eJournals Italienisch 38/75

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2016
3875 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Abjekte Fetische

2016
Christine Ott
32 C hri ST i N e oTT abjekte Fetische elena Ferrantes Schreiben im Zeichen des vréel für Dora Ott-Mangini (10.8.1947-21.4.2015) 1. elena Ferrante - eine literarische Sensation, die niemand kennt Eine gestohlene Puppe; ein Männerschuh, der zur falschen Zeit am falschen Ort erscheint; ein Koffer mit Luxuswäsche als letzte Botschaft der verschwundenen Mutter: Diese und weitere Fetische, in denen sich entscheidende Momente exemplarischer Frauenschicksale verdichten, machen den unergründlichen Reiz der Romane Elena Ferrantes aus. Wer ist Elena Ferrante - wer ist diese Autorin, von der weder Fotos noch biographische Details bekannt sind und deren jüngster Roman von der New York Times unter die Top Ten des Jahres 2015 aufgenommen wurde? Von ihrem Namen weiß man nur, dass er ein Pseudonym ist, aus schriftlich gegebenen Interviews geht hervor, dass der Verzicht auf mediale Präsenz Kern ihres Autorschaftskonzeptes ist - ein Konzept, das sich heute gängigen autofiktionalen oder automedialen Selbstinszenierungen von Schriftstellern radikal widersetzt. 1 Ferrante möchte allein durch das, was sie schreibt, wahrgenommen werden. So ist es nur konsequent, dass sie ihr gesamtes Werk bei dem unabhängigen Römer Verlag Edizioni E/ O veröffentlicht hat. Eine umfassende Reflexion über das Verhältnis von Autorschaft und ‘Tod des Autors’, von Fiktion und Realität und über die Spezifik weiblichen Schreibens hat Ferrante in ihrer Tetralogie L’amica geniale vorgelegt. Ihr Gesamtwerk ist zugleich eine der bedeutendsten gegenwärtigen Stellungnahmen zur condition féminine des 20. und 21. Jahrhunderts. Ferrantes Schreiben ist, ihren eigenen Angaben zufolge, vom Denken Melanie Kleins und Luce Irigarays beeinflusst; es lässt sich, mit einem Begriff von Marianne Hirsch, der feminist family romance zuordnen, jener Literatur also, die ausgehend von einer Revision Freudscher Theoreme die Spezifik des Frau-Seins ausgehend von der Mutter-Tochter-Beziehung her zu begreifen sucht. 2 Zwar legt Ferrante Wert darauf, ihre Romane nicht als ein bloßes Ausbuchstabieren psychoanalytischer Theorien verstanden zu wissen. 3 Andererseits hat sie jedoch in Briefen und schriftlichen Interviews selbst Deutungen für ihr Werk vorgeschlagen, durch die sie sich unmissverständlich als 2_IH_Italienisch_75.indd 32 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 3 3 Vertreterin einer feministischen Freud-Revision positioniert. So kann man Ferrantes erste drei Romane L’amore molesto, I giorni dell’abbandono und La figlia oscura als eine systematische Erforschung weiblicher Rollenidentitäten und -konflikte - als Tochter, Ehefrau, Mutter - lesen. Die Protagonistinnen der Romane kämpfen um Autonomie in einer männlich dominierten Welt; sie kämpfen zugleich um die Abnabelung von der eigenen Mutter, die sie ebenso verworfen haben wie ihren Geburtsort Neapel und den dortigen Dialekt. Die unvermeidliche Wiederkehr der verdrängten Mutter gestaltet sich als eine Erfahrung der körperlichen Ohnmacht, ja ‘Auflösung’, die den Töchtern ihre Autonomie und individuelle Identität zu nehmen scheint und auf die sie typischerweise mit heftigen Ekelgefühlen reagieren; ferner als eine Regression in den mütterlichen Dialekt. Wie Stiliana Milkova besonders anhand von L’amore molesto und La figlia oscura gezeigt hat, legt die in Ferrantes Romanen omnipräsente Erfahrung des Ekels eine Analogie zu Julia Kristevas Theorie der abjection nahe. Ich folge Milkova in dieser Hinsicht und möchte diesen Ansatz hier auch auf die Tetralogie L’amica geniale ausweiten. Allerdings scheint mir Milkovas These, wonach der Ekel Ferrantes Frauen einen «space for transgression and liberation» (aus patriarchalischen Rollenmustern) 4 eröffne, ein wenig zu optimistisch. Die Thesen, die ich im Folgenden entwickeln möchte, sind vielmehr folgende: 1) Auch wenn es Ferrante darum geht, eine spezifisch weibliche Realitätserfahrung zu beschreiben, verfällt sie keinem feministischen Essenzialismus im Sinne einer Glorifizierung des Mutter- oder Frauseins. Ihre Identitäten als Mütter oder Töchter ermöglichen den Protagonistinnen zwar, ihr individuelles Bewusstsein zu überschreiten; diese Erfahrung führt jedoch nicht automatisch zur ‘Befreiung’. 2) Ferrantes Schreiben kreist um den Versuch, einen präsymbolischen Ort der Artikulation und der Sinnbildung zu erreichen, der vor der Individuierung und Abspaltung von der Mutter liegt. Dabei inszeniert insbesondere L’amore molesto die psychische Regression der Protagonistin in diesen Raum. Sie verläuft über eine De-Strukturierung der Raum-, Zeit- und Selbstwahrnehmung der Protagonistin. Dagegen ist die Struktur der Tetralogie stärker von einer Subjekt-Objekt-Logik geprägt, in der die Erzählerin das Präsymbolische aus der Warte der symbolischen Ordnung heraus einzufangen sucht und die Erfahrung des Präsymbolischen auf eine andere weibliche Figur verlagert wird. 3) Auch wenn Ferrantes Entmystifizierung der Mutter (eines patriarchalen Mutterideals) einem zeitgenössischen Trend entspricht, dessen Berechtigung hier keineswegs in Frage gestellt werden soll, äußert sich in ihrem Schreiben zugleich eine Konzeption weiblicher Subjektivität, die sich deutlich 2_IH_Italienisch_75.indd 33 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 3 4 vom heute dominanten Ideal individueller Selbstverwirklichung unterscheidet. Die damit in äußerster Knappheit skizzierte Entwicklung von Ferrantes Schreiben soll in einer größeren Arbeit ausführlich behandelt werden. Für den vorliegenden Beitrag beschränke ich mich auf eine Untersuchung, die Ferrantes Konzepte von Autorschaft, Mutterschaft, Abjektion und condition féminine insbesondere anhand von L’amore molesto und L’amica geniale darlegt. 2. ursprünge Der Name jener Autorin, die Mutter-Tochter-Beziehungen zum Zentrum eines unvergleichlichen Romanwerks gemacht hat, scheint selbst eine literarische Filiation zu einer der wichtigsten Autorinnen des Dopoguerra nahelegen zu wollen: Elsa Morante. 5 So wie Morante in Menzogna e sortilegio ausgehend von Freuds Der Familienroman der Neurotiker ihre eigenen Thesen zur Rolle der Imagination für die unbewusste Auseinandersetzung mit elterlichen Figuren entwickelt, lässt sich auch Elena Ferrantes romaneske Reflexion über Mutter-Tochter-Beziehungen als von Freud ausgehende, letztlich aber gegen diesen argumentierende Narration lesen, die nicht die von Freud ins Zentrum seiner Theorie gestellte ödipale Liebe zum Vater, sondern die (gleichfalls von Freud theoretisierte) präödipale Liebe der Tochter zur Mutter als «unico grande tremendo amore originario, la matrice inabolibile di tutti gli amori» (Frant. 158) im Medium des Romans umkreist. Tatsächlich sei der Titel ihres ersten Romans, L’amore molesto, der Lektüre von Freuds Schrift Über weibliche Sexualität (1931) geschuldet, in der der Vater an einer Stelle als «rivale molesto» (lästiger Rivale) der Tochter bezeichnet wird (Frant. 157). Auf den ersten Blick scheinen auch Ferrantes Erzählerinnen in ähnlicher Weise unzuverlässig wie Morantes Elisa in Menzogna e sortilegio. Wie diese scheinen sie sich selbst nicht vollständig zu kennen, wie deren Erzählung zeugen ihre Worte von einer prekären «stabilità mentale» - eine Verfassung, die zugleich bisher verdrängte Wahrheiten aufblitzen lässt. 6 Anders als Morantes Elisa erzählen Ferrantes Figuren jedoch in einem Moment, in dem sie die destabilisierende Erfahrung, die Ferrante selbst einmal als eine «destrutturazione» bezeichnet hat, bereits überwunden haben. Und anders als die Protagonistinnen Flauberts, Tolstojs oder auch Beauvoirs handle es sich, so Ferrante, um keine hilflos an ihren Illusionen gescheiterten, gebrochenen Frauen, sondern um Frauen von heute, die zwar am Ende nicht als Siegerinnen dastehen, aber als - mit jenen intellektuellen Waffen, die Frauen von heute zur Verfügung stehen, bedachte - Kämpferinnen (Frant. 130 ff.). 2_IH_Italienisch_75.indd 34 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 35 3. Verwerfung und annahme der mutter-imago in L’amore molesto L’amore molesto ist gleichsam der Urtext, aus dem sich alle folgenden Romane Ferrantes heraus verstehen lassen. Die 40jährige Delia, deren Mutter auf rätselhafte Weise umgekommen ist, begibt sich in ihrer Herkunftsstadt Neapel auf eine kriminalistische Suche nach den Ursachen. Dabei fehlt es ihr gänzlich an jener Luzidität, die Ermittler klassischer Detektivgeschichten üblicherweise auszeichnet. Vielmehr gerät Delia während ihrer Spurensuche in Neapel - der verhassten Stadt ihrer Kindheit, in der ihre Mutter ihr gesamtes Leben zugebracht hat - in einen psychischen Zustand, den Ferrante in einem Kommentar zum Buch als De-Strukturierung («destrutturazione») bezeichnet hat. Diese äußert sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, als eine raumzeitliche, sprachliche und affektive Destabilisierung. In Delias Wahrnehmung der Gegenwart drängen sich Szenen aus der Vergangenheit, die jedoch mehr den Charakter von Halluzinationen als von Erinnerungen annehmen. So etwa die Szene, in der Delia sich daran erinnert, wie sie ihre Mutter einmal dazu genötigt hat, sich von ihr die Beine mit Warmwachs enthaaren zu lassen. Delia befindet sich in der Wohnung der verstorbenen Mutter, deren Erscheinung sich mehrmals unvermittelt an der Zimmerdecke, in der Küche schwebend und im Flur ‘materialisiert’: «[...] l’intera stanza da bagno mi scavalcò e si ricompose davanti a me, nel corridoio: