eJournals Italienisch 38/75

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3875 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Andrea Grewe / Giovanni di Stefano (Hrsg.): Italienische Filme des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015, 479 Seiten, mit s/w-Abb., € 39,80

2016
Monica Biasiolo
142 Buchbesprechungen andrea Grewe / Giovanni di Stefano (hrsg.): Italienische Filme des 20.-Jahrhunderts in Einzeldarstellungen. Berlin: erich Schmidt Verlag 2015, 479 Seiten, mit s/ w-abb., € 39,80 26 Filme, welche die Geschichte der italienischen Kinematografie zwischen 1933 und 2008 geprägt haben, 75 Jahre italienisches Kino und 26 zentrale Regisseure der italienischen Filmkunst: 1 Dies sind die Eckdaten des hier anzuzeigenden Bandes. Die Publikation ist jedoch deutlich mehr als die Summe der Erörterung von 26-Filmen. Dies gilt umso mehr, als ein Streifzug durch die italienische Filmkunst - wie auch in der dem Band vorangestellten Einführung korrekt bemerkt wird - eine echte Entdeckungsreise durch die Städte und Landschaften der italienischen Halbinsel ist, Einblicke in die Mentalität ihrer Bewohner, deren vielfältige sprachliche Facetten und ihre Sicht auf das Leben sowie die Möglichkeiten, aber auch in die Probleme des Landes erlaubt und damit einen Diskurs über die Nation und die Selbstwahrnehmung der Individuen, aus denen diese zusammengesetzt ist, anregt. Interdisziplinäre Verknüpfungen und interbzw. intramediale Verweise, die nicht unmittelbar zugängliche Verbindungen zutage treten lassen, bereichern die von den Herausgebern gewählte Konstellation und bieten eine genaue Kontextualisierung der Beispiele nicht nur in Leben und Werk des jeweiligen Regisseurs, sondern auch in der Geschichte des Mediums Film. Filmemacher können als aufmerksame Leser und Zuschauer in die Geschichte eingehen, als Verräter an einem literarischen Werk auftreten oder als Retter, die dieses vor der Vergessenheit bewahren. So kommt es nicht selten vor, dass Dichter sich während oder nach der Zusammenarbeit öffentlich von der Verfilmung ihres Werkes distanzieren. In anderen Fällen sind diese einander häufig widersprechenden Rollen in Personalunion vertreten, was unter anderem bei Pier Paolo Pasolini der Fall ist. Wurzeln in gleich mehreren Kunstfeldern können viele der für eine der für den Band ausgewählten Produktionen verantwortlichen Regisseure für sich verzeichnen. Stellvertretend hierfür soll Roberto Benigni genannt sein, dessen Darstellungsweise - in unterschiedlichem Grad bei allen seinen Werken - oft in der «Traditionslinie des dialektalen Volkstheaters, […] der Kneipen- und Festrezitation und des Varieté- und Revuetheaters» steht (S. 410), wofür der italienische Regisseur auf die Ursprünge seiner Karriere als Improvisationsdichter zurückgreift. Tatsächlich sind Bühnenerfahrung sowie Fachwissen aus dem Bereich der bildenden Kunst und der Filmgeschichte für die Tätigkeit eines Filmema- 2_IH_Italienisch_75.indd 142 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 3 chers ebenso unverzichtbar wie kameratechnische und musikalische Kenntnisse. Wiederaufnahmen von Ideen etablierter Regisseure und deren technischen Umsetzungen sowie die vor allem im Beitrag von Thomas Bremer zu Ettore Scolas C’eravamo tanti amati hervorgehobenen intermedialen Zitate (S.- 291-292) können nur auf diese Weise bewusst als Hommage oder als Mittel, das den eigenen Film in eine bestimmte Tradition der Filmgeschichte einreiht, eingesetzt werden oder alternativ zum Aufbau ironischer Anspielungen an andere Arbeiten oder Fakten der Gegenwart dienen. Eine Betrachtung des italienischen Films wäre unvollständig ohne eine Rückbesinnung auf dessen Wurzeln, die 1895 mit der Patentierung des Kinematografen des Ingenieurs, Erfinders und Filmemachers Filoteo Alberini beginnen, jenem Jahr, in dem die Brüder Lumière im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs mit zehn selbstgedrehten Kurzfilmen durchführten. Der in der Einführung des Bandes erwähnte Alberini ist 1905 mit La presa di Roma. XX settembre 1870 auch einer der