hier, das die Perspektive nicht ausschließlich als ein starrer Entwurf eines Sichtverhältnisses zu betrachten ist, da in CLOVERFIELD Sichtverhältnis und Perspektive des Rezipienten auch zu einem Bewegungsverhältnis wird - zu verstehen als somatische Perspektivierung: Die Perspektive des Rezipienten wird durch das Bewegungsverhältnis der POV-Kamera mitbestimmt, so dass die Kamerabewegung zu einer “induzierten Bewegung” (Mikunda 2002: 201) führt, die in der somatischen Empathiereaktion des Rezipienten zur Äußerung gelangt. Die somatische Empathiereaktion fungiert als Modus somatischer Perspektivierung auf der Zeichenebene. 2.2 Die POV-Kamera Der POV von Hud und die Fokalisierung der Narration sind an das technische Mittel der subjektiven Kamera gekoppelt. CLOVERFIELD wird mit einer einzigen Kamera erzählt, die innerhalb der Diegese anwesend ist. Dieses Element der Erzählung dient einer Authentifizierung des Dargestellten und der Verringerung der Distanz zwischen Rezipient und Dargestelltem. Im Folgenden sollen die Aspekte der POV-Kamera herausgearbeitet werden, die die technische Konstitution der Kamera hervorheben (wie z.B. Unsteady-Footage und Drop-Outs) und es soll gezeigt werden, welche Funktionen sie innerhalb der Narration einnehmen. Gewalt als Erlebnis 305 2.2.1 Unsteady-Footage (Wackler) und Drop-Outs (Aussetzer, Bildunterbrecher) Die Wackler sind als Funktionsmoment für die Struktur der Unruhe im filmischen Geschehen verantwortlich und bedingen die Verwirrung des Rezipienten als Event. Das textuelle Verfahren des Unsteady-Footage - des Wackelns - ist als Signifikant der Kameraführung zu bezeichnen, das in zweierlei Hinsicht als Signifikat der Gewalt fungieren kann: 1. Wackler als Indiz der Bedrohungssituation. 2. Wackler als Übertragung der innerfilmischen Bedrohungssituation auf den Rezipienten durch ihr hohes Induktionspotential für somatische Empathie. Die Wackler sind dem technischen Gerät Handkamera zu eigen, werden aber zudem innerhalb des Films benutzt, um dem Rezipienten kurzzeitig die Orientierung innerhalb der Diegese - und verbunden damit der Erzählung - zu rauben und ihn so zu einer Neuorientierung zu zwingen. So kommt es zu Störungen der Raumkonstanz, wie sie auch der Horror-Film anwendet, um Angst zu erzeugen. Bewegung im Film hat einen “Resonanz-Effekt” - sie löst beim Zuschauer “kinästhetische Reaktionen” wie Muskelreflexe oder motorische Impulse aus. Die erregende Wirkung des Reizwechsels ist Ausdruck einer reflexartigen Reaktion des Zuschauers. Dabei handelt es sich um ein entwicklungsgeschichtliches sehr altes Verhaltensmuster, das ursprünglich - in prähistorischer Vorzeit - dem Überlebenskampf der Individuen diente. Es ermöglichte eine rasche Reaktion auf verdächtige Bewegungen und unerwartete Geräusche. Diese konnten Hinweise auf potentielle Nahrungsquellen (jagdbare Tiere) oder auf die Bedrohung durch andere Lebewesen sein. (Witte 1982: 216) Die Wackler bedingen somit das direkte Erleben der Figurenaffekte für den Rezipienten. Anders strukturieren sich hier die Drop-Outs. Zwar zwingen auch sie den Rezipienten zu einer Neuorientierung innerhalb der Narration und Diegese - schließlich geht die Handlung des 22. Mai, dem Datum der aktuellen Ereignisse weiter, auch wenn das Band vom Aufnahmekopf rutscht und die aktuellen Ereignisse nicht mehr dokumentiert. Dennoch ist ihre narrative Funktion eine gänzlich andere: Sie öffnen den Raum für Flashbacks zum 27. April, dem Tag, an dem Rob und Beth in einem Vergnügunspark sind und ihre intakte Beziehung zelebrieren. Hier wird also die Information über die Beziehung von Rob und Beth nachgeliefert, die erklärt, warum Rob am 22. Mai nicht mit den anderen aus Manhatten flüchtet. Die Drop-Outs offenbaren dem Zuschauer Rob’s Motiv für seine Handlungen. 