Amalia ora sedeva sulla tazza e mi guardava con attenzione mentre mi depilavo. [...] Le imposi la mia ceretta sebbene si schermisse. [...] Poi la scortecciai mentre lei mi osservava senza battere ciglio. Lo feci senza cautela, come se volessi sottoporla a una prova del dolore, e lei mi lasciò fare senza fiatare come se avesse accettato la prova. Ma la pelle non resistette. [...] Me ne rammaricavo più intensamente adesso [...].» (AM 45 f.) Die Ambiguität der Wahrnehmung (Erinnerung oder Halluzination? ) wird durch eine subtile Regie der Erzählzeiten hergestellt. Während das passato remoto («scavalcò») zunächst die Gegenwart der Erzählerin anzeigt, scheint das imperfetto eine erneute (die zweite) Vision der verstorbenen Mutter anzukündigen. Dadurch scheint es so, als würde Delia gleichsam dem Phantom der toten Mutter die «Haut abziehen» («la scortecciai»). Doch die rückblickende Reue («Me ne rammaricavo») weist die gesamte Szene als eine Erinnerung aus. Die Surrealität der Szene - der zahlreiche ähnliche Szenen folgen - wird auch durch die Ambiguität der Sprache verstärkt, die es erlaubt, die ohne Zartgefühl vorgenommene Epilation als eine buchstäbliche Häutung Amalias zu verstehen: Delia zieht der Mutter die Haut wie eine Hülle ab, die keinen Widerstand aufweist («non resistette»). Das Abziehen 2_IH_Italienisch_75.indd 35 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 36 der Haut, wie später auch das Aus- und Anziehen von Kleidungsstücken, die Amalia der Tochter hinterlassen hat, bedeutet aber, wie im Lauf der Erzählung immer deutlicher wird, nichts anderes die Suche nach der Identität der Mutter - und nach der eigenen. Auch Delias Erfahrung der Gegenwart scheint von ambivalenten, halluzinatorischen Wahrnehmungen geprägt. So erscheint ihr Caserta - der Mann, dem sie als Kind eine heimliche Liebesbeziehung mit ihrer Mutter angedichtet hatte und den sie nicht erkennt - zunächst als ein höflicher Herr von angenehmer Erscheinung (AM 34). Sobald sie ihm jedoch den Rücken gekehrt hat, beginnt seine Stimme sich zu verändern und sie zu verfolgen: «Lui mi inseguì con la voce, che modificò da cortese in un sibilo incalzante e sempre più sguaiato. Fui raggiunta da un fiotto di oscenità in dialetto, un morbido rivolo di suoni che coinvolse in un frullato di seme, saliva, feci, orina, dentro orifizi d’ogni genere, me, le mie sorelle, mia madre. Mi girai di scatto […] ma l’uomo non c’era più.» (AM 35) Es ist hier die Dissoziation der visiven und der akustischen Wahrnehmung, die das Halluzinatorische der Begegnung mit Caserta ausmacht. Zugleich zeigt sich hier ein weiterer Aspekt, der für Ferrantes Gesamtwerk charakteristisch ist. Jenes arme, schmutzige, vulgäre Neapel, dem Ferrantes Protagonistinnen zu entkommen suchen, dessen Eindrücke sie jedoch in Situationen der psychischen Instabilität regelmäßig heimsuchen, manifestiert sich nicht nur durch seinen architektonischen Verfall, die Aggressivität seiner Bewohner und die Allgegenwart mafiöser Machtbeziehungen, sondern auch durch seinen vulgären, von obszönen Ausdrücken durchsetzten Dialekt. Dieser setzt Ferrantes Frauenfiguren, wie hier, einer gleichsam körperlichen Aggression und Beschmutzung aus; doch auch die Protagonistinnen fallen in Situationen psychischer «Destrukturierung» (Ferrante) in ihn zurück. So reagiert Delia auf eine plumpe Avance «urlando con mia meraviglia insulti dialettali» (AM 91). Insbesondere Olga, die Protagonistin von I giorni dell’abbandono, empfindet diesen Kontrollverlust als eine gefährliche Regression, der mit einer zunehmenden Vernachlässigung der eigenen physischen und psychischen Person einhergeht (GA 198). Das erste Zeichen von «Auflösung», das Delia jedoch an sich wahrnimmt, kommt aus ihrem Körper. Während des Begräbnisses verspürt sie plötzlich eine schuldbewusste Erleichterung («sollievo colpevole», AM 32) - zugleich setzt ihre Menstruationsblutung ein, wie ein fremdes Signal, das sich ihrer Kontrolle entzieht. 7 Schweiß, zerlaufende Schminke, schmutzige Kleidung sind weitere Zeichen dieser Ich-Auflösung. Delia reagiert, indem sie 2_IH_Italienisch_75.indd 36 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 37 sich wäscht, schminkt und umzieht - bis sie zuletzt in das alte Sonntagskostüm ihrer Mutter schlüpft. Der Auflösungszustand, in dem sich Delia befindet, erscheint jedoch auch als Pendant und zugleich als unvermeidlicher Effekt ihres Aufenthaltes in einem lärmenden, schmutzigen, klebrigen, ekelerregenden Neapel. Er lässt sich somit auf einen Begriff bringen, den Walter Benjamin in seinen Reiseimpressionen auf die Stadt Neapel gemünzt hat: Porosität. 8 Es ist diese ‘Durchlässigkeit’ Neapels, die in Delia ein nahezu konstantes Ekelgefühl auslöst. Ohne dass dies jemals explizit formuliert würde, sieht sie in der Porosität der Stadt ein Abbild ihrer eigenen psychischen Unabgeschlossenheit. Durch diese Konzeption des Ekels weist die in Ferrantes Werk omnipräsente Erfahrung von «nausea», «repulsione» und «disgusto» frappierende Parallelen zu Julia Kristevas kulturtheoretischer Interpretation des Ekels auf. In Pouvoirs de l’horreur knüpft Kristeva an Mary Douglas’ Studien zum Rätsel der religiösen Nahrungstabus an, um sie im Sinne ihrer Theorie des Abjekten weiterzuentwickeln. Jene gemeinschaftsstiftende Funktion der Inklusion und Exklusion, die Douglas den Speisegeboten zuschreibt, deutet Kristeva feministisch als einen Ausschlussmechanismus, der in erster Linie auf eine Tabuisierung des fruchtbaren weiblichen Körpers abzielt. Mit dem Hinweis, dass die im Buch Leviticus vorgenommene Klassifikation aller Tiere in «rein» und «unrein» zugleich auch menstruierende Frauen und Wöchnerinnen für unrein erklärt (Pouvoirs 118), stellt Kristeva fest, dass folglich der fruchtbare weibliche Körper als ein die Integrität der Gesellschaft bedrohendes Element wahrgenommen werde. Die Sorge vor Verunreinigung durch den weiblichen Körper sei aber besonders in jenen Gesellschaften stark, in denen das Prinzip der matrilinearen Abstammung noch präsent oder erst seit kurzem durch Patrilinearität ersetzt worden sei (Pouvoirs 92 f.). Folglich diene die Tabuisierung des fruchtbaren Körpers einer Festigung des Patriarchats. Aus dieser Sicht zeugen alle Speisetabus der Weltreligionen letztlich von nichts anderen als dem Versuch, die unheimliche Macht eines im kollektiven Unbewussten verankerten Phantasmas zu begrenzen: des Phantoms der übermächtigen, fruchtbaren Urmutter. Diese Angst sieht Kristeva auf individualpsychologischer Ebene in dem Versuch des Kindes, sich von der Mutter abzugrenzen. Wie Melanie Klein wendet sich Kristeva gegen eine allzu idyllische Konzeption der Mutter-Kind-Dyade. Die von Kristeva konzipierte abjekte Mutter, die «horreur» ausstrahlt, weil sie (zuallererst über die nutritive Funktion) Macht über Leben und Tod (des Kindes) hat, ist als weibliche Analogie zum Lacanschen Vater gedacht. Sie ist somit eine Funktion, keine reale Person. Die Mutter ist für das Kind ein Ab-jekt, weil dieses noch keine Subjekt-Objekt-Relationen zu konzipieren vermag. Der Bedeutungs-Raum, den die abjekte Mutter konstituiert, ist der Raum des Semiotischen; ein 2_IH_Italienisch_75.indd 37 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 3 8 Raum, in dem es Kristeva zufolge noch keine klaren Trennungen zwischen Innen und Außen, Ich und Anderem, sondern vielmehr «Rhythmen», fließende Bedeutungen gibt. Aus der Ordnung des Symbolischen ausgegrenzt, lässt sich die Stimme der «Mutter» jedoch in der Literatur, so wie auch in der ‘halluzinatorischen’ Rede psychotischer Subjekte vernehmen. Diesen Durchbruch des unsagbaren Semiotischen (oder auch, in Analogie zum Lacanschen Realitätsbegriff, des «réel») in die symbolische Ordnung bezeichnet Kristeva als das «vréel» (aus «vrai» und «réel»). 9 Um sich als eigenständiges Subjekt zu konstituieren, um in die kulturelle, symbolische Ordnung der Zeichen einzutreten, muss das Kind (insbesondere die Tochter) die abjekte Mutter «ermorden». 10 Die Auslöschung der Mutter und die Auseinandersetzung mit ihrem ambivalenten Bild wird in L’amore molesto über die leitmotivische Rekurrenz von Passfotos und gemalten Frauenkörpern thematisiert. Entscheidend ist die Szene, in der Delia verblüfft feststellen muss, dass das Foto auf dem Personalausweis ihrer Mutter so bearbeitet wurde, dass es ihre eigenen, die Züge Delias trägt: «[...] lanciai uno sguardo alla foto-tessera di mia madre. I lunghi capelli baroccamente architettati sulla fronte erano stati accuratamente raschiati via. Il bianco emerso intorno alla testa era stato mutato con una matita in un grigio nebuloso. Con la stessa matita qualcuno aveva lievemente indurito i lineamenti del viso. La donna della foto non era Amalia: ero io.» (AM 83 f.) Die charakteristischen Erscheinungsmerkmale Amalias - insbesondere ihr langes schwarzes Haar, das sie auf ihrem Kopf zu einer barocken Frisur auftürmte - wurden hier ausgelöscht, um den Gesichtszügen Delias Platz zu machen. Diese Auslöschung der Mutter löst bei Delia eine Serie von Erinnerungen aus - Erinnerungen an die Zeit, in der sie als Kind den Körper der Mutter heftig begehrte und so sein wollte wie sie. Doch da sie sich in ihrem Begehren abgewiesen fühlte, hatte sich ihre Liebe in Aggression verwandelt, hatte sie versucht, ganz anders zu werden: «Ciò che di lei non mi era stato concesso volevo cancellarglielo dal corpo. [...] Ora che era morta, qualcuno le aveva raschiato via i capelli e le aveva deformato il viso per ridurla al mio corpo. Accadeva dopo che negli anni, per odio, per paura, avevo desiderato di perdere ogni radice in lei, fino alle più profonde: i suoi gesti, le sue inflessioni di voce, il modo di prendere un bicchiere [...] Tutto rifatto, per diventare io e staccarmi da lei.» (AM 87 f.) 2_IH_Italienisch_75.indd 38 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 39 Jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, erscheint Delia dieser lebenslange Fluchtversuch als eine dürftige, naive Schminke - eine inkonsistente Maske: «Non ero alcun io». 