ersten Pioniere, die die Form des langen Kinofilms erprobten. Zu seinen Nachfolgern in der Behandlung wichtiger Aspekte des Weges zur nationalen Einheit zählt die im Band von Marijana Erstic´ besprochene Verfilmung Il Gattopardo (1963) von Luchino Visconti nach dem gleichnamigen Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, die sich durch die authentische Rekonstruktion des historischen Ambientes auszeichnet, sowie Mario Martones Noi credevamo (2010), das die Schaffung der nationalen Einheit Italiens in bewegte Bilder umsetzt und in den einführenden Worten des Bandes als letztes hervorstechendes Werk aus diesem Kreis Erwähnung findet (S.- 11). Neben diesen Filmen, welche die historischen Ereignisse des Risorgimento aufarbeiten, greifen andere - ein Beispiel dafür ist der Monumentalfilm Quo vadis? (1913) von Enrico Guazzoni - Stoffe aus der Antike auf. Das beginnende 20.- Jahrhundert, in dem sich die italienische Filmindustrie entwickelte, die aufwändige und massenwirksame Werke hervorbrachte, ist jedoch auch die Zeit, in der die Futuristen, die sich seit den 1910er Jahren mit dem neuen Medium Kino in theoretischen Schriften und Filmrezensionen beschäftigen, mit ihren experimentellen Filmproduktionen ihre Vorsätze in die Praxis umsetzen. Das Manifest zum futurischen Kino von Filippo Tommaso Marinetti, Bruno Corra, Emilio Settimelli, Arnaldo Ginna, Giacomo Balla und Remo Chiti definiert die Vorgaben hierfür über die Attribute «antigrazioso, deformatore, impressionista, sintetico, dinamico, parolibero». Fast parallel dazu versuchen andere Regisseure wie Nino Martoglio und Gustavo Serena, der mit Francesca Bertini zusammenarbeitet, im Gefolge der Poetik der Veristen neue Wege zu erkunden. Die Resonanz beim Publikum auf diese beiden Strömungen blieb allerdings gering, wenn auch 2_IH_Italienisch_75.indd 143 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 4 die Ziele und Mittel des veristischen Films im Rahmen der Erneuerungsversuche der Kinematografie mit dem Neorealismus später wieder aufgenommen werden sollten. Nach der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten (sich auch auf die Filmkunst erstreckenden) Krise wurde das Medium durch den Faschismus Benito Mussolinis (das Istituto Luce wurde 1924 in Rom gegründet) in eines der bevorzugten Propagandainstrumente umgewandelt. Der Film und die nationale Identität standen also erneut in engem Zusammenhang, vorwiegend im Rahmen der Internalisierung des vorbestimmten Glaubenssystems durch die Neukodifizierung nationaler Mythen über konkrete Repräsentationsästhetiken. Als Barometer für die Veränderungen in der Entstehungszeit der Werke wird das italienische Kino auch durch den Gründer der Filmzeitschrift Cinematografo, Alessandro Blasetti, erkannt, der die Stunde Null des Mediums deklariert und sich für eine Wiedergeburt der italienischen Filmproduktion, die «durch die amerikanische Konkurrenz fast zum Verschwinden gebracht worden war» (S. 33), einsetzt. Zu den Regisseuren, die zum Wiedererstarken des italienischen Kinos in jener Zeit beitragen, zählt u.a. Mario Camerini, der mit Gli uomini, che mascalzoni... (1932) den Prototyp dessen vorlegt, was später als commedia all’italiana in Werken wie Il Sorpasso (1962) von Dino Risi (im Band werden sein Inhalt sowie seine Struktur von Ulrich Döge eingehend untersucht) einen seiner Höhepunkte finden wird. Der nicht nur filmischen Produktion von Alessandro Blasetti widmet sich Elisabeth Fraller im ersten Beitrag des Bandes, in dem der Historienfilm 1860 (1933) analysiert wird, dessen politische Ausrichtung bereits anhand der beiden hier zu lesenden Jahreszahlen erahnbar ist. Bei der in diesem Sammelband in allen Beiträgen praktizierten umfassenden Analyse von Kontext und Auswirkungen geht auch Fraller akkurat und kontextbezogen vor, was beispielsweise daran erkennbar ist, dass sie auch Bezüge zu den Debatten über die Notwendigkeit und mögliche Modi einer Erneuerung des italienischen Kinos anstellt. Es sollte allerdings bis 1943 dauern, bis Ossessione von Luchino Visconti als Antwort auf