2.2.2 Reaction-Shots Die Reaction-Shots strukturieren die Aspekte einer eher kognitiven und Hypothesen bildenden Empathieform im Kontext einer Simulation differenzierter Figuren-Perspektiven. Hier wird durch die Handlungsebene der Figuren die Strukturierung eines empathischen Felds (näher unter 3.1 erläutert) im Allgemeinen und von figurenspezifischen empathischen Perspektiven (Reziprozität der Perspektiven der filmisch vermittelten Figuren) im Besonderen ermöglicht. Die Reaction-Shots ermöglichen ein Figurenverständnis aufgrund der dargestellten Emotionen und Handlungen. Zudem werden durch die Bewegungen der Figuren - z.B. durch die Fluchtdynamik - somatische Empathieprozesse in Gang gesetzt. Lars Grabbe und Patrick Kruse 306 2.2.3 Points of Rest (Ruhepunkte) Die wenigen Momente in CLOVERFIELD, in denen die POV-Kamera im Filmbild abgelegt wird, dienen als Points of Rest, als Ruhepunkte für den Rezipienten - in zweierlei Hinsicht: 1. Ruhemomente bzw. ruhigere Momente für die Figuren der Erzählung (im Verhältnis zu den Wacklern im Kontext der Bedrohungs- und Fluchtsituationen). 2. Ruhemomente für den Rezipienten, Verlangsamung bzw. Hemmung somatischer Impulse. 2.2.4 Figur-Kamera-Hybride Das Kollektiv von POV-Kamera und Figur ist einerseits innerhalb der narrativen Ebene verortet - Hud trägt die Handkamera im Verlauf der Handlung, die Geschichte wird uns aus seiner Perspektive erzählt. Andererseits strukturiert das Kollektiv von Hud und POV-Kamera auch die somatische Empathiereaktion des Rezipienten in zweierlei Hinsicht: 1. Der Figur-Kamera-Hybride 2 ist als Funktion des Involvements des Rezipienten anzusehen. Die somatische Empathie ist - präzise ausgedrückt - an die Kamera/ Figuren-Bewegung gekoppelt - als korrelative Funktionskopplung von Figur-Kamera-Hybride und Rezipient. Des Weiteren strukturiert der Hybride Funktionszusammenhang die Wechselwirkung zwischen POV-Kamera und Hud - die Bewegung der Kamera ist die Bewegung der Figur und selbstverständlich auch umgekehrt. Es lässt sich innerhalb des Figurengefüges von einer Hud-Kamera sprechen (Hybridform). 2. Da Hud der Fokalisator der Erzählung ist, lenkt er auch die Informationsvergabe an den Rezipienten. Er ermöglicht uns die Teilhabe an den physischen Reaktionen der anderen Figuren, die ebenso Auslöser für somatische Empathieprozesse sind. Die Rolle des Figur-Kamera-Hybriden wird unter Punkt 4 differenzierter bearbeitet. 2.3 Die Verdichtung der Diegese und der Zwang zur Figurennähe Die POV-Kamera vermittelt nur einen kleinen Ausschnitt der Diegese und evoziert eine Verengung der Raumwahrnehmung - es verkleinert sich das Blickfeld des Zuschauers. Die Raumdimensionen sind folglich eingeschränkt und direkt an die Figurenwahrnehmung gekoppelt. Es entsteht ein klaustrophobischer Blick auf das Geschehen, dessen Intensität verstärkt oder gehemmt werden kann durch die Veränderungen im Modus der POV-Kamera: Wackler und Drop-Outs