11 Auch ihre Unfähigkeit oder Weigerung, Kinder zu haben (ebd.), scheint ihr jetzt als Konsequenz ihrer gescheiterten Beziehung («attaccarmi») zur Mutter. 12 Delias missglückter Abnabelungsversuch, der sie zu einem unfertigen «Ich» macht, lässt sich somit als eine abjection, eine Verwerfung der Mutter im Sinne Kristevas lesen. Aus Delias Aufarbeitung der Vergangenheit lässt sich nämlich entnehmen, dass ihre ambivalente Beziehung zur Mutter die Folge eines ambivalenten «Bildes» ist, das der Vater von der Mutter gezeichnet hat. Dieser ist ein gescheiterter Kunstmaler, der sich mit der Herstellung kitschiger Genrebilder über Wasser hält. Der Attraktivität seiner Frau nicht gewachsen - sie lässt sich gerne von Männern, insbesondere von Caserta, dem Geschäftspartner des Vaters, hofieren - misshandelt er sie aus unmotivierter Eifersucht heraus. Um sie den Blicken der anderen Männer zu entziehen, zwingt er sie, sich unauffällig anzuziehen und zu verhalten. Zugleich jedoch benutzt er Amalias Körper als Modell für das Bild einer nackten Zigeunerin, das er in Serienarbeit herstellt. Bereits als Kind ist Delia der Widerspruch dieses Umgangs des Vaters mit dem Mutter-Bild ein Rätsel: «Com’era possibile che mio padre consegnasse in forme audaci e seducenti, a uomini volgari, quel corpo che all’occorrenza difendeva con rabbia assassina? » (AM 145) Amalias sexuelle Zügellosigkeit entpuppt sich somit als ein Phantasma des Vaters. Zum Klischeebild nackter Sinnlichkeit gemacht, wird das Bild der Mutter objektifiziert und kommerzialisiert. Zugleich gibt der Vater dieses Zerrbild der Mutter an die kleine Delia weiter. Denn diese war es, die dem Vater eine angebliche sexuelle Beziehung zwischen der Mutter und Caserta zugetragen hatte. In Wirklichkeit hatte sie - dies geht aus Delias Erinnerungsstrom hervor - einen sexuellen Missbrauch, den sie selbst erfahren hatte, auf das imaginäre Liebespaar Amalia-Caserta übertragen. Es ist demnach männliche Gewalt, die bei Delia eine Verwerfung nicht des Männlichen, sondern der Mutter auslöst. Erfährt die kleine Delia Amalia als Objekt männlicher Phantasien, so eröffnet ihr doch zugleich die Tätigkeit der Mutter - sie ist Schneiderin - den Blick einerseits für den ökonomischen Beitrag, den diese für den Lebensunterhalt der Familie leistet, andererseits auf deren Möglichkeit der aktiven Gestaltung des eigenen «Bildes». Aus einem Text, den Ferrante anlässlich der Verleihung des Premio Procida, Isola di Arturo - Elsa Morante an ihren Debütroman schrieb, geht hervor, dass das Symbol der «Schneiderin» durch eine Passage aus Elsa Morantes Lo scialle andaluso inspiriert wurde. Wie Ferrante erklärt, gehe es in dieser Passage um die «smaterializzazione del 2_IH_Italienisch_75.indd 39 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 4 0 corpo della madre a opera del maschio meridionale» (Frant. 13). Diese Entmaterialisierung der Mutter bewirkt (so Morante), dass dieser, unweigerlich in dunkle, unförmige Stoffe gehüllt, niemals anders als «vecchia e santa» wahrgenommen werden kann: «I loro abiti sono informi giacchè nessuno, a cominciare dalle sarte delle madri, va a pensare che una madre abbia un corpo di donna.» (Frant. 14). In ihrem Kommentar schreibt Ferrante: «Mi sembra molto significativo quel ‘nessuno va a pensare’. Vuol dire che l’informe è così potente, nel condizionare la parola ‘madre’, che il pensiero di figli e figlie, quando pensa il corpo a cui la parola dovrebbe rimandare, non riesce a dargli forme che gli spettano se non con repulsione. Non ci riescono nemmeno le sarte delle madri, che pure sono femmine, figlie, madri. Esse anzi, per abitudine, in modo irriflessivo, tagliano addosso alla madre panni che cancellano la donna, come se la seconda fosse una lebbra per la prima.» (Frant. 16) Die «sarte delle madri» selbst arbeiten folglich an der Auslöschung der beunruhigenden Mutter-Imago - der Mutter als sexuelles Wesen - mit. Doch Ferrante stellt sich vor, wie diese Schneiderinnen lernen könnten, den Müttern ihren Frauenkörper wiederzugeben - eine Metapher, aus der sie später, in einem Brief von 1995, eine Metapher für ein feministisch engagiertes Schreiben macht: «D’altronde - credo - deve pur venire il momento in cui riusciremo a scrivere davvero fuori di lui [...]. Le sarte delle madri mi immagino che stiano studiando da tempo. Presto o tardi impareremo tutte a non infagottare, a non infagottarci.» (Frant. 75) Auch für die erwachsene Delia, die sich rückblickend den Tod der Mutter zu erklären sucht, wird die Tätigkeit Amalias als Schneiderin zum Anhaltspunkt für eine Trostphantasie. Die Mutter hatte, wie Delia von einer Nachbarin erfährt, sich auf ein seltsames Tauschgeschäft eingelassen. Gegen einen Koffer mit teurer Kleidung und Wäsche, den sie Delia zum Geschenk machen wollte, hatte sie Caserta ihre alte Unterwäsche überlassen. Bedeutet dies nicht, dass sie auch ihren eigenen Tod souverän inszeniert hat - dass sie am Ende ihres Lebens glücklich war? «Mi piacque insperatamente, con sorpresa, quella donna che in qualche modo s’era inventata fino alla fine la sua storia giocando per conto suo con stoffe vuote. Mi immaginai che non fosse morta insoddisfatta e sospirai di soddisfazione inattesa.» (AM 133) 2_IH_Italienisch_75.indd 40 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 41 Bald darauf gewinnt jedoch eine gegenteilige Gewissheit die Oberhand. Obwohl sich Amalia, von Delia bestärkt, schon vor vielen Jahren vom Vater getrennt hat und nun allein lebt, fühlt sie sich bis zuletzt von dessen hasserfüllter Eifersucht verfolgt. Die Entsexualisierung, die der Vater ihr auferlegt, jene «smaterializzazione del corpo della madre» prägt Amalias Umgang mit ihrem Körper weiterhin. Und selbst wenn sie, wenige Monate vor ihrem Tod, ihre alte Freundschaftsbeziehung mit Caserta wieder aufnimmt, fühlt sie sich zuletzt auch von ihm verfolgt. Amalia ist - wie Delia am Ende des Romans zu rekonstruieren vermag - mit ihrem Geschenk in den Zug gestiegen, um die Tochter in Rom zu besuchen. Während der Fahrt hat sie dann offenbar ihre Pläne geändert. Sie hat mit Caserta einen Abend in Formia, einem Badeort zwischen Neapel und Rom verbracht. Auf dem Strand hat sie die Wäsche und den Morgenmantel, die sie Delia schenken wollte, angezogen und ist ins Meer gegangen. Delia ist sich sicher, dass die Mutter Selbstmord begangen hat, weil sie sich in einer ausweglosen Situation sah - weil sie sich zuletzt auch vom Blick Casertas enteignet fühlte: «Doveva aver percepito che qualcosa s’era sgranato per sempre: con mio padre, con Caserta, forse anche con me, quando aveva deciso di cambiare itinerario. [...] Certamente quando era entrata in acqua nuda, lo aveva fatto per sua scelta. La sentivo che si immaginava stretta tra quattro pupille, espropriata da due sguardi.» (AM 162) So ist es am Ende nicht Amalia, sondern Delia, die zu sich selbst findet - indem sie sich die Geschichte ihrer Hassliebe zur Mutter in ihrer ganzen Wahrheit erzählt und indem sie begreift, dass die Geschichte der Mutter nun ein Teil von ihr selbst ist. Indem Delia schließlich in das Kostüm ihrer Mutter schlüpft, gibt sie ihrer destrukturierten Identität nicht nur neue Konturen. Vielmehr symbolisiert ihre Geste, sich den Rock mit einer Sicherheitsnadel enger zu machen, exakt jenes «tagliare i panni addosso», das in Ferrantes Vokabular auch eine Schreibweise bezeichnet, die die Weiblichkeit der Mutter ‘nicht versteckt’ (AM 169). Und wenn sie zuletzt ihr eigenes Foto übermalt, um sich der Mutter gleich zu machen, und ihre Erzählung mit den Worten endet: «Amalia c’era stata. Io ero Amalia.» (AM 176), so bedeutet dies, wie Ferrante in einem Kommentar präzisiert, keinen wahnhaften Selbstverlust (Frant. 82). Denn erst nachdem sie die Geschichte ihres kindlichen Konfliktes mit der Mutter aufgearbeitet hat, vermag die Tochter jenes Zugehörigkeitsgefühl, das «attaccamento» zu empfinden, das ihr durch die Verwerfung der Mutter unmöglich gemacht worden war («non ero riuscita mai ad attaccarmi a lei 2_IH_Italienisch_75.indd 41 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 42 definitivamente», AM 88): Erst dieses macht sie aber zu einem vollständigen «Ich». Die Ich-Werdung verläuft also nicht über den Muttermord, sondern durch ein Aufnehmen der Geschichte der Mutter in das eigene Ich. Ferrante möchte dadurch ein allzu einfaches Fortschrittsnarrativ, in dem das Rollenmodell der Müttergeneration als definitiv überholt verabschiedet würde, vermeiden. 13 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Aufarbeitung der Beziehung zur Mutter in L’amore molesto als eine Destrukturierung des weiblichen Ichs gestaltet, die mit der Vorstellung eines porösen, durchlässigen weiblichen Körpers arbeitet. Während die kleine Delia, dem Beispiel des Vaters folgend, eine Verwerfung der beunruhigenden Mutter-Imago vornimmt, vermag die Erwachsene ihr durch diese Verwerfung lädiertes, unvollständiges Ich zu re-konturieren, indem sie die Geschichte der Mutter in sich aufnimmt. Weibliche Identitätsfindung verläuft - so will Ferrante es verstanden wissen - nicht als emanzipatorisches Überschreiten («superato») des älteren Rollenmodells, sondern als dessen Integration («riscattato») im Sinne einer Etappe der weiblichen Geschichte. Indem Ferrante bereits in L’amore molesto die Tätigkeit der Schneiderin zu einer Metapher für das Schreiben macht, deutet sie zugleich eine metapoetische Reflexion an. Diese wird jedoch erst in der Tetralogie L’amica geniale zu einem zentralen Thema. 