die geschminkte Wirklichkeit der faschistischen Ära den Weg in die neorealistische Ästhetik weisen würde, in deren Zuge später Roberto Rossellini und Vittorio De Sica operieren werden. Jede (euphemistische) Rhetorik wird entsprechend abgelehnt. Ähnliche Abneigung wird dem cinema dei telefoni bianchi zuteil, dem Unterhaltungsfilm schlechthin, ebenfalls ein im Italien des Faschismus entstandenes Produkt. Vom Neorealismus, der Roland Barthes Worten folgend «genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen», handeln im Band die Besprechungen der Filme Roma città aperta (1945) und Ladri di biciclette (1948), die von Margherita Siegmund, 2_IH_Italienisch_75.indd 144 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 5 die die hybride Filmsprache Rossellinis hervorhebt, und Franco Sepe untersucht werden. Letzterer berichtet neben Sujet, Merkmalen, Funktion und Rezeption des nach dem gleichnamigen Roman von Luigi Bartolini entstandenen Kunstwerkes De Sicas auch über die bei seiner Realisierung zu überwindenden finanziellen Probleme sowie über die zwischen Regisseur und Drehbuchautor auf der einen und dem Schriftsteller auf der anderen Seite ausgebrochene Querelle, in deren Zuge die filmische Adaption als ein Verrat bezeichnet wird. Ein Rückgriff auf die erzählende Literatur (als literarische Quellen sind hierbei neben Carlo Salsas Trincee - Confidenze di un fante (1924) und Emilio Lussus Un anno sull’Altipiano (1938) Edmondo De Amicis’ La vita militare (1868) und Giani Stuparichs Guerra del ’15 (Dal taccuino di un volontario) (1931) zu nennen) wird - wie Giovanni de Leva in seinem Beitrag belegt - auch mit La Grande Guerra von Mario Monicelli aus dem Jahre 1959 unternommen, welches ein ungeschöntes Bild des Krieges aus «den Augen der ‘soliti ignoti’» (S. 94) bieten will. Monicelli, der selbst ein Kriegskind war, will die Geschehnisse in realistischer Darstellung erzählen, um Kontinuitätslinien zwischen den beiden Kriegstraumata Italiens zu ziehen. Ein zentrales Anliegen Monicellis ist daher, die auf Zeugnisse und Bilder gestützten Lügen der Propaganda, die beide Weltkriege begleiteten, vorbereiteten und ihnen folgten, aufzudecken. Zudem wird jenes in den Schützengräben geschmiedete Gefühl der Zusammengehörigkeit jenseits der geografischen und sozialen Herkunft des Einzelnen betont, das die Rolle eines konstitutiven Elements für die Festigung der nationalen Identität innehatte. Wie der Film Monicellis, eine Mischung zwischen Drama und Komödie, dem Genie von Schauspielern wie Alberto Sordi und Vittorio Gassman Raum zur Entfaltung gibt, macht der in Rimini geborene Federico Fellini Marcello Mastroianni zu einer der Ikonen des Kinos überhaupt und nicht zuletzt zu seinem künstlerischen Alter Ego. International bekannt wurde Mastroianni mit der Rolle des Marcello Rubini in dem vieldiskutierten Film La dolce vita aus dem Jahre 1960, welcher in serieller Struktur und im Gegensatz zu dem, was der Titel suggerierte, nicht das rauschhafte Leben im Rom der 1950er Jahre, sondern ein Fresko moderner Dekadenz der wohlhabenden Gesellschaft schilderte. Dies wird auch von Uta Felten in ihrer aufschlussreichen Untersuchung beschrieben, die dieses Meisterwerk des Maestro Fellini «als ironische Demontage des christlichen Rom-Mythos im Zeichen der Melancholie und der karnevalesken Anthropologie» deutet (S. 112). Einen Umbruch im Werk Fellinis, dessen Filme bis dahin «auf eine christliche Narrativik [rekurrieren] und mit einem ‘optischen Drama’ [enden]» (S.-107), bedeutet nicht nur La dolce vita, sondern auch 8½ (1963), in dem Fellini anhand der Schaffenskrise seines Protagonisten, des Filmregis- 2_IH_Italienisch_75.indd 145 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 6 seurs Guido Anselmi, «viele inhaltliche sowie strukturelle Schwerpunkte seines Kinos» reflektiert (S.- 177). Leonarda Trapassi setzt sich mit einem Kinokonzept des Maestro aus Rimini auseinander, das eine vollständige Abkehr vom Neorealismus bedeutet (S.- 170) und Spuren von Fellinis Beschäftigung mit den Theorien von Carl Gustav Jung enthält (S.