stören oder hemmen die bildlichen Raumkonstanz und fordern stetige Neuorientierung bezüglich der Raum-Schemata des Rezipienten - die Auflösung der Raumkonstanz bedingt zusätzlich die Kopplung an die Figurenwahrnehmung. Die Points of Rest festigen kurzzeitig die bildliche Raumkonstanz - mittels Ruhepausen -, obwohl hierbei insgesamt weniger Raum innerhalb der Diegese offenbart wird als innerhalb der Bewegungssituationen der Figuren, die durch ein hohes Maß an Wacklern gekennzeichnet sind. Nicht nur somatische Empathie durch den Modus der POV-Kamera ist zentral für das Figurenverständnis und das Selbstempfinden des Rezipienten. Auch die Tatsache der Raumteilung (mit den Figuren) durch ein gemeinsames Blickfeld schafft Momente der Sympathie/ Antipathie und letztlich kognitiver empathischer Prozesse. Gewalt als Erlebnis 307 Durch die POV-Kamera als textuelles Verfahren der Narration erfolgt zudem eine interne Fokalisierung auf Hud - wir wissen, was er weiß, wir sehen, was er sieht. Es geht dabei um das Erregungspotential bzw. Angspotential der Bilder. So verweist z.B. die Darstellungen des Raumes, dessen Größe zwischen den beiden Polen eng und weit schwankt, auf die beiden Pole angstneurotischen Daseins: klaustrophob und agoraphob. Zwischen diesen beiden Polen wechselt bspw. der Slasherfilm hin und her - genauer gesagt verengt er den Raum im Verlauf der Handlung. Und der sich verengende Raum steigert die Verwundbarkeit der Helden (Stresau 1987: 48f.). Ebenso macht es auch CLOVERFIELD, u.a. durch die Wahl der Handlungsräume, aber auch durch das Element der subjektiven Kamera, die dem Rezipienten ihre Beschränkte Sicht aufzwingt. 3. Empathie als Modus des Verstehens 3.1 Empathie als semiologisches Konstrukt Die Empathieforschung definiert Empathie als kognitive Fähigkeit, “die Gedanken, Perspektiven und Gefühle eines anderen zu erkennen und zu verstehen” (Song 2001: 102f.). Auf Film bezogen ist es wichtig anzumerken, dass sich empathische Bewegungen nicht nur auf Emotionen, sondern auch auf Handlungsintentionen der dargestellten Figuren beziehen. Die empathischen Prozesse in der Rezeption von Filmen sind als Aufbau (Konstruktionsmechanismus) einer fiktiven sozialen Handlungswelt zu verstehen. In der empathischen Tätigkeit werden die “verschiedenen Ziele der Akteure und das Gefüge ihrer komplementären Wahrnehmungen, ihrer Beziehungsdefinitionen sowie ihrer kognitiven und emotionalen Reaktionen aufeinander und das Geschehen gleichermaßen zugänglich” (Wulff 2003: 136f.). Das fiktionale Erleben eines Films basiert auf der Interaktion von verschiedenen Figuren in einem sozialen Feld. Mehrere Leinwandfiguren treten in soziale Interaktion miteinander, wobei der Zuschauer ihre intentionalen Horizonte nachbildet - er versucht die Figuren zu verstehen. Innerhalb der innerfilmischen Interaktionen der Leinwandfiguren untereinander wird es dem Zuschauer möglich, die emotionalen und intentionalen Horizonte der Figuren nachzubilden. Die beschriebenen intentionalen Strukturen bezeichnet Wulff als “empathisches Feld” und versteht darunter “einen symbolischen Kontext des sozialen Lebens, des Genres, der besonderen Handlung und des besonderen dramatischen Konfliktes” (Wulff 2002: 110). Die empathischen Prozesse des Zuschauers beziehen sich auf dieses empathische Feld und bestehen aus einem Simulationsvorgang 3 , einem