4. Beste Feindinnen - L’amica geniale als Geschichte einer weiblichen rivalität Um das Verständnis der folgenden Interpretationen zu erleichtern, sei zunächst die Handlung der Tetralogie resümiert. Sie erstreckt sich über einen Zeitraum von über 60 Jahren (1944-2010); das Schicksal zweier Frauen wird vor dem Hintergrund der jüngeren und jüngsten italienischen Geschichte erzählt. Hauptschauplatz der Handlungen ist Neapel. Die Erzählerin der Tetralogie ist die 66jährige Elena Greco, einst erfolgreiche Romanautorin, die sich nun aber am Ende ihrer Karriere sieht. Als ihre Jugendfreundin spurlos verschwindet, beschließt Elena, die Geschichte ihrer Hassliebe zu Raffaella Cerullo - wer von beiden die «amica geniale» ist, bleibt offen - schreibend noch einmal Revue passieren zu lassen. Elena und Raffaella sind 1944 in einem ärmlichen Vorort von Neapel geboren. Die Mädchen kennen sich seit der Grundschule, wo sich Raffaella durch ihre «Bosheit» hervortut (AG I, 27). Der Tag, der die Freundschaft der Mädchen endgültig besiegelt ist jener, an dem Raffaella Elenas Puppe Tina spurlos verschwinden lässt. Während alle anderen sie Lina nennen und in ihr vor allem ein außerordentlich böses Kind sehen, erkennt Elena ihre Einzigartigkeit, der sie huldigt, indem sie ihr den Namen Lila gibt (AG I, 43). 2_IH_Italienisch_75.indd 42 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 4 3 Dabei bedeutet Lilas Hochbegabtheit eine permanente Bedrohung für die weniger intelligente Elena, der es nur durch extremen Fleiß und Anpassungsfähigkeit gelingt, ihren Platz als Zweitbeste in der Klasse zu halten. Das Blatt wendet sich, als sich Lilas Vater, ein armer Schuhmacher, weigert, seine Tochter auf die weiterführende Schule zu schicken. Lila, die sich eine Zeitlang als Autodidaktin weitergebildet hatte, verliert schließlich das Interesse an Büchern; statt dessen entwickelt sie in der Werkstatt ihres Vaters, der Schuhe repariert, das ambitiöse Projekt, Luxusschuhe herzustellen. Stefano, Sohn eines ermordeten camorrista und Inhaber eines Fleischerladens, ist bereit, Geld in das Projekt zu investieren, wenn Lila ihn heiratet. Lila willigt ein - nicht zuletzt um der aggressiven Werbung Marcello Solaras zu entgehen, dessen Familie durch ihren Reichtum (und Geldverleih) das gesamte Viertel von sich abhängig gemacht hat. Die Hochzeit der 16jährigen Lila mit Stefano erscheint Elena und den übrigen Bewohnern des rione wie ein triumphaler Aufstieg aus der Misere ihres Elternhauses. Zugleich müssen selbst die Solara-Brüder die innere Stärkere des schmächtigen Mädchens anerkennen, das den Mut hat, sich gegen ihre Präpotenz aufzulehnen. Doch schon während der Hochzeitsfeier muss Lila entdecken, dass Stefano die ersten, von ihr selbst angefertigten Schuhe der Marke Cerullo an Marcello Solara verkauft hat - mit dieser bitteren Erkenntnis endet der erste Band. Der zweite Band, Storia del nuovo cognome, erzählt von Lilas Eheleben und Elenas Aufbruch nach Norditalien. Auch der friedfertige Stefano hat sich als eine Schachfigur der Solara - und als ein Sohn seines Vaters - erwiesen. Bereits in der Hochzeitsnacht wird Lila von Stefano vergewaltigt; einige Jahre später geht sie eine Liaison mit Nino Sarratore ein und verlässt ihren Ehemann, um allerdings bald darauf selbst von Nino verlassen zu werden. Für Elena, die seit ihrer Kindheit in Nino verliebt war, bedeutet Lilas Liebschaft mit Nino eine Demütigung. Doch dann erhält sie ein Universitätsstipendium in Pisa. Sie verlobt sich mit dem jungen Universitätsprofessor Pietro Airota und kann so Neapel entkommen. Währenddessen zieht Lila ihren Sohn Gennaro alleine groß und ruiniert ihre Gesundheit als Arbeiterin in einer Mortadella-Fabrik. Der dritte Band, Storia di chi fugge e di chi resta, erzählt von Lilas Rebellion gegen die Ausbeutung der Fabrikarbeiter vor dem Hintergrund der 68er-Unruhen und von Elenas Aufstieg in die bürgerliche Klasse. Während Lila dem körperlichen und psychischen Zusammenbruch nahe ist, veröffentlicht Elena mit Hilfe ihrer Schwiegermutter, die für einen Mailänder Verlag arbeitet, ihren ersten Roman. Obwohl Elenas Mann Pietro aus einer Familie von Linksintellektuellen stammt, vertritt er, insbesondere sein Familienleben betreffend, sehr konservative Ansichten. Elena gebiert Pietro zwei Töchter, Adele (genannt Dede) und Elsa. Von ihrer Hausfrauenexistenz frustriert, lässt 2_IH_Italienisch_75.indd 43 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 4 4 sie sich von Nino, der unversehens wieder in ihrem Leben auftaucht, verführen. Der vierte Band, Storia della bambina perduta, setzt hier ein. Elena trennt sich von ihrem Mann und zieht mit den Töchtern zurück nach Neapel, wo sie Nino eine Tochter gebiert. Doch Nino entpuppt sich als Opportunist. Er lebt weiterhin mit seiner Ehefrau Eleonora zusammen, weil deren einflussreiche Familie seine Universitätskarriere fördert, und hat daneben zahlreiche andere Liebschaften. Elena trennt sich von Nino, bleibt jedoch in Neapel und nähert sich Lila wieder an, die wenige Wochen nach Elena ebenfalls Mutter einer Tochter wird. Damit scheint im Leben beider Frauen eine von Rivalität und Sorgen freie Zeit anzubrechen. Lila hat mit ihrem neuen Lebensgefährten Enzo eine kleine Computerfirma und einen relativen Wohlstand aufgebaut; sie kann als Arbeitgeberin in Konkurrenz zu den Solara treten und unterstützt Verwandte und Freunde. Elena hat ein gutes Verhältnis zu Pietro, der seine Töchter regelmäßig besucht, sie treibt ihre Schriftstellerkarriere voran und lässt die drei Mädchen, wenn sie auf Lesereisen geht, in der fürsorglichen Obhut von «zia Lina». Die beiden gleichaltrigen Mädchen Imma und Tina, die jeweils die Namen von Elenas und Lilas Müttern tragen, werden enge Freundinnen, auch wenn Imma im Schatten der hochintelligenten Tina steht, die ihrer Mutter aufs Haar gleicht. Doch eines Tages verschwindet die vierjährige Tina spurlos. Lilas Verdacht, die Solara-Brüder hätten sie geraubt, lässt sich nicht erhärten. Lila lebt weiter, ohne den Tod ihrer Tochter je zu akzeptieren (AG IV, 322). Einige Jahre später verkauft sie ihre Computerfirma, Enzo verlässt sie und geht nach Mailand, ihr immer schon schwieriges Verhältnis zu dem Sohn Gennaro, der sich zu einem Taugenichts entwickelt, verschlechtert sich noch mehr. Sie, die im Viertel einst als Respektsperson und Hoffnungsträgerin galt, wird nun gefürchtet. In der Beschäftigung mit der wechselvollen Geschichte Neapels findet Lila einen Weg, ihrer verschwundenen Tochter nahe zu sein. 1995, zehn Jahre nach der Tragödie, zieht Elena mit Imma nach Turin. Ihre zwei älteren Töchter sind Pietro in die USA gefolgt, auch Imma wird sie für ein Studium in Frankreich verlassen. Obwohl sie sich als Mutter und Großmutter erfüllt fühlt, beginnt Elena, am Sinn und Erfolg ihres Lebens zu zweifeln. Immer mehr gewinnt der Verdacht Raum, dass nicht sie, sondern Lila die «geniale» von beiden ist, imstande, einen Roman zu schreiben, der alle ihre Werke in den Schatten stellen würde. Nachdem sie die Nachricht, dass Lila spurlos verschwunden ist, erreicht hat, schreibt sie «ogni dettaglio della nostra storia» (AG I, 19), die gesamte Geschichte ihrer schwierigen Beziehung zu Lila auf - und erhält so etwas wie eine Antwort von Lila: ein Päckchen, das die verschwundenen Puppen enthält. 2_IH_Italienisch_75.indd 44 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 4 5 5. Puppen als Symbole für mutterschaft und Kreativität Puppen werden von Ferrantes Romanprotagonistinnen wie Fetische behandelt, sie fungieren als Stellvertreter für Personen, für Sehnsüchte und für Konzepte. Dies gilt ganz besonders für La figlia oscura, in dem die Identitätskrise der 48jährigen Protagonistin Leda von der «Begegnung» mit einer Puppe ausgelöst wird. Für Leda, die bisher in dem Glauben gelebt hatte, ihre professionelle Identität - wenn auch mit vielen Opfern - mit ihrer Rolle als Mutter in Einklang gebracht zu haben, symbolisiert die Puppe die Wiederkehr eines verdrängten Konfliktes. Die Erzählung setzt ein, als Leda, nachdem ihre mittlerweile erwachsenen Töchter Italien verlassen haben, um in der Nähe des Vaters in Kanada zu studieren, für einige Wochen ans Meer fährt. Am Strand wird sie zur Zeugin einer außergewöhnlichen Mutter-Kind- Beziehung: Die Mutter ist eine bildschöne junge Frau namens Nina, die vierjährige Tochter heißt Elena. Durch die Intensität, mit der sie sich auf die Spiele mit ihrer kleinen Tochter einlässt, zieht Nina Ledas Aufmerksamkeit auf sich: «pareva non aver voglia d’altro che della bambina» (FO 389). Doch in Ledas Faszination mischt sich eine unerklärliche Irritation angesichts der besonderen Weise, in der Mutter und Tochter mit Elenas Puppe spielen: «Una volta le davano parole a turno, una volta insieme, accavallando il tono fintobambino dell’adulta a quello fintoadulto della bambina. Si immaginavano che fosse la stessa unica voce che parlava dalla stessa gola di cosa in realtà muta. Ma evidentemente io non riuscivo a entrare nella loro illusione, provavo per quella doppia voce una repulsione crescente. [...] sentivo un disagio crescente come di fronte a una cosa malfatta, come se una parte di me pretendesse assurdamente che si decidessero e dessero alla bambola una voce stabile, costante, o quella della