- 178). Von einer anders gearteten Lebensleere spricht Michelangelo Antonioni in L’eclisse (1962), dem dritten Teil seiner Anfang der 1960er Jahre entstandenen Trilogie, die mit L’avventura (1960) und La notte (1961) begonnen hatte. In dem Film L’eclisse - Beate Ochsner rekurriert in ihrer Analyse auf den vom Regisseur selbst geprägten Begriff ‘la malattia dei sentimenti’ (S.- 123) - sieht sich der Zuschauer mit einer neuen Bildsprache konfrontiert: Rein optische und rein akustische Situationen, das Ausbleiben von Reaktionen, affektionslose Räume sowie Synergien zwischen allen diesen Aspekten, beispielsweise in der Parallele zwischen dem Ende einer Nacht und dem Ende einer Beziehung dargestellt, aber auch Formen der Dezentrierung von Objekten schaffen eine neue Ästhetik, von der aus neben einer Verbindungslinie zu Raumtheorien eine ebensolche zu Jean-Paul Sartres néantisation aufgestellt werden kann, wie von Ochsner beschrieben wird (S. 127-129). Der Aufbruch einer neuen Generation von Autoren und Filmemachern bereichert jene Jahre sowohl künstlerisch als auch politisch: Das vielleicht herausragendste und paradigmatischste Beispiel hierfür ist Pier Paolo Pasolini, der sich Anfang der 1960er Jahre auf die Lage des Subproletariats konzentriert und aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen in den borgate romane, die er als eine andere Art von Heimat entdeckt, mit Accattone (1961) und Mamma Roma (1962) entsprechende Werke entwickelte. Die Parabel des multitalentierten Pasolini, insbesondere jene Stelle, die den Regisseur an der Arbeit an Uccellacci e uccellini (1966), «un’operazione poetica nel linguaggio della prosa», als die Pasolini den Film selbst beschrieb, 2 beschäftigt sieht, untersucht im Band Giovanni di Stefano, der das genannte Werk «an der Schnittschnelle zwischen den frühen im subproletarischen bzw. kleinbürgerlichen Milieu angesiedelten Filmen und der folgenden Schaffensphase [einordnet], die durch die unerbittliche Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie und nostalgische Evokation antiker Mythen gekennzeichnet ist» (S.-216). Di Stefano geht auf die erheblichen Abweichungen zwischen der schriftlichen Version des Drehbuchs und dem endgültigen Werk und auf die im Film realisierte Synthese von Ideologie und Komik ein (S.- 218). Pasolini bildet einen wichtigen Referenzpunkt für später geborene Regisseure, wie am Beispiel von Nanni Moretti gesehen werden kann, der in seinem Film Caro diario (1993) am Ende seiner Fahrt quer durch Rom auf 2_IH_Italienisch_75.indd 146 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 147 seiner Vespa den Ort der Ermordung des aus Bologna stammenden Dichters, Intellektuellen und Regisseurs besucht und damit eine Hommage an ihn und zugleich «an das politisch engagierte, moralische Kino Pasolinis» (S.- 384) schafft. Wie Sabine Schrader in ihrem Beitrag erläutert, gehört Moretti zu den jungen Filmemachern, die auf der Szene erscheinen, als das italienische Kino eine starke Krise durchläuft, die auch dadurch bedingt ist, dass eine mächtige Konkurrenz in Form des Fernsehens und der auf Videokassetten erhältlichen Blockbuster auftritt. In sein Werk Caro diario, das sich deutlich von der «schnelle[n], postmoderne[n] Film- und Videoästhetik» (ebd.) abhebt, fließen viele persönliche Erfahrungen und Ansichten ein. Dies gilt u.a. für seine Präsentation der architektonischen Vielfalt der Stadtränder Roms, in deren Rahmen auch die Hochhäuser eine Identität und Geschichte gewinnen. Gänzlich anders fällt die Auseinandersetzung von Francesco Rosi in Le mani sulla città (1963) mit in Billigbauweise errichteten palazzoni aus, der als echter Pionier im Genre des engagierten politischen Kinos die Korrumpierbarkeit der Politiker und die Vernetzungen zwischen Politik und Wirtschaft in einem Neapel anklagt, an dem stellvertretend die Mechanismen der Bodenspekulation durchgespielt werden. Die Bezugnahmen auf diesen Film nicht zuletzt durch Marco Tullio Giordanas I cento passi (2000), Mimmo Caloprestis La seconda volta (1995) und Giuseppe Tornatores Baarìa (2009) (S. 187) bleiben von Roberto Ubbidiente, der seinen Beitrag diesem capolavoro des Maestro Rosi widmet, nicht unerwähnt. Im Zeichen des Engagements steht auch das Gesamtwerk von Marco Bellocchio, hier anhand seines Kinoerstlings I pugni in tasca (1965) von Daniel Illger präsentiert, der neben dem Genrereichtum des Kinos des in Bobbio (Piacenza) geborenen Regisseurs dessen thematische Kohärenz erkennt, die, wie der Filmemacher selbst zugibt, darin besteht, «vehemente Frontalangriffe auf die bürgerlichen Institutionen Familie, Staat und Kirche» zu führen (S.