Nachbilden der “intentionalen Horizonte abgebildeter Figuren” (Wulff 2003: 139). Empathie ist daher als analytische Bewegung des Rezipienten zum Film hin anzusehen, die sowohl alle Figuren als auch Handlungen mit einschließt. Der Rezipient befindet sich in einem Prozess mentaler Simulation: dem Modus des Du (Kurt 2004: 205). Möglich wird diese Simulation (und damit Empathie) allein durch empathische Strukturierungsmechanismen: die empathischen cues. Empathische cues sind die Hinweisreize, die empathische Prozesse innerhalb der Narration strukturieren, die bei erfolgreicher Decodierung durch den Rezipienten, ein Empathisieren von Subjekten und Objekten erst ermöglichen. Innerhalb der narrativen Struktur des Films Lars Grabbe und Patrick Kruse 308 Abb. 2: Bildlegende sind sie eine Art Schlüsselreiz bzw. Ankerpunkt empathischer Prozesse. Kurz: Sie steuern die empathische Modellierung von Figuren innerhalb des Rezeptionsprozesses und sind auf den unterschiedlichen Codebenen des Films anzusiedeln. Empathische cues können z.B. emotionale Ausdrücke von Charakteren sein, Farben, Kamerafahrten oder Kameraperspektiven (Abb. 2). Empathische cues geben uns Anhaltspunkte, unsere empathischen Prozesse auf bestimmte Situationen, Handlungen und Figuren zu richten. Sie steuern innerhalb der Rezeption die Strukturierung der emotionalen und intentionalen Horizonte der Filmfiguren die der Zuschauer vollzieht. Sie affizieren den Zuschauer, Hypothesen über innere Vorgänge und Zustände dieser Figuren aufzustellen. So wirkt z.B. die Konstitution des POV-Shots in CLOVERFIELD als Aspekt des filmischen Codes unmittelbar durch somatische Decodierung auf affektiver Ebene: Der Rezipient wird erschüttert. Die somatische Reaktion resp. Empathie des Rezipienten ist dabei als Dekodierungseffekt des vermittelten Codes anzusehen. Damit wird die somatische Decodierung des filmischen Codes zum Modus des Filmverstehens. Die Analyse des Filmbildes und die Offenlegung empathischer cues gestattet es, sich einer Empathie-Semiotik des Films anzunähern, da der Zeichencharakter der empathischen cues darauf verweist, dass empathische Prozesse als semiologische Prozesse anzusehen sind. 3.2 Somatische Empathie Somatische Empathie ist in unserer Argumentation der Schlüsselprozess für das Erleben/ Verstehen des Films CLOVERFIELD. Unter somatischer Empathie oder motor mimicry versteht man den “mehr oder weniger automatischen körperlichen Mitvollzug” (Noll-Brinckmann 1999: 111) von Bewegungen, die man an anderen beobachtet. Diese Form der Empathie lässt den Rezipienten entsprechend auf das Gesehene reagieren, es erfolgt eine “Rückmeldung über Belange des Anderen, die nicht im Denken, sondern am eigenen Körper lokalisiert ist [...]” (Noll-Brinckmann 1999: 112) Dieses Phänomen ist nicht nur im Alltag zu beobachten, sondern auch im Kino, das dank seiner Möglichkeit zur fotografischen Repräsentation, ein “realitätshaftes Wahrnehmen und Reagieren” (Noll-Brinckmann 1999: 113) erlaubt. Dies ist dem Film nur möglich, durch den Einsatz bestimmter filmischer Mittel, wie z.B. durch Nah- oder Großaufnahmen oder figurennahen Perspektiven wie dem POV-Shot. Hinzu kommen noch weitere Elemente die die Bedingungen der Darstellung betreffen: So ist es nicht nur [...] erforderlich, daß die Situationen einsichtig und die Handlungen, die physisch bewältigt werden müssen, nachvollziehbar und voraussehbar sind. Wichtig ist auch, daß die jeweils beteiligten Muskeln der Performer zum Publikum hin ausgestellt, sozusagen profiliert werden [...]