eJournals Italienisch 37/74

Italienisch
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2941-0800
Narr Verlag Tübingen
2015
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‹Dante-Boom› im Kriminalroman

2015
Tabea  Kretschmann
1 ‹Dante-Boom› im Kriminalroman Seit Beginn der 1990er Jahre manifestiert sich ein neues Phänomen in der Dante- Rezeption: International erschien eine ganze Reihe von ‹Dante-Krimis› In den Dante-Krimis werden Dante Alighieri und die Divina Commedia in verschiedenster Weise in fiktive Romanhandlungen eingebunden: In einem historisierenden Zugriff wird beispielsweise Dante selbst zu einem Detektiv, der Kriminalfälle in Florenz aufklärt und nebenbei Ideen für Episoden seines Hauptwerks erhält (G Leonis Tetralogie Dante Alighieri indaga, 2000-2014); Dante kommt dem Geheimnis des Mordes an Paolo und Francesca auf die Spur (F Fioretti: La profezia perduta di Dante, 2013); oder Dantes Tochter erforscht nach seinem Tod, woran ihr Vater wirklich gestorben sein mag (ders .: Il libro segreto di Dante, 2012) Es werden mysteriöse Fälle um fiktive, in der Gegenwart wiedergefundene Autographen des Dichters gesponnen (N Tosches: In the Hand of Dante, 2000; Patrizia Tamà: La quarta cantica, 2010) Die Divina Commedia wird zu einer Art Reiseführer, um gestohlene Reliquien wiederzufinden (M Asensi: El último Catón, 2001) oder die Unfruchtbarmachung eines größeren Teils der Weltbevölkerung mittels eines ‹Pathogens› zu verhindern (D Brown, Inferno, 2013) Und es geht um Morde, die von Dantes Inferno inspiriert sind (M Pearl: The Dante Club, 2003; A Delalande: Le piège de Dante, 2006) Warum aber tauchen nun Dante und die Divina Commedia ausgerechnet in Krimis als prototypischem Genre der Unterhaltungsliteratur auf - nachdem der komplexe Klassiker vorher allenfalls in Werken der ‹hohen› Literatur wie Joyce‘ Ulysses oder Solschenizyns Der erste Kreis der Hölle intertextuell präsent war? Dazu lassen sich einige Erklärungsansätze in Erwägung ziehen: Das Inferno mag mit seiner plastischen Beschreibung der Höllenstrafen Anreiz geben, manch ein Motiv als Vorbild für grausame Mordserien heranzuziehen Die Tatsache, dass Dantes Leben nur bruchstückhaft überliefert ist und kein Autograph seines wichtigsten Werks existiert, mag ebenfalls die Fantasie zur fiktiven Ausschmückung anregen Geheimnisvoll wirkende Zahlenmystik und die allegorische Anlage der Dichtung mögen dazu beitragen, gänzlich fiktive Lesarten des alten Textes zu entwerfen Daneben dürften aber auch größere kulturelle Entwicklungen eine Rolle spielen: Zum einen bahnten (post) postmoderne ästhetische Ansätze eine zunehmende Verschmelzung von Hoch- und Populärliteratur an; das Spiel mit Zitaten wurde zu einem signifikanten Gestaltungselement Zum anderen erlebt Dante ohnehin gerade einen ‹Boom› und ist bei Dante- Lesungen und Festivals, bei Musicals, Tanz und Theatern, in Filmen, Computerspielen, Comics und auf Alben von Hardrock-Bands schier omnipräsent Die Dante- Krimis scheinen auch Teil dieses sich selbst verstärkenden Trends zu sein Für Italien darf noch ein weiterer Aspekt angeführt werden: Wo Generationen von Schülern in meist ehrfürchtiger akademischer Trockenheit die Divina Commedia als Nationalepos nahegebracht wurde, kann man von einem gewissen Entlastungseffekt ausgehen, den u .a die Krimis von Leoni bieten, in denen durchaus humoristisch die Entstehungshintergründe des opus magnum (re)konstruiert werden Insgesamt dürfte bei den meisten Krimi-Lesern das Vorwissen über Dante und sein Werk eher marginal sein Ob nach der Krimi-Lektüre jemand tatsächlich zum Originaltext greift, ist eher fraglich In jedem Fall dürfte aber mit den Dante- Krimis die Wahrnehmung von Dante als einer Ikone und der Divina Commedia als einem Klassiker im kollektiven Gedächtnis weiter verankert werden 2_IH_Italienisch_74.indd 1 16.11.15 07: 55