- 199). In diesem Sinne ist auch Nel nome del padre (1971) zu verstehen. Ähnliches gilt für u.a. Salto nel vuoto (1979), Buongiorno, notte (2003) und I pugni in tasca, eine kompromisslose Abrechnung Bellocchios mit der italienischen Nachkriegsgesellschaft, insbesondere ihren Moralvorstellungen und Konventionen, die das Individuum erdrücken, zugleich jedoch auch ein Psychodrama mit «einem gothischen Gepräge» (S.- 211). Das italienische Kino der 1960er Jahre entwickelt neben Filmen wie denjenigen von Fellini, Visconti und Antonioni auch Genrefilme, deren Einfluss bis ins Ausland reichen wird. Es handelt sich neben dem Genre Horror, das «in jenem Jahrzehnt vor allem in der Gewandung des Gothic daherkam» (S.- 210), um den Italowestern, hier dargestellt am Beispiel von C’era una volta il West (1968) von Sergio Leone, das zu den wichtigsten und populär- 2_IH_Italienisch_75.indd 147 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 8 sten Beispielen dieser Subgattung zählt. Dem so genannten ‘Spaghettiwestern’, der über Jahre hinweg große Kassenerfolge in Italien feiern konnte, widmet sich im vorliegenden Band Ralf Junkerjürgen, welcher den Blick des Lesers sowohl auf den Kontext der Entstehung dieses Subgenres als auch auf dessen besondere Stilmerkmale sowie auf die bei Leone bestehende Koexistenz zwischen zeitlicher Desorientierung und räumlicher Orientierung und auf die Wirkung der von Leone inszenierten Ästhetik der Gewalt auch über die Gattung hinaus, etwa deren Einfluss auf Stanley Kubricks A- Clockwork Orange (1971), lenkt. Als ebenso interessant stellen sich auch die Anmerkungen des Verfassers bezüglich der bestehenden Diskrepanz zwischen dem italienischen Original und der deutschen Synchronfassung heraus, deren möglichen Grund Junkerjürgen mangels Zugang zu den Dokumenten der deutschen Synchronregie in einer Re-Italianisierung des Werkes findet. In der Schilderung der Bedeutungslosigkeit des modernen Lebens im Zeichen der Kritik der Zeit mit Bellocchios Werk vergleichbar ist der Film Dillinger è morto (1969), mit dem sich Anna Masecchia in ihrem Beitrag befasst. Masecchia bezeichnet diesen Film von Marco Ferreri, der das Hollywood-Genrekino bereits im Titel mittels einer Anspielung auf den USamerikanischen Kriminellen John Dillinger für tot erklärt, als «eine singuläre Erscheinung», deren Einordnung in eine bestehende Kategorie scheitern müsse (S.- 254). Das Werk erlaube jedoch durch seine Darstellung einer Obsession das Zeichnen einer Kontinuitätslinie mit anderen Filmen des Regisseurs, beispielsweise mit La grande abbuffata (1973). Bei Dillinger è morto handle es sich um ein Kino, von dem gesagt wurde, dass es jegliche Identifikation des Zuschauers mit den Protagonisten verhindere oder diese zumindest erschwere, dabei jedoch auf die Aktivierung des Betrachters abziele. Theoretische Reflexionen über die damalige Gegenwart, etwa wie diejenigen in Guy Debords Schrift La société du spectacle (1967), bieten wichtige Einblicke in die Kunst dieses vieldeutigen Werkes (S. 264-266). Provokationen gegen die etablierte bürgerliche Ordnung sind auch an anderen Stellen vorhanden. So tritt im Beitrag von Rada Bieberstein die italienische Regisseurin Lina Wertmüller, deren Werk viele Stilmittel mit der commedia all’italiana teilt, sich aber nicht auf dieses Genre beschränkt, mit ihren Originalschöpfungen über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jener Zeit der Revolten, Proteste und Streiks hervor. Frauen, die Filme drehen, sind zur Zeit der ersten Dreharbeiten von Wertmüller, die erst 1972 mit einer Serie von vier Filmen mit dem italienischen Schauspieler Giancarlo Giannini in der Hauptrolle ihren Durchbruch schafft, wenn überhaupt, nur selten anzutreffen, auch wenn das erste Vorbild auf italienischem Boden sich mit Elvira Notari bereits auf Anfang des 20.