. (Noll-Brinckmann 1999: 114) Gewalt als Erlebnis 309 Dieser Aspekt somatischer Empathie bezieht sich auf die physischen Reaktionen des Rezipienten in Beziehung zu den dargestellten Figuren. Dennoch ist es auch vorstellbar, diejenige Figur somatisch zu empathisieren, aus deren Perspektive der Rezipient auf das Geschehen blickt 4 - im Falle von CLOVERFIELD ist es Hud bzw. der Figur-Kamera-Hybride. Dies erscheint möglich, wenn man bedenkt, dass die sogenannten Spiegelneuronen bei der somatischen Empathie eine zentrale Rolle spielen. Spiegelneurone lösen in einem Beobachter eine innere Simulation aus: Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so, als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Ob er sie wirklich vollzieht, bleibt ihm freigestellt. (Bauer 2006: 26) Die Spiegelneuronen reagieren [...] vor allem auf die intentionalen Komponenten, indem sie eine Beziehung zum Handlungskontext herstellen. Diese selektive Reaktion ermöglicht es, das Verhalten Anderer unmittelbar zu verstehen [...]; es genügt, sich auf das körperliche Gedächtnis und die intentionalen Schemata zu stützen, die im Neuronennetzwerk eingraviert und kondensiert sind. (Bailblé 2007: 171) Der Spiegelmechanismus des Rezipienten ermöglicht es ihm, die emotionalen oder intentionalen Horizonte der Figuren zu erfassen und nachzubilden, unabhängig davon, wie sich diese an der Figur äußern (Bailblé 2007: 171). Da die somatische Empathie - basierend auf dem Spiegelmechanismus - sich auf intentionale Schemata bezieht, wäre es dem Rezipienten also auch möglich, Hud, den Figur-Kamera-Hybriden somatisch zu empathisieren, allein durch die Wahrnehmung der Kamerabewegung. 4. Decodierung der Gewalt 4.1 Somatische Empathie als Dekodierungseffekt Die Kategorisierung CLOVERFIELDs als ein Kino der Attraktionen und ein Kino der Affekte setzt den Fokus unserer Analyse auf die somatischen Reaktionen des Rezipienten. Die Affektreaktionen des Rezipienten stehen im Vordergrund, da die Affektebene als Reaktionsebene zu verstehen ist, auf der somatische Empathieprozesse wirken. Wir sehen im Affekt einen Verstehenseffekt - Filmerleben als Filmverstehen. Die somatischen Reaktionen sind durch empathische cues auf den Code-Ebenen des Films verankert, unser Hauptaugenmerk gilt dabei dem Shot, genauer: dem POV-Shot. Der POV-Shot ermöglicht dem Rezipienten die somatische Decodierung des filmischen Codes als Modus des Filmverstehens. Der Shot als Aspekt des Codes wirkt unmittelbar auf affektiver Ebene und erschüttert den Rezipienten: Der Zuschauer erfährt am eigenen Leib, wovor ihn die Distanz zwischen Leinwand und Kinosessel doch eigentlich schützen sollte. Wie die Figuren in CLOVERFIELD sieht und erlebt er die Gewalt, die das Monster an den Figuren verübt: er sieht die Darstellungen der Gewalt an den Figuren im Bild und erlebt sie am eigenen Leib durch seine Koppelung an die Erlebnisperspektive des Figur-Kamera- Hybriden. Der POV-Shot als textuelles Verfahren vermittelt also zwei Arten der Gewalt: Die Gewalt im Bild und die Gewalt am Bild. Ersteres als Darstellungsfunktion der Gewalt - des Thrills - und letzteres als dynamisierendes und somit destabilisierendes/ dekonstruierendes