madre o quella della figlia, basta fingere che fossero la stessa cosa.» (FO 392) Im Spiel der Stimmen, die Nina und Elena abwechselnd der Puppe leihen, verschmelzen die distinkten Rollen von Mutter und Tochter. Leda empfindet dies als eine lästige Fiktion - und reagiert in einer Weise, die sie sich selbst nicht erklären kann: Sie nimmt Elenas Puppe mit. Trotz zunehmender Schuldgefühle behält sie die Puppe, badet sie, kleidet sie neu ein. Dabei wird sie immer mehr von Erinnerungen eingeholt. Es sind insbesondere drei Szenen bzw. Erinnerungen aus der Vergangenheit, die Leda (und der Leserin) helfen, die Motive ihrer irrationalen Geste zu verstehen: 2_IH_Italienisch_75.indd 45 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 4 6 1) Als sie selbst Kind war, war ihr ein spielerischer Rollentausch mit ihrer Mutter verwehrt geblieben - deshalb hatte Leda ihrer ersten Tochter Bianca erlaubt, sie im Spiel wie eine große Puppe zu behandeln, denn: «volevo essere una buona madre» (FO 416). Für die Töchter musste Leda aber ihre Universitätskarriere aufgeben, während ihr Mann diese fortführte. Ihre Frustration kulminiert in einer Szene, in der gleichfalls eine Puppe im Mittelpunkt steht: Mina, die Puppe aus Kindertagen, die Leda Bianca geschenkt hatte. Bianca zieht Mina eine «hässliche» Puppe vor, die der Vater ihr von einer Reise («von wer weiß woher», FO 417) mitgebracht hat. Als Leda eines Tages entdeckt, dass Bianca die verachtete Mina entkleidet und mit Filzstiften beschmiert hat, macht sich ihre angestaute Aggressivität gegen die Töchter, die sie ans Haus fesseln, in einer gewaltsamen Geste Luft: Sie packt die verunstaltete Puppe und schleudert sie auf die Straße (FO 417). 2) Die zweite Szene ist die Erinnerung an einen Strandausflug von Ledas junger Familie mit einem befreundeten, kinderlosen Ehepaar. Lucilla, die als «donna molto istruita» charakterisiert wird, gefällt sich darin, bei ihren sporadischen Besuchen Ledas Töchter für sich einzunehmen: «Compariva e metteva in scena la madre sensibile, fantasiosa, sempre allegra, sempre disponibile: la madre buona. Maledetta.» (FO 444) Leda, die versucht, ihre Töchter zu selbständigen Beschäftigungen anzuhalten, um Zeit für ihre eigene Arbeit zu finden, findet sich so unweigerlich in die Rolle der «madre cattiva» gedrängt (ebd.). Was sie freilich Lucillas perfider Intention zuschreibt, resultiert in erster Linie aus einem gesellschaftlich induzierten Schuldgefühl. Leda hat es selbst derart verinnerlicht, dass sie gar nicht anders kann, als sich als schlechte Mutter zu fühlen. Ferrante zeigt hier auf subtile Weise, wie das Dogma der «heiligen», sich selbst aufgebenden Mutter (ein Konstrukt der patriarchalen Gesellschaft) gerade durch jene bestärkt wird, die diese Rolle nur temporär «spielen»: Lucilla hat selbst keine Kinder, sie kann ihre Mutterrolle nach Belieben wieder ablegen. Die Konsequenz für Leda ist eine Verunsicherung in ihrem Rollenverständnis: «mi aiutò a credere che avevo sbagliato tutto […] che non ero fatta per essere madre» (FO 445). 3) Die zentrale Erinnerungssequenz aber betrifft jenes Unsägliche, das die junge Mutter Leda wagte, als sie ihre vier- und die sechsjährige Tochter verließ, um eine berufliche Chance wahrzunehmen. Abermals ist es Leda selbst, die dieses Verlassen unsäglich, unsagbar findet - auch wenn die perplexe Reaktion ihrer beiden Gesprächspartnerinnen diese Selbstverurteilung bestätigt (FO 437). Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Diebstahl der Puppe? Er kann zunächst als Ausdruck eines (egoistischen) Kompensationswunsches gedeutet werden. Elenas Puppe symbolisiert in Ledas Augen eine unbeschwerte, glückliche Mutterschaft: «Custodiva l’amore di Nina e di Elena, il loro vincolo, la loro reciproca passione. Era il testimone lucente di 2_IH_Italienisch_75.indd 46 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 47 una maternità serena» (FO 431). Was sie selbst nicht hatte, was verunstaltet und weggeworfen wurde, wie die Puppe Mina, sucht Leda sich unrechtmäßig anzueignen. Zugleich scheint es Leda um eine obskure Wiedergutmachung ihres «Verlassens» der Töchter zu gehen. Eine Art der Wiedergutmachung scheint Leda in der Tat anzustreben, als sie eine Freundschaft mit der jungen Mutter Nina eingeht. Für einen Moment sieht es so aus, als könnte Leda für Nina eine Mutterrolle annehmen - nach dem Modell des von italienischen Feministinnen geprägten affidamento. Doch als Nina in Ledas Wohnung die vermisste Puppe entdeckt, reagiert sie gewalttätig und fügt Leda mit einer Haarnadel einen Stich zu - eine Verletzung, die den doppeldeutigen Schlusssatz des Romans motiviert. «Sono morta, ma sto bene», sagt Leda über sich; «sterben» bedeute hier aber, erklärt Ferrante, «cancellare per sempre da sé qualcosa» (Frant. 294). Diese Art der Auslöschung bedeute, so Ferrante, für alle ihre Romanprotagonistinnen zugleich eine Befreiung wie auch eine unheilbare Selbstverstümmelung. In der gestohlenen Puppe, die ihr zunächst als Symbol einer idealen Mutter-Tochter-Beziehung erschien, erkennt Leda später ein beunruhigendes, «schmutziges», ekelerregendes Bild von Mutterschaft. So «erbricht» die Puppe nassen Sand und beschmutzt damit Ledas T-Shirt. Und es stellt sich heraus, dass die kleine Elena der Puppe, um eine Schwangerschaft zu simulieren, einen Regenwurm in den Plastikkörper gesteckt hat. Die unheimliche, abjekte Puppe wird so zum Symbol für Ferrantes Entmystifizierung der Mutterschaft. Vielschichtiger sind die Bedeutungen der Puppe in L’amica geniale. Die Szene, in der Lila Elenas Puppe in ein Kellerloch wirft, enthält in nuce die gesamte Thematik des Romans. Obwohl beide Mädchen aus einem armen Elternhaus kommen, nennt Elena eine «wunderschöne» Puppe namens Tina ihr eigen. 14 Lilas Puppe, die «Nu» heißt, findet sie dagegen «hässlich und schmutzig». Nachdem die Mädchen beschlossen haben, ihre Puppen zu tauschen, wirft Lila Elenas Puppe ohne zu zögern in ein Kellerloch. Elena verbirgt ihre Verzweiflung - «un’arte in cui poi sono diventata molto brava» (AG I, 50) - und wirft Lilas Puppe hinterher. Daraufhin suchen die beiden ihre Puppen zuerst im Keller, dann bei dem allseits gefürchteten don Achille, dem camorristische Machenschaften nachgesagt werden. Über die Nachfrage der Mädchen verblüfft, gibt don Achille den beiden Geld für neue Puppen. Die Mädchen aber kaufen sich, wieder auf Anstiften Lilas, einen Roman. Dieser Roman, meint Elena, habe bei beiden den Wunsch geweckt, Schriftstellerin und durch das Schreiben «reich» zu werden, was letztlich bedeutet, dem Armenviertel mit seinen täglichen Manifestationen von Gewalt (gegenüber den sozial Schwächsten und gegenüber Frauen) zu entkommen. 2_IH_Italienisch_75.indd 47 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 4 8 Die Szene der Puppen enthüllt für Elena also Lilas «Bosheit»; doch letztlich ist es Lila, deren «Bosheit» Elena die Möglichkeit einer bisher ungeahnten Existenzweise eröffnet. Es ist nicht nur die Möglichkeit der Schriftstellerei - ein in dem kaum alphabetisierten Milieu des rione wahrhaft unerhörter Beruf - sondern auch die Möglichkeit, die atavistischen Ängste vor der durch don Achille verkörperten patriarchalen und camorristischen Präpotenz zu überwinden. Bedeutsam ist aber auch, dass es dann ausgerechnet don Achilles Geld ist, das Elena über den Traum der Schriftstellerei einen Weg aus dem rione eröffnet. In dem Schicksal der Puppen scheint zugleich, auf eine unheimliche Weise, das Schicksal von Lilas verschwundener Tochter Tina vorgezeichnet. Lila hat ihrer Tochter den Namen der eigenen Mutter, Annunziata (genannt Nunzia), gegeben; das Kind wird mit «Tina» (von «Annunziatina») gerufen: «‘Lo sai’ dissi un giorno divertita ‘che le hai dato il nome della mia bambola? ’»(AG IV, 203) Auch wenn Elenas Erzählung keinerlei Zweifel über die Katastrophe aufkommen lässt, die Tinas Verschwinden für Lila bedeutet, legt sie doch in mehrfacher Hinsicht eine obskure Schuld Lilas an Tinas Verschwinden nahe. Dass die Tragik von Lilas Schicksal daher kommt, dass sie sich zu wenig um ihre eigenen Interessen kümmert, legt auch die Aussage eines gemeinsamen Bekannten nahe. Er behauptet, diese habe ihre Tochter aus Mangel an Eitelkeit verloren: «Se sei vanitoso stai attento a te e alle tue cose. Lina è senza vanità, perciò s’è persa la figlia.» (AG IV, 326) In der Tat wird Lilas Verhältnis zur Mutterschaft über die gesamte Tetralogie hinweg als ein problematisches charakterisiert. Auch im Umgang mit Schwangerschaft und Geburt scheint sich Lila gemäß der ihr nachgesagten «Bosheit» zu verhalten. Als junge Ehefrau wird sie erst monatelang nicht schwanger, später äußert sie Elena gegenüber geradezu Hass gegenüber dem Ungeborenen (AG II, 112). Als sie Jahre später von Elenas Schwangerschaft erfährt, beharrt Lila auf ihrer negativen Sichtweise, die Mutterschaft als eine Enteignung begreift: «La vita di un altro, disse, prima ti si attacca nella pancia e quando finalmente viene fuori, ti fa prigioniera, ti tiene al guinzaglio, non sei più padrona di te» (AG III, 210). Später, während der Schwangerschaft mit Tina, wird Lila die Fragilität mütterlicher Gefühle jedoch als individuelles Los darstellen und der eigenen «Bosheit» zuschreiben. 