-Jahrhunderts datieren lässt. Im Kern des filmischen Œuvres Wertmüllers, aus deren Werk Bieberstein für ihre 2_IH_Italienisch_75.indd 148 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 14 9 Analyse Mimì metallurgico ferito nell’onore (1972) ausgewählt hat, stehen Machtverhältnisse in der Politik sowie in den Geschlechterbeziehungen ebenso wie der Süden des Landes und seine Menschen. Auch die Thematisierung der Mafia und ihrer Mechanismen wird nicht ausgespart. Die Tatsache, dass sich die italienische Filmlandschaft mit brennenden Themen der Geschichte Italiens befasst und diese zur Bewusstseinsbildung ihrer Zuschauer inszeniert, impliziert, dass die Rekonstruktion der Geschichte Italiens auch über die Geschichte der italienischen Filmkunst erfolgen kann. Ettore Scola operiert in C’eravamo tanto amati (1974), einer Hommage an Vittorio De Sica, auf genau diese Weise, indem er auf den ersten Blick über drei Jahrzehnte des Lebens dreier Männer und der zwischen ihnen stehenden Frau berichtet. Seine intermedialen Zitate, welche die Geschichtsschreibung des italienischen Kinos der Nachkriegszeit explizit mit einschließen, werden von Thomas Bremer kenntnisreich untersucht. Drei Jahrzehnte, also zwei Drittel der Jahre, die Bernardo Bertolucci, der als Regieassistent bei Pasolinis Erstling Accattone mitwirkte, am Beispiel des Lebens zweier am selben Tag in der Emilia-Romagna geborener Jungen in seinem Monumentalfilm Novecento (1976) umspannt. 3 Die detaillierte und tief gehende Analyse von Gerhild Fuchs ist sicher eine der besten Auslegungen dieses Films, dessen Laufzeit, ursprünglich mehr als fünf Stunden, zwar abschrecken mag, dessen Inhalt aber - wie der Regisseur 2006 in einem Brief an einen Kritiker erklärt - «poesia» ist. Die Skandale, die dieser Film von Bertolucci auslöste, wiederholen sich im Fall von Ermanno Olmi nicht, dessen Werk L’albero degli zoccoli (1978), eine Chronik des einfachen Lebens und der Herrschaftsverhältnisse der dort erzählten Zeit (einer «Vergangenheit eines Landes wie Italien, das bis Anfang der 1960er Jahre wirtschaftlich noch stark von landwirtschaftlichen Strukturen geprägt war», S.-322), im Fokus des Beitrags von Livia Novi steht. Vom Werk, das mit vielen seiner stilistischen Entscheidungen Merkmale des Neorealismus aufgreift und Bilder, «die der Handlung eine Ordnung geben und oft mehr sagen als Worte» (S. 328), als primäres strukturelles Element nutzt, hebt Novi die Arbeit Olmis an der Umwandlung seiner «memoria personale» in eine «memoria collettiva» hervor (S. 330). Der Beginn der 1980er Jahre steht in gesellschaftspolitischer Hinsicht im Zeichen der Krise: Im Zeitraum zwischen 1978, dem Jahr der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro, der zwischen 1974 und 1976 als Ministerpräsident amtiert hatte, und 1980, dem Jahr des Bombenanschlags auf den Hauptbahnhof in Bologna, erreichen die anni di piombo ihren Höhenpunkt. Zudem verstärkt sich in den genannten drei Jahren auch jene schwere Wirtschaftskrise, die erst ab Mitte der 1980er Jahre überwunden werden kann. Die technischen Innovationen dieser Jahre auf dem Gebiet der Kinematografie erleichtern zwar viele Produktionspro- 2_IH_Italienisch_75.indd 149 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 150 zesse, das italienische Kino wird jedoch durch die politischen und wirtschaftlichen Unruhen und durch die ständig stärker werdende Konkurrenz aus Übersee bedroht. Nichtdestotrotz treten einzelne junge neue Schauspieler sowie Regisseure, die in ihren Filmen häufig auf die frühen Erfahrungen des Neorealismus rekurrieren, auf die Bühne. In vielen Fällen, wie beispielsweise bei Massimo Troisi, dessen Erstling Ricomincio da tre aus dem Jahre 1981 ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Lesers des Beitrags von Andrea Palermo gerückt wird, und dem aus der Toskana stammenden Oscarpreisträger Roberto Benigni, dessen über die Grenzen Italiens hinaus bekanntester Film La vita è bella (1997) von Irmbert Schenk analysiert wird, übernehmen sie sogar beide Rollen gleichzeitig: Erfahrungen als Künstler haben beide Regisseure bereits hinter sich, die 1980er Jahre kennzeichnen jedoch ihr Debüt hinter der Kamera. Als Themen wählt diese neue Generation von Filmemachern neben dem Alltag der einfachen Menschen brennende Punkte der Geschichte, deren Gedächtnis sie als Kinder der Kriegsgeneration bewahren wollen und mit deren Hypotheken sie sich konfrontiert sehen. Beide thematischen Hauptkerne, nämlich der Alltag und das Paar Geschichte und Gedächtnis, das mit der Selbstreflexion über das Medium Film um einen dritten Themenbereich zu ergänzen ist, treten nicht zuletzt aus autobiografischen Gründen in die Werke ein. Beispielsweise geschieht dies bei dem bereits genannten Film von Troisi, in dem der Protagonist Gaetano häufig auch Anmerkungen über die physische Gesundheit macht, die Andrea Palermo in seinem Beitrag in Bezug auf den bereits in der Zeit der Dreharbeiten des betreffenden Films stark herzkranken Regisseur, der kurz nach dem Ende seiner Interpretation in Il Postino (1994) von Michael Radford an einem Herzinfarkt verstarb, für «durchaus als autobiografisch» interpretierbar hält (S. 344). Während Gaetano, da «er immer vom Krieg träumen würde», (S.-343) lediglich an Schlaflosigkeit leidet, findet der Zweite Weltkrieg in La notte di San Lorenzo (1982) der Brüder Taviani eine ausführliche Darstellung in Form des «im Dom von San Miniato […] am 22. Juni 1944 begangene[n] Massaker[s], das [bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts offiziell, M.B.] als Vergeltungsmaßnahme der deutschen Soldaten auf der Flucht betrachtet» (S.- 354), eigentlich jedoch von einer amerikanischen Granate verursacht wurde (S. 355). Präsentiert wird dieser Film dem Leser von Emiliano Morreale, der in der dort spürbaren «starke[n] Betonung der Mechanismen der Erinnerung» (S. 356) eine ähnliche wie die u.a. in Olmis L’albero degli zoccoli und in Francesco Rosis Cristo si è fermato a Eboli (1979) angewendete Strategie erkennt. Der Film bewege sich sogar «[i]m Großen und Ganzen […] ganz im bewusst dialektischen Spannungsfeld zwischen Geschichte und Erinnerung, zwischen Erbe des Historismus und Zeit des Mythos, zwischen Ereigniszeit und Jahreszeit» (S.- 359). 2_IH_Italienisch_75.indd 150 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 151 In Giuseppe Tornatores Arbeit Nuovo Cinema Paradiso (1988) werden die Kindheitserinnerungen des Protagonisten, des Filmregisseures Salvatore Di Vita, hingegen erst in den späten 1940er Jahren angesiedelt. Der Film ist eine Liebeserklärung Tornatores an das Kino, insbesondere an die Klassiker der Filmgeschichte, so etwa «Viscontis La Terra Trema, Lustspiele mit dem Kino-Clown Totò [und] Melodramen mit Jean Gabin» (S. 370), die Tornatore durch die eingebauten Filmvorführungen zitiert, wie Thomas Koebner in dem entsprechenden Aufsatz bemerkt (ebd.), in dem auch die Geschichte des Kinos als Erlebnisort und Ort der Träume hervortritt. Träume wie jene, die das Kino seinen Zuschauern schenkt, sind in erster Linie auch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Dies erzählt dem Zuschauer Lamerica (1994) von Gianni Amelio, der sich auf das Albanien der Ära nach Enver Hodscha bezieht; auf ein Land, das Opfer von Spekulationen wurde und das Millionen von Flüchtlingen verlassen haben, jedoch auch auf ein Albanien, das dabei ist, von den Italienern besetzt zu werden. Amelio zieht Parallelen zwischen der Gegenwart und den Einwanderern aus jener Zeit, als Albanien 1939 zur Kolonie des Königreichs Italien wurde und der albanische Präsident Ahmet Zogu dringend Geldgeber brauchte, um die notwendigen Investitionen vornehmen, seine Herrschaft stabilisieren und die Staatsausgaben bestreiten zu können: Er beschreibt die Geschichte der vielen, die in den Händen von skrupellosen Schleppern Italien erreichen, das für sie ebenso ein Traumland ist, wie es Amerika Ende des 19.