Moment der Bild-Struktur. Lars Grabbe und Patrick Kruse 310 4.2 Der POV-Shot und die phänomenologische Leib-Beteiligung Die Darstellung von Bewegung birgt Erregungspotential: wenn eine Bewegung sehr schnell ist, kann man sie nicht nur sehen, sondern auch in einem Gefühl physischer Erregung spüren. Dies ist auf den Resonanz-Effekt von Bewegung zurückzuführen, die beim Rezipienten somatische Reaktionen hervorruft. Schnelle Bewegung - ihre Unvermitteltheit - bringt dieses Phänomen mit dem Begriff des Schocks in Verbindung. Verstärkt wird dieser Effekt des Schocks und der somatischen Reaktion durch Ruhepunkte innerhalb der Narration: “Flankierende Momente [wie Points of Rest] tragen zur Spannungssteigerung und Verstärkung der physischen Unbehaglichkeit bei” (Noll-Brinckmann 1999: 117). Das Hervorrufen somatischer Reaktionen beim Rezipienten wird durch die Koppelung an die optische Perspektive von Hud evoziert. Die Bewegung der Kamera entspricht der Bewegung von Hud, seine Perspektive entspricht der Rezipienten-Perspektive. Es gibt also eine Koppelung bzw. Überlappung des Blickes - des Gesichtsfeldes -, was die Bewegungen des Figur-Kamera-Hybriden zu den Bewegungen des Reziepenten macht. Es ist so, als würde der Rezipient die Flucht der Figuren am eigenen Leib erleben. Der POV-Shot unterstützt dabei das Role-Taking bzw. das “putting themselves in the other’s shoes” (Gordon 1987: 139) als Teilprozess der Empathie. Bewegungen der Videokamera werden zu einem somatischen Aspekt des emotionalen und intentionalen Ausdrucksverhaltens der Figuren. 5. Der gewalttätige Blick der Kamera Die Kamerafahrt bzw. Kameraarbeit lässt sich grundsätzlich als Struktur gebender und Bedeutung generierender empathischer cue bezeichnen. Die POV-Kamera ist als Teil des filmischen Codes zu bestimmen, der in der Regel nicht in Untersuchungen zu empathischen Prozessen einbezogen wird. Im Fall CLOVERFIELD eröffnet die POV-Kamera allerdings nicht nur das Potential eines wirksamen dokumentarischen Stils, was eine Veränderung in der Rezeption bedingt (Buckland 2000: 88f.), sondern erfährt mittels Strukturfunktion des Figur-Kamera-Hybriden eine Authentifizierung, die als Texteffekt ein Verstehen auf Ebene somatischer Empathie eröffnet und zugleich weiterreichende kognitive Empathieprozesse moduliert. Der Blick der Kamera wird der Blick des Zuschauers - er wird in das Geschehen hineingezogen und die Distanzlosigkeit gegenüber den Figuren verändert sein Empathisieren dieser Figuren, da er einer von ihnen ist: “Das Dargestellte erscheint real, denn die je spezifische Einstellung und die Bewegung der Kamera versetzen den Zuschauer in den Bildraum des Films” (Buckland 2000: 88f.). Die damit erzielte Unmittelbarkeit nimmt dem Rezipienten die Sicherheit, die das Kino ihm sonst immer garantiert hat. Auch die ständige Forderung nach räumlicher und narrativer Neuorientierung und die diversen Schockmomente tragen dazu bei, dass der Rezipient von immer wiederkehrenden Resonanz-Attacken befallen wird: Ein wesentliches Charakteristikum des Schock-Effekts liegt laut Mikunda darin, daß sowohl die optischen als auch die akustischen Reize möglichst unerwartet auftreten. Diese Reize müssen ständig variiert werden, um das starke Erregungsgefühl beim Zuschauer für einige Sekunden hinweg zu erzeugen. Eine weitere Voraussetzung betrifft die Signifikanz