15 Jahre später meint auch Elena, die sich selbst als «brava madre» wahrnimmt, dass Lila mit ihren negativen Aussagen («noi non siamo fatte per i figli») lediglich ihre eigene mangelnde Mutterliebe für normal erklären wolle (AG IV, 408). Elenas Erfahrung von Mutterschaft scheint der Lilas von vornherein diametral entgegengesetzt. Ihre Schwangerschaften erfährt sie ganz anders als Lila nicht als unerhörte körperliche Qual und beim Anblick ihrer Erstge- 2_IH_Italienisch_75.indd 48 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 4 9 borenen empfindet sie ein nie dagewesenes Glücksgefühl (AG III, 214). Zwar findet dieses Glück wenige Tage später ein jähes Ende, als Elena das Stillen nicht gelingt. Lila gegenüber hält sie jedoch weiterhin am Märchen ihres Familienglücks fest, was von Lila mit dem trockenen Kommentar quittiert wird: «Ognuno si racconta la vita come gli fa comodo» (AG III, 214). In der Tat scheinen sich Lilas und Elenas Erfahrungen der Mutterschaft weniger im faktischen Erleben zu unterscheiden als in der Art, in der sie von den Freundinnen erzählt werden. Lilas drastische Schilderungen ihrer Schwangerschaften mögen dem ihr von Elena bescheinigten Hang zur Übertreibung entsprechen. Dabei hat sie jedoch den Mut, nicht nur die weniger angenehmen Aspekte des Mutterseins zu benennen, sondern auch die ambivalenten Gefühle, die eine Mutter ihrem Kind gegenüber verspürt. Elena dagegen, die den Erzählungen ihrer Freundin nicht glauben will, tut, was sie immer getan hat - sie sucht ihren Rat in Büchern: «Comprai qualche libro su come si diventa madri perfette e mi preparai con la consueta diligenza» (AG III, 211). Als die Bücher angesichts der Realität versagen, weigert sich Elena, dies einzugestehen. Gegen Ende ihrer Erzählung empfindet Elena sich selbst als eine Mutter, der es gelungen ist, ihre Karriere voranzutreiben, ohne dafür die Töchter zu vernachlässigen (AG IV, 408). Zugleich hatte der Text jedoch genug Hinweise gegeben, die Elena als (zumindest zeitweise) recht egoistische Mutter darstellten. Ähnlich Leda hatte sie ihre kleinen Töchter wochenlang alleingelassen, um mit ihrem Liebhaber zusammenzusein. Indem Ferrante Elenas Sichtweise auf (das eigene und Lilas) Muttersein somit als unzuverlässig darstellt, führt sie ihren Leserinnen die Inkonsistenzen sowohl des durch Lila als auch des durch Elena verkörperten Mutterschaftskonzepts vor Augen. Dabei verkörpert Lila die unsentimentale (aber nicht: distanzierte) Perspektive einer Mutter aus der arbeitenden Klasse. Für sie ist totale Hingabe zum Kind selbstverständlich; ebenso selbstverständlich ist es jedoch, das Kind in Obhut zu geben, wenn die Umstände (die Arbeit) es erfordern. Elena, die nicht arbeiten muss und sich überdies eine Kinderfrau leisten kann, fühlt sich dagegen zwischen einem Ideal von Hingabe und dem (ihr von der bourgeoisen Klasse, der sie nun angehört, gleichfalls zur Pflicht gemachten) Drang zur Selbstverwirklichung hin- und hergerissen. Den Unterschied zwischen Lilas und Elenas Art, das Muttersein zu leben, könnte man so auf den Punkt bringen: Lila erlebt und erleidet ihre Mutterschaft; für Elena ist Mutterschaft auch eine diskursive Performanz. So, wie sie die gesellschaftliche Realität, in der sie lebt, mehr durch den Filter der Literatur als aus direkter Erfahrung wahrnimmt, scheint sie ihre Erfahrung als Mutter nicht beschreiben zu können, ohne die gängigen Klischees zu bemühen. Obwohl Ferrante das in der Mutterschaft angelegte 2_IH_Italienisch_75.indd 49 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 50 Potenzial zur empathischen Selbstüberschreitung aufzeigt, warnt sie zugleich vor idealisierenden Vereinfachungen. 6. «Smarginatura» als existenzielle erfahrung Lilas ungeschönter Blick auf das Muttersein hängt mit einer ihr eigenen Sensibilität zusammen, die sie dazu befähigt, hinter dem vertrauten Anblick von Menschen und Dingen gleichsam deren dunkle, fragile, vergängliche Seite wahrzunehmen. Sie selbst bezeichnet diese Erfahrung als «smarginatura», also als einen Verlust von Grenzen, von Konturen («margini»). Ihre erste Erfahrung der «smarginatura» macht Lila mit 14 Jahren, als sie Wut und Aggression hinter den Zügen ihres geliebten Bruders Rino hervorbrechen sieht, der ihr nunmehr als eine «forma animale tozza [...] feroce [...] avida [...] meschina» erscheint (AG I, 86). Lilas Erfahrungen der smarginatura rufen in ihr heftigen Ekel (ebd.) hervor und werden von ihr als Episoden körperlicher, organischer Auflösung erfahren: So, als müssten die aggressiven Emotionen der Männer («spinte interne delle voglie e delle rabbie», AG II, 355) zu einer «Explosion» der Körpergrenzen führen. Während ihres Zusammenlebens mit Stefano leidet sie nachts unter Horrorvisionen, die ihr den Mann buchstäblich als einen schmutzigen Ausfluss von Körpermaterie darstellen: «Specialmente di notte temeva di svegliarsi e trovarlo sformato nel letto, ridotto a escrescenze che scoppiavano per troppo umore, la carne che colava disciolta, e con essa ogni cosa intorno, i mobili, l’intero appartamento e lei stessa, sua moglie, spaccata, risucchiata in quel flusso sporco di materia viva.» (AG II, 355) Die smarginatura betrifft jedoch auch die Körper der Frauen. Lilas Gespür für die Leiden der Frauen des rione ermöglicht ihr, Dinge wahrzunehmen, die Elena niemals gesehen hatte. Sie beschreibt Elena die körperlichen und seelischen Deformationen dieser Frauen, als ob es ihre eigenen wären (AG II, 98). Dadurch verändert sich Elenas Blick. Sie, die bisher nur die Körper gleichaltriger Mädchen wahrgenommen hatte, bemerkt nun, wie Frauen, die nicht viel älter sind als sie, unter dem Druck des Überlebenskampfes im rione männliche Züge angenommen haben (AG II, 102). Tatsächlich kann auch Elenas Erfahrung der eigenen Weiblichkeit, insbesondere ihre konfliktuelle Beziehung zur Mutter, in gewisser Hinsicht mit Lilas smarginatura-Episoden verglichen werden. Der Körper ihrer Mutter stößt Elena ab, weil diese hinkt und schielt (AG I, 40); ihre Abneigung gegenüber diesen körperlichen Gebrechen lässt sich abermals im Sinne von Kristevas abjection deuten. Denn in ihr konkretisiert sich Elenas Wille, sich 2_IH_Italienisch_75.indd 50 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 51 aus der durch die Mutter vorgelebten Beschränkung zu befreien. Die Furcht, sich ähnlich wie diese in einer Hausfrauenexistenz wiederzufinden, wird deutlich, als Elena sich fragt «Che cosa mi prende? Voglio fare la mamma, voglio allattare e ninnare? [...] E se mia madre sbucherà dalla mia pancia proprio quando credo di essere ormai al sicuro? » (AG III, 64). Während Elenas erster Schwangerschaft scheint die verworfene Mutter tatsächlich von ihrem Körper Besitz zu ergreifen, denn Elena beginnt gleichfalls zu hinken. Erst viel später, als sie die krebskranke Mutter pflegt, wird Elena sich mit ihr versöhnen. Und nach ihrem Tod gelingt Elena die Trauerarbeit, indem sie das Hinken der Verlorenen gleichsam in ihrem Körper beherbergt - wie Lila konstatiert: «A te persino i dolori fanno bene. Ti è bastato zoppicare un pochino e ora tua madre se ne sta quieta dentro di te. La sua gamba è contenta che zoppichi e perciò sei contenta anche tu.» (AG IV, 351) Es ist vor allem die Angst, selbst an Kontur zu verlieren, sich in «Klumpen von Menstruationsblut, in Krebsgeschwüre, in gelbliche Faserstücke» aufzulösen («in grumi sanguigni di mestruo, in polipi sarcomatosi, in pezzi di fibra giallastra» AG IV, 163), die Lila keine Ruhe lässt und sie dazu treibt, rastlos Liebesbindungen, Tätigkeiten, Werke zu formieren und wieder aufzulösen. 16 Zugleich erscheint Lilas Fähigkeit, für sich selbst immer wieder neue Existenzformen zu erfinden, als Teil der Faszination, die von ihr ausgeht: «La guardavo dalla finestra, sentivo che la sua forma precedente s’era rotta [...]. Sapevo - forse speravo - che nessuna forma avrebbe mai potuto contenere Lila e che presto o tardi avrebbe spaccato tutto un’altra volta.» (AG I, 261) Jenes Zerspringen fester Konturen, das Lila so Angst macht, erscheint so zugleich als Bedingung für ihre Befreiung. Denn sobald sie sich in einer festen Form niedergelassen hat, die sie vor Auflösung schützen soll, erscheint ihr diese wiederum als bedrohlich: wie in dieser Passage, in der die zum ersten Mal schwangere Lila die Zeit ihrer Gegenwart als zähflüssige, ekelhafte Masse definiert: «Quante cose Lila aveva fatto succedere nel giro di pochi anni. Eppure ora che di anni ne avevamo diciassette pareva che la sostanza del tempo non fosse più fluida, ma avesse preso un aspetto colloso e ci girasse intorno come una crema gialla dentro una macchina di pasticciere. Lo constatò Lila stessa con astio [...].» (AG II, 111) Smarginatura im Sinne einer ständigen Auflösung und Auslöschung von Formen scheint gewissermaßen Lilas Existenzprinzip zu sein - und zugleich die treibende Kraft ihrer Kreativität. 