-Jahrhunderts für die emigranti italiani war, und der ebenso vielen, die Profite auf Kosten der ärmsten Länder machen wollen. Eine fortdauernde Aktualität ist dem Film Amelios, in dem - wie Daniel Winkler in seiner Analyse betont - auch auf neorealistische Verfahren und Anleihen rekurriert wird, zu bescheinigen, wenn man an die heute wieder alltäglichen Bilder und Berichte zu Flüchtlingen denkt. Ein cinema impegnato fordert (und schafft) ebenfalls Marco Tullio Giordana mit dem Historienfilm La meglio gioventù (2003), der im Unterschied etwa zu dem Werk der Brüder Taviani oder Benignis nicht in der Kriegszeit, sondern 1966 seinen Ausgang und 2003 seinen Endpunkt findet und der bereits dem Titel nach eine Hommage an Pasolini darstellt. Dessen Erzählstrategien, Struktur, Bezugspunkte und Rezeption werden in dem umfassenden Beitrag von Andrea Grewe eröffnet, die auch auf die folgenden Worte einer der dort dargestellten Figuren zurückkommt: «L’Italia è […] un posto bello», ma «[…] destinato a morire» (dt.: S. 439). Machtmissbrauch: Dies ist eine der Krankheiten Italiens, die Giordana wie der Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano und auch Matteo Garrone, der Regisseur des aus dem Bestseller Savianos Gomorra hervorgegangenen gleichnamigen Films (2008), behandeln. Wie stark sich das Buch vom Film unterscheidet, zeigt Birgit Wagner, welche die Unterschiede in den 2_IH_Italienisch_75.indd 151 30.06.16 17: 11 Buchbesprechungen 152 Darstellungsmodi des einen und des anderen Werks erklärt und den Filmspielort als «neo-neorealistisch […] gezeichnet» beschreibt (S. 458). Auch eine Analyse von Kontaktpunkten zwischen signifikanten Stellen im Film sowie der Unmöglichkeit der Einstufung des Werkes in ein einziges Genre lässt dieser Beitrag nicht vermissen. Zu lang wäre die Liste aller der im Band zitierten Namen von Werken, Regisseuren, Drehbuchautoren (der in Luzzara (Reggio Emilia) geborene Cesare Zavattini bildet hierbei durch seine vielfältigen Projekte einen der roten Fäden des Sammelbandes), Produzenten, Schauspieler und Schauspielerinnen. Eine Auswahl ist im Fall eines Sammelbandes über ein so reiches Thema wie das des italienischen Kinos stets schwer zu treffen. Die Kriterien, die der notwendigerweise gemachten Auswahl zugrunde liegen, werden jedoch in der den einzelnen Beiträgen vorangestellten kurzen Einführung, in welcher die Kontinuitätslinie sowie Abweichungen und Umbrüche der italienischen Filmgeschichte bis 2013 besprochen werden, ausführlich dargelegt. Der Sammelband setzt darüber hinaus konkrete thematische Schwerpunkte, denen er konsequent folgt. Sehr nutzbringend ist die zum Ende jeder Untersuchung hinzugefügte Bibliografie sowie die allgemeine Bibliografie zur italienischen Filmgeschichte am Ende der von Grewe und di Stefano verfassten Einführung. Die Beiträge sind eine lohnende Lektüre für den Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaftler sowie für alle Interessenten und Liebhaber der Filmkunst und Filmgeschichte - vor allem, wenn man sich für die italienische Kultur in all ihren Schattierungen interessiert, eine Kultur, die das Auge der Kamera in ein auf Italien sowie auf die Welt gerichtetes Auge transformiert. Monica Biasiolo anmerkungen 1 Federico Fellini ist im Band zweimal vertreten, jedoch wurde an einer anderen Stelle mit den Brüdern Taviani die Zusammenarbeit zweier Regisseure behandelt. 2 Pier Paolo Pasolini, «Confessioni tecniche», in ders., Per il cinema, a cura di Walter Siti e Franco Zabagli, con due scritti di Bernardo Bertolucci e Mario Martone e un saggio introduttivo di Vincenzo Cerami. Cronologia a cura di Nico Naldini, 2 voll. [hier vol. II], Milano: Mondadori 2001, S. 2768-2781, hier S. 2779. Die Kursivierung wurde vom Original übernommen. 3 Die in einer nicht näher spezifizierten Zukunft spielende Schlusssequenz wird für diese Betrachtung bewusst außer Acht gelassen. 2_IH_Italienisch_75.indd 152 30.06.16 17: 11