der Reize. Der Mensch empfindet nach Mikunda kurze, schnelle und hastig ausgeführte Bewegungen im visuellen Bereich als potentielle Gefahrensignale. (Buckland 2000: 88f.) Gewalt als Erlebnis 311 Die anhaltende subjektive Perspektive, aus der CLOVERFIELD erzählt wird, und die Koppelung des Rezipienten an die Kamerabewegung des Figur-Kamera-Hybriden sind die Voraussetzung für ein starkes körperliches Involvement und somatisches Erleben des Films, das bei CLOVERFIELD mit dem Verstehen des Film gleichzusetzen ist. Schließlich ist dieses Moment der zentale Aspekt des Kinos der Attraktionen - also des Kinos der Affekte: Erleben ist Verstehen. Für CLOVERFIELD und die textuellen Verfahren der Darstellung der Gewalt, die auf verschiedenen Ebenen des filmischen Codes verankert sind, bedeutet es, dass der POV-Shot nicht nur einen Blick auf die Gewalt repräsentiert, sondern es dem Zuschauer ermöglicht, durch den gewalttätigen Blick der Kamera - des POV -, einen ausgeprägten Grad der empathischen Teilhabe - auf somatischer als auch kognitiver Ebene - zu erfahren: Die Gewalt im (und am) Bild wird zur Gewalt am Zuschauer. 6. Filmdaten Deutscher Titel/ Originaltitel: Cloverfield Produktionsland: USA (A Bad Robot Production) Erscheinungsjahr: 2008 Länge: ca. 85 Minuten Altersfreigabe: FSK 12 (Deutschland) Regie: Matt Reeves Drehbuch: Drew Goddard Produktion: J.J. Abrams, Bryan Burk Besetzung: Michael Stahl-David Rob Hawkins Odette Yustman Beth McIntyre Mike Vogel Jason “J.J.” Hawkins Lizzy Caplan Marlena Diamond T.J. Miller Hudson “Hud” Platt Jessica Lucas Lily Ford Anmerkungen 1 Der Begriff Authentizität bezieht sich auf die Verbürgung der Echtheit. Authentizität kann auf den Ebenen der Narration, Rezeption und der Technik verortet werden. Beispielhaft seien hier die Beschränkung der Fokalisierung auf eine Person, der Verzicht auf Musik, die Verwendung einer einzigen innerdiegetisch anwesenden Handkamera und die Verortung des Machers (Hud) innerhalb des Films angeführt. All dies sind Realitätseffekte, die dem Zuschauer - der natürlich weiß, dass das, was der Film ihm zeigt, nicht seine Realität ist - die Distanz zum Filmgeschehen nehmen. Siehe hierzu Opl (Opl 1990) und die Homepage von Dogma95, im Internet unter http: / / www.dogme95.dk/ [31.01.2009]. 2 Zum Begriff kollektiver Bedeutungsstrukturen zwischen Akteuren und Objekten vgl. Hartmut Böhme (Böhme 2006: 73f.). 3 Gordon bezeichnet diesen Vorgang als “putting themselves in the other’s shoes” (Gordon 1987: 139). 4 Dazu Curtis: “Setzt Empathie immer die Darstellung von belebten Körpern voraus? Oder kann man den Begriff viel weiter fassen, indem man eine Entsprechung zwischen der Leiblichkeit des Zuschauers und der Kinetik des Filmes selbst annimmt? ” (Curtis 2006: 51) Lars Grabbe und Patrick Kruse 312 Literaturverzeichnis Aumont, Jacques 2007: “Der Point of View.”, in: Montage/ AV 16/ 1 (2007), Marburg: Schüren Verlag GmbH: 13-44 Bailblé, Claude 2007: “Das Kinodispositiv.”, in: Montage/ AV 16/ 2 (2007), Marburg: Schüren Verlag GmbH: 157-173 Bauer, Joachim 2006: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München: Wilhelm Heyne Verlag Branigan, Edward 1984: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin, New York, Amsterdam: Mouton Publishers Böhme, Hartmut 2006: Fetischismus und Kultur. 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