2_IH_Italienisch_75.indd 51 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 52 7. Kreativität als auslöschung Lilas «destruktiver» Umgang mit Mutterschaft scheint - zumindest legt Elenas Erzählung dies nahe - der gleichen Fatalität zu gehorchen wie ihr Umgang mit der ihr eigenen außerordentlichen Kreativität. Alle schöpferischen und intellektuellen Leistungen Lilas bleiben vereinzelte Episoden in ihrem Leben, von denen allenfalls andere profitieren. So werden die Entwürfe für die eleganten Schuhe, die sie als zwölfjähriges Mädchen gezeichnet hat, letztlich von den Brüdern Solara benutzt, um eine eigene Schuhlinie zu lancieren. Lilas geniale Ideen - meint Elena zu verstehen - sind Eingebungen des Zufalls, die sich keinem rationalen Kalkül unterordnen lassen: «Lila era fatta a quel modo? Non aveva la mia cocciuta diligenza? Tirava fuori da sé pensieri, scarpe, parole scritte e orali, piani complicati, furie e invenzioni, solo per mostrare a me qualcosa di se stessa? […] Tutto, di lei, era frutto del disordine delle occasioni? » (AG II, 143) So wie Lila im Lauf ihres Lebens ihre intellektuelle Begabung verkümmern lässt, scheint sie auch ihre eigenen Werke über kurz oder lang wieder zurücknehmen oder zerstören zu wollen. Eine Episode aus Band 2 führt dies besonders deutlich vor Augen. Gegen Lilas Willen schmücken die Brüder Solara ihren Schuhladen mit einem überdimensionalen Foto, das Lila als Braut zeigt, an ihren Füßen die selbst fabrizierten Damenschuhe, die nun von den Solara vermarktet werden. Unter der Bedingung, das Foto bearbeiten zu können, willigt Lila schließlich ein. Mit Papier und Farben verwandelt sie das Bild in ein avantgardistisches Porträt: «Il corpo in immagine di Lila sposa appariva crudelmente trinciato. Gran parte della testa era scomparsa, così la pancia. Restava un occhio, la mano su cui poggiava il mento, la macchia splendente della bocca, strisce in diagonale del busto, delle gambe accavallate, le scarpe.» (AG II, 119) Mit diesem Selbstporträt bringt Lila nicht nur die gewaltsame Verwandlung zum Ausdruck, die sie seit ihrer Hochzeit mit Stefano erlitten hat. Vielmehr sieht Elena darin einen ersten Ausdruck jenes Bedürfnisses, das Lila viel später in die Tat umsetzen wird: das Bedürfnis, sich selbst zu zerstören, sich auszulöschen (AG II, 122). 2_IH_Italienisch_75.indd 52 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 53 Elena erscheint auch auf der intellektuell-kreativen Ebene als das perfekte Gegenbild zu Lila. Weniger begabt als diese, hat sie es durch die Kontinuität und Hartnäckigkeit ihrer Anstrengungen geschafft, die Universität zu besuchen und dann Schriftstellerin zu werden. So wie Lilas Leistungen offenbar durch die Rivalität mit Elena inspiriert werden, ist Lila eine ständige Quelle der Inspiration für Elena. Nicht nur bildet Lilas Leben den Stoff, aus dem große Teile ihrer Romane gemacht sind. Auch entscheidende schulische und universitäre Erfolge sind auf Gespräche mit Lila zurückzuführen. Zeitungsreportagen über soziale Missstände, für die Lila das Material gesammelt hat, werden unter Elenas Namen veröffentlicht. Schließlich drängt sich der Leserin sogar der Verdacht auf, dass Elena Lilas Tagebuchaufzeichnungen (sie lernt sie auswendig, bevor sie sie vernichtet) für ihre Werke benutzt hat. Es scheint jedoch auch Lilas Wille zu sein, dass ihr Name hinter dem Elenas verschwindet. Als die Freundinnen gemeinsam einen Artikel über die Machenschaften der Solara schreiben, ist es Lila, die ihre Unterschrift wegnimmt und den Text dann an die Zeitung schickt (AG IV, 297). Sowohl das Schicksal von Lilas Schuhen als auch das ihrer Tochter Tina scheinen somit in symbolhafter Verdichtung vor Augen zu führen, wie Lilas Recht auf Autorschaft/ auf Mutterschaft von anderen usurpiert wird - die Schuhe tragen bald den Namen Solara, Tina wird in der Zeitung als Elenas Tochter ausgegeben und verschwindet kurz darauf. Lila reagiert, indem sie die Auslöschung zu der ihr einzig möglichen Form von Autorschaft macht. Trägt man alle besprochenen Bedeutungen der «Schuhe» und der «Puppen» zusammen, so lassen sich beide als Motive einer Enteignung lesen. Lilas Schuhe, von den Brüdern Solara vermarktet, symbolisieren die Ausbeutung von Lilas Kreativität, aber auch die mafiöse Ausbeutung, der am Ende Stefanos gesamte Familie zum Opfer fällt. 17 Zugleich fungiert der Schuh, in dem an Lilas Hochzeitstag unvermutet der Fuß von Marcello Solara steckt, als offenkundige sexuelle Anspielung: Es ist, als würde Stefanos Rivale um die Gunst Lilas auf diese Weise ein symbolisches ius primae noctis affirmieren. Das Motiv der weggeworfenen Puppe wird in L’amica geniale zwar nicht unmittelbar auf Lilas schwangeren Körper gemünzt, es lässt sich aber dennoch als Motiv einer enteigneten Mutterschaft lesen. 18 Mutterschaft aber ist für Lila selbst schon eine Enteignung: «diventi una scatola di carne con un pupazzo vivo dentro. Ce l’ho, sta qui e mi fa ribrezzo» (AG II, 112). Die Puppe aus La figlia oscura, deren leerer Bauch mit einem Regenwurm «geschwängert» wurde, bietet ein Bild, das dieser Selbstwahrnehmung Lilas entspricht: der schwangere Körper als Behälter, reduziert auf seine aufnehmende und nutritive Funktion. 2_IH_Italienisch_75.indd 53 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 5 4 Es läge nun nahe, das Thema von Lilas enteigneter Kunst (die Schuhe, das Brautfoto) als Denunziation einer patriarchalischen Ausbeutung und Unterdrückung von weiblicher Kreativität zu lesen. Doch auch Elena benutzt Lilas Texte für ihre eigenen Publikationen. Soll die Erzählerin der Tetralogie damit als Plagiatorin ihrer «genialen Freundin» entlarvt werden? Oder verkörpert Lila eine Art Inspirationsprinzip, das Elenas Schreiben anleitet? Oder sollte es darum gehen, durch Lila ein Konzept von (weiblicher) Autorschaft zu affirmieren, das auf den Anspruch alleiniger Urheberschaft verzichtet? Sicher ist, dass Ferrante durch ihre gegensätzlichen und komplementären Frauenfiguren auch einen schriftstellerischen Konflikt inszeniert. 8. Lila-elena als Selbstporträt elena Ferrantes Die in den Romanzyklus eingeschriebene Selbstreflexivität legt es nahe, die Freundinnen Lila und Elena als ein janusköpfiges Selbstporträt der Autorin Elena Ferrante zu lesen. Zwar erscheint Elena - aufgrund ihres Vornamens, als fiktive Autorin der Tetralogie und auch aufgrund von Ähnlichkeiten ihrer übrigen (fiktiven) Romane zu Themen aus Ferrantes Werk - als das primäre alter ego der Autorin. Doch Ferrantes Text macht sehr deutlich, dass «Lila» nicht nur für eine Figur des Romans einsteht, sondern zugleich für ein Konzept. Genauer: «Lila» verkörpert eine kritische, vermutlich auch selbstkritische Haltung Ferrantes gegenüber einer als artifiziell und realitätsfern empfundenen Erzählweise und zugleich ein Autorschaftsideal. Elena hat den Dialekt ihres Elternhauses gegen ein literarisches Italienisch eingetauscht, dessen Künstlichkeit nicht nur von Lila, sondern auch von Pietro wahrgenommen wird, der ihr eine klischeehafte Ausdruckweise vorwirft («parli per frasi fatte» [AG III, 226]). Jene Selbstdisziplin, die für Elena zum notwendigen Instrument ihres sozialen Aufstiegs wird, tritt am deutlichsten in ihrer sprachlichen Selbstzensur zutage, die sie mit anderen Romanfiguren Ferrantes, insbesondere Olga aus I giorni dell’abbandono, teilt. Zwar fällt Elena in ihren (seltenen) emotionalen Ausbrüchen in die dialektale und obszöne Sprache zurück, die ihre Kindheit wie selbstverständlich prägte. Doch die Erzählerin Elena evoziert diese Sprache meist nur indirekt, als «parole grevi», «insulti terribili». Dagegen besitzt Lila, obwohl Autodidaktin, eine «flüssige und mitreißende Schreibweise» («scrittura fluida e trascinante», AG I, 272), eine fesselnde «naturalezza» (AG II, 17), der Elena nacheifert. Lila, von Elena als «Spiegel der eigenen Unfähigkeit» wahrgenommen, findet Elenas zweiten Roman, der den rione mit seinen camorristischen Machenschaften zum Gegenstand hat, «hässlich»: «Disse che la faccia schifosa delle cose non bastava a scrivere un romanzo: senza fantasia non 2_IH_Italienisch_75.indd 54 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 55 pareva una faccia vera, ma una maschera.» (AG III, 248) Erst später, als sie gemeinsam mit Lila einen Zeitungsartikel über denselben Gegenstand verfasst, und dabei das berüchtigte Schuldenregister der Wucherin Manuela Solara betrachtet, das Lila an sich genommen hat, begreift Elena, was Lila mit ihrer Kritik meinte: «Mi resi conto in un lampo che la memoria era già letteratura e che forse Lila aveva ragione: il mio libro - che pure stava avendo tanto successo - era davvero brutto, e lo era perché ben organizzato, perché scritto con una cura ossessiva, perché non avevo saputo mimare la banalità scoordinata, antiestetica, illogica, sformata, delle cose.» (AG IV, 292) Gerade aufgrund seiner sorgsam konstruierten, künstlichen Ordnung kann Elenas Roman nicht mit den «banalissimi quaderni luridi» (AG IV, 292), die sie jetzt vor sich sieht, konkurrieren. Zugleich ist sie jedoch überzeugt, dass Lila, schriebe sie einmal einen Roman, das eigene Werk - und Leben - derart in den Schatten stellen würde, dass es am Ende nur noch als «una battaglia meschina per cambiare classe sociale» erscheinen würde (AG IV, 440). Was ihren eigenen Büchern fehlt, glaubt Elena in der Schlussszene der Tetralogie zu erkennen. Nach Lilas Verschwinden erhält sie unversehens ein Päckchen mit den verschwundenen Puppen - sie deutet es als letzte Botschaft Lilas: «Ho esaminato le due bambole con cura, ne ho sentito l’odore di muffa, le ho disposte contro il dorso dei miei libri. Nel constatare che erano povere e brutte mi sono sentita confusa. A differenza che nei racconti, la vita vera, quando è passata, si sporge non sulla chiarezza ma sull’oscurità. Ho pensato: ora che Lila si è fatta vedere così nitidamente, devo rassegnarmi a non vederla più.» (AG IV, 451) In der Szene zu Beginn des Romanzyklus fand Elena die eigene Puppe «bellissima», die Lilas dagegen hässlich. Nun muss sie feststellen, dass beide armselig und hässlich sind. Die armseligen Puppen der Kindheit werden ihr zum Symbol für die Realität selbst, die sie der Fiktion - ihrer eigenen Fiktion («le ho disposte contro il dorso dei miei libri») entgegensetzt. Denn die Fiktion vermag «chiarezza» zu schaffen - oder vorzutäuschen - während das wahre Leben «am Ende nur auf Dunkelheit hinausblickt». In dem Aussehen der Puppen enthüllt sich folglich die irreduzible Obskurität der Realität - und zugleich das irreduzibel geheimnisvolle Wesen Lilas. Lila, die Elena 2_IH_Italienisch_75.indd 55 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 56 durch ihre letzte Erzählung einzufangen sucht - «io che ho scritto mesi e mesi per darle una forma che non si smargini, e batterla, e calmarla, e così a mia volta calmarmi» (AG IV, 444) - ist, wie jetzt klar wird, eine Allegorie der Realität selbst. Der Koffer, der Herrenschuh und die Puppe: Abjekte Fetische, die in Ferrantes Romanen jeweils die Hinterlassenschaft der Müttergeneration, die patriarchalische Ausbeutung und Unterdrückung von weiblicher Kreativität, das Problem von Mutterschaft und Autorschaft symbolisieren. Ferrantes Frauenfiguren erleben Zustände der Regression in einen präsymbolischen Zustand, den Ferrante mit den Begriffen frantumaglia oder smarginatura umschreibt. Die Auflösung der Ich-Konturen ermöglicht auch eine empathische Überschreitung des individuellen Bewusstseins. Sie wird als eine spezifisch weibliche Erfahrung dargstellt und mit der Schwangerschaft analogisiert. Die in der Mutterschaft angelegte Möglichkeit der empathischen Ich- Überschreitung wird jedoch nicht biologistisch-essenzialistisch verherrlicht. Durch die Gegenüberstellung verschiedener Mutterschaftskonzepte (das von Leda und Elena verinnerlichte bürgerlich-patriarchalische Ideal, Lilas «instinktive» Erfahrung, die aber ihrerseits nicht als die authentischere Wahrheit dargestellt wird) sucht Ferrante vielmehr zu einem differenzierten Blick auf Mutterschaft zu gelangen. Die über die smarginatura eröffnete Intuition einer Seinsweise, in der die individuelle Existenz in einer größeren Kette von Mutter-Tochter-Beziehungen aufgehoben ist, lässt sich sprachlich nicht artikulieren. Sie verdichtet sich dagegen in symbolischen Handlungen und in abjekten Fetischen. Diese Fetische - insbesondere die beiden hässlichen Puppen, die gegen die artikulierte Sprache der Literatur gestellt werden, ermöglichen Erfahrungen dessen, was Julia Kristeva als vréel bezeichnet hat, indem sie «im Bruch der Wirklichkeitskonstruktionen das Reale selbst durchschlagen» lassen. 19 abstract. L’opera di Elena Ferrante appartiene alla corrente della feminist family romance (Marianne Hirsch), ovvero a quella letteratura che partendo da una revisione della teoria freudiana cerca di capire la specificità dell’essere donna esplorando innanzitutto il rapporto madre-figlia. Il saggio propone di esplorare tale tematica attraverso l’attenzione ai feticci (scarpe, indumenti e soprattutto bambole) che Ferrante mette in scena. L’abiezione della condizione femminile, efficacemente messa in scena da tali feticci, può essere avvicinata all’abiezione teorizzata da Julia Kristeva. Allo stesso tempo, le bambole che appaiono alla fine della tetralogia L’amica geniale esprimono il fallimento della finzione di fronte al ‘reale’. Ma pur teorizzando la ‘smarginatura’ come esperienza specificamente femminile di ‘regressione’ in una 2_IH_Italienisch_75.indd 56 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 57 sfera prelogica e prelinguistica - esperienza cui si accede in particolare attraverso la maternità - Ferrante non cede alla tentazione di una celebrazione ‘essenzialista’ della donna/ madre. anmerkungen Für die Zitierweise der Werke Elena Ferrantes s. Bibliographie. 1 Während Ferrante in Deutschland noch relativ unbekannt ist, gilt sie in den USA bereits seit einigen Jahren als eine literarische Sensation. In der italienischen Literaturszene ist die Diskussion über das Phänomen Ferrante - nach wie vor - von Spekulationen über ihre wahre Identität beherrscht (man vermutet hinter ihrem Namen verschiedene bekannte italienische Schriftsteller). Als Storia della bambina perduta 2015 für den Premio Strega vorgeschlagen wurde, verlangten einige, die Schriftstellerin müsse ihre «Unsichtbarkeit» aufgeben, um teilnehmen zu können - das Interesse am Medienspektakel scheint demnach weiterhin größer als das Interesse am Buch. 2 «What I call the «feminist family romance» appears in psychoanalytic re-visions of Freudian paradigms, which highlight mother-daughter bonding as a basis for vision of gender difference and female specificity.» (Hirsch 1989: 15) 3 Elena Ferrante, La frantumaglia 159. 4 Milkova 2013: 92. 5 In einer Antwort an eine Leserin, die eine entsprechende Vermutung äußert, gibt Ferrante die änigmatische Antwort: «Amo moltissimo Elsa Morante e, se le fa piacere, coltivi pure la sua ipotesi. [...] La mia bisnonna, della quale porto il nome e che è morta da così tanto tempo da essere ormai un personaggio di invenzione, non se ne avrà a male.» (Frant. 273 f.) Die Programmatik der weiblichen Vornamen (Elsa, Elisa, Elena), die Ferrantes Werk durchzieht und auf die die Autorin mitunter selbst hinweist, lässt die These dennoch plausibel erscheinen. 6 Dobry 2012: 12. 7 «Il liquido caldo che usciva da me senza che lo volessi mi diede l’impressione di un segnale convenuto tra estranei dentro il mio corpo» (AM 32). 8 Benjamin meint damit nicht nur die anarchische Architektur einer Stadt, die in ihrer «Leidenschaft für Improvisieren» das «Definitive, Geprägte» meidet (Benjamin 1974: 10, 9), sondern auch einen Lebensstil, der ob seiner wechselseitigen Durchdringung des privaten und öffentlichen Raums so fremd scheint, dass es Benjamin an den «Hottentottenkral» als Inbegriff der Zivilisationsferne denken lässt. 9 «vréel [...] l’irruption du réel trouant la trame symbolique du discours hystérique»; «Dans ce vréel, bien entendu, elle est toute présente. La mère dite archaique, pré-oedipienne: faisant surface lorsqu’elle chancelle la métaphore paternelle, elle réclame ses droits au langage» (Kristeva 1979: 24, 31). 10 «Le matricide est notre nécessité vitale, condition sine qua non de notre individuation.» (Kristeva 1987: 38). 11 «Che fare ingenuo e sbadato era stato cercar di definire «io» questa fuga obbligata da un corpo di donna, sebbene ne avessi portato via meno che niente! Non ero alcun io.» (AM 88) 2_IH_Italienisch_75.indd 57 30.06.16 17: 10 Abjekte Fetische Christine Ott 5 8 12 «Nessun essere umano si sarebbe staccato mai da me con l’angoscia con cui io mi ero staccata da mia madre soltanto perché non ero riuscita mai ad attaccarmi a lei definitivamente» (AM 88). 13 «[...] temevo che vi fosse un taglio tra il prima - modelli e miti archaici, appunto - e il dopo - Olga, la donna nuova - e che Olga apparisse come l’espressione delle sorti progressive del genere femminile. [...] Volevo che il passato non fosse superato, ma riscattato proprio in quanto deposito di sofferenze, modi rifiutati d’essere.» (Frant. 135 f.) Wie Ferrante präzisiert, gilt diese Beobachtung sowohl für Olga (Protagonistin ihres zweiten Romans) wie für Delia. 14 «Indossava un vestitino blu che le aveva cucito mia madre un in raro momento felice, ed era bellissima. La bambola di Lila, invece, aveva un corpo di pezza gialliccia pieno di segatura, mi pareva brutta e lercia» (AG I, 26). 15 «Non resiste l’amore per un uomo, non resiste nemmeno l’amore per i figli, presto si buca. [...] Gennaro mi fa sentire in colpa, questo coso qui dentro la pancia è una responsabilità che mi taglia, mi graffia.» (AG IV, 164) 16 «L’unico problema è sempre stato l’agitazione della testa. Non la posso fermare, devo sempre fare, rifare, coprire, scoprire, rinforzare, e poi all’improvviso disfare, spaccare.» (AG IV, 163) 17 Nachdem die Solara Stefanos Geschäfte anfangs durch Darlehen unterstützt haben, entziehen sie ihm nach und nach ihren Beistand, so dass Stefano schließlich sein gesamtes Vermögen verliert. Im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung musste Stefano den Solara-Brüdern den von Lila entworfenen Schuh überlassen und zudem den Vater der Brüder als Ehrengast zur Hochzeit einladen. 18 Inwiefern Lila eine «enteignete» Mutter ist kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht mehr ausgeführt werden; es wäre hierzu eine Vielzahl von Belegstellen aus sämtlichen vier Bänden der Tetralogie zu besprechen. 19 So bringt Winfried Menninghaus Kristevas «vréel» auf eine Formel. (Menninghaus 2002: 546) Bibliographie Primärliteratur: Ferrante, Elena, L’amore molesto [Roma: Edizioni E/ O 1992]-AM; I giorni dell’abbandono [Roma: Edizioni E/ O 2002]-GA; La figlia oscura [Roma: Edizioni E/ O 2006]-FO, in: E.F., Cronache del mal d’amore, Roma: Edizioni E/ O 2012. La frantumaglia. In appendice: Tessere 2003-2007, Roma: Edizioni E/ O 2007.[Frant.] L’amica geniale, Roma: Edizioni E/ O: 2011. [AG I] Storia del nuovo cognome (L’amica geniale II), Roma: Edizioni E/ O 2012. [AG II] Storia di chi fugge e chi resta (L’amica geniale III), Roma: Edizioni E/ O 2013. [AG III] Storia della bambina perduta (L’amica geniale IV), Roma: Edizioni E/ O 2014. [AG IV] Sekundärliteratur: Benjamin, Walter/ Lacis, Asja: «Neapel», in W.B., Denkbilder, Frankfurt: Suhrkamp 1974, S. 7-16. Dobry, Edgardo, «L’enigma Ferrante», in: E. F., Cronache del mal d’amore, Roma: Edizioni E/ O 2012, S. 9-17. 2_IH_Italienisch_75.indd 58 30.06.16 17: 10 Christine Ott Abjekte Fetische 59 Hirsch, Marianne, The Mother/ Daughter Plot. Narrative, Psychoanalysis, Feminism, University of Indiana Press 1989. Kristeva, Julia, «Le vréel», in: J. K. / Jean-Michel Ribettes (Hg.), Folle vérité. Vérité et vraisemblance du texte psychotique, Paris: Seuil 1979, S. 11-35. Kristeva, Julia, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Seuil 1980. Kristeva, Julia, Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris: Gallimard 1987. Menninghaus, Winfried, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt: Suhrkamp 2002. Milkova, Stiliana, «Mothers, Daughters, Dolls: On Disgust in Elena Ferrante’s La figlia oscura», in: Italian Culture 2013; 31(2), S. 91-109. 2_IH_Italienisch